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Julien de Suberceaux hatte auf Mauds Befehl den Ball gleich nach dem Kotillon verlassen. Sie hatte ihm im Vorbeigehen folgende kurze Order gegeben: »Gehen Sie so früh wie möglich nach Hause. Ich werde nicht auf mich warten lassen ...« Sie wußte, daß er einem solchen Versprechen gegenüber gehorchen würde.
Er ging zu Fuß zurück, die großen Avenuen hinunter, die in den frühen Morgenstunden so friedlich sind, wie die Alleen eines Parks. Sein Herz, das von der Ballnacht her mit finstrer Bitterkeit erfüllt war, Maud so nah und doch so fern zu sein, widerstand nicht der siegreichen Freude des strahlenden Morgenrots. Welcher junge Mann, der eine Frau liebt, und sich wiedergeliebt weiß, kann an einem schönen Frühlingsmorgen sich einer traurigen Stimmung hingeben? Er dachte: »Sie kommt zu mir ...« und der Gedanke daran brachte wie jedesmal sein Herz und seine Sinne in solch zitternde Bewegung, daß alle Sorgen schwanden und nichts als dieser Gedanke blieb.
Das kleine stille Haus lag noch im ruhigen Morgenschlummer der vornehmen Straßen, als er heimkehrte. Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen, die Vorhänge herabgelassen und auf den geräuschlosen Treppen brannte das Licht hinter matten Kuppeln. Auch in seinen Zimmern herrschte nächtliche Stille: er mußte seinen Diener wecken, der im Vorzimmer, mit einer Decke zugedeckt, auf dem Sofa lag und schlief.
»Zünden Sie das Gas in meinem Toilettenzimmer an, Constant; bringen Sie warmes Wasser und machen Sie mir ein Bad zurecht.«
»Will der Herr zu Bett gehen?«
»Nein ... ich weiß noch nicht ... thun Sie vorläufig, was ich Ihnen gesagt habe.«
Constant nahm den Stock, den Pelz und den Hut seines Herrn, ging dann voraus in die Wohnstube, die vom Scheine eines glimmenden Kohlenfeuers erleuchtet wurde, und schickte sich an, die Fenster aufzumachen.
»Was wollen Sie?«
»Ich wollte hier etwas lüften.«
»Nein ... machen Sie nirgends auf ... Zünden Sie hier auch die Lampen an.«
Die trauliche, besänftigende Halbdämmerung, in der er sein Heim fand, that ihm wohl. Er wollte sie genießen, bis die Geliebte kam. Einige Minuten später stand er allein in seinem Toilettenzimmer. Er benutzte die Hilfe Constants bei seiner Toilette nie: er hegte den instinktiven Abscheu vor männlicher Berührung seines nackten Körpers, die sonderbare Scham, von Männern nackend gesehen zu werden und Männer nackend zu sehen, die denjenigen eigen ist, für die das Weib das Höchste im Leben ist. Es gab nur einen männlichen Körper, dessen harmonische Linien, dessen matte Bernsteinfarbe und geschmeidige Bewegungen er zu betrachten liebte, und das war der Körper, der sich in diesem Augenblick, überrieselt von dem lauen Regen des Sturzbades, im großen Spiegel zeigte, der die ganze eine Wand seines Toilettenzimmers einnahm: es war sein eigener. Er pflegte diesen Körper mit peinlicher Sorgfalt, widmete seinem äußeren Menschen eine so verfeinerte Pflege, daß andere Männer, wenn sie es sehen oder davon hörten, darüber entrüstet sein würden, und darin einen Beweis von unmännlicher Schwäche sehen; das ist aber durchaus nicht der Fall, denn Schönheitssinn und das Bestreben, seine physische Kraft zu entwickeln, sind gerade sehr häufig vereint. So war es auch mit Julien. Die quasi-chirurgische Sammlung von Feilen, Pincetten, Scheren, allerlei Bürsten und Schildpatt-Kämmen mit goldeingelegten Namenszügen, die auf zwei Tischen ausgebreitet lagen; die komplizierte, elegante Badeeinrichtung, deren Nickel und Messing im Licht der Gasflammen strahlte; das feine, gestickte vielfarbige Leinenzeug, vom Frisiermantel bis zu den Nagelservietten; die zahllosen, geschliffenen Krystallflacons mit den silbernen Kapseln – dieser ganze Apparat, dessen Bestimmung es war zur Pflege eines männlichen Körpers beizutragen, konnte natürlich zu manchem boshaften Gerede Veranlassung geben, und viele Männer hätten, wenn sie es gesehen, ausgerufen: »Welch ein weibischer Mensch!« Und dennoch war keiner tüchtiger, was Leibesübungen und Sport betraf, als gerade dieser weibische Mensch, niemand mutiger einer Pistole oder einem Degen gegenüber. Anmaßend und herausfordernd Männern gegenüber, ließ er sich nur von Frauen leiten und beherrschen.
Angethan mit einem wollenen Morgenanzug darunter ein seidenes Hemd, ging er durch das Schlafzimmer in die Wohnstube zurück; auf dem Wege bückte er sich nach ein paar Hanteln, die am Fußende des Bettes lagen, machte damit einige regelmäßige Übungen, fand, daß seine Muskeln in Ordnung waren und freute sich über ihre Geschmeidigkeit. Drinnen im Wohnzimmer sah man, als die Lampen angezündet waren, eine bunte Auswahl von Nippes und Kunstsachen, und viele schöne Möbel. Julien zog die Uhr auf: fünf Minuten nach acht. Er klingelte dem Diener.
»Der Herr wünschen?«
»Constant! Madame kommt in wenigen Minuten. Setzen Sie den Samovar und eine Schüssel mit Kuchen in das Speisezimmer. Wenn Sie das gethan haben, gehen Sie in Ihre Kammer und bleiben Sie dort, bis ich klingle.« »Bald kommt sie ...« Er versuchte sich ihre Gestalt vorzustellen, wie sie in wenig Augenblicken durch die grüne Portiere dort hineintreten würde ... Aber nein, auf diesem Hintergrunde wollte ihr Bild sich nicht mehr hervorzaubern lassen ... Wenn er sie sich jetzt dachte, war es in einem einfachen Hause in der Rue de Berne, drei Treppen hoch. Durch den Korridor ging der Weg in ein Eßzimmer und von dort in ihr Versteck hinein, das ehemalige Zimmer von Suzon, das Maud umgeschaffen hatte, und dem sie mit ihrem eigentümlichen Schönheitssinn das Gepräge ihrer Persönlichkeit gegeben. Hier hatte er sie von dem Tage an, wo Chantel abgereist war, bis zu seiner Rückkehr fast regelmäßig alle zwei Tage gesehen, zuweilen auch mehrere Tage hintereinander. Denn Maud wußte, daß sie dadurch ihre Herrschaft über ihn am sichersten aufrecht erhielt, und übrigens hatte sie selber unmerklich das Bedürfnis nach immer häufigeren Liebkosungen empfunden. War sie denn seine Geliebte? Keineswegs. Wie alle stolzen Menschen, die einen theoretischen Kampf wider die Gesellschaftsordnung führen, hatte sie mit gewissem Rechtlichkeitsgefühl sich selber eine Grenze gesteckt, die sie nicht überschreiten wollte. Sie behielt dem Manne, der ihr seinen Namen und sein Vermögen geben wollte, ihre letzte, höchste Gunstbezeugung vor. In ihrer hochmütigen Überlegenheit dachte sie: »Und selbst unter diesen Bedingungen wird Julien doch stets mein Schuldner bleiben! ...« Übrigens fanden beide Befriedigung in ihrem eigentümlichen Liebesverhältnis, und sehnten sich nicht nach etwas anderem. Maud nicht, weil sie, trotz allem unwissend war. Und ihr Liebhaber? Er erwartete bei jeder neuen Zusammenkunft sie ganz besitzen zu dürfen, aber waren sie erst zusammen, fand er vollkommene Seligkeit in den Liebkosungen, die sie ihm gewährte und verlangte nichts anderes. So hatte er während der Monate Februar und März in einer Art von beständigem Liebesrausche gelebt, der ihn jeden Gedanken an die Zukunft vergessen ließ.
Träumend, mit geschlossenen Augen, lag er dort, allmählich in Schlaf versinkend ...
In die wollüstigen Phantasien mischten sich langsam häßliche Erinnerungen ein, eifersüchtige Gedanken nagten an ihm und ein bitteres, kummer- und haßerfülltes Gefühl preßte ihm das Herz zusammen. Ohne sie leben? nein ... er konnte, er wollte es nicht ... Dann lieber gar nicht leben ... Die Sonne nicht mehr sehen ... nicht die hellen Morgen ... nicht die schönen, schneeweißen Wintertage ... nicht die strahlenden Pariser Abende... Alles verschwamm in Nebel, verwirrt und undeutlich. Er versank in das tiefe, traumhafte Dunkel, wo die Verzweifelten Vergessenheit für ihre Leiden suchen. Aber selbst im Dunkel des bewußtlosen Schlafes wich der Schmerz nicht von seinem schwer bedrückten Herzen ... Dann plötzlich war es ihm, als steige er vom tiefsten Abgrund des Dunkels hinauf zur Klarheit des Lebens; das Herz wurde ihm plötzlich so leicht; ein Gefühl der wunderbarsten Seligkeit durchströmte seinen Körper, und dieses unnennbare Wohlbefinden wuchs und wuchs ... Er öffnete die Augen halb, der Traum hatte eine bestimmte Gestalt angenommen: Maud stand neben ihm; sie hatte ihre entblößte Hand auf seine Stirn gelegt.
Schnell richtete er sich in die Höhe.
»Sie sind hier! ... Verzeihen Sie! ... Ich hatte mich dort ein Weilchen ausgestreckt, und ich glaube, ich habe geschlafen. Aber während des Schlafes fühlte ich Ihre Nähe, und sie that mir so wohl!«
»Das habe ich wohl gesehen,« antwortete sie. »Als ich kam, hatten Sie böse Träume, Ihr Gesicht war ganz verzogen. Da legte ich meine Hand auf Ihre Stirn und leitete Ihren Traum, wohin ich wollte ... zu mir!«
Sie neigte ihre frischen Lippen auf seine Stirn herab, zog sich aber zurück, als er sie in seine Arme schließen wollte.
»Weshalb machen Sie noch immer Nacht, mein Freund? Wissen Sie, daß es nach neun Uhr ist? Schnell öffnen Sie mir die Fenster dort!«
»Ach Maud!« bat Julien. »Ich hab' diese Beleuchtung so gern ...«
»Nein, nein! schnell aufgemacht! ... Sehen Sie denn nicht,« fügte sie lächelnd hinzu, »daß mein Anzug gar nicht für Lampenbeleuchtung paßt?«
Hinter ihrer heiteren Rede versteckte sich allerdings ein weibliches Unbehagen, sich hier in diesem abendlich beleuchteten Zimmer in Morgen-Promenadenanzug zu befinden: ein blaues, schweres und glattes Cheviotkleid, mit Sammet besetzt, dazu ein blaues Astrachan-Barett mit weißem Schleier.
Julien gehorchte widerstrebend. Er öffnete die beiden Fenster und stieß die Läden auf, während Maud die Lampen ausschraubte. Das Tageslicht strömte hell und blau herein und verscheuchte den geheimnisvollen Nebel- und Lichtschein, der um die Lampenkuppeln schwebte.
»Schön,« sagte Maud. »Und jetzt setzen Sie sich zu mir. Ich habe Ihnen vielerlei zu sagen. Erstens, daß Mathilde Duroy gestorben ist.«
»Ach, wie unangenehm, wir können also nicht mehr ...«
»Heute morgen, um sieben Uhr ungefähr, starb sie. Sie hatte das Bewußtsein schon verloren, als nach Étiennette geschickt wurde. Paul Le Tessier und ich gingen um acht Uhr hin; der brave Paul war wirklich so mitgenommen, als hätte ihn Mathildens Tod zum Witwer gemacht.«
Julien, der nur von einem einzigen Gedanken besessen war, fragte:
»Sollen wir uns denn künftig hier treffen? ... Oder soll ich mich nach einem anderen Ort umsehen?«
»Sie sind ein Kind!« unterbrach ihn Maud, und reichte ihm ihre Hände zum Kuß. »Man kann mit Ihnen gar nicht ernsthaft reden. Sie hören ja gar nicht auf das, was ich Ihnen erzähle.«
Sie saß einen Augenblick ganz still neben ihm, ihre Augen suchten dem Blick ihres Geliebten auszuweichen. Darauf fügte sie in einem ungewöhnlich müden Ton hinzu:
»Seien Sie gut gegen mich! Wenn Sie wüßten, wie nervös ich heute bin!«
Sie legte ihren Kopf an Juliens Brust, und aus einem weiblichen Bedürfnis sich liebevoll gegen den schwachen Freund zu zeigen, dem sie so großes Herzeleid zufügen sollte, öffnete sie sein seidenes Hemd und küßte ihn auf die Stelle, wo sie sein Herz klopfen hörte.
»Komm!« bat er.
»Nein. Heute morgen bin ich gekommen, um mit Ihnen von ernsten Dingen zu reden. Sie erraten wohl, um was es sich handelt? Ich habe Herrn de Chantel erlaubt, heute nachmittag um meine Hand anzuhalten.«
»Ach so!« kam es von Juliens Lippen.
Er wunderte sich darüber, keinen Schmerz zu fühlen; auch Maud war erstaunt, ihn so ruhig zu sehen. Sie fuhr fort:
»Wir finden es beide am besten, daß alles so schnell wie möglich in Ordnung gebracht wird. Wahrscheinlich wird die Hochzeit noch vor Ende April sein.«
Langsam fühlte Julien eine furchtbare Angst in sich aufsteigen, erst nur wie eine Vorahnung von kommendem Unglück, dann stärker und stärker. Er antwortete nicht. Und Maud fuhr fort:
»Sie verstehen, daß ich mich bis dahin hüten muß vor Freundinnen-Neugierde und Freundinnen-Niederträchtigkeit: meine Heirat wird bei Vielen Neid und Haß hervorrufen. Maxime kennt niemanden in Paris, und sucht außer uns niemanden auf. Es liegt also keine Gefahr darin, daß er hier bleibt. Aber ich habe die Absicht, mit Mama und Jacqueline den letzten Monat vor der Hochzeit auf Chamblais zuzubringen ... Das heißt,« fuhr sie schnell fort, indem sie Juliens Hände ergriff, »ich werde natürlich fast täglich nach Paris hereinkommen ... schon wegen der Aussteuer, der Toiletten und der Einrichtung ... Du verstehst. Nur wird Chamblais mein offizieller Aufenthalt sein, und Étiennette geht mit uns, um jetzt nicht, so bald nach dem Tode ihrer Mutter, allein zu sein. Wir werden uns dort ganz häuslich einrichten, und wenn die Brüder Le Tessier nach Chamblais kommen, so wird es nur zum Besuch sein, als unsere Gäste. Ich finde, so ist alles vorzüglich eingerichtet ... aber was ist Dir?«
Julien war während ihrer letzten Worte aufgestanden und ging jetzt, immer noch schweigend, unruhig im Zimmer hin und her. Die Angst drohte ihn zu ersticken; er konnte kaum Atem schöpfen. Nach einer Weile ging er wieder zu Maud hin und blieb vor ihr stehen.
»Ja, prinzipiell ist es abgemacht. Ich sollte meinen, es käme Dir nicht überraschend?«
Sie sagte dieses dreist heraus, indem sie ihm dabei fest in die Augen sah, mit der strammen und trotzigen Haltung, die sie immer annahm, wenn ihre Bestimmungen auf irgend ein Hindernis stießen.
Doch er leistete ihr keinen Widerstand. Er hatte sich auf eine Ecke des Tisches gesetzt, schwermütig und verzagt. Sie sah ihn eine Zeitlang an, bereit sich gegen ihn zu verteidigen. Als er aber noch immer schwieg und sich nicht von der Stelle rührte, versuchte sie, wie schon so oft zuvor, ihm Mut einzuflößen. Sie näherte sich ihm und sagte leise:
»Sei stark. Ich liebe ja nur Dich allein!«
Er hörte sie offenbar nicht, vertieft in seine eigenen, schmerzlichen Gedanken, und mit gebrochener Stimme murmelte er:
»Es ist nicht möglich!«
Die furchtbarste Angst folterte sein Herz, und zum erstenmal kam es ihm naturwidrig und empörend vor, als etwas völlig Unmögliches, daß dieses Weib, das ihm so ganz gehörte, einen anderen Mann heiraten sollte, und obendrein mit seiner Einwilligung.
»Was willst Du damit sagen?« fragte Maud.
»Es ist nicht möglich ... es geht nicht, Maud.«
Er strich sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen bösen Traum verscheuchen.
»Es ist nicht möglich,« wiederholte er abermals, ganz tonlos, weder gebietend noch bittend, nur wie eine unumstößliche Thatsache. »Siehst Du, Maud, ich liebe Dich ... Ich habe sonst nichts aus der Welt... und Du liebst mich ... Ich bin fest davon überzeugt, daß Du mich liebst ... Und ich gehöre Dir, nur Dir ... mit Leib und Seele, Maud, nur Dir ... und ich kann ohne Dich nicht leben, ich kann's nicht ... Wir sind verrückt, Maud ... wir betrügen uns selber!«
Maud antwortete ihm, beinahe hart:
»Ich für mein Teil bin nicht verrückt. Aber Du sprichst freilich wie ein Verrückter!«
»Aber Du mußt doch einsehen,« fing Julien wieder an, »daß das, was Du jetzt einem anderen geben willst, das Köstlichste ist, was Du besitzest ... Du wirst seine Frau, was Du auch sagst ... Mir hast Du gerade so viel gegeben, daß Du in mir die Sehnsucht erweckt hast nach dem, was Du ihm giebst. Und da Du mich liebst, mußt Du mir angehören. Ich sehe das jetzt ganz deutlich ein, es ist so klar wie der Tag.«
Er ging wieder zu ihr hin, und immer eindringlicher sprach er:
»Wir sind verrückt gewesen, Maud, ja verrückt, alle beide, Du sowohl wie ich ... Ich dulde es nicht, ich dulde es nicht, daß ein anderer Dich besitzt, Dich, die ich nie besessen habe. Es soll nicht geschehen. Laß mich Dich behalten, ich will ein neues Leben anfangen, ich will arbeiten, ich will Dich zur Königin machen, ich kann es besser als der Idiot, der Dich nicht versteht. Du lachst über meine Worte? Glaube mir, Maud, ich werde arbeiten können, wenn es gilt, Dich zu besitzen ... Ich will alles thun, was es auch sei, wenn ich Dich nur behalten darf. Ich will stehlen, ich will töten, um Dich zu besitzen ... Ach, bleibe bei mir! ... bleibe bei mir ... Ich halte es nicht aus ... ich halte es nicht aus! ...«
Er stürzte vor dem jungen Mädchen nieder, küßte ihre Füße, bohrte die Stirn in ihr Kleid und umschlang ihre Kniee. Er weinte nicht, aber ein thränenloses Schluchzen schüttelte seinen Körper. Er fühlte, wie Mauds Hand sich gegen seine Schulter stemmte, wie sie, mit Anspannung all ihrer Muskelkraft ihn von sich zu drängen suchte. Sein verwundeter Stolz erwachte, er begriff, daß sein Flehen umsonst war und erhob sich.
»Bist Du nun fertig?« fragte Maud in verächtlichem Ton.
»Nein, ich bin nicht fertig,« antwortete Julien. »Womit ich aber fertig bin, daß ist mit dieser Heirats-Komödie; daraus wird nichts, verstehst Du? Man spielt nicht auf die Dauer mit einem Manne, so wie Du mit mir gespielt hast. Ich bin dieser Rolle überdrüssig,« fuhr er fort, außer sich vor Raserei über Mauds ironisches Schweigen ... »Ich will mich nicht damit begnügen (er keuchte vor Wut, und die Worte blieben ihm in der Kehle stecken) ein ... ein ... Laternen-Anstecker gewesen zu sein!«
»Elender!«
Sie führte mit der Hand einen Schlag gegen seinen Mund, gleichsam als wolle sie die Beleidigung wieder zurückzwingen. Aber Julien ergriff die Hand und preßte sie gegen seine Lippen; mit dem Arm, den er frei hatte, umschlang er das junge Mädchen und hielt sie fest, obgleich sich ihr Körper sträubte und wehrte, dann sagte er ihr, und sein Mund war so dicht an ihrem Gesicht, daß sie seinen heißen Atem fühlte:
»Nein ... es soll nicht geschehen. Du sollst die meine werden. Hast Du wirklich geglaubt, daß ich Dich gehen lassen würde? Nein! Du gehörst mir! Ich will Dich besitzen ... ich will ... und geschähe es mit Gewalt!«
»Schurke! Schurke!« schrie Maud. »Laß mich!«
Er drückte sie nur fester an sich heran, sie fühlte, daß er sie aufs Sofa trug ... Der Gedanke, daß sie wider ihren Willen genommen werden sollte, vergewaltigt werden sollte, spannte ihren Stolz so stark an, daß sie Julien in diesem Augenblick haßte ... Mit Armen und Beinen, Nägeln und Zähnen verteidigte sie sich, kaum wissend, was sie eigentlich verteidigte, aus reinem Instinkt der Jungfräulichkeit gegen diesen Mann ankämpfend, der doch vordem so oft beinahe ihr Besieger gewesen war. Er seinerseits hatte jede Besinnung verloren. Ohne ihr Beißen und Kratzen zu beachten, rang er in wilder Raserei mit ihr. Plötzlich stieß Maud einen Schrei aus. Ihre Hand, die Julien in der Hitze des Kampfes gegen ihren Hals hinaufgepreßt hatte, war von der Nadel der Brosche verwundet worden: das Blut quoll rot unter der Haut hervor. Bei diesem Anblick kam Julien für einen Augenblick zu sich und ließ sie los ... Es war nur eine Sekunde, aber als er sie wieder packen wollte, stand sie schon am anderen Ende des Zimmers mit einigen auf der Flucht umgerissenen Stühlen als Barrikade zwischen ihm und ihr.
»Maud! ... höre mich!« sagte Suberceaux, der vom Kampfe angegriffener war als sie, »höre mich ... es ist ja Wahnsinn ... weshalb ... weshalb willst Du nicht?«
Er wagte es nicht, sich ihr zu nähern, von dem Blute hypnotisiert, das hervorrieselte und einen roten Streifen über ihre weiße Hand hinzog.
Während sie unverwandt ihren Blick auf ihn gerichtet hielt, öffnete sie das Fenster:
»Ich schwör' es Dir,« sagte sie noch ganz außer Atem, »ich schwöre es Dir, wenn Du mir nahe kommst, springe ich aus dem Fenster! ... Falle ich mich tot ... um so schlimmer ... Aber ich falle mich nicht tot, denn es ist nicht so hoch ... ich entschlüpfe Dir, und Du siehst mich nie ... nie im Leben wieder ... ich schwöre es!«
Er that dennoch einen Schritt zu ihr hin. Im selben Augenblick stieß er einen heiseren, verzweifelten Schrei aus: sie stand im Fenster ...
»Maud!«
»Glaubst Du mir jetzt?« fragte sie ihn, sich in den leeren Raum hinausbiegend. Er wich zurück; er sank auf das Sofa, den Kopf in die Hände vergraben. Er war besiegt, das war außer Zweifel; er liebte sie viel zu sehr. Sie war und blieb in furchtbarer Weise seine Beherrscherin, er mußte gehorchen ... Die Thränen strömten aus seinen Augen, er weinte wie eine Frau, die einer Gefahr entronnen ist.
Als er es wieder wagte, den Kopf in die Höhe zu heben, stand Maud vor ihm. Und abermals legte sie die Hand auf seine Stirn, um ihn zu beruhigen, ihre schöne Hand, die er verwundet hatte.
»Maud ... liebe, liebe Maud!«
Er hatte weder Kraft noch Willen mehr, nicht einmal Verlangen. Wenn sie nur bei ihm bleiben wollte, er forderte nicht mehr, als was sie ihm geben wollte.
»Artig?« ... flüsterte sie. »Es ist gut so, ich verzeihe Dir.«
Und neben ihm niederknieend, drückte sie in einem langen Kuß ihre Lippen gegen die seinen; dieser Kuß raubte ihm die letzten Kräfte.
»Glaube mir,« sagte sie ... »Wir haben uns vernünftig betragen. Laß mich nur machen. Ich werde für Dich sorgen, wie ich für mich sorge. Ich liebe ja nur Dich!«
Sie stand auf und zog die Handschuhe an.
Er wollte ihr folgen.
»Nein, bleibe hier,« befahl sie. »Lebewohl! Komm nicht zu mir in diesen Tagen; ich werde Dir schreiben.«
*
Als es zwölf Uhr war, und sein Herr ihm noch immer nicht geklingelt hatte, wurde Constant unruhig. Und er wagte es, ungerufen in die Wohnstube zu treten. Er fand Julien noch immer auf dem Sofa ausgestreckt liegen.
»Der Herr schlafen vielleicht?«
»Ja ... Gehen Sie nur, Constant. Wenn ich frühstücken will, werde ich schellen.«
Er hatte nicht geschlafen. Nachdem Maud fortgegangen, war er in kummervollen Gedanken liegen geblieben, seine Seele von schmerzlicher Unruhe erfüllt ... Er litt. Vergebens suchte er wieder festen Fuß im Leben zu gewinnen, sich der Worte zu erinnern, mit denen Maud ihn in alten Tagen unter ihren Willen gezwungen hatte: »Die Welt gehört den Starken ... Du und ich, wir wollen die anderen benutzen, wir sind dazu da, die Peitsche über sie zu schwingen, weil wir ihnen überlegen sind ...« Vergeblich war es, daß er zu sich selber sagte: »Ich habe Maud vor diesem Manne in meinen Armen gehalten ... Sie hat mir Liebkosungen gegeben, die er nie erreichen wird.«
Seine aufrührerische Eifersucht antwortete ihm: »Ja ... aber sie wird seine Frau ...« und in Gedanken sah er das schreckliche Bild vor sich: Maud in den Armen eines anderen. »Wie ich leide! ... Ach, wie ich leide!« Ja, er litt und dagegen half kein Argument, keine Theorie ... Freilich blieb er, trotz seiner Leiden, ungläubig den hergebrachten Gesetzen gegenüber; noch bewies ihm nichts, daß die Liebe ihr Moralgesetz hat, daß es darin ein »Gut« und ein »Böse« gibt.
Weshalb denn aber entrang sich seiner schmerzerfüllten Seele ein verzweifelter Angstruf, gerade nach diesem so oft verleugneten, nach diesem nicht zu beweisenden Gesetz?