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Gudula von Gibichen, Tochter eines Offiziers, wurde aus liebeleerem Elternhause mit der kräftigen Aufforderung entlassen, zu versuchen, sich auf eigene Füße zu stellen. Sie war ein Mädchen wenn nicht von Schönheit so doch von sympathischer Eigenart; gut gewachsen und sorgfältig gekleidet, hatte ihre Erscheinung der Anmut nicht ermangelt, und sie hatte denn auch die Beachtung des ihr zukommenden und sozusagen zugewachsenen Mannes gefunden: Leutnant Wilhelm Horritz hatte Gudula auf den Bällen, die der Oberst zu geben hatte, gesehen, in geregelter Weise um sie angehalten, und dann war ein langer Brautstand angegangen, der sich nicht sehr von Kinder- und Hausfreundschaft für einander Erwählter unterschied und in Gudula alle außergewöhnlichen Empfindungen in Schlaf gelassen hatte. Wilhelm Horritz war ein äußerst korrekter, von der Moral seines Standes ehrlich durchdrungener Mensch, der zwar ein sorgfältig gehütetes und taktvoll nur matt ausgeübtes Verhältnis zu einer kleinen Frau minderen Standes unterhielt, sich aber Gudula als einer Frau aus gleicher Klasse gegenüber niemals anders betrug, daß nicht ein Dritter, ohne verlegen zu werden, in jedem Augenblicke hätte dabei sein können.
Eines Tages war Krieg. Innerhalb vierundzwanzig Stunden hatte das Regiment auszurücken. Den 6 Vater sah Gudula nur zu flüchtigem Abschied, der Leutnant hatte seinen Zug früher in Ordnung als der Oberst sein Regiment, die Mutter packte, und am warmen Augustabend hatte das Brautpaar eine von niemand gestörte, wehmütige und ziemlich ausgeschwiegene Stunde für sich, in der Wilhelm zum ersten Male den Versuch machte, die bisher streng geachtete Grenze zwischen sich und dem Mädchen zu überschreiten. Sie war verlegen, sie war erschrocken, sie hatte sich niemals klargemacht, was Brautstand, was Ehe eigentlich bedeute, sie wehrte ihn, mit Liebe und Zärtlichkeit übrigens, und mehr mit Gebärden als mit Worten, ab.
Der Zug steht bereit, die Musik spielt »Muß i denn zum Städtele hinaus«, aber die braven Bursche von Soldaten überbrüllen Todesangst und Abschiedsschmerz mit dem stürmischen Liede: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall«, die Prachtgestalten der jungen Offiziere stehen grüßend an den Wagentüren, Wilhelm Horritz, sportlich straff, glatt rasiert, das fettlose Antlitz vom Brausen des Ereignisses gerötet, schaut auf Gudula hinab, und während sie noch rührend nichtssagende Worte tauschen, sagt sein vor Erregung der außerordentlichen Stunde strahlendes Auge: dies eine Mal, Gudula von Gibichen, wäre es schon vernünftig und erlaubt gewesen, denn selbstverständlich werden wir jungen Leutnante die ersten 7 sein – der Zug zieht langsam an, aufbrausen in der Bahnhofshalle das gröhlende Lied, die Erzmusik, Rufe, Aufschreie, Tränen, Schluchzen, und dem immer mehr beschleunigten und schnell kleiner werdenden Zuge folgt die Reue mancher Frau über Unterlassenes und die in diesem Augenblicke erst wachwerdende Frage manchen Mädchens, ob es doch vielleicht nicht unrecht gewesen wäre –?
Kaum war Gudula nachhause gekommen, da hielt sie schon das Telegramm in der Hand, welches sagte, daß Wilhelm gefallen war . . .
Das Männersterben, die Geldentwertung, die Niederlage und der Untergang der Offiziersklasse verminderten, zerstörten für Gudula die Aussicht auf eine Gestaltung ihres zukünftigen Lebens im Sinne ihrer und der Familie selbstverständlichen Wünsche aus der Vorkriegszeit – das war der Augenblick, wo der entlassene und grausam gealterte Vater ihr kühl zu dem Versuche riet, sich für alle Fälle auf eigene Füße zu stellen. Sie horchte in ihr Inneres und vernahm in sich die Berufung zur Gärtnerin. Der General wandte noch eine Summe an eine kurze theoretische Ausbildung seiner Tochter auf einer Hochschule, und dann trat Gudula von Gibichen in einen gärtnerischen Großbetrieb draußen am Vorortrande einer beweglichen Großstadt.
8 Mit Eifer stürzte sie sich in die Praxis. Ein nüchterner Geschäftsbetrieb war es, Gudula mußte Faulhaufen lüften, Jauchenwasser mischen, Humuserde umgraben, Regenwürmer aussetzen und Engerlinge aufsammeln, sie stampfte in Streu und Stroh, in Dung und Dreck, ihre Hände wurden grob und rauh, der Gang ihrer mit Holzschuhen belasteten Füße wurde schwerfällig, ihr Gesicht ledern und sommersprossig, die Umgebung ihrer Augen gewöhnte sich im grellen Sonnenlicht an gekniffene Haltung und Fältelung. Ihre Gesellschaft waren grobe Menschen, freche Gärtner und plumpe Mägde, welche die adlige Dame(obgleich sie das Zierwörtchen vor ihrem Namen unterdrückte) mit Spott und die theoretisch gebildete Mitarbeiterin mit Mißtrauen behandelten, der Besitzer war ein ausbeuterischer Kerl, der sein »Menschenmaterial« nur nach Arbeitsleistung und Geschäftsertrag einschätzte, und sie zog sich mehr und mehr von diesem Pack in den Schutz der Einsilbigkeit und Einsamkeit zurück. Man ließ auch bald, ermüdet von wirkungslosen Hänseleien, von ihr ab und ließ sie gewähren.
Schwer machte ihr das Leben aber der Obergärtner. Er suchte seine Macht zur Vergebung von Vorrechten zu mißbrauchen, deren von den Frauen eingeforderter Preis eindeutig war. Gudula ließ ihn 9 schmählich abfallen, – er lächelte nur, indem sich seine straff ausgezogene Oberlippe ohne das sympathische Grübchen unter der Nase noch straffer auszog. Die Liebessehnsucht in ihm wuchs zur Liebesraserei. In Gudula kam der Gedanke auf, ob es nicht besser sei, wenn sie aus dem Dienste schiede, aber eine neue Stelle zu finden war nicht leicht, und schließlich war sie Tochter eines Generals und überhaupt keine furchtsame Natur. Und sie dachte sich: wenn sie sich körperlich vernachlässige, möchte sie dem Manne weniger begehrenswert erscheinen. Und tat denn so.
Mit dem Aufkommen einer neuen Schicht von Besitzenden entstand auch wieder Nachfrage nach fremdartigen exotischen und luxuriösen Blumen, Azaleen aus Ostasien, Chrysanthemen aus Japan, Begonien aus dem brasilianischen Urwald, Früchten wie Kaktusfeigen und Ananas aus den Durstländern von Mexiko und Kalifornien, und namentlich den Elfen und Feen aus dem Blumenreiche, den Orchideen aus allen Tropen. Der Besitzer, der stolz darauf war, daß er sein »Menschenmaterial« richtig auszunutzen verstand, überstellte Gudula Gibichen als eine theoretisch gebildete Gärtnerin sogleich zur Abteilung Exotische Pflanzen, die nur gedeckt zu ziehen waren, in die bisher etwas vernachlässigten Gewächshäuser. An der gläsernen Grenze endigte der Machtbereich des 10 Gärtners, der nur Oberster im Freiland war, und Gudula kam in die Hände des Obersten der gedeckten Anlagen, den der Angestelltenspott den »gedeckten Martin« nannte. Er war in Vorkriegszeiten Pflanzer von Sisalhanf in Ostafrika gewesen, hatte dort hinter dem englischen Stacheldraht auf dem sandigen Blachfeld einen Sonnenstich erlitten und war seitdem geistig und seelisch herabgestimmt, stumpf und träge, was ihn freilich vor gelegentlichen Anfällen von Tropenkoller bei irgendeiner kleinen Aufregung nicht schützte. Daß er aber gleich darauf darüber weinte, seinen Jähzorn abbat und namentlich, seitdem er auf das nicht eben allzu kostspielige aber sicher wirkende Mittel verfallen war, sofort bei Zornesanfall eine kleine Scheibe des Gewächshauses zu zerschmettern – eine Anzahl davon stand zum Ersatz bereit – so hatte Gudula es gut bei ihm. Namentlich seine Geschlechtlichkeit schien durch den Hitzschlag zerstört zu sein, und Gudula hatte von dieser Seite her also nichts mehr zu befürchten. Aber sie zog nun nicht den Schluß und faßte nicht den Entschluß, jetzt, nachdem der Schutz eines erdigen Mantels gegen Liebesraserei nicht mehr vonnöten war, diesen abzulegen, sondern es blieb in dieser Hinsicht beim alten. Es machte ihr bald nichts mehr aus, wenn der Dung, der früher nur an ihren Holzpantinen geklebt hatte, jetzt auch 11 in ihnen war, und sie faßte mit ihren nackten Füßen Wurzel in Humus, Dung und Pflanzensaft.
Das Tropenwarmhaus! Oh, war das ein Reich! Eine Welt! Nur noch außerhalb des Erdteils gab es solche Welten, an den Monsunküsten Ostasiens, auf Sumatra und Java, in den feuchten Regenwäldern der Niederungen des Kamerunflusses und im Amazonasurwald, Naturwelten, welche hier in den Kulturhäusern künstlich und mit Bedacht nachgeahmt waren, in denen stets eine wohlige Temperatur und Feuchtigkeit herrschten. Gudula blühte darin sofort auf, ihre schon verschrumpfende Haut füllte sich wieder, ihre dünn und kränklich gewordenen Haare erstanden neu in Fülle und Schönheit. Es pruschte und tropfte aus den Heizröhren, welche die Glashalle wärmend umzogen. Jeden Tag setzte man in den Morgenstunden die ganze Halle in dichten Dampf, die Nebellandschaften in den Regenwäldern um den Gleicher nacherzeugend. Wenn dann die in der Halle beschäftigten Arbeiter sich im dichten Nebel kaum noch erkennen konnten, Hallo!- und Achtung!-Rufe hallten, das Eisengerippe des Baues im Dunste verschwand, alles sich im Nebel gespenstisch vergrößerte und man wirklich mit getäuschten Sinnen glauben konnte, im feuchten tropischen Dampfwalde zu sein, wenn die Nässe von den riesigen Bananenblättern 12 tropfte,wenn der von innen hervorgedrungene Schweiß sich mit dem warmen Niederschlage aus der Luft auf Stirn, Armen und Händen mischte, wenn die Füße in den durch Nässe gequollenen, mit lauem Wasser halbgefüllten Holzschuhen quatschten – in dieser außergewöhnlichen und außerordentlichen Welt fand Gudula von Gibichen ihr wahres Leben, gedieh sie aufs beste. Ihre Verdunstung bei reger körperlicher Arbeit war eine sehr reichliche, daher mußte sie wie die Pflanzen selbst möglichst jeden Temperaturwechsel scheuen. Einige schwere Erkältungsfälle, als sie Sonntags in Urlaub, ja nur einmal ins Freiland hinausgegangen war, veranlaßten sie, die Halle nie mehr zu verlassen. Selbst den gedeckten aber ungeheizten Holzgang, der zum Gesindehaus hinüberführte, scheute sie, und sie setzte unter dem Vorwande nächtlicher Überwachung der Pflanzen beim Besitzer durch, in einem abgetrennten Winkel des Gewächshauses, wo haushohes javanisches Gras mit beindicken Stengeln einen Bambuswinkel füllte, ihre Schlafstelle einrichten zu dürfen. So lag sie denn nachts allein in der großen Halle, hörte die langen labilen Blätter des Bambus über sich leise sich regen oder gar wispern in den vom wärmeren Boden zum nachtkühl werdenden Dache aufsteigenden Luftströmen, sah die blanken Sterne und manchmal den weißen Mond, 13 durch das Glas seltsam verzerrt und neuartig, von Osten nach Westen über die Kuppel dahingehen, vernahm das leise Plätschern, mit dem die Röhren ihr Wasser in den großen Zementsarg im anderen Winkel entleerten. Man hatte in der Pflanzenmasse in der Richtung der beiden Achsen der Halle Schneisen offengehalten, deren Grund mit der lichtgrünen Selaginellapflanze des brasilianischen Urwaldbodens besetzt war. Nun konnte Gudulas lebhafte Einbildungskraft, genährt von ihren Kenntnissen des Pflanzenlebens und von Erinnerungsbildern aus ihren über alles geliebten Naturschilderungsbüchern, leicht träumen, daß die Schneisen die Wildwechsel des sumatranischen Urwaldes seien, auf denen die jähen Wildschweine ruckweise, mißtrauisch immer sichernd, daherbrausten, auf denen die dumpfen Hufe des scheuen merkwürdigen, rührend gutmütigen Tapirs klopften, auf denen aber auch der weichsohlige Tiger schlich oder neben denen er im verstrickten Unterholze lag, um gelegentlich einen der nächtlich zur Tränke wechselnden Passanten zu reißen. Ihr erschien dieses wilde Dasein, gemischt aus Angst und Kampf, gar nicht eigentlich grausam, so sehr war sie schon in dieser Welt zuhause. Sie selbst war ganz ohne Furcht, denn sie hatte die Windfangtür der Halle sorgfältig vor dem wilden Obergärtner aus dem Freiland gesperrt.
14 In einer solchen Nacht im Frühjahr, die sehr lau war, als der silberne Mond einsam und schweigsam durch den Mitternachtsbogen ging, geschah es, daß sie ihr Gewand langsam und scheinbar ohne Grund abstreifte, eine Weile dalag, während ihre festanliegenden Hände mit spielenden Fingerspitzen gleich einer warmen Meereswelle ihre Flanken umspülten; daß sie dann nach einer Weile, wieder langsam und scheinbar ohne Grund, sich aufrichtete, eine geraume Zeit auf der Bettkante saß, darauf aufstand und gemächlich zwischen den Bambusstengeln hindurch und in die Halle schritt. Dort wandelte sie über die feuchten gequollenen Lattenrahmen des Laufsteges, ließ ihre sanft abgespreizten Arme über Zweige und Blätter streifen, die sie nur bei den dornigen Stäben der abscheulich bewehrten Rotangpalme einzog. Recht wie eine Baumelfe, die zur Mondstunde aus Palmenkronen oder den geräumigen Blattscheiden der Bananen herausgetreten ist, erging sie sich vertraut und unauffällig durch die schlafende Grünversammlung, von abfallenden, im Mondlicht glitzernden Wasserkügelchen betaut, und ein einsamer Beobachter – der aber nicht da war – hätte ihr Gehen Schweben nennen und ihre Erscheinung für nicht menschlich, ihren Körper für schwerelos halten können, wenn nicht die Lattenrahmen beim Übertritt ihrer Füße 15 von einem auf den anderen leise nachgeklappt hätten. Sie lustwandelte auch nicht lange, sondern kehrte bald, lau betaut, in ihr Bambusgebüsch zurück, in dem sie, feucht wie sie war aber doch nicht fröstelnd, wieder in ihr Gewand und ins Bett schlüpfte. Gleich darauf, den Kopf über einen angebogenen Arm gelegt, schlief sie ein.
Sie fand aber Gefallen an solchen elfenhaften Spaziergängen im Nacktsein, und hätte am liebsten auch bei der Arbeit das Taggewand abgestreift. Ihr Arbeitslinnen, vom Gießwasser von unten, vom Tropfwasser von oben bespritzt und im ganzen feucht von Dampfluft, klebte an ihrem Körper so, daß dieser vom Nacktsein nur noch durch die graue Farbe geschieden war. Sie war aber ganz unschuldig dabei, denn die Pflanzen sind doch auch nackt, nicht wahr, nur grün statt weiß, und es störte sie nichts, denn sie dachte nicht mehr an Menschen, nicht an ihren Vater, den alten General, der aus Gram über das Unglück des Vaterlandes ergraute, nicht einmal mehr an den gefährlichen Obergärtner, den sie gar nicht mehr zu Gesicht bekam, denn der »gedeckte Martin« verwehrte dem »Freiländer« den Eintritt in die Gewächshäuser, auch kaum noch und höchstens im Traume an ihren Bräutigam, der gar zu früh, knapp hinter der Grenze und wahrscheinlich im 16 überspannten Ehrbegriff der jungen Offiziere zu Kriegsanfang, zwanzig Meter vor seinem Zuge, gefallen war.
Einmal stand sie arbeitend in ihrem grauen unordentlichen, von der Nässe aufgeknüllten Arbeitsgewande so an einen Palmstamm geschmiegt, daß selbst ein Kenner wie der »gedeckte Martin« sie nicht von diesem unterschied, sondern, als er plötzlich um den Palmbaum bog und in ihr stummes Gesicht sah, dessen üppiges Kopfhaar, in eine nasse Strähne gequirlt, zwischen den Luftwurzeln einer Liane wie eine von ihnen herunterhing, heftig vor ihr zurückschrak. Gudula lächelte kaum merklich, denn sie hatte Martin gern, soweit sie noch Menschen gern hatte und überhaupt in ihrem Dasein bemerkte, und Martin war's zufrieden, denn die beiden schweigsamen Kenner von Tropenpflanzen brauchten wenig zu sprechen, da sie sich in ihrem unbestrittenen Reiche durch eine leichte Andeutung, oft nur durch die geknurrte erste Silbe eines Pflanzennamens verständigten.
Nun also, Gudula von Gibichen war sozusagen, ja fast eine Pflanze geworden, und das war nichts besonderes und keiner von den romantischen Gedanken mehr, deren Willkür uns unleidlich ist; denn es ist doch klar, daß zwischen Mensch und Pflanze 17 ganz zuletzt kein Wesensunterschied ist. Sie wurzelte tagsüber in ihren laub- oder humusgefüllten feuchten Holzpantinen, und nachts entfernte sie sich auch nicht weiter von dem Boden ihres Daseins als die Wasserpflanzen die Flotten ihrer Blätter vom Stammhafen ihrer Wurzeln aus kreuzen lassen.
Nun trat etwas sehr Merkwürdiges, in anderen Zeiten fast Unmögliches ein, aber in diesem Jahrzehnt verwundert einen nichts mehr: schon lange war das Beschaffen der Kohlen für die Wärmung des großen Treibhauses schwierig gewesen, die Heizungskosten überstiegen die Einnahmen, und der Besitzer überließ sich dem verzweifelten Gedanken, das Tropenhaus eingehen zu lassen, was ein einziger Winter ohne Heizung besorgt hätte: alle exotischen Pflanzen wären gestorben, alles exotische Getier auch, das etwa an Insekten und Würmern auf, in und mit jenen leben mochte, und die beiden exotischen Menschen, Martin und Gudula, gewiß aber Gudula, nicht minder.
Aber auch die zoologischen Gärten litten um diese Zeit Wärmenot, die Tiere heißer Klimate gingen ein oder wurden verkauft – da nahm sich die Regierung dieses großen tropischen Pflanzenhauses an, das erhalten zu helfen sie sich verpflichtet fühlte, indem sie es auch zum Käfig für einige sanftere Tiere 18 der Tropen machte. Man setzte einen Menschenaffen ein, ein berühmtes Schimpansenweibchen, Rotsteiß-Makaken und Meerkatzen, niedliche Pinseläffchen, ein Pärchen der Brüllaffen, brasilianische Papageien und Araras und australische Kakadus, indische Nashornvögel. Natürlich waren die paar Bäume, die auch in dieser künstlichen Welt fruchteten, bald ihrer Früchte beraubt, die steinharten Nüsse der Tukumapalme wurden vom starken Schnabel der Araras aufgeknackt und die Bananentrauben von den Händen der Affen geplündert, aber was bedeutete das in einer harten Zeit, wo es auf notdürftige Erhaltung einiger fremdartiger Lebewesen ankam. Die menschliche Bevölkerung dieses Urwaldes aber vermehrte sich nicht (das gehörte sich auch so, die Urwälder der Erde sind äußerst dünn bevölkert), denn Martin und Gudula duldeten keinen Eindringling in ihr angestammtes Wohngebiet. Selbst die empfindliche Schimpansin, die ohne den vertrauten Wärter zuerst sterben zu wollen drohte, söhnte sich mit dem Verluste aus, als man ihr statt eines Käfigs ein pflanzenvolles Haus bot und ihre westafrikanische Heimat fast mit vollem Erfolge ihr vortäuschte. Zuerst saß sie traurig und schenkelkrauend hoch oben auf einer Zugstange unter dem Glasdache, bald aber begann sie durch die Äste zu hangeln und zu turnen, und 19 ihr steigendes Wohlbefinden war offenbar. Zuletzt, als sie in hellen Nächten ihre menschliche Geschlechtsgenossin einige Male nackt umherwandeln gesehen hatte, verlor sich ihr anfängliches Mißtrauen gegen ein unten unförmliches Wesen ohne Beine, und es entwickelte sich zwischen ihnen ein so selbstverständliches Verhältnis des Vertrauens und fast der Zuneigung, daß Menschenäffin und Affenmenschin eine uralte Verwandt- und Schwesternschaft wiederholten.
Tiere sind im verschwenderischen Haushalt der Natur aber große Verschwender, die Papageien brechen die Äpfel nur der paar Kerne wegen auf und verwerfen das übrige, und so würde dieses Stückchen heißer Zone von den naiven Verbrauchern bald verzehrt gewesen sein, wenn nicht, da die zwei einzigen Gärtner den Urwald nicht mehr unter der Schere halten konnten, die Natur wie immer dort, wo sie sich selbst überlassen bleibt, üppig das nacherzeugt hätte, was ihre Wesen in ihr verbrauchten und verdarben, ja weit mehr, und der künstliche, etwas lehrhaft angelegte Urwald wurde ein wirklicher Urwald, der in geilem Wachstum aller seiner Glieder sich kräftig verstockte, verblätterte und verfilzte. Nun begann für die Pflanzen die Notwendigkeit, den natürlichen Daseinskampf um Platz und 20 Licht selbst auszukämpfen, den die ordnende Menschenhand und Gärtnerschere bisher für sie gekämpft hatten. Die hellen, fast weißen Stämme des Urwaldes trugen ihre in stets anschwellender Blätterflut der Nachbarn bedrängten Spitzentriebe immer höher hinauf, wo zuletzt an der gläsernen Grenze ihres Reiches auch die stärksten und dicksten von ihnen nur kleine Kronen hinausdrängen konnten. Alle grünen Ströme des Pflanzenlebens uferten aus, und im allgemeinen Gewühle bedrängte das Blatt mit dem schnelleren Wachstum das andere. Der Bambus wuchs fast zusehends täglich mit wohl fußlangen weichen Trieben. Hier vorn die junge Rotangpalme – zierlich strebt das Stämmchen auf, aber wohin sich wenden? Wo ist Platz? Licht? Luft? Da im Blätterdickicht ist eine Lücke offengeblieben, die bis zum Glasdache reicht, hinein schickt die Pflanze ein Blatt, das in einer meterlangen dünnen unzerreißbaren Geißel endet, und diese krallt sich mit ihren metallharten spitzen Widerhaken in den Baumwuchs, in Ast und Zweig und Blatt und jegliches, das als Stütze dienen könnte. Sie schießt fast die Röhre hinauf, und bald konnte Gudula oben über der Blätterkuppel das zarte Palmkrönchen sich entfalten sehen. Aber weiter wächst der Rotang, und stößt er oben an die Grenze seiner Welt, so kehrt 21 er um, wächst wieder zurück und hin und her und kreuz und quer, und bald hat er mit wohl hundert Meter langem Aufwuchs das seine zur Verdrahtung und Verflechtung des Urwaldes getan, während sein Stämmchen an der Erde nicht über die Dicke eines Kinderbeinchens hinausgedieh. Und seht die Liane: hier ist sie stark wie ein Arm, lang wie ein Tau, dort dünn wie ein Draht und fein wie ein Faden, sie läßt Luftwurzeln wie Zotteln herabhangen, die wieder im Boden Fuß fassen, bald schwillt und strotzt der Kraftstrang auf, und was erst wie eine zwischen Baum und Boden gespannte Saite, als Gudula sie einmal anstreifte, schwirrte, verstockt sich und wird selbst ein Stamm, und die Pflanze hat ihre Herkunft und den Ort ihrer ersten Wurzel selbst vergessen, während sie mit geringelten gedrehten korkzieherengen Windungen den fremden Wirtsstamm umschnürt, ihn abdrosselt, erstickt: dem stirbt oben die Krone weg, die Blätter falben, von seinem eigenen Gewichte und dem, was an Überpflanzen auf ihm wuchert und an Lianen an ihm hängt, bis zum Zerreißen gebogen, bricht er durch, als einmal der schwere Affe mit langer Greifhand hangelnd ihn erfaßt, und kracht mit eigener und fremder Masse nieder in die wuchernde Welt; aber die Girlanden der Lianen fangen ihn auf, selbst zum Sterben kann er nicht 22 den Boden erreichen, und er verdorrt dort oben in luftiger Höhe. Aber er hat ein Loch gerissen in die Phalanx des grünen Heeres, eigene und fremde Art zerrissen, erschlagen, zertrümmert, doch in die freigewordene Gasse zielen züngeln langen schießen hundert andere lichtgierige Blätter Blumen Triebe Sprossen hinein – und über ein paar Tage ist sie wieder geschlossen, wenn nicht etwa die Äffin sie häufig benutzt, um ins grüne Gewölbe hinabzuturnen, und die Vögel sie nicht mit ihrem Schwingenschlagen die frischen Triebe streifend und schädigend, eine Weile offen halten.
Da laufen wahrhaftig die Blätter, aber es sind die grünen Meerkatzen, die niedlichen, die lustigen, die, wenn sie in ihrem Astwandel einmal jäh stillehalten, von einem Haufen Blättergemüse kaum zu unterscheiden sind, und jetzt geht Madame Lili, die Schimpansin, auf ihren Morgenspaziergang: wo ist sie denn? Dort raschelt Laub, jetzt wird ein schwarzer Fleck, der Rücken, sichtbar, ist aber im Nu wieder verschwunden – ein Aufpfeifen der Makaken, denn offenbar jagt sie spielerisch der große Affe, eine Blätterkuppel rauscht und braust wie im Gewitter durcheinander, dann aber tönt irgendwo fernab, wohin er blitzschnell gelangt ist, der dunkle Gesang des Affen, der dazu mit einem Holze auf einer hohlen 23 Baumstelle trommelt, während die Meerkatzen miefend und pfeifend in das Morgenkonzert des Behagens einstimmen.
Es ist ganz still, man hört die Bäume tropfen vom Dampfnebel dieses Morgens, und plötzlich setzt auch das aus, und es ist, als hielte die Natur den Atem an – da verliert ein dichtbelaubter Zweig seine großen Blätter: es ist aber ein Flug grüner Amazonaspapageien, die so jäh auffliegen, daß die nackte Aststange ihnen nachschnellt, und mit einem furchtbaren ohrenzerreißenden Geschrei und Gekreisch sich in den Raum wälzen. (Ein Schnellzug rollte in diesem Augenblick in der Nähe der Gärtnerei in die Weltstadt hinein, aber in dem Geschrei ging der eiserne Donner unter.) Währenddessen sind die Vögel wieder im allgemeinen dicken dichten öden und eintönigen Grün der Blätterwucherung ertrunken, wo auch Gudulas für die Tiere ihrer Welt scharfgewordenes Auge sie nicht mehr ausmachen konnte. Doch, da oben sitzen sie! Daran zu erkennen, daß ein feiner Regen von Hülsen entkernter Früchte niedergeht, während es aus der Gegend leise knurrt und behaglich murrt. Jetzt stimmen die Araras wieder ein scharfes eiferndes Gekreisch an, das durch Mark und Bein geht: in ihren kleinen Vogelgehirnen tauchte plötzlich, als sie Gudula unten gehen sahen, 24 die Erinnerung an einen Fremden auf, der eines Tages in die leere Straße des Indianerdorfes trat, denn in Brasilien leben die Wachthunde auf den Bäumen. Nun macht sich ein schwarzer Pfefferfresser, ein Tukan, der sonderbare Nashornvogel, zu einem kurzen Ausflug auf, sitzt an auffälliger Stelle und bringt aus seinem zitrongelben, feuerrot gespitzten Riesenschnabel eine Melodie melancholischer Töne hervor, dunkel und geheimnisvoll wie der Urwald. Irgendwo tief unten klatschen Gudulas nackte Sohlen im patschnassen Grunde. Jetzt schiebt sich der rote Brüllaffe ganz langsam und träge auf einem Aste vor, legt sich bäuchlings darauf, nur mit dem Wickelschwanze sich haltend und die Viere kläglich von sich streckend, verharrt eine Weile reglos wie ein uraltes Männchen, das schlafen will, und stimmt ohne sichtbaren Grund einen ungeheuerlichen Gesang an, in dem Röcheln eines Erdrosselten, Knurren einer großen Katze, Grunzen des Schweines und furchtbares Brüllen sich folgen und mischen, und zeigt zugleich ein so trübseliges Aussehen, verbreitet einen widerlichen abscheulichen Drüsengeruch, läßt Harn und verliert Kot, daß die Natur allen Jammer der Kreatur durch ihn aussprechen zu wollen scheint, während die kleinen Affen aus unbekannten Winkeln dazu wie die Sperlinge pfeifen.
25 Bis auf den Grund des Urwaldes drang die Sonne durch das großblättrige Gewölbe nicht mehr herab. Ein grüner Dämmer herrschte immer hier, wechselnd mit der Finsternis der Nacht. Hier unten gab es nur zwei Tagzeiten, Dämmerung und Nacht, und nur eine Jahreszeit, schwülen Sommer. Diesen schläfrigen astronomischen Zweitakt nahm Gudulas Leib und Seele als Lebenstakt an. Die ehemals offengehaltenen Querschläge waren in unglaublich kurzer Zeit so zugewachsen, daß ohne Kappmesser kein Durchkommen in ihnen gewesen wäre; aber weil während des Verwilderns des Waldes Martin und Gudula täglich viele Gänge hindurch machten, so bildeten sich neue enge Gassen, wie sie sich im wahren Urwald durch den täglichen Tierverkehr und -wechsel vor Jahrtausenden als allerälteste Straßen auf der Erde bildeten. Ungezählte Geschlechter von Hirschen, Tapiren, Wildschweinen, Elefanten und Tigern sind sie, mit den Flanken die Laubwände streifend, entlanggezogen, und dann hat der Mensch sie mitbenutzt. Diese Gäßchen liefen in weiten Schleifen und kreuz und quer, ein grünes Labyrinth, und ihnen nachgehen machte einen größeren Raum vortäuschen als dieser kleine Urwald bedeckte. Auch anderes hatte sich geändert: ein Rinnsal mit salzhaltigem Wasser fädelte jetzt hindurch. Daran fanden sich regelmäßig 26 alle Tiere ein, die der Sulze bedurften; wenn der große Nashornvogel seinen gewaltigen Schnabel, groß wie sein übriger Körper, mit Wasser füllte, und dann, die Sulze in die Kehle laufen lassend, mit einem Blick zum Himmel den Schnabel hob, sah es aus, als setzte er eine Flasche an den Kopf. Da fand sich auch aus dem dichten Unterholz von Schattenpflanzen aus seiner versteckten unauffindbaren Laublaube das Blauböckchen zum Salzaufnehmen ein, die Windspielantilope, hasengroß, das zierlichste Geschöpf aus Gottes Erfindung, auf drei dünnen zitternden Läufen stehend, mit dem Stummelschwänzchen wippend und mit der nassen schwarzen Muffel beweglich und rührend in die Luft schnuppernd. Anfangs hatte sich dieses scheueste aller Tiere nach seinem Einbringen selbst Gudulas Ortskenntnis erfolgreich entzogen, sie fand nur hin und wieder auf dem Wildwechsel seine frische dampfende Losung; bald aber faßte das ängstliche Wesen Zutrauen zu Gudula, die damit wirklich die waldvertraute Tiergöttin geworden war.
Sie ging nun im Walde immer nackt, da der geschlechtslose Martin sie ihre Nacktheit nicht erkennen machte und von außen her kein Auge mehr die Mauern des Blätterhauses durchdringen konnte. Wenn sie im Schweigen des Grundes unhörbar 27 wie die großen Edelkatzen auf den Ballen ihrer nackten Füße die Tierpfade schritt, hörte sie wohl einmal die harten Schalen der Läufe eines der kleinen Spalthufer, die sie hochmachte, sich in andere Gegenden verlieren.
Ganz harmlos war indessen auch dieser Urwaldableger nicht, und es wäre auch schade gewesen, wenn ihm die Stimmung des Furchtbaren und des leisen Grauens gefehlt hätte, das in keiner echten Natur fehlen darf, und das nur die Torheit des zivilisatorischen Menschen aus der Natur zu bannen sucht. Martin trug an den Füßen gediegene Schuhe und an den Unterschenkeln Ledergamaschen, aber durch die Schnürlöcher der Schuhe fand sich streichholzdünn die Pein des Tropenwaldes durch, der Blutegel – Gott mochte wissen, wie er sich in diesen Spielfall von Urwald hinübergebracht hatte. Jeden Abend fand Martin beim Entkleiden eine Gesellschaft dieser kleinen Geschöpfe an seinen Beinen festgesogen, es half wenig, ihnen mit dem Messer nahezukommen, wie er im Unmut und sogar untertags fluchend öfters tat. Nein, Martin war trotz seinem Leben in Afrika kein rechter Urwäldler, er ärgerte sich über das heimtückische Getier, das doch auch leben will, er fühlte das leise Prickeln, mit dem sie ihren Kopf in die Haut bohrten, noch als Schmerz, ja er empfand in 28 einer allzu menschlichen und sogar europäisch-bürgerlichen Weise Ekel vor diesen Wesen, deren zweckhafte Gestalt und Lebensart ebenso schön war wie irgendetwas anderes an Geschöpfen, das die richtig und weit verstandene Natur aufzuweisen hat. Anders Gudula. Sie sah die Blutegel an als ein Stück des Ganzen, von dem auch sie nur ein Teil war, sie suchte sich der Quälgeister in der ernsten und sachlichen Verständigkeit der großen Tiere zu erwehren, ohne viel Wesens daraus zu machen, wenn das kleine Geschwister pfiffiger und hartnäckiger war als sie, das große. Jedenfalls, war sie angefallen, so war es das beste, sie sich vollsaugen zu lassen, dann fielen sie von selbst ab, um am Boden fingerdick und faul zu verdauen. Je nun, andere große Tiere des Urwaldes, selbst die Fürsten und Könige, waren gegen die zudringlichen kleinen nicht gefeit, für den Elefanten draußen in der freien Natur hielt sich sogar ein fußlanger Egel bereit. Nun ja, er wird mit ihnen fertig, der stampfende Großkönig, wohl meist, indem er sie nicht beachtet, obgleich er einen geschickten langen Rüssel hat. Mögen die erbärmlichen Biester ihren halben Liter Blut saufen, er hat einige gute Fässer voll davon im Leibe. Mein Gott, jeder von uns hat irgendwelche kleinen Plagegeister und Widersacher, und die Natur hat uns denn auch mit dem 29 einzigen, letztlich wirksamen Mittel gegen sie ausgerüstet: Geduld und Verachtung. Weil Gudula nackt ging, war sie den Blutegeln besonders ausgesetzt. Bei dem leisen, für die menschliche Sinnesgrobheit unmerklichen Erdbeben, das unserem Schreiten voraufeilt, selbst der elfenhaften Gudula barfüßigem Gehen im weichen Humus, Moder und Mulm des Bodens, richteten sich, feinnervig erweckt, auf dem Stockausschlag des Unterholzes die wie ein Wollfaden dünnen Tierchen auf und züngelten mit dem Körper, nur mit dem Hinterleibe festsitzend, in der Luft herum – eben von der Vorübergehenden angestreift, kleben die Egel das Kopfende an dem Menschenleibe fest, lassen das Hinterende fahren und reisen mit dem Wirte ein Stück in der Welt herum. Das nackte Mädchen war nie ohne ein paar dieser Gäste zu denken, sie lernte sich so würdig gegen sie benehmen wie ihre großen Brüder, der Elefant und selbst der jähzornige Tiger: sie gewöhnte sich daran.
Keiner unserer Sinne ist der Natur so abgestorben wie der arme Geruch in unseren jämmerlichen, ewig verschnupften Nasen. Was wäre also der Urwald gewesen ohne seine Gerüche? Wie eine Rose ohne Duft, wie eine Frau ohne Haar wäre er gewesen, und wahrscheinlich wäre er überhaupt nicht gewesen und er hätte sich für sein Erstehen im 30 Anstandseuropa bedankt, wenn er nicht seine eigene Luft hätte atmen dürfen. Er hat eine andere Benennung für die Gerüche als der Mensch. Er hat ja auch Düfte, so süß wie die der Orchideen, beglückend, bezaubernd, berauschend. Aber er durfte nicht werden wie der entnervende, parisisch parfümierte Damenalkoven, also brauchte er den Stank von dem die Baumäste beklatternden Kote des Brüllaffen und der Papageiendärme. Einen starken Atem von Gerüchen gab der Wald von sich, es schmächtigen und dürren Sinnen überlassend, ihn unerträglich zu finden – Gudula war nicht von schmächtigen und dürren Sinnen, ihre Geruchsfähigkeit erweiterte sich, und es vergrößerten sich sogar ihre stets geblähten Nasenflügel.
Trotz allem aber konnte der Urwald so lange kein rechter sein, als nicht der afrikanische Leopard oder der indische Tiger in ihm lebte. Irgendeine wirkliche atemverstopfende entsetzliche, das Herz aus seinem ruhigen Gange entsetzende Gefahr mußte darin sein. Auch diese kam. Der Freiländer hatte sein Gelüst nicht schlafen geschickt, sondern je weniger er Gudula von Gibichen vor die Augen bekam – er sah sie eben gar nicht mehr – um so begehrenswerter erschien sie ihm. Es mochte auch unbestimmte Kunde zu ihm hinausgedrungen sein von dem paradiesischen Kleide, 31 das sie im Walde trug, wer weiß, sicher ist, daß er in diesen Nächten – draußen war es wieder einmal Sommer geworden – öfter das Glashaus umschlich. Aber durch die Scheiben hindurch war nichts zu sehen, Pflanzengerank und Blättergewirr preßten sich schon dicht, vom Wachstumsüberdruck aus dem Inneren geschoben, ans Glas. Die malaiischen Buschleute auf Sumatra kennen den Tigermenschen. Es gibt Menschen, sagen sie, die sich in Tiger verwandeln können, am Tage sind sie Menschen, aber nachts gehen sie als Tiger auf die Menschenjagd. Man kann diese Menschen am Tage daran erkennen, daß sie auf der Oberlippe unter der Nasenscheidewand nicht das flache Grübchen haben. Der Tigermensch bleibt die Nacht draußen, reißt und schlägt Tiere und Menschen, morgens aber findet man ihn unter seinen Genossen im Schlafhause als Menschen liegen. Er ist müde und verschlafen natürlich, es ist also verdächtig. wenn jemand morgens übernächtig ist und ihm das Aufstehen schwerfällt. Es könnte ein Tigermensch sein.
So lebte denn Gudula von Gibichen die fast ununterschiedlichen Tage dahin. Da sie die Sonntage nicht mehr hielt und zählte, entschlüpfte ihr das Wissen um die Wochen, sie büßte die Kenntnis der Monate ein und vergaß im unverändert gleichen Jahre die Jahreszeiten. In den Nächten aber lag 32 sie leicht und – man muß es sagen – fast wohlig zitternd auf ihrem Lager, denn sie hatte den Tigermenschen schleichen hören. Sie fühlte, daß jetzt erst ihr Wald vollkommen war. Wenn es nun leise in dem verknoteten Holze knackte und rieb, wenn sie einen Huf jäh verhallen, einen Vogel im Schlafe kurz aufflattern und wieder einfallen hörte, vernahm, wie ein Rabenvogel einmal rakte und das Blauböckchen leise sulzen ging, dann fühlte sie sich ohne Rest und ohne Opfer wohl und glücklich. Das heißt, nicht wie Menschen glücklich, die Glück als etwas Bewußtes, Außerordentliches genießen, sondern wie die Tiere glücklich, für die Glück nur der unbewußte Zustand einer ungestörten Naturgegebenheit ist. Wenn sie einmal aufwachte, fand sie wohl die Menschenäffin auf dem Rande ihrer Bettstatt sitzen, die sie nachdenklich und mit der uuerschütterlichen Geduld, wie nur Tiere sie haben, betrachtete. Manchmal wochenlang ließ die Äffin sich nicht sehen, sie saß hoch oben in den Baumkronen in ihren Nestern, von denen sie jeden Tag aus verschlungenen Ästen und Zweigen ein neues machte. Aber namentlich monatlich einmal, an den Tagen, wo auch sie als das einzige weibliche Großtier ihr Körpererlebnis hatte, kam sie langsam die Asttreppe hangelnd herab, setzte sich auf die Bettstatt und betrachtete ihre Schwester aus dem 33 verwandten Geschlechte. Sie saß, die Greiffüße nach Art von Händen übereinander gelegt und die langen Arme in ihrem haarigen Schoß. Draußen schlich leise der Tigermensch herum.
Am frühen Morgen, beim ersten Grauen des Tages erwachte Gudula und war, ohne sich lange zu räkeln, wie die Tiere des Waldes gleich wach. Sie trat aus ihrer Klause, begrüßt von tausend Stimmen unverfälschter Natur. Es pfiff und maulte von Makaken, es krächzte und gröhlte, es rakte und kolkte von Tukanen, der australische Kuckucksvogel warf sein gellendes Gelächter drein, der Brüllaffe sang sein markerschütterndes Jammerlied, und die australischen Kakadus stimmten ihr fürchterliches Geschrei an. Die Blumen dufteten frisch süß und betäubend und stanken zu gleicher Zeit von den in den Blütenkelchen verwesenden Leichen gefangener Kerbtierchen. Auf einem nackten hellgrauen Zweige saß ein Pärchen der kleinen Sperlingspapageien, die grünen Sittiche, und gurrend rieben sie die Schnäblein aneinander. Langsam, schaukelnd und schräg fielen Kronen von Blumen und schnell, gewichtig und senkrecht verlebte dicke Blätter vom Gummibaum zu Boden.
Gudula ging in den Wald an ihr Geschäft. Sie suchte mit Leitern und, wenn sie besonders lebensfroh war, nach Australierart die glattesten Stämme 34 stehend mit der gedrehten Lianenschlinge hinankletternd, die Orchideen aus, die Aftermieter auf den Bäumen, reinigte, pflegte oder schnitt sie auch, wo sie gut entfaltet waren, ab. Sie übergab ihre holde Beute Martin, der brachte sie als Zins für das ungestörte Leben der beiden nach draußen zum Besitzer, der sie auf die Blumenmärkte sandte und dafür das zum Leben Notwendige den Urwaldbewohnern hereinschickte.
In jener Zeit hielt sich Viktor Rethel in der Großstadt zu Studien auf und hörte von den glücklich durch die Zeit hindurch erhaltenen Gewächshäusern in der Gärtnerei. Er suchte sie auf. An das Tropenhaus schloß sich ein kleineres und niedrigeres Haus an, das ausschließlich der Orchideenaufzucht diente. Der Besitzer, dem er seinen Wunsch vortrug, in diesem Hause die Orchideen studieren zu dürfen, erklärte sich machtlos gegenüber dem Eigensinn Martins und überließ es ihm, von diesem sich die Erlaubnis zu erwirken. Es gelang. In das Orchideenhaus durfte Viktor eintreten, nachdem er seine Füße durch ein Ehrenwort gefesselt hatte, nicht ins Tropenhaus zu gehen. Da sah er auch hin und wieder Gudula von Gibichen. Sie kam herein in einem graukattunenen Kleide, unter dem sie offenbar nichts anderes trug, und nach einem ersten mißtrauischen, ja erschrockenen Blicke 35 auf Viktor, den Martin mit einem stummen Gegenblick beruhigte, ging sie an ihre Arbeit und beachtete ihn nicht mehr. Aber allmählich gewöhnte sie sich auch an Viktor, wie sie sich an die Äffin und an die Blutegel gewöhnt hatte, und sie tauschten hin und wieder ein sachliches Wort. Sie belehrte ihn kurz auf die eine oder andere Frage, und bald fühlte Viktor, daß das Lehren ihr Freude mache. Er fühlte, daß sein Menschliches sie ganz fein berühre, wenn es sie auch nur so leicht streifte wie die tiefstehende Sommersonne die Landschaft am Pole. Auf ihn aber, allen Dingen der Natur tief verhaftet, strömte ein Zauber von diesem merkwürdigen Wesen über, das in einer naturfern gewordenen Welt ohne Gleichen war. Die Natur, die er liebte – liebte er plötzlich auf eine besondere Weise! Gudula züchtete neue Arten von Orchideen. Sie glaubte den merkwürdigen Kunstgriff gefunden zu haben, durch reichliches Wässern der jungen Pflänzchen weibliche, durch sparsames männliche Blumen erzeugen zu können. Ihre Gedanken entfernten sich nicht von diesen Bemühungen, die Unterweisung Viktors blieb in diesem Kreise . . .
Das war eine Pracht im Orchideenhause! Ach, was doch die Natur an Schönem hervorbringt! Ein Menschenleben, dieser kurze Lidschlag der Natur, reicht kaum hin, alles auch nur einmal eine Sekunde 36 lang anzusehen. Die Orchideen! Da waren die Kattleyen, rote Kelche mit einem Paar schneeweißer Blütenblätter gleich Schmetterlingsflügeln; da waren die vielen Arten mit Edelsteinpunkten jeder Farb- und Formerfindung auf den Blättern, weiß wie Schleier; da war die merkwürdige Kannenblume Nepenthes mit krugförmiger Blüte und die Vanille mit dem aromatischen Harz ihrer langen Schoten. Große und kleine, stolze und bescheidene, kokette und verschämte, warum sie nennen? Und zu ihrer Bestäubung hat die Natur fabelhafte Insekten und Falter erfunden, und die rastlos wie Schwalben sie umschwirrenden Kolibris, vom Sperlingsausmaß bis hinab zur Größe der Hummel, an Farbe von der aller edlen Metalle und Steine, erzgrün, stahlgrau, goldigschimmernd, geflügelte Blumen oder blumige Tiere, wie sie das ganze rotblumige Amerika vom Kap Hoorn hinauf bis zum Gleicher und von da bis nach Alaska hinab lieblich umgaukeln, deren holde Namen schon Gedichte sind: Paradiesvögel, Sonnenkolibris, Wald- und Blumennymphen, Blumenküsser, Prachtelfen, Flaggensylphen – einmal ließ Gudula Viktor lange warten, und schon fühlte er in der warmfeuchten Dampfluft ein leichtes Unwohlsein ihn anwandeln, als sie plötzlich aus dem Tropenhause herauskam. Sie ließ die Tür hinter sich offen, und was bekam 37 Viktor zu sehen? Es folgte ihr ein Schwarm dieser geflügelten Edelsteine, der unsagbar farbige Luftzauber stand, den Fremden prüfend ansehend, im Raume (das Flügelregen konnte man nicht sehen, man bemerkte neben dem bunten Punkt des Körperchens rechts und links nur zwei neblige Wölkchen). Viktor trug in der Hand einen Blumenstrauß, Strauß von Feldblumen, wie er sie an einem Bache beim Gange heraus gepflückt hatte, Butterblumen, Löwenzahn, Sauerampfer, Vergißmeinnicht und die auf den Wiesen wachsenden Orchideen, Knabenkraut und Frauenschuh. Die Kolibris, von Natur zutraulich und neugierig, stürzten auf Viktor zu, auf den Strauß in seinen Händen zu, stürzten um ihn herum in ihrem nach Art flügelstarker Insekten zickzackenden gedankenschnellen Fluge, dem das Auge nicht folgen, dessen Punkte des Verweilens es nur feststellen kann, standen getragen von der mechanischen Kraft jener Wölkchen vor ihm in der Luft und untersuchten den Strauß. Sie untersuchten ihn mit ihren großen gebogenen Schnäbeln, mit denen sie auch vernehmlich klapperten, und den noch längeren Zungen – aber sie wußten mit den Blumen in Viktors Strauße nichts anzufangen, sie verließen ihn und warfen sich, mit dünnen Stimmchen lärmend, zurück in die Luft, spiel- und streitlustig untereinander, und machten 38 sich an ihre Orchideen. Viktor hatte den Strauß für Gudula gepflückt und überreichte ihn ihr. Er hatte ihn als Huldigung gedacht für sie, die ihm schon eine verkörperte Flora war. Aber Gudula war wie ihre Kolibris: sie schien Löwenzahn und rötlich blühenden Sauerampfer nicht mehr zu kennen, sie wußte nichts Rechtes mit Viktors Blumen anzufangen, sie nahm ihm den Strauß aus der Hand, bedankte sich kurz, roch daran und legte ihn in ein Büschel der Zwergfarne – unsere Natur mitsamt ihren Orchideen war ihr und ihrem Tiergeschwister zu arm. Die Vögel kamen zurück, sie setzten sich ihrer Freundin ins Haar und saßen auf ihrer Schulter. Sie nahm ein Stück Zucker in den Mund und ließ es zergehen – die hungrigsten der Vögel standen nun schwirrend vor ihrem leichtgeöffneten Munde, schoben die langen Zungen hinein und schleckten ihren von aufgelöstem Zucker süßen Speichel, den sie sogar aus der Höhle unter ihrer Zunge herausholten – ein unsagbar holdes Bild. Gudula lächelte und sah Viktor an, aber nicht im mindesten selbstgefällig und auch nicht, um sein Bewundern zu erregen, denn was da liebes Naturleben geschah, es war ihr vor Selbstverständlichkeit unauffällig geworden. Auch er konnte nichts sagen, ihn schlug die großartige Gelassenheit der Natur in ihren Bann. Nun begaben sie sich an 39 ihre Arbeit. Gudula wehrte mit einer unbeschreiblichen Gebärde, indem sie die Hand langsam über den Kopf führte, die lieblich zudringlichen geflügelten Schwestern und Kinder ab, ohne ein Vögelchen zu berühren. Sie ließen sie auch folgsam in Ruhe. Viktor fühlte eine gewisse Beunruhigung in Gudula. Sie beschäftigten sich wieder mit der Fortpflanzung der Orchideen. Sie zeigte ihm die wundervollen Apparate der Bestäubung und Befruchtung, schon mehrere Male hatte sie sie ihm erklärt (merkwürdige Lust, mit einem Manne zusammen und zugleich dieses selbe zu denken!) – und plötzlich fühlte er, daß Gudula, ganz unwillkürlich und ihr selbst offenbar unbewußt, sich an ihn, der, um gut sehen zu können, dicht neben ihr stand, anschmiegte. Sie genoß die Wärme und Lebenserfülltheit seines Körpers. Und da ging etwas Seltsames in ihr vor. Merkwürdig blickten ihre Augen ihn an, und sie schien mit sich selbst zu flüstern. Plötzlich faßten ihre Hände mächtig Viktors Schultern und sie rief: »Wilhelm!«
Aber der Laut erstickte im Walde, schreckhaft und ohne jedes Echo, als fingen ihn tausend grüne Arme eilig auf und erwürgten etwas Fremdes, das in den Wald gedrungen war. Auf Viktor wirkte das mit der Übermacht des Außerordentlichen, und seine keimende Liebesregung wurde vom Dämonischen 40 niedergetreten. Und er mochte etwas davon ahnen, daß ihr nur seine bloße Anwesenheit diente. Auch sie hatte ihr eigentliches Wollen nicht erkannt. Sie hatte ihre Arme von seinen Schultern fallen lassen, und es wehte wie Verwirrung über ihr Gesicht. Nicht ein Mann, nicht dieser oder jener . . . – jetzt erhellte sich ihr Antlitz, der Ausdruck ihrer Züge wurde bestimmt, ein Weg über die Fantasie und den unermeßlichen Gedanken, wo die Naturgöttin vom Naturgotte gestillt wurde, hatte sich ihr aufgetan: sie reichte ihm das feine, in lauem Wasser vorgewärmte Glasstäbchen und hieß ihn, die feinen goldenen reifen Pollenkörnchen einer Blüte auf die feuchte Narbe einer anderen übertragen: als er das mit nicht mehr sicheren Händen doch glücklich zu Ende brachte und die Narbe sich langsam schloß, ging ein Erschauern über sie . . .
Viktor ging nicht wieder in die Gärtnerei. Er sah auch Gudula nicht wieder. Sie hat sein Ausbleiben kaum bemerkt. Ein kleines Stutzen, als sie Viktor das nächste Mal nicht im kleinen Orchideenhause fand, das war alles. Sie vergaß so schnell wie ein Tier zu vergessen pflegt.
Nach dieser Erschütterung und Erfüllung aber begann sie zu kränkeln. Sie hatte sich mit Viktor zu 41 lange und ohne große körperliche Bewegung in dem Orchideenhause aufgehalten, dessen ein wenig kühlere Temperatur, in der ihm auf die Dauer noch schwach wurde, auf die Orchideen der Bergländer Nepals gestimmt war. Es legte sich auf die Lunge, und sie begann zu hüsteln. Sie war ja kein rechter Mensch mehr, der am meisten von allen animalischen Wesen sich anzupassen vermag und in der Tat mit allen Temperaturen der Erde zwischen dem heißen Gürtel und den Eiskappen fertig werden kann. Sie war ein Tier und empfindlich wie ein Tier. Sie verließ nie mehr das große Warmhaus, in dem sie jetzt Tag und Nacht nackt war und wo in einem feuchten Winkel ihre Kleider vermoderten; die kühlen Orchideen der tropischen Bergländer des Himalajas überließ sie kurzerhand sich selbst.
Der Tigermensch! Eines Nachts drang der Freiländer ins Warmhaus. Er hatte wohl eine Scheibe ausgehoben – nein, er war durch einen Wasserkanal von außen hereingekrochen, denn er trat nackt und naß auf. Der Mond schien, durch Ritzen im Laubwerk reichte er hier und da bis auf den Waldboden herab, und Gudula wandelte nackt in der Wildnis. Da begegnete ihr auf dem Pfade der Tiger. Der Urwald schlief. Schlief wie alles heftige Lebewesen: 42 erregt, murmelnd, raunend, sich rührend, schwer träumend. Es wisperte und knackte im Holze. Jetzt war es totenstill, und jetzt trompetete unversehens der Tukanvogel auf seinem Nashorn.
Als der Tiger erschien, stand gerade das Blauböckchen an der Tränke und sulzte. Wie ein Pfeil, vom Bogen seiner Läufe abgeschossen, versank es ins Dickicht von Mimosen und Christusdorn. Auch der Tiger kann sich verwundern, es kommt vor, daß auch der Tiger ob irgendeiner ungewohnten Erscheinung seines Opfers stutzt und einen Augenblick die Fassung verliert. So hier. Der Tiger stockte, obgleich er Bescheid wissen mochte, als er die Eva dieses Paradieses nun leibhaftig nackt um eine Krümme biegend sich gegenüber sah.
Auch das Weib stockte. Sie empfand einen furchtbaren Schrecken – aber eigentlich auch eine Lust, unwillkürliche Lust darüber, daß durch die Wirklichkeit des reißenden Wildes ihr Urwald plötzlich wild und echt war. Es war doch ein zahmer Urwald gewesen, trotz Äffin und Blutegeln. Ihr Schrecken war erhaben. Alles erlebte sich in einer Sekunde.
Dann begann die Flucht. Der Tiger folgte. Ein Schrei der Befriedigung, das Opfer endlich nahe zu sehen, entbrach seiner Brust. Der Tiger war schnell und gewandt, aber die Frau kannte den Ort, die 43 Irrwege des grünen Labyrinthes und die Durchlässe im Unterholze, die das Blauböckchen offenhielt. Höchste Lust des Ernstfalles genoß die Gejagte. Einen Augenblick empfand auch das schöne große Tier in ihr die süße Wonne der weiblichen Versuchung zur Nachgiebigkeit vor dem männlichen Verfolger. Sie empfand, was jedes Weib, auch wenn es durchaus nicht will, freudig empfindet: Geschmeicheltsein über die jahrelange treue Beharrlichkeit auch eines feindlichen männlichen Willens. Aber sie war auch darin echtes weibliches Tier, daß sie unbarmherzig strenge Auswahl in zusagender Männlichkeit treffen mußte. Dann war der Freiländer aus tiefem Instinkt, und schon von je, verworfen.
Die Sohlenballen der Jagenden rutschten und klatschten über den feuchten Waldboden. Gudula geriet doch allmählich in die Enge. Aber sie schrie nicht, es hätte ihr auch nichts geholfen, man war nächtliche Schreie aus dem Urwalde gewohnt, Martin war weit in seinem Schlafhause, und übriges Gesinde hätte sich nachts nicht in das unheimliche Waldhaus getraut, ein Hilferuf ist auch unangemessen im Urwald, wo nur Selbsthilfe gilt. Der Freiländer trieb Gudula in den Winkel des Baues.
Dort lag der große Regenwassersarg. Die amerikanische Seerose, die als Königinblume den 44 Bewunderern bekannt ist, ließ die metergroßen Pfannen ihrer Blätter auf dem Wasser schwimmen. Gudula trat auf die grünen Riesenteller, welche unausgewachsene Kinder zu tragen vermögen. Und auch ihren mageren sehnigen Mädchenkörper trugen. So schritt sie, stand sie wie eine Pflanzengöttin auf den willigen Blättern.
Der Freiländer suchte die Waldelfe vom Mauerkranze des Behälters aus zu haschen. Als er jetzt fast ihre Haarfahne erreichte, sprang Gudula ins Wasser. Ohne Gefahr, es waren ja keine Alligatoren darin, wovon der Orinoko steif ist.
Das Wasser war über Menschenmaß tief. Sie schwamm. Ihre Haare lagen auf der Fläche. Danach griff, niederkniend und sich hinausbeugend, der Feind. Da tauchte Gudula auf den Grund.
Aus der Tiefe durch die dicke trübe Scheibe des Wassers hinaus sah sie den Mond ziehen und im Wasser die schwarzen Schatten der Tellerblätter stehen. Und sah undeutlich auch den roten Leib des Mannes in hilfloser Wut auf dem Mauerkranze laufen.
Als sie Atemnot bekam, stieg sie langsam auf, unter eines der Riesenblätter, das sie mit dem Kopfe so weit hob, daß sie Luft bekam. So hielt sie sich eine Weile schräg liegend mit leichten Handbewegungen 45 unter der Wasserfläche. Der Freiländer meinte, ihren Umriß im dicken Wasser undeutlich erkennend, Schwimmhäute zwischen den gespreizten Fingern ihrer Hände zu sehen.
Wie lange sie dort im tropisch lauen Wasser zwischen und unter den nymphäischen und neptunischen Pflanzen sich aufhielt, hin und wieder nur wie ein Krokodil oder ein Flußpferd die Nasenlöcher zum Luftziehen an die Oberfläche brachte und absank, das kann man schwer sagen. Denn sie fühlte sich äußerst wohl in dieser warmen Wasserwelt. Sie wohnte im Orinoko unter einer tropischen Mondnacht, es konnte, was sie anging, ein Jahrhundert dauern, sie würde Flußmuscheln und Austern der Strommündungen essen, die furchtbaren Alligatoren, nach deren Weise sie atmete, würden sich an sie gewöhnen, die Pflanzen würden sterben und neue Sprossen treiben, sie würden sich ewig wieder wunderbar befruchten wie jene Unterwasserpflanze, die nur zur Fortpflanzungszeit die Stiele ihrer Blüten zur Oberfläche hinaussendet, wo die männlichen Blüten sich lösen und als samenbeladene Schifflein im Inselmeer der weiblichen Blüten umherfahren und die Ladung ihrer Pollenbunker in die Häfen der Narben löschen, und die dann die Stiele der weiblichen Blüten einrollt und an sich zieht, um im feuchten Grunde 46 die Früchte reifen zu lassen. Sie würde sich an diese Sauerstoff entwickelnde Pflanze ansaugen und überhaupt das Aufsteigen zur Atemwelt unterlassen. Und der alte Mond, ausgebrannt und versteint, würde am dauernden Himmel ziehen und die unbestimmt abgegrenzten Schattenzylinder der Tellerblätter in das flüssige Reich hinabsäulen, zwischen denen man vielleicht Schwimmkunststücke treiben konnte, wenn man durch diesen Wald von Schattenstämmen umherfuhr, bis auch der Mond in einmal erlahmender Wandelspannung der Kreisläufe eines altersschwach werdenden Planetensystems in die Erde hereinstürzte und dem ganzen, eintönig gewordenen Äonendasein ein vielleicht erwünschtes Ende machte. Und der fleischige Feind mochte oben sein, eine erheiternde Erscheinung in der Sicherheit und Langeweile stark geordneter Welt, wie er, schwimmensunkundig und wasserscheu, auf dem Kranze hochkantgestellter Ziegelsteine saß und einen fürchterlichen ungeheuren Phallus hilflos ins Leere reckte. Haha, hier ist wohlsein, hier bleibe ich tausend Jahre, und der da droben kann verwesen, verfaulen, und sein grotesker Pfahl kann als ein neuer Rotbaum in das Gefilz des Urwaldes hineinwachsen und seine allzu dauerhafte Eintönigkeit um eine noch unbekannte Art bereichern!
47 Eine Hartfrucht löste sich draußen im Gipfel eines Baumes, fiel treppend von Ast zu Ast und schließlich auf den Waldboden nieder, wo sie knallend aufsprang und ihre Steinkörner versprengte . . .
Die Nymphe merkte dieses kaum, was in der drobenen andern Welt geschah, nur als schwachen dumpfen Ton brachte das Wasser die Erschütterung der Luft an ihr Ohr. Sie hätte sterben können, reuelos und frei von Forderungen in Erstickung, denn kennenswert Neues bot ihr der Kreis der Dinge kaum noch mehr. Die wahre Natur kann in jedem Augenblicke sterben, die sie sich ihrer Unverwüstlichkeit und ewigen Dauer bewußt ist. Das Atmen kam ihr fast wie ein vorweltliches Tun aus früheren Zeiten primitiver Lebewesen vor. Aber ganz leise und fast spielerisch gutmütig regte sich ein Winkelchen Menschliches noch in ihr, etwas, das man sicher droben und drüben als sehr fein und edel bezeichnen würde, falls noch Kunde aus dem flüssigen Erdteil auf den festen der Menschen hinaufgelangte: wenn sie das kümmerliche Menschlein da droben, ob auch nicht Gewalt über ihren Leib so doch über ihr Leben bekommen ließe, dann hätte er sie ja getötet, indem er ihr die Freiheit im Atemreiche verwehrte, und töten wird nach den strengen Sätzen der Menschen mit Töten am Töter bestraft. Nein, 48 das wäre eine überschwere Rache an der komischen Erscheinung gewesen, die ihr doch so viel Belustigung bereitete. Nein, das wäre sozusagen – unmenschlich nicht, was geht mich das noch an? – unverhältnismäßig, ungleichgewichtig; für Störungen, selbst solche dieser moralischen Art, dieser Forderung des Taktes, ist das Schweregefühl einer wahr und ohne Rest ergriffenen Natur sehr, fast krankhaft empfindlich – sie stieg also, aber äußerst lässig, langsam, gemächlich und gleichsam nur mit einem Bläschen Willensauftrieb, an die Atemfläche.
Der Freiländer mochte fühlen, daß er alles verloren hatte. Ihn erlöste aus seiner lächerlichen Lage die Furcht: die große Äffin, die Nachtwanderungen durchaus nicht liebt, kam, über irgendetwas in ihrem Waldhause beunruhigt, langsam und schläfrig aus ihrem Wipfelnest die Treppe der Äste herab – als sie, gar nicht in böser Absicht, vielleicht nur neugierig, auf dem Mauerkranze neben dem Menschen niederhockte und dieser plötzlich seine nackten Arme von den haarigen der Madame Lili gestreift fühlte, heulte er in Entsetzen auf und stürzte von der ein wenig erstaunt ihm nachsehenden Schimpansin fort in das Dickicht. Irgendwo fand er einen Ausweg, diesmal durch die Scheiben, deren eine er mit einem Fußtritt zerschmetterte. An den zackigen 49 Glasstrahlen des Loches rollte sich seine abgeschundene Haut auf . . .
Der körperliche Zustand Gudulas verschlimmerte sich. Ihre Brust, die schon lange keine Hügel mehr gehabt hatte, bekam Höhlen, sie hätte jetzt auf den Seerosenpflanzen schon wie die Baumelflein tanzen können. Ihr langer magerer Hals wurde vom beständigen Husten noch länger. Und so empfindlich war sie jetzt: wenn ein Flug Papageien an ihr vorüberging und die vom Schwingenschlag bewegte Luft ihre Stirn fächelte, wandelte sie schon Erkältung an, und es würde der Tag kommen, wo das zarte Flügelschwirren eines Kolibri sie tödlich umwerfen würde. Sie war vollkommen stumm, lebte nur noch mit ihren Pflanzen und dachte mit ihnen. Sie fühlte ganz einfach mit jedem Baum und wie jeder Baum, so unbestimmt, träumerisch und verblasen, aber auch so lauter, unaufhaltsam und richtungsgerade. Da die Lebensmoral in Pflanze und ihr die gleiche war, so ist es nicht verwunderlich, daß sie auf den bloßen Blick hin und oft auch ohne diesen Behagen oder Mißbehagen wie jene verspürte, gleich Ehegatten oder zärtlichen Familiengliedern, daß sie und die Pflanzen gegenseitig durch ihr bloßes Sein einen kleinen aufmunternden oder hemmenden Willensakt auf einander wirkten. Es war merkwürdig 50 genug oder vielleicht auch nur ein Wirkungsausbruch der in ihrer zufälligen Gestaltwerdung als Mensch nicht zu ihrem natürlichen Schicksal gelangten Weiblichkeit, daß sie, die unter den stattlichen Pflanzen der Tropen lebte, eine Vorliebe hatte für verkümmerte und schon aufgegebene Grünwesen. In ihrer Bambusklause zog sie ganz in der Art eines alternden Mädchens auf einem Brette vor der Scheibe in irdenen Töpfen allerlei schwächliche Blumen, gleich als ob nicht nebenan der Urwald prangte und protzte. Schon als junge Dame und Oberstentochter hatte sie einmal auf der Straße ein aus einem Mülleimer herausgefallenes trockenes und totes Zweiglein eines Kaktus aus reinem Mitleid für das Gewächs auf- und nachhause in Pflege genommen. Es hatte sie auf ihrem ganzen Lebenswege bis hierher begleitet. Siehda, jenes Zweiglein, das eine unwissende Stadtdame verworfen hatte, war gar nicht tot gewesen, in der Nähe von Gudulas Herzen und unter ihren instinktsicheren Händen hatte es sich langsam, unendlich langsam freilich, auf seinen Lebenswillen besonnen, und das graue verschrumpelte Gewächslein war grün und straff geworden. Üppig wurde es niemals mehr, die Lebenskraft war schon gar zu schwach gewesen, aber Gudula hatte dieser Kaktuspflanze, der Bewohnerin trockener Wüsten, eine 51 Glasglocke übergestülpt, um sie der allzu feuchten Tropenluft zu entziehen, und hatte ihr ein Luftfeuchtigkeit stark verzehrendes Pflänzlein beigegeben, das den beim täglichen Lüften der Glasglocke neu eindringenden Luftdampf schnell verbrauchte – aus irgendeinem Grunde haßte sie dieses Pflänzlein, mochte es in seiner ihm ungünstigen kleinen Welt kümmerlich mit dem Dasein ringen, es erfüllte seinen Beruf als Dienerin der bevorzugten Schwester, denn in der Welt muß es Unterordnung geben, und für schwächliche Gleichheitsstrebungen sind wir nicht zu haben. So gedieh denn dieser feine, übrigens stachellose Zärtling von Kaktus auf, und einmal, in der Weihnachtszeit, als sie ganz allein war, auch von draußen aus der Gärtnerei, aus der alle Angestellten nachhause gereist waren, kein Laut kam, aber von Dörfern der Nähe und aus der fernen Stadt die Weihnachtsglocken wie Stimmen aus einer vor Jahrhunderten versunkenen Welt klangen, da, wie ein Rückfall ins Menschliche, beschlich sie eine süße Melancholie und die rührende Sentimentalität der Hausfeste der Menschen. Sie war plötzlich zum Weinen traurig – aber als sie aus wasservollen Augen einen verlorenen Blick auf die Glasglocke warf, siehda, da blühte ihr Kaktus, blühte zum ersten Male seit vielen Jahren, blühte schon zu Weihnacht, 52 obgleich seine Zeit erst ins Frühjahr fällt. Er hatte ihre gegen Weihnacht heranwandelnde Trauer mitgefühlt, er hatte sich angestrengt mit der Aufbereitung seiner jährlichen Jugend, er hatte ihr eine Freude machen wollen, er wollte ihr sagen, daß er mit ihr sei. Sie hob die Glocke auf und küßte die flachen stachelfreien Blattgebilde.
Zu Dreikönig war der Kaktus aber tot. Die Blüten fielen ab und die Pflanze zusammen. Sie hatte sich wohl zu sehr angestrengt.
Auch Gudula wußte, daß sie nicht mehr lange zu leben hatte. Ihre Lunge war so geschwunden, daß sie jäh in heftigen Zügen atmete, und ihr treues Herz arbeitete nun so stampfend, schnell und schwer, wie eine Schiffsmaschine im Sturmmeer. Von ihrem Bambushause in der einen bis zum Wasserspeicher in der anderen Ecke brauchte sie eine kleine halbe Stunde.
Im Frühling ist Gudula eingegangen.
Ihre Leiche hat man nicht gefunden. Sie starb wie alle Tiere sterben, verkrochen in einen hohlen Baum oder ein tiefverborgenes Nest im undurchdringlichen Urwald. Wann ward jemals ein toter Elefant gefunden? Wo bleiben auch nur die zahllosen Vögel unseres Himmels? Klaglos und ohne Aussehen zu machen gehen die Tiere ein in Verborgenheit.