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Vierter Teil

I

Am Vortag der Abreise nach Amerika (die Kabinen an Bord der »Guyenne« waren auf den Namen eines Herrn Guernier samt Frau und Schwägerin reserviert) fühlte sich Ramon Genaz von Gewissensbissen überschlichen – was in den Augen der Großfürstin wieder einmal ein Beweis für die Großherzigkeit dieser leidenschaftlichen Seele war.

Hilda sah ihn gegen fünf Uhr nachmittags bei ihr ankommen, die Haltung sehr korrekt, aber verschlossen, die Miene sehr düster. Man hätte gesagt, daß sich die Augenhöhlen plötzlich noch mehr vertieft hätten – die schönen Augen des Spaniers leuchteten glühend wie aus einem Abgrund. Das Herz der Großfürstin krampfte sich zusammen. Denn für sie gab es nichts mehr auf dieser Welt als nur ihren »teuren Untertan«, wie sie ihn nannte. Das Glück, mit ihm in die Welt hinauszufliehen, sich mit ihm zu verheiraten, wollte sie freudig bezahlen, indem sie dieser Liebe den Gatten, die Kinder, den Titel und das Vermögen opferte.

»Was fehlt Ihnen, teurer Freund?« rief sie bestürzt, während er mit den Lippen ihren Handknöchel flüchtig streifte.

Er legte beide Hände an die Stirne, als wollte er den Aufruhr seiner Sorgen besänftigen. Dann, mit einer brüsken, gebieterischen Gebärde richtete er sich auf, nahm eine steife Haltung ein, unbeweglich, den Blick gesenkt, ehrerbietig, schweigend.

»Aber sprechen Sie doch, Ramon!« drängte die Hoheit. »Gibt es irgendein Hindernis? Weiß vielleicht mein Gatte irgend etwas? Oder macht die Regierung Schwierigkeiten? Hat man uns denunziert?«

Er schüttelte den Kopf.

»Setzen Sie sich doch und sprechen Sie, ich befehle es Ihnen!«

»Meine Herrin,« sagte er endlich, dicht an sie geschmiegt, »kein materielles Hindernis bedroht unsere Reise. Alles ist vorbereitet und unser Inkognito läuft keine Gefahr ...«

»Dann, also ... ich begreife nicht! Quälen Sie mich doch nicht!«

»Nun ... ich habe kein Recht, nein, ich habe kein Recht, Ihr Opfer anzunehmen! Werden Sie nicht zornig, meine Herrin, meine angebetete Herrin (er hatte ihre Hand ergriffen und führte sie an seine Lippen, wobei er fortfuhr zu sprechen, so daß jedes seiner Worte zugleich eine Liebkosung war), seien Sie mitleidig und beklagen Sie mich!«

»Ich befehle Ihnen, sich deutlicher auszudrücken,« sagte sie mit Würde. » Awfully queer, indeed! Was Sie da sagen, ist mir völlig unverständlich, ich weiß ganz gut, daß mein Opfer ein riesiges, ein gewaltiges ist! Aber ich bin meine eigene Herrin und ich kann mich aufopfern, wenn es mir beliebt.«

»Gut, ich will mich näher erklären,« sagte Genaz.

Und seine Haltung war so ehrerbietig und so würdevoll zugleich, daß sich die Großfürstin nicht enthalten konnte zu murmeln: »Er ist wirklich reizend.«

»Meine Herrin,« begann er, »meine Herrin weiß, daß ich bereits sehr reich zur Welt kam, als Sprößling einer der ältesten und reichsten Familien der spanischen Estremadura.«

»Das weiß ich, Ramon ...«

»Mit fünfundzwanzig Jahren, nach dem Tode meiner Eltern, sah ich mich im Besitze eines Vermögens von drei Millionen Pesetas, was für einen Junggesellen hinreichend ist. Aber ich war stürmisch, leidenschaftlich, ich liebte den Luxus, das Vergnügen, und ein reicher Adeliger ist vielen Verführungen ausgesetzt (die Stirne der Hoheit wies eine senkrechte Falte auf), diese Verführungen hörten an dem Tage auf, als ich das Ideal fand, das fortan meinem Leben eine bestimmte Richtung geben sollte (das Gesicht der Hoheit wurde wiederum schwärmerisch) ... Übrigens, meine Herrin weiß es, ich bin hinsichtlich der Ausgaben sehr großzügig. Ich will mich lieber als Edelmann zugrunde richten, statt wie ein Philister zu sparen.«

»Das ist wahr!« rief die Großfürstin. »Sie sind so freigebig! Gestern wiederum ... dieser Kabinenkoffer, den Sie mir geschickt haben! Sie machen sich wirklich zu große Ausgaben, Ramon, und ich verbiete Ihnen künftighin ...«

Sie hatte seine Hand genommen und küßte sie. Mit einem wundervollen Takt übersah Ramon diese Selbsterniedrigung, über die Hilda nachträglich feuerrot wurde ...

»Meine Pflicht,« hob er von neuem an, »bestand darin, vor Antritt unserer Reise die Landgüter, die ich in meinem Vaterland noch besitze, zu verkaufen, und – zum erstenmal in meinem Leben! – eine Bilanz aufzustellen, wie ein Kaufmann, über das, was mir gehört. Und dies habe ich getan!«

»Ah ... teurer, sehr teurer Ramon,« rief die Hoheit bewundernd. »Das haben Sie getan! Eine Bilanz! Wie ein Krämer! Sie, der Edelmann! Ah, ich bin tief gerührt! ...«

»Ich habe die Bilanz gemacht, und aus diesem Grunde sehen Sie mich so besorgt.«

»Gott im Himmel! Sollten Sie ruiniert sein?«

»Nein, ich bin nicht ruiniert, im Gegenteil! Ich bin reicher als früher, dank dem niedrigen Francskurs! Sie wissen ja, wieviel eine Peseta heute wert ist!«

»Danken wir der Vorsehung!« sagte Hilda.

»Ich habe hier (und er schlug auf seine Brusttasche) Wechsel auf die Bank Rio de la Plata für beinahe zwei Millionen Francs.«

Und er holte ein Scheckbuch hervor, das so aussah wie alle Scheckbücher, aber das in den Augen der Großfürstin eine überzeugend dokumentarische Wichtigkeit annahm, als würde sie die zwei Millionen in Bankscheinen vor sich aufgehäuft sehen.

»Zwei Millionen!« hauchte sie. »Das ist ein großer Betrag!«

Ramon lächelte geringschätzig.

»Für mich ist das mehr als notwendig! Und selbst wenn ich diese zwei Millionen nicht hätte, was würde das machen? Ein Edelmann hat das Recht, arm zu sein. Wenn es mir versagt ist, den Namen meiner Vorfahren durch eine bürgerliche Beschäftigung zu beschmutzen, so hindert mich nichts, ein Pseudonym zu wählen und mir mein Leben zu verdienen.«

»Natürlich! Mit Ihrer Stimme, mit Ihrer Tanzkunst! Sie würden ein Vermögen verdienen, Ramon!« sagte die Großfürstin begeistert.

»Das glaube ich auch; nun, für mich selbst habe ich keine Sorge, aber (er stand auf und reckte sich, so daß er größer aussah, als er in Wirklichkeit war) ich habe nicht das Recht, in meine Armut ein Wesen hineinzuzerren, das ich verehre, das ich anbete, und besonders, da dieses Wesen eine fürstliche Person ist, die geruhte, ihren Blick auf mich zu senken. Ja ... zwei Millionen sind ein Nichts für Ihre Hoheit die Großfürstin Hilda. Ich habe heute beinahe den ganzen Tag mit einem Buchsachverständigen verbracht, um Ausgaben und Einnahmen in ein richtiges Verhältnis zu bringen. Ich habe ein Einkommen von ungefähr zweihundertfünfzig Francs täglich, also die Hälfte dessen, was notwendig ist, um Herrn und Frau Guernier standesgemäß zu erhalten ...«

Er schwieg. Das Gesicht Ihrer Hoheit war bemitleidenswert. Sie hatte sich noch nie um die Einkünfte ihrer Liebhaber bekümmert. Wie es schon Gouillaux bei Albine erzählt hatte, war die Großfürstin schuldtragend an dem völligen Zusammenbruch mehrerer ihrer Anbeter. Niemals wäre ihr der Gedanke gekommen, daß sie selbst zu den Unkosten dieser Verhältnisse etwas beisteuern müßte.

Der Großfürst ließ ihr monatlich zehntausend Francs auszahlen. Wenn gegen Monatsende Geld fehlte, um eine Rechnung zu bezahlen, so wurde ihm diese Rechnung zugeschickt und er zahlte pünktlich, wobei die entsprechenden Beträge von der Mitgift der Großfürstin abgezogen wurden.

Diese Mitgift war übrigens bis auf einen kleinen Rest zusammengeschmolzen. Die Großfürstin kannte also keine Geldsorgen, und nun war es wegen einer Geldfrage, daß ihr höchstes Ziel, eine Ehe mit Ramon, in Nichts zerfließen sollte? Es war klar, Ramon war dem Großfürsten ungeheuer überlegen, in vielen Dingen ... aber in Geldsachen war der Großfürst vorzuziehen!

Ramon sah ruhig in das Gesicht seiner Herrin, das durch das Nachdenken nicht gerade verschönt wurde. Er fühlte sich am kritischen Punkte seines Unternehmens ... und in einem solchen Augenblicke dachte und fühlte er als Spanier! Jedermann weiß, daß diese Sprache ungemein reich ist an den furchtbarsten Beschimpfungen, die sie meist dem Tierreich entlehnt. Und einige dieser stärksten Flüche bewegten jetzt unhörbar die Lippen des eleganten Tänzers.

»Aber, ich habe eine Mitgift und die gehört mir!«

»Von der Mitgift ist beinahe nichts mehr da!« entgegnete Ramon, überstürzt und sehr brutal.

Dann fand er jedoch sofort den unterwürfigen Ton:

»Ein Rechtsstreit um Ihre Mitgift würde die schlimmsten Verwicklungen heraufbeschwören. In dem Augenblicke, wo Sie den Fuß an Bord des Schiffes setzen, dürfen Sie nur auf mich zählen, alles was ich besitze, gehört Ihnen, aber für eine fürstliche Dame ist dies nicht viel, selbst wenn ich den Erlös aus meinen Schmucksachen hinzufüge, beispielsweise diese Perle, die mindestens 30.000 Francs wert ist. Denn die Perlen sind jetzt beinahe unerschwinglich teuer.«

Und er zeigte mit dem Finger auf eine prachtvolle Perle, die an seiner Krawatte schimmerte. Hilda, die dieser Handbewegung gefolgt war, richtete sich auf und gebot ihm Schweigen.

»Warten Sie!«

Eine Idee war ihr gekommen! Sie durchquerte den Salon und verschwand im Schlafzimmer. Sie blieb dort etwa fünf Minuten, während sich der Spanier trotz seiner Kaltblütigkeit niedersetzen mußte, da ihm die Knie schlotterten. Sein Gesicht spielte ins Grünliche. Aber als sich die Tür öffnete, strömte ihm sofort das Blut ins Gesicht. Hilda kam zurück, zwischen den Fingern ihre dreifache Perlenkette haltend, 156 Perlen von gleicher Größe und erlesener Schönheit. Die Heftigkeit des Entschlusses, zu dem sie sich aufgerafft hatte, färbte ihr Gesicht mit hektischer Röte.

»Wenn Ihre Perle 30.000 Francs kostet, was kann man für dieses Perlenhalsband einlösen?«

Ramon erwiderte mit großer Gleichgültigkeit:

»Das weiß ich nicht, ich kenne nur den Wert meiner Perle, weil mein Juwelier sie zurückkaufen will. Aber ich verstehe gar nichts von Perlen. Vielleicht eine Million?«

»Oh, sicher ... mindestens eine Million! Die Marquise de Bergues hat ihr Kollier viel teurer bezahlt und es ist weniger groß und schön. Nun, ich befehle Ihnen, dieses Perlenhalsband, das mein Eigentum ist, sofort zu verkaufen.«

Ramon wich einige Schritte zurück.

»Ich will nicht annehmen,« sagte er mit dumpfer Stimme, »daß Hoheit im Sinne hat, mir Geld anzubieten?«

»Ich biete Ihnen gar nichts an,« fiel ihm Hilda ins Wort. »Ich will meinerseits nicht annehmen, daß sich mein Untertan erlaubt, mir meine Handlungsweise vorzuschreiben?«

Ramon verneigte sich:

»Sicherlich nicht, aber ich flehe Hoheit an, mich nicht mit diesem Geschäfte zu betrauen ...«

»Und an wen sollte ich mich wenden? Ich würde von den Händlern ausgebeutet werden ...«

»Vielleicht Frau Lelièvre? ...«

»Lelièvre ist eine Gans,« unterbrach ihn Hilda ungeduldig. »Sie verliert alles, in den Geschäften, im Theater, im Auto, und Sie möchten, daß ich ihr um eine Million Perlen in die Hand gebe? Ramon, es ist ein Befehl! Verkaufen Sie dieses Halsband!«

Dieser edle Wettstreit dauerte noch einige Minuten, aber schließlich mußte Ramon nachgeben. Am nächsten Tage war das Kollier verkauft. Ramon überbrachte der Großfürstin vier Schecks, die auf die London and La Plata Bank ausgestellt waren, auf seine eigene Order, unterzeichnet von einem der angesehensten Juwelenhändler von Paris. Jeder einzelne Scheck lautete auf den Betrag von 400.000 Francs. Hilda war entzückt. Sie hatte nicht geglaubt, einen so hohen Preis zu erzielen. Ramon unterfertigte vor ihr die Schecks, dann bot er sie ihr an. Sie nahm die Papiere etwas verlegen.

»Was soll ich damit tun?« fragte sie.

»Sie müssen die Papiere sorgfältig aufheben und am Verfallstage beheben lassen. Es sind gleichsam vier große Bankscheine, die man an einem gewissen Datum einwechseln kann ...«

Die Hoheit schien etwas sorgenvoll zu sein.

»Sie wissen, ich verliere leicht derlei unscheinbare Dinge, und Leliévre kramt stets in meinen Schubladen und bringt alles in Unordnung. Ich wäre viel ruhiger, wenn Sie die Schecks an sich nehmen wollten.«

Aber in dieser Hinsicht blieb Ramon unbeugsam. Er wollte nicht einen so bedeutenden Betrag der ihm nicht gehörte, bei sich tragen. Die Hoheit mußte nachgeben.

»Ich werde sie in einen kleinen Sack geben, den die Lelièvre an ihren Leibgürtel nähen muß; sie will schlank bleiben und legt den Gürtel nicht einmal beim Schlafen ab, dergestalt wird sie die Schecks nicht verlieren.«

 

Das Ende dieses letzten Tages in Paris war von Hoffnung und Liebe überschimmert. Genaz sollte den Vortrab machen, mit dem Abendzug nach Le Havre fahren, um im Hotel Plaisance einige Zimmer aufzunehmen, während die beiden Damen einen Tag später nachkommen würden. Herr und Frau Guernier würden in diesem Hotel zwei Tage und zwei Nächte verbringen, bis zur Abfahrt des Dampfers. Trotz ihres freien Lebens hatte sich Hilda bisher eine solche Bequemlichkeit mit Ramon nicht zu erlauben gewagt. Sie hatte übrigens gefühlt, daß sich Ramon dazu nicht verstanden hätte, und sie bewunderte den Takt, mit dem er auf den guten Ruf seiner Herrin bedacht war. Die Aussicht auf diese Brautnacht, auf diese intimen Freuden, welche sie inkognito genießen sollte, machten die verliebte Großfürstin halb verrückt. Und sie sagte sich, daß dieses Inkognito zwar auch auf dem Schiffe andauern würde, aber sie wurde jedesmal seekrank ... sie erinnerte sich nicht ohne Grimm an eine ähnliche Reise, die sie mit einem jungen Künstler unternommen hatte, wobei sie die ganze Zeit kraftlos in ihrer Kabine stöhnte. Kurz, das Hotel Plaisance erschien ihr wie ein Paradies, und das zärtliche Getue Ramons vor seiner Abreise entflammte sie ganz und gar. Als er sie nach tausend Schwüren und Liebkosungen verließ, flüsterte er ihr zu:

»Auf morgen also! Um nicht die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, werde ich mich nicht auf dem Bahnhofe einfinden ... ich erwarte Sie im Hotel! Ah, Herrin, dies wird wirklich unsere Hochzeitsnacht werden!«

 

Am nächsten Abend, gegen sieben Uhr, bestiegen die Großfürstin und ihre Hofdame den Zug nach Le Havre. Die beiden Damen hatten sich so auffallend vermummt und verschleiert, daß alles auf sie aufmerksam wurde. Aber Ramon hatte einen eigenen Abteil reservieren lassen, und sie verbarrikadierten sich darin, ohne daß sie es wagen würden, aus dem Fenster zu blicken. Als man Nantes passiert hatte, verspürte die Großfürstin einen zehrenden Hunger. Frau Lelièvre fischte aus ihrer großen Handtasche Schinkenbrote und eine Flasche mit Portwein hervor. Die Hoheit stürzte sich förmlich darauf, mit einem wahren Heißhunger.

»Wie, Lelièvre! Sie haben nur acht Schinkenbrote mitgenommen? Acht Brote für uns zwei? Aber das genügt ja kaum für mich allein!«

»Ich dachte, daß dies bis zehn Uhr ausreichen würde. Es ist doch ausgemacht worden, daß Herr Genaz im Hotel ein Souper bestellen wird!«

»Nicht Genaz! Herr Guernier,« erwiderte Hilda streng. »Wo haben Sie den Kopf, Lelièvre? Durch Ihre Dummheit werden Sie es noch so weit bringen, daß man uns verhaftet! Nun, sicher ... ich bin überzeugt, daß Ramon ... daß Guernier alles vorbereitet hat! Aber vor elf Uhr kommen wir nicht zu Tische, und diese winzigen acht Schinkenstullen!«

Von den acht waren jetzt nur mehr zwei übrig, und Frau Lelièvre hatte noch keinen Bissen gegessen.

»Essen Sie doch, Lelièvre,« sagte Hilda, »ich werde hungern ... das macht nichts.«

»Ich versichere Hoheit, daß ich keinen Appetit habe, ich bitte, alle Schinkenbrote zu essen. Die Reise bekommt mir nicht gut.«

»Das ist etwas anderes,« sagte Hilda, nach dem siebenten Schinkenbrot greifend. »Wenn es sich um den Magen handelt, so tun Sie gut daran, zu fasten, übrigens haben Sie ja einen schlechten Magen. Ich dagegen, wenn ich auf Reisen nicht viel esse, bekomme ich Krämpfe ... na, wir wollen das achte Schinkenbrot teilen! Hier ... das kann Ihnen nicht schaden!«

Frau Lelièvre hatte kaum die wenigen Bissen verschlungen, als die Hoheit einen Schrei ausstieß:

»Lelièvre ... und die Schecks!«

»Ah, die sind in Sicherheit! Ich habe sie bei mir.«

»Haben Sie meinen Rat befolgt, das Säckchen an Ihre Leibbinde zu nähen? Überzeugen Sie sich doch!«

Frau Lelièvre mußte schamrot gehorchen, drehte sich um und überzeugte sich durch den Augenschein, daß die wertvollen Papiere noch in ihrem Versteck waren.

»Gut,« seufzte Hilda. »Mir ist etwas leichter! Wenn wir Herrn Guernier treffen, werde ich darauf bestehen, daß er uns von diesen verwünschten Papieren befreit. Oh, es wird mich Mühe kosten! Gestern wurde er beinahe ohnmächtig vor Entrüstung, als ich ihm dies vorschlug!«

Und die unglückliche Hofdame mußte zum zehntenmal die Erzählung von dem Edelmut und der Feinfühligkeit Ramons über sich ergehen lassen. Aber sie war auf ihn böse, denn ohne diese verwünschten Schecks hätte man nie von ihrer Leibbinde etwas erwähnt!

»Herr Ramon ... Guernier ... hätte ja einen Scheck auf seinen Namen ausstellen können, auf den ganzen Betrag!«

»Das verstehen Sie nicht, Lelièvre! Ramon stellt keine Schecks aus, er ist kein Kaufmann, sein Wort genügt!«

Dann schwiegen sie. Die Nacht hüllte die üppigen Landschaften der Normandie ein; durch die nächste Tür, die offen geblieben war, wehte der würzige Odem der Felder und Wiesen, das eintönige Sausen und Wiegen des Zuges lullte in Träume ein.

Frau Lelièvre war eingeschlafen. Was die Hoheit betrifft, so hatte sie ein viel zu stürmisches Temperament, als daß sie nicht alle ihre Gedanken auf das bevorstehende Wiedersehen mit dem Geliebten konzentriert hätte. Aber – die Welt wußte dies nicht – Ramon war eigentlich noch nicht ihr Geliebter, er sollte es erst werden! Er hatte sie bisher nur geliebkost, er hatte alle seine Wünsche für den Tag der Hochzeit aufgespart!

Und diese unglaubliche Flucht war an demjenigen Tage entschieden worden, als der schlaue Spanier seiner »Herrin« anvertraut hatte: »Bis zu dem Augenblicke, da wir uns frei und allein sehen können, muß ich meine Sehnsucht nach dem Besitze meiner Herrin niederkämpfen ... ich schulde es der Ehrerbietung, die ich vor der Frau empfinden muß, welche ihr Leben an das meine ketten will.« Und Hilda hatte damals diesen keuschen Brautstand mit Begeisterung begrüßt! Indes war ihr diese Fastenzeit unerträglich vorgekommen. Aber Ramon, sehr zärtlich, entflammend, stets die Qualen beteuernd, die ihm diese Folter der Enthaltsamkeit bereitete, blieb fest und siegte dergestalt über die liebevolle Hilda. Und jetzt ... jetzt rückte dieses erste, entscheidende Zusammensein, diese Brautnacht, näher und näher ... Jedes Keuchen des Zuges war eine Sekunde weniger an dieser Wartezeit, und nun sah man auch im Westen ein schwaches Glühen am Himmel, den Widerschein der fernen Lichter von Le Havre!

»Ramon,« seufzte Hilda, als wenn ihr der Geliebte gegenübersäße. »Ramon! Ich habe niemals einen andern geliebt, nur dich!«

Die halblaut gesprochenen Worte weckten die Hofdame auf, die schlaftrunken in die Höhe fuhr.

»Was wünscht Eure Hoheit?« stammelte sie.

Hilda, deren Extase langsam schwand, erwiderte mit einer Sanftmut, an die sie ihre Hofdame nicht gewöhnt hatte:

»Wir kommen an, meine Liebe! Aber beeilen Sie sich nicht, wir haben vollauf Zeit.«

 

Sie nahmen einen Wagen und ließen sich in das Hotel Plaisance führen, ein behaglich vornehmes Hotel, das von der reichen einheimischen Bevölkerung besucht und sehr gerühmt wurde. Es war beinahe elf Uhr, als sie ankamen. Die Vorhalle war leer, wofür Hilda heimlich der Vorsehung dankte. Sie ließen im Bureau die im Reisepaß angeführten Namen einschreiben.

»Führen Sie diese Damen auf 24, 25, 26,« sagte das Bureaufräulein zu dem Zimmermädchen. »Und lassen Sie das Gepäck hinaufschaffen.«

Die Hoheit konnte sich nicht enthalten zu fragen:

»Ist Herr Guernier angekommen?«

»Ja, Gnädigste, seit gestern, und er erwartet die Damen zum Souper.«

Sie bewunderte ihn, weil er sich so zu beherrschen verstand und sich nicht unnötigerweise zeigte, aber es schmerzte sie trotzdem ein wenig.

»Gehen wir,« sagte sie.

Der Aufzug setzte sie im ersten Stockwerk ab. Als sie im Vorzimmer waren, erkannte Hilda an einem Kleiderrechen den schwarzen Filzhut und den eleganten Überzieher Ramons. Ihr Herz wurde gleichsam federleicht. Eine zweite Zofe erschien, zu der die erste sagte:

»Hier sind die von Herrn Guernier erwarteten Damen.«

»Belieben die Damen einzutreten, alles ist vorbereitet.«

Und sie fügte lächelnd hinzu:

»Herr Guernier hat sich damit viel Mühe gegeben!«

Es war ein schöner Salon, in Gold und rotem Damast, mit einer Überfülle von Blumen. Man sah von hier aus in das Schlafzimmer und der erste Blick Hildas galt dem riesigen Bett – ebenfalls in rot und Gold. In einer Ecke sah man zwei etwas abgeschabte Kabinenkoffer mit den Initialen R. G.

»Aber ... wo ist denn Herr Guernier?« fragte die Hoheit etwas schüchtern.

»Er war noch vor einer Weile hier, gnädigste Frau ... er muß jeden Augenblick zurückkommen. Er ging zur Hauptpost, um ein dringendes Telegramm aufzugeben. Es fiel ihm ein, während er es überwachte, wie ich die Tafel deckte ... da sagte er plötzlich: ›Ah, ich habe vergessen, eine Depesche aufzugeben ... Josephine, bis zu welcher Stunde ist die Post offen?‹ – ›Die Hauptpost – bis Mitternacht,‹ sagte ich. – ›Nun gut ... ich muß schnell hin! Wenn die Damen in meiner Abwesenheit ankommen, so sagen Sie ihnen, sie mögen mich entschuldigen und auf mich warten.‹«

Die leichte Enttäuschung der Großfürstin wurde durch eine Befriedigung ihrer Koketterie wettgemacht: sie hatte also vollauf Zeit, ein warmes Bad zu nehmen, sich zu frisieren und ein Abendkleid anzulegen.

»Schnell, Lelièvre, helfen Sie mir, ich will mich sehr schön machen! Nehmen Sie aus meinem Koffer das grüne Seidenkleid von Priolet.« Das Toilettezimmer wurde verschlossen, damit sie nicht inmitten dieser verliebten Vorbereitungen von Ramon überrascht werde. Nie hat eine Neuvermählte mit größerer Liebe sich mit den Kleidern geschmückt, die ihr der Geliebte bald entreißen soll. »Nicht dieses Hemd, Lelièvre! Seien Sie nicht so dumm! Jenes ganz aus Spitzen ... Lelièvre ... meine Haare wollen gar nicht halten! Sie müssen die Brennschere nehmen ... wo ist der Zerstäuber?« Lelièvre wußte nicht, wo sie zuerst anpacken sollte. Die Hoheit hätte gewollt, daß sich Ramon verspätet einstelle, um sich ihm im vollen Glanze ihrer Schönheit zu zeigen. Doch draußen öffnete sich eine Tür. »Da ist er schon! Beeilen Sie sich, Lelièvre!«

Aber als sie von neuem in das Speisezimmer eintraten, fanden sie nur Josephine vor, die eben eine große Platte mit Austern aufgestellt hatte.

»Ist Herr Guernier schon zurück?«

»Nein, Gnädigste ... aber er muß jeden Augenblick hier sein.«

Hilda mußte sich mit diesem mageren Trost begnügen. Sie begab sich in den Salon und blätterte zerstreut in einer alten Nummer des »Graphic«.

»Hoheit erlaubt, daß auch ich etwas Toilette mache?« bat ängstlich die Hofdame.

Hilda erwiderte:

»Gehen Sie zum Teufel!«

Dies nahm Lelièvre für eine gütige Erlaubnis und verschwand. Die Großfürstin blieb allein in dem lichterstrahlenden Salon, den »Graphic« in der Hand. Eine seltsame Angst schnürte ihr das Herz zusammen und trieb ihr den Schweiß auf die Stirne. Aber sie wehrte sich gegen diese Ahnung ... sie erinnerte sich an alles, was zugunsten Ramons sprach ... dieses von ihm gewählte prächtige Gemach, die Blumen, das Souper, die Austern, der Champagner, und draußen hingen sein Hut und sein Überzieher, und die vier Schecks sind am Gürtel der Lelièvre. »Nein, nein!« Die Stutzuhr zeigte bereits auf Mitternacht ... Die Hoheit dachte plötzlich mit Schrecken an die Möglichkeit eines Unfalls, an ein Auto, das gegen die Mauer anfährt.

»Josephine! Wann ist Herr Genaz eigentlich fortgegangen?«

Die Zofe machte erstaunte Augen.

»Herr Genaz?«

»Nein ... ich wollte sagen: Herr Guernier ... wie spät war es, als er sich zur Hauptpost begab?«

»Kurz vor der Ankunft der Damen, ein Viertel vor Elf! Er ging übrigens nicht zu Fuß, er nahm einen Wagen, der vor dem Hotel hielt, weil er einige Reisende hergebracht hatte. Es ist wahr, daß seither beinahe eine Stunde verflossen ist, aber wenn am nächsten Morgen ein Überseedampfer abfährt, so dauert es lange, bis man ein Telegramm aufgeben kann, da nur ein einziger Schalter offen ist.«

Es verstrich noch eine halbe Stunde. Dann erschien Frau Lelièvre in dekolletiertem Kleide, das unbarmherzig Arme und Schultern sehen ließ.

»Sie sind verrückt, Lelièvre!« sagte die Großfürstin. »Für wen legen Sie denn diese Fleischreste zur Schau?«

»Hoheit hatten mir gesagt, es sei große Toilette.«

Hilda zuckte die Achseln.

»Ich habe Hunger,« sagte sie trocken. »Gehen wir zum Nachtmahl!«

Das Nachtmahl begann in einer mürrischen Stille. Für einen Organismus, wie ihn die Großfürstin besaß, kehrt jedoch mit dem gestillten Hunger auch der Mut zurück. Nach den Austern, nach einem halben Huhn, nach drei Gläsern Champagner, hellte sich ihre gerunzelte Stirne auf. Frau Lelièvre bemerkte dies und hielt es für geboten, den Optimismus ihrer Herrin zu stärken. Die komische Person, unpraktisch bis zur Unmöglichkeit, besaß eine unglaubliche Phantasie, die sehr kühn und anscheinend logisch war, und diese Eigenschaft machte sie der Großfürstin unentbehrlich, welche nichts anderes sah als nur die greifbare Wirklichkeit.

»Ich denke mir,« sagte die Hofdame, als die Dienerschaft die beiden bei Bäckereien und Früchten allein gelassen hatte, »ich denke mir die Sache so: Herr Genaz hat wahrscheinlich bemerkt, daß man uns nachspürte. Hoheit mögen sich nur erinnern, was diese Josephine gesagt hatte. Es war kurz vorher ein Wagen mit Reisenden angekommen. Diese Reisenden waren vielleicht Spione des Großfürsten, oder es waren vielleicht Bekannte von Ramon, die ihm eine wichtige Neuigkeit überbrachten. Auf alle Fälle hatte er begriffen, daß er sofort das Hotel verlassen müsse.«

»Und warum dies?«

»Damit er Eure Hoheit nicht kompromittiere, was sicherlich geschehen würde, wenn Herr Genaz die Nacht hier verbringt.«

»Das ist möglich.«

»Es ist sogar gewiß! Ich bin überzeugt, daß Hoheit morgen in aller Früh eine Nachricht erhalten werden, die meine Worte bestätigt.«

»Aber glauben Sie, daß wir trotzdem nach Amerika fahren können?« fragte die Großfürstin in dem kläglichen Ton eines Kindes, dem man eine Näscherei verweigert.

»Warum nicht? Es ist wahrscheinlich, daß Herr Genaz schon diese Nacht in seiner Kabine auf der ›Guyenne‹ zubringt.«

»Wir könnten vielleicht jemanden hinschicken.«

»Nein, das wäre sehr unklug! Das würde die List Ramons durchkreuzen. Glauben Sie mir, bleiben wir ruhig hier! Es ist ein betrüblicher Zwischenfall, aber man kann ihn nicht ändern. Hoheit werden gut tun, sich jetzt niederzulegen. Ich werde dem Stubenmädchen sagen, daß ausgemacht war, wir würden Herrn Guernier nach Mitternacht nicht mehr erwarten.«

 

Dieses Programm wurde auch eingehalten, zur großen Befriedigung von Frau Lelièvre, die sich vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Denn sie hatte alle Vorbereitungen zu dieser Reise treffen müssen, hatte die Koffer gepackt und fühlte sich unfähig, die Nacht zu durchwachen. Aber als Hilda im Bette lag und die Hofdame von ihrer Herrin Abschied nahm, fühlte sich die Großfürstin von einer nervösen Krise überkommen, weinte und zitterte vor Furcht.

»Lelièvre, Teure, verlassen Sie mich nicht! Ich fühle, daß ich hier sterben werde! Sie werden mich morgen als starre Leiche vorfinden.«

»Nun gut ... ich werde in diesem Lehnstuhle Platz nehmen und werde Eure Hoheit bewachen.«

»Nein, ziehen Sie sich aus und kommen Sie in mein Bett, ich bin wie erstarrt. Sie müssen mich erwärmen.« Die Hofdame mußte gehorchen, aber sie schlief sofort ein und lag wie ein Klotz. Hoheit wachte jeden Augenblick auf, von bangen Ahnungen gepeinigt. Sie versuchte jedesmal die Lelièvre aufzuwecken, aber sie mochte sie noch so sehr rütteln und nach ihr rufen, die brave Dame antwortete bloß durch ein Schnarchen. Hilda tastete nach der Leibbinde ihrer Gefährtin, um sich zu versichern, daß die Schecks noch in ihrem Versteck waren, und sie fühlte sich dann etwas beruhigt. Es war ja immerhin ein konkreter Beweis, um den Liebestraum der armen Hilda nicht ganz verflattern zu lassen ... die Schecks, die zwei schweren Kabinenkoffer, der schwarze Filzhut, der Überzieher. Aber je länger sie nachsann, desto klarer sah sie, weil das Geschwätz der Lelièvre nicht mehr seine narkotische Wirkung übte, und sie sagte sich: »Ramon hatte alles in Paris verkauft, um völlig frei zu sein, er hatte nicht einmal mehr eine Wohnung, die letzten drei Tage wohnte er im Hotel, er ist ganz frei ...«

Und dann erinnerte sie sich, daß die Vitzina eine Woche früher Paris verlassen hatte. »Oh, das Ungeheuer! Ah, wenn er wirklich dieser Schlange nachgereist wäre!?« Sie begann vor Aufregung zu weinen: »Ramon, mein Schatz! Ramon, mein Geliebter!« Frau Lelièvre schnarchte lauter ... Die Großfürstin gab ihr einige Rippenstöße, und die Hofdame rollte bis zur Mauer, ohne aufzuwachen. Hilda dachte an die vier kostbaren rosa Papiere mit der Unterschrift: »Durdy & Cie.«

Sie verstand gar nichts von dem Wesen der Schecks, aber ihr romantischer Sinn war stets von einer Art von Hausverstand gestützt worden, und sie sagte sich jetzt: »Gestern hatte ich ein Perlenhalsband, das mehr als eine Million wert war ... heute habe ich vier kleine rosa Papiere!« Und dann schlief sie endlich ein, sauste gleichsam in einen Abgrund, ohne Träume, ohne Aufschrecken, wie eine Tote ...

Sie schlug die Augen erst auf, als es bereits heller Tag war. Im Hotel schrillten da und dort die Klingeln. Die Hofdame schnarchte noch immer, gegen die Mauer gekehrt.

Die Hochzeitsnacht war zu Ende.

II

In den Bureaux der C. G. E., wie man den Crédit Général Engelmann nannte, zweifelte niemand mehr, weder die Direktoren, noch die Angestellten bis zu den Schreibfräuleins und Liftboys herab, daß Laurent Sixte, Nachfolger von Dutrier, auch dessen Nachfolger in der Gunst der Herrin geworden war. Die Angestellten sprachen darüber freimütig, scherzend, manchmal brutal, aber ohne Haß. Man liebte Camille Engelmann, insoweit man heute, in unserer lieblosen und herzlosen Zeit, einen Chef lieben kann. Camille machte da eine Ausnahme, man war ihr wirklich zugetan, weil sie über drei für einen Vorgesetzten notwendige Eigenschaften verfügte: sie übte eine unnachgiebige Autorität aus, sie war stets höflich in den Ausdrücken, von der untadeligsten Gerechtigkeit, und sie war mit Geschenken freigebig und großmütig, weil sie wußte, daß man das Geld besser anwendet, wenn man damit Leute bezahlt, statt leblose Sachen anzuschaffen. Selbst die weiblichen Angestellten waren ihr gutgesinnt, aber sie sagten bedauernd, wenn sie von dem Günstling sprachen:

»Armer Teufel ... er muß eine gesunde Natur haben!«

Die männlichen Angestellten, die mit der Prinzipalin oder mit dem Günstling in nähere Berührung kamen, erzählten von ihr und von ihm hundert Anekdoten über diese Intimität. »Sie hält es nicht eine Stunde aus, ohne ihn zu sehen. Er verschlingt sie mit den Augen, sie halten sich stundenlang an den Händen, wenn sie Abschied nehmen.« Das alles war zum Teile wahr. Wenn jedoch andere erzählten, daß sie Camille Engelmann auf den Knien des Direktors gesehen hatten, so logen sie.

Es waren vier Monate verstrichen, seit Laurent Sixte in die Bank Engelmann eingetreten war, und es hatte nicht lange gedauert, daß sich zwischen ihm und Camille eine enge und zarte Vertraulichkeit herausgebildet hatte. Aber die Grenze, die Freundschaft von Liebe scheidet, war nie überschritten worden. Dies war nicht Camille zuzuschreiben, die von Verlangen nach dieser Liebe gefoltert und verzehrt wurde.

»Und trotzdem glaube ich, daß er mich liebt!« sagte sie sich. Er war sehr intelligent, aber erst Camille hatte ihm eine eigentümlich raffinierte, weitblickende Behendigkeit in Geschäften gegeben, die für einen Beherrscher der Börse unumgänglich notwendig ist. Sie hatte jetzt die Freude, zu sehen, daß sehr vieles in der Art, wie Laurent Sixte über Geschäfte dachte, handelte und sprach, völlig die Marke Camille Engelmann trug. Und anderseits wußte sie auch, daß Laurent das Bedürfnis fühlte, in ihrer Nähe zu sein, ihr zu dienen, sich für sie aufzuopfern. Eines fehlte jedoch: der Wunsch nach physischer Besitzergreifung.

»Er ist auf seine Würde zu sehr bedacht, um einen Angriff zu wagen,« dachte Camille. »Er hegt Bedenken. Ich bin die Vorgesetzte, er hängt von mir ab, er kann seine Stellung verlieren, dies hindert ihn, sich zu erklären. Aber ich selbst kann mich ihm doch nicht an den Hals werfen!«

Bei ihren früheren, zahlreichen Liebesabenteuern hatte sie sich allerdings niemals gescheut, sehr deutlich zu werden, wenn ein Anbeter etwas gar zu schüchtern war, aber bei Laurent fühlte sie, daß eine solche Offensive alles verderben könnte. Und sie fand sich einer beinahe unlösbaren Schwierigkeit gegenüber: ein weiblicher Don Juan, der nicht mehr selbst herausfordert und in Besitz nimmt, der nach Art der anderen Frauen lieben will. Camille war bisher ein weiblicher Lüstling gewesen, und jetzt empfand sie zum erstenmal wahre Liebe, eine beinahe keusche Leidenschaft, wenn sie auch mit allen Sinnen nach einer sinnlichen Befriedigung fieberte; aber die Leidenschaft selbst hatte jetzt eine andere Form, mit Furcht, Scham und Zurückhaltung gemischt.

»Ich habe mir meine eigene Moral geschaffen und habe ihr zwanzig Jahre lang nachgelebt, ich hatte für manches Verehrung und Achtung, aber nur nicht für das, was man »weibliche Anständigkeit« nennt. Ich hielt es für eine Heuchelei – ich hatte Lust nach Sinnlichkeit und ich befriedigte diese Lust, und ich befand mich wohl dabei! Und ich schäme mich gar nicht dieser Vergangenheit! Aber mit Laurent ... ich fürchte, daß er mich für ein weibliches Ungeheuer hält! Wenn er wüßte, daß ich eigentlich noch nie liebte, daß ich ihm ein reineres Herz entgegenbringe als viele Mädchen, die körperlich unberührt sind, und die sich in Gedanken an Hunderte von Männern hingaben. Wird er begreifen, daß ich mich selbst in Wirklichkeit niemals gegeben habe, daß er der Erste ist?«

 

Trotz dieser quälenden Gedanken, trotz der Aufregung ihrer unbefriedigten Sinne schien diese neue Liebe Camille zu ihrem Vorteil zu verändern. Ihre Umgebung gewahrte gleichsam eine Verjüngung, eine ungewohnte Lebendigkeit, eine seltsame Frische. Von ihrem Gesicht, von ihren Bewegungen ging wiederum eine seltsame Bezauberungsgabe aus, die Männer drehten sich nach ihr um; von dem Feuer ihres Blickes gebannt, folgten sie ihr, sprachen sie an. Sie hatte einen sehr glücklichen Nachmittag, als sie an einem Plakatankleber vorbeikam, der von seiner Leiter herab dem Kameraden zurief: »He, Ernst ... mit einem solchen Bettkameraden, wie diese schöne Schwarze, wäre man glücklich, nicht?« Selbst Laurent, der sonst so zurückhaltend war, beglückwünschte sie eines Tages zu ihrer strahlenden Miene.

Sie sahen einander beinahe alle Tage, außerhalb der Geschäftsstunden. Camille war in dieser Hinsicht sehr erfinderisch. Sie wußte es so einzurichten, daß sie sich im Theater trafen, bei Ausstellungen, in den Salons bekannter Persönlichkeiten. Sie nahm allmählich die Gewohnheit an, ihn »Laurent« zu nennen, sie lud ihn zu einem Mittagessen ein, in ihre Opernloge, zu Ausflügen in die Pariser Umgebung. Aber bei diesen Zusammenkünften verbarg sie, unter dem Äußeren freundschaftlicher Vertraulichkeit, die glühendsten Wünsche ... Ah, wenn sie diesen schönen Kopf zwischen ihre Hände nehmen könnte, wenn sie diese frischen Lippen küssen dürfte, an ihnen Mut und Lebenshoffnung saugend ... Sie wußte jedoch, daß eine einzige Gebärde alles zerstören könnte, der Angriff mußte von Laurent selbst erzwungen werden ...

Und dieser Angriff kam.

Er hatte drei Tage Urlaub erbeten, um sich in seine engere Heimat zu begeben, in die Bourgogne, wegen Familienangelegenheiten. Von dort erhielt sie ein kurzes Schreiben:

»Gnädigste Frau!

Die Entfernung gibt mir Mut ... Ich bitte Sie, mir nach meiner Rückkehr eine Unterredung zu gewähren, und zwar bei Ihnen und nicht im Bureau. Es ist wahr, daß ich das Glück habe, Sie alle Tage zu sehen. Aber wenn Sie mir diese besondere Audienz gewähren, so wird mir das den Mut geben, meine Schüchternheit zu bekämpfen. Denn wissen Sie, daß Sie mich sehr einschüchtern? Doch ich hoffe, daß Sie mir ein wenig helfen werden, um Ihnen diejenigen persönlichen Eröffnungen zu machen, die ich Ihnen seit langem anvertrauen wollte.«

 

Sie erwiderte durch ein Telegramm, worin sie ihn für den Abend seiner Rückkehr zum Nachtmahl einlud. Dies sollte also am nächsten Tage sein. Denn sie konnte nicht länger warten, sie lohte in triumphierender Ungeduld. Endlich, endlich, würde er sich entschließen! »Welch großes Kind!« dachte sie, »und wie viel kostbare Zeit hat er verstreichen lassen! Ah! Jetzt, da er mich darum bittet, werde auch ich Mut haben! Und ich werde ihm die Mühe abnehmen, sich umständlich zu erklären.«

Hundertmal sah sie im Geiste die kommende Szene vor sich, die gegenseitige Stille, die Augen, die zu einander sprechen, dann die Annäherung, schüchtern und feurig zugleich, und gestammelte Worte ... »Also ... Sie lieben mich wirklich?« und dann das Glück, der Frieden, die Erlösung!

In Wirklichkeit kommt es aber immer anders, als man denkt.

Als Laurent mit seiner Herrin allein war, zeigte er sich wie gewöhnlich heiter und zutraulich, dankte für die gewährte Audienz und erzählte in seiner freundschaftlichen Art von seiner Reise, von seinem Aufenthalt bei seiner Familie. Und als ihm endlich Camille ungeduldig sagte: »Sie wollten mich etwas fragen,« erwiderte er: »Später, bis wir in Ihrem kleinen Salon sind.«

Sie entschloß sich, noch zu warten, aber kein Zweifel beschlich sie. Er war an diesem Abend besonders verführerisch, mit seinem männlich schönen Gesicht, das von Sehnsucht und Hoffnung beseelt war. Die Zofe hatte ihr schon vor einigen Wochen gesagt: »Die Schulter der Gnädigen ist jetzt beinahe ebenso voll und seidig wie früher.« Und Camille hatte gewagt, ein dekolletiertes, rotes Samtkleid anzulegen, das ihre halbe Büste freiließ. Sie wußte, daß ihre gebräunte Haut beim Lampenschimmer einen bezaubernd goldigen Ton annahm. Laurent war etwas erstaunt, als er sie so sah, und sie lauerte auf dieses Staunen. Es beruhigte sie, daß Laurent sehr glücklich dreinsah – das Aussehen eines Mannes, der ein köstliches Geheimnis in sich birgt und sich die Freude aufspart, es mitzuteilen.

Aber trotzdem schlug ihr Herz sehr stürmisch, als endlich der Diener den Kaffee gebracht hatte und sich dann zurückzog. Sie waren allein in dem kleinen Salon. Während sie zwei Tassen vollschenkte, schalt sie sich innerlich: »Ich bin töricht! Was habe ich zu fürchten? Selbst wenn nichts daraus wird, bin ich nicht begehrenswert? Es gibt ja noch andere Männer!« Aber dann sagte sie sich, und es war ihr bitterernst damit: »Wenn nichts daraus wird, so werde ich sterben.«

 

»Meine teure Herrin,« begann Laurent, »was ich Ihnen zu sagen habe, ist nicht leicht zu sagen! Aber ich empfinde es trotzdem als ein großes Glück, es Ihnen bekanntgeben zu dürfen.«

Er saß ihr gegenüber, auf einem Stuhl, während sie auf dem Diwan Platz genommen hatte. Er hielt in der Hand die noch volle Tasse, rührte mit dem Löffel den Zucker um und setzte dann die Tasse beiseite, ohne davon zu kosten. Camille murmelte:

»So sprechen Sie doch!«

Sie hatte sich zu ihm vorgebeugt, als wenn sie sich darbieten würde. Aber er sah sie gar nicht an, sondern starrte auf den Teppich.

»Ich habe bei Ihnen so viel Güte, so viel Freundschaft gefunden, daß ich den großen Abstand vergaß, der uns trennt.«

Camille, verwirrt wie durch das zarteste Geständnis, griff nach seiner Hand und zwang ihn, sie anzusehen.

»Ja,« murmelte sie, »ich bin Ihre Freundin! Wir sind gleich und gleich, Laurent ... und wenn ich schöner geworden bin, so waren Sie es, der mir diesen Wunsch eingeflößt hat, zu gefallen.«

Sie hielten sich jetzt fest an den Händen, und der weibliche Lüstling Camille empfand bei dieser unschuldigen Liebkosung eine sinnliche Erregung, wie es ihr selbst der stärkste Liebesgenuß von einst nie eingeflößt hatte. Und sie dachte: »Ich liebe dich! Ich liebe dich! Aber so sprich doch endlich ... sprich!«

Und als wenn er sie gehört hätte, setzte er hinzu:

»Das Gefühl, das ich Ihnen entgegenbringe, kann durch nichts verdrängt oder vermindert werden. Was in meinem Herzen Ihnen gehört, das ist Ihnen für immer sicher. Sie glauben mir, nicht wahr?«

»Ja ... ja doch, mein Freund!«

Und trotzdem seine Hände jetzt ihre Knöchel umklammerten, verspürte sie plötzlich ein eisiges Gefühl, das ihr zum Herzen kroch.

»Unsere Freundschaft, unsere Intimität, dieses Leben der Arbeit unter Ihren Augen, unsere Spaziergänge, unsere Plauderstündchen ... sagen Sie mir, daß dies fortbestehen wird!«

»Der seltsame Mensch!« dachte sie. »Glaubt er vielleicht, daß die Leidenschaft die Freundschaft vertreiben kann?«

Mit einer fast heiseren Stimme, einer Stimme, in der die Liebe bebte, sagte sie:

»Ich verlange nur das eine, Ihnen noch mehr zu geben.«

Wenn Laurent begriffen hätte, was in dem Herzen seiner Herrin vorging, so hätten ihn diese Worte entsetzt, aber er hörte sie kaum, er dachte nur an das, was er sagen wollte, er dachte, daß sie trotz allem seine Freundin bleiben würde, und er sagte, wie einer, der sich blindlings ins Wasser stürzt:

»Ich wollte Ihnen die Nachricht von meiner bevorstehenden Heirat mitteilen ...«

Camille blieb ruhig, es war keine brüske Bewegung, mit der sie ihre Hände zurückzog, und ihre Stimme zitterte gar nicht, als sie fragte:

»Sie verheiraten sich! Mit wem?«

»Mit einem jungen Mädchen, das eine entfernte Verwandte ist, und die ich im Vorjahre als italienische Korrespondentin in der Vogesen-Bank untergebracht habe. Sie stammt ebenfalls aus der Bourgogne, und es ist wegen der Familienangelegenheiten meiner Braut, daß ich ...«

»Wie alt ist sie?«

»Zwanzig Jahre.«

»Sie heißt?«

»Migier ... Mariette Migier ...«

»Haben Sie ein Bild Ihrer Braut bei sich? Lassen Sie doch sehen.«

Das Gespräch dauerte noch eine Weile, in beinahe banalen, hergebrachten Sätzen, und Camille zeigte sich ruhig und kühl. Aber Laurent verlor den Kopf, er begriff mit einemmal! Er empfand einen bohrenden Schmerz bei dem Gedanken, daß er seine Herrin gedemütigt hatte, daß sie um seinetwillen litt – eine Frau, die er bewunderte, der er dankbar ergeben war! Er holte mit zitternden Händen die Photographie seiner Braut hervor. Camille sah ein junges, gut gebautes Mädchen, ohne wirkliche Schönheit, aber appetitlich wie ein Pfirsich ...

»Sie ist entzückend,« sagte sie.

Wie sollte man ein solches Gespräch verlängern? Es war Laurent, der zuerst aufstand, mit brennendem Gesicht, ein durch die Reise und Ermüdung hervorgerufenes Kopfweh vorschützend.

»Und dann,« sagte Camille, während sie ihn bis zu der Tür begleitete, »ich hoffe, daß Sie diesen Tag nicht verstreichen lassen, ohne noch Ihre Braut zu begrüßen ...«

 

Die Tür des kleinen Salons hatte sich hinter Laurent geschlossen. Die Herrin ist allein. Sie bleibt eine Weile neben dieser Tür stehen, die das Grab ihrer Hoffnungen verschließt. Große Tränen rollen aus ihren Augen, aber sie schluchzt nicht, sie bleibt starr wie ein Steinbild. Dann jedoch versiegen die Tränen, sie nähert sich einem großen Spiegel, der sich zwischen zwei Fenstern erhebt. Sie sieht sich ganz, vom Kopf bis zu den Knien ... sie sieht sich an, sie urteilt. Sie bemerkt, daß die Haare an den Schläfen dünner geworden waren, sie sieht die flammenden Augen, deren übergroße Leuchtkraft das welke Gesicht noch verblühter macht. Sie hatte, wenn sie sich sonst im Spiegel besah, stets die Gesichtsmuskeln angespannt, absichtlich, um die zwei tiefen Falten nicht zu sehen, die jede Wange in zwei Teile schneiden, und sie hatte auch das Kinn gehoben, um die schlaffe Haut nicht zu gewahren, welche bis zum Kehlkopf reichte. Und dies ist noch nicht genug. Sie reißt jetzt die Achselspangen des Kleides los, sie löst das feine Spitzenhemd, und sie steht mit nacktem Oberkörper da, sie sieht die Höhlungen am Schlüsselbein, in der Busengegend ... Ah ... ah ... dies ist die wahre Camille! Dies ist Camille Engelmann, dies war die Geliebte Dutriers, dies wollte die Geliebte Laurents sein! Und sie grinst dieses Phantom verzweifelt an, und dann schreit sie ihm entgegen, als wenn das Bild sie hören würde:

»Aber er hat ja recht, Laurent ... er hat vollkommen recht ... dieses Skelett sollte er lieben? ...«

Und dann plötzlich, als hätte jemand diese Worte hinter dem Spiegel geschrieen, wird sie von einer panischen Furcht ergriffen, sie stürzt aus dem Salon, die Robe hastig über die Büste gerafft, und sie flieht durch das Speisezimmer, an dem entsetzten Diener vorbei, der diese schauerliche halbe Nacktheit anstarrt, und sie bricht in ihrem Schlafzimmer nieder, wie von einer brutalen Faust auf das Bett geschleudert.

III

Trotz aller Anstrengungen, die Albine gemacht hatte, um bei dieser letzten Begegnung mit Roger vor seiner Reise nach Nancy ruhig und gefaßt zu erscheinen, hatte sie der junge Mann sehr nervös gefunden. Sie entschuldigte sich: »Ich glaube, daß ich wiederum eine meiner Neuralgien bekommen werde ... Es ist das sehr selten, aber unerträglich ...«

Er war daher nach seiner Rückkehr nach Paris – als er sich bei Albine einfand – nicht besonders verwundert, von der Zofe folgende Worte zu vernehmen:

»Frau Gräfin bittet Herrn Vaugrenier, sie zu entschuldigen. Nach der Abreise von Herrn Vaugrenier wurde sie von einem schrecklichen Kopfweh befallen. Frau Gräfin ist da ganz kraftlos, sie liegt wie tot im Bett, im verdunkelten Zimmer, ohne Nahrung, ohne etwas zu sprechen. Aus diesem Grunde mußte ich selbst die Depesche schreiben, die Sie in Nancy erhielten ...«

Alle Bekannten Albines und auch Roger selber kannten diese heftigen Anfälle, die Albine von Zeit zu Zeit gleichsam zu Boden schmetterten, manchmal nur für einige Stunden, manchmal für mehrere Tage. Und es war nicht das erstemal, daß Roger nicht vorgelassen wurde.

Albine blieb in solchen Augenblicken stets allein; eine Frau, die nur der Schönheit lebt, will auch nur in Schönheit gesehen werden.

Die Zofe setzte hinzu:

»Frau Gräfin hat mir aufgetragen, Herrn Vaugrenier zu sagen, er möge sich nicht beunruhigen, es wird bald vorübergehen; ich werde Ihnen telephonieren, und sofort, wenn die Frau Gräfin aufstehen und sprechen kann, vielleicht schon morgen, wird sie Sie empfangen.«

Roger ging nachhause zurück, ohne Angst, aber etwas mißgestimmt. Das leidenschaftliche Gefühl, das ihn an Albine kettete, war nicht von der Art, um durch eine Krankheit, durch eine veränderte Miene geschwächt zu werden, im Gegenteil! Es gab Augenblicke, da Roger die berauschende Schönheit Albinens haßte! Ah, welch törichte Koketterie von Albine, daß sie ihm gerade heute den Eingang wehrte, er hätte so sehr gewünscht, sie in seine Arme zu nehmen, sie zu wiegen, einzuschläfern, zu beruhigen.

 

Justine hatte nicht übertrieben, als sie den elenden Zustand ihrer Herrin schilderte. Es gab da wirklich eine Frau, die bald auf dem Bette, bald zwischen den Kissen des Diwans wie ein verwundetes Tier wimmerte.

Und sie lag so seit dem Besuche Hobsons. Sie lag mit geschlossenen Augen, die Fäuste gegen die Stirne gepreßt, wie um nicht wahnsinnig zu werden, mit dem Gefühl, von einer brutalen Kraft gegen eine Steinmauer geschleudert zu werden, und sie spannte alle Muskeln an, um sich zu wehren, um sich einen Ausgang zu bahnen. Aber sie versuchte vergeblich, diesen Gedanken zu entkommen. Kein Schlafpulver wollte helfen. Und sie lebte nur immer diese eine Szene, immer wieder, diese Szene mit Hobson ...

Oh ... diese Szene war nicht lang, und gar nicht dramatisch. Justine hatte angekündigt:

»Frau Gräfin, es ist der Herr aus England!«

Und er war eingetreten, korpulent, mit rosiger Gesichtsfarbe, die weißen Haare schlicht zurückgestrichen, einen kurzen, noch blonden Schnurrbart über der Oberlippe. Und kaum hatte er zu sprechen begonnen, so erriet Albine die Wahrheit, sie erriet die Wahrheit, wie einst Jocaste bei den ersten Worten des thebanischen Hirten ...

Hobson hatte gesagt:

»Frau Gräfin ... südlich von London, in South-Croydon, gibt es seit ungefähr fünfzig Jahren eine Klinik, ein Sanatorium, von einer ganz besonderen Beschaffenheit – für geheime Entbindungen. Das Sanatorium hat isolierte Pavillons, verschwiegene Ärzte, stumme Pflegerinnen. Eines Tages wurde eine junge Französin in diese Klinik gebracht, von einem etwa dreißigjährigen französischen Gentleman, der seit zwei Monaten Botschaftssekretär in Albert-House war, nachdem er früher als Diplomat in Paris am Quai d'Orsay tätig gewesen ist. Dieser Gentleman hieß Jules Perdigant.

Die junge Französin brachte einen Knaben zur Welt und verließ die Klinik so bald als möglich. Der Vater des Kindes, der verheiratet war und den Schaden in anderer Art nicht gutmachen konnte, hatte es übernommen, für das Kind zu sorgen und es erziehen zu lassen. Das alles ist Ihnen, Frau Gräfin, wohlbekannt.

Aber was Sie nicht wissen, ist dies: nach der Abreise der Wöchnerin machte Jules Perdigant in der Klinik die Bekanntschaft eines englischen Arztes, der sich in demselben Falle befand wie der französische Gentleman. Er war verheiratet, und seine Geliebte, eine französische Sprachlehrerin, hatte an demselben Tage entbunden wie die junge Französin. Dieser Arzt – war ich.

Unser Kind starb zwölf Tage nach der Geburt. Erwarten Sie nun keine romantischen Vorgänge. Meine Geliebte wurde aus Kummer über den Tod ihres Kindes beinahe gemütskrank und ich ängstigte mich um ihr Leben. Und da kam mir ein Einfall, den ich zuerst mit Jules Perdigant besprach (und Perdigant pflichtete mir völlig bei), es kam mir der Einfall, den andern kleinen Franzosen, der beinahe zu gleicher Zeit zur Welt gekommen war wie unser Kind, zu adoptieren. Ich brachte diesen Plan meiner Geliebten zur Kenntnis, sie war zuerst unschlüssig, dann willigte sie ein, und zwar schließlich sogar mit wahrer Leidenschaft.

Wie die meisten Frauen in einem solchen Fall, wollte sie aus allen Seelenkräften, daß dieses fremde Kind wirklich ›unser‹ Sohn würde, und daß er über seine Herkunft nie die Wahrheit erfahren dürfe. Damit schien alles in bester Art geregelt zu sein. Perdigant erlegte überdies einen größeren Geldbetrag für die Erziehung Rogers, und ich wurde zum Vormund des Kindes bestellt.

Das ist alles ...«

Albine hatte diese Erzählung ohne scheinbare Erregung angehört, als wenn diese banale Geschichte eines Adoptivkindes sie gar nichts angegangen wäre. Aber sie stand erstarrt da, von einer beinahe gar nicht menschlichen Starrheit, nicht einmal die Wimpern, die Augensterne rührten sich.

Hobson war angesichts dieses Steinbildes erschüttert und geängstigt zugleich.

»Ich habe Ihnen weh getan, Frau Gräfin, glauben Sie mir, nur die eiserne Notwendigkeit ...«

Sie fuhr auf, als würde sie aus einer Lethargie erwachen, und erwiderte:

»Sie konnten nicht anders handeln, Herr Doktor, entschuldigen Sie sich nicht, aber ersparen Sie es mir, Ihnen zu sagen, was nun geschehen muß, denn alles, was Sie in diesem Falle erwarten müssen, wird auch geschehen, und zwar durch mich! Kehren Sie sofort nach England zurück, wenn es sein kann. Roger ist in Nancy. Hat er Ihnen diese Reise angekündigt?«

»Nein.«

»Dann gehen Sie zu ihm, als wenn Sie ihn in Paris anwesend glaubten. Lassen Sie ihm einige Zeilen, die ihren Pariser Aufenthalt in unauffälliger Form erklären. Sagen Sie ihm, daß Sie seinen Brief betreffs seiner Pläne erhielten, und daß Sie nach einiger Zeit kommen werden, um mit ihm darüber zu sprechen. Was Sie vermeiden müssen, ist dies eine, daß er erfährt, Sie seien in Paris gewesen und hätten sich vor ihm verborgen. Er würde dann ahnen, daß Sie bei mir gewesen sind.«

Hobson willigte ein und verabschiedete sich. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen. Die Zusammenkunft hatte kaum eine halbe Stunde gedauert.

 

Als Albine allein war, hatte sie nur noch so viel Kraft, um sich in ihr Schlafzimmer zu schleppen und auf das Bett niederzufallen. Die Krise war zuerst körperlich; in ihrem Kopfe kreisten tausend Räder, sausend, sie glaubte, jeden Augenblick wahnsinnig werden zu müssen.

»Ah!« rief Justine, als sie ihre Herrin hingestreckt sah, »die Frau Gräfin hat ihre Neuralgie!«

Und es war in der Tat »ihre Neuralgie«, mit einer verzehnfachten Wucht, und das dauerte endlose Stunden, einen Tag, und nach dieser physischen Folter reihten sich die Gedanken aneinander, ein Faden knüpfte sich an ... und nun kam der Alpdruck, der unaufhörliche Alpdruck, das beständig auftauchende Bild dieser Szene ... Hobson ... seine Worte ... jedes so klar, so grausam in seiner Zurückhaltung, und dann der Rückfall. Und dieses Gefühl, beständig mit dem Kopfe gegen eine Mauer anzurennen, gegen ein Hindernis – und dieses Hindernis muß man besiegen, koste es was immer ... selbst das Leben! Es muß besiegt werden!

»Wenn es mir nicht gelingt, einige Stunden zu schlafen, so werde ich wahnsinnig ...«

Sie nahm eine doppelte Dosis Veronal und verfiel endlich in ein Hindämmern, das dem Tode glich ... Jegliche Vorstellung von Zeit und Raum schwand dahin. Erst durch Justine erfuhr sie, sie habe so zwei Nächte und einen Tag verbracht. Am Morgen des zweiten Tages, als sie die Augen aufschlug, sah sie noch das Lichtrund der Nachtlampe auf dem Plafond tanzen.

Justine, die bei ihr gewacht hatte, schlief, in einen Lehnstuhl gedrückt.

»Es geht mir besser,« dachte Albine, »ich bin vernichtet, aber ich kann denken.«

Und in der Tat, ihr Denken war, trotz des starken Schlafmittels, schärfer als jemals. Sie fühlte sich wie von ihrem Körper losgelöst, sie fühlte sich als ein Gespenst, das in die Trümmer der zerstörten früheren Existenz zurückkehrt, und sie erstaunte, daß sie in diesem Gefühl eine Beruhigung fand. Die geheimnisvolle Angst, die sie so oft seit der Bekanntschaft mit Roger empfunden hatte, diese Angst, in den letzten Tagen beinahe unerträglich geworden, sie war jetzt spurlos verschwunden, durch die Katastrophe vertrieben. »Ich werde vielleicht an diesem Schlage sterben,« dachte sie, »aber trotzdem ... ich bin gerettet.«

Und es war wirklich zuerst dieses Gefühl, das ein Ertrinkender haben muß, wenn er sich auf festem Boden wiederfindet, gerädert, gebrochen, aber im Besitze seiner Vernunft.

Sie sagte sich dies mehrmals vor, und sie vertrieb hartnäckig den Gedanken, was später sein würde, den Gedanken an Roger, sie badete sich eine Zeitlang gleichsam in diesem Gefühl einer Erlösung. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie demütig, ergeben, zum erstenmal sagte sich diese hochmütige Schönheit: »Ich bin gestraft, aber ich habe es verdient.« Zum erstenmal kam ihr die Schwere des Vergehens, das auf ihr – ohne, daß sie dessen jemals gewahr wurde – so lange gelastet hatte, zum vollen Bewußtsein. Sie urteilte über sich, sie verurteilte sich, sie urteilte über diesen Don Juanismus, über dieses Gesetz der Sinnenfreude, über diese korrekte Ausschweifung, der sie sich hingegeben hatte, und wodurch sie die wahre Liebe betrog, die Freude über die Frucht der Liebe. Heute weiß sie, Albine Anderny, noch nicht, ob sie diesen Schlag überleben wird, aber warum fühlt sie sich befreit, wie einer furchtbaren Gefahr entronnen?

Wenn es keine Moral der Geschlechter gibt, dann gibt es überhaupt keine Moral! Dann gibt es nur tierische Triebe. Aber kennen die Tiere solche Ängste, solche Selbstvorwürfe?

Es ist also etwas anderes mit diesem Trieb, wenn es sich um Menschen handelt, und die Liebe hat ihre Folgen nicht nur in der Frucht der Liebe, sondern in sich selbst. Warum? Wieso? Mysterium ... kosmogenisches Geheimnis, göttliches Geheimnis vielleicht ... Warum ist das Gift ein Gift? Ist es nicht die okkulte Wirkung dieses Gesetzes, die den Beziehungen zwischen Albine und Roger von allem Anfang an jegliche Sinnlichkeit nahm? Albine diskutiert nicht mehr, fragt nicht mehr, sie beugt den Kopf, sie wendet sich mit einem heiligen Abscheu und Entsetzen von der Vorstellung ab, was geschehen wäre, wenn ... wenn ... und all dieser Haß vor diesem fluchwürdigen Bilde häuft sich in ihr auf, zu einem Haß gegen ihre eigene Vergangenheit. Ah, wie sie diese Vergangenheit haßt, wie sie wünscht, sie auf immer zu vernichten!

Sie haßt sie in einem solchen Grade, daß sie diese Vergangenheit gar nicht begreift! Sie begreift nicht, wie sie so pflichtvergessen handeln konnte.

Sie war Mutter und sie war vor ihrem Kind entflohen, wie vor einer drohenden Gefahr. Sie sucht sich zu entschuldigen: »Ich war damals so jung, kaum achtzehn Jahre! Ich war schlecht beraten, Henriquette Dupont war eine Morphinistin, und Jules Perdigant war ein Lebemann, ein Wüstling.« – Sie hatte ihr Kind im Stiche gelassen, sie hatte sich geflüchtet, sie hatte sich mit dem Gedanken getröstet, daß es von fremden Leuten erzogen würde, daß es keine krasse Armut kennenlernen würde. Aber nicht nur, daß sie vor diesem Kind geflüchtet war, sie hatte sich sogar vor jedem Gedanken an dieses Kind geflüchtet, und es war ihr gelungen, es zu vergessen! Es ist merkwürdig, wie man das Gewissen einschläfern kann, durch die Vergnügungen dieser Welt! Sie war sonst nicht grausam, sie hat nie jemandem etwas Böses zugefügt, sie hat sich wohltätig gezeigt, barmherzig, hilfsbereit, und sie hat ein solches Verbrechen begangen, sie hat ihr Kind im Stiche gelassen ... und sie hat keine Gewissensbisse gefühlt! Ah ... die Beichtväter, die Geständnisse empfangen, welche durch den drohenden Finger des nahen Todes erzwungen werden, sie allein wissen, wie viele scheinbar anständige, ehrenhafte Menschen ein Verbrechen in sich schließen, und daß die Menschen ohne dieses Verbrechen ganz anders beschaffen wären ...

»Nun bin ich bestraft und es ist gerecht, ich habe es verdient!« Gibt es etwas, das sie von dieser Schuld lossprechen könnte? Soll sie es mit dem Tode büßen? Ah ... sterben! Seine Schuld sühnen, wie man im Volksmunde sagt, wenn man von einem Verbrecher spricht! Aber sie fühlt, daß trotz ihrer jetzigen Verzweiflung die wundervolle Kraft ihres Blutes, ihrer Nerven und Muskeln nicht gebrochen ist. Das Leben wird sie noch lange nicht loslassen. Werthers Phrase kommt ihr in den Sinn: »Hier ist der Schlüssel zu deinem Gefängnis ...« Das ist wahr – ein Stich in die Herzgegend, ein Tropfen giftiger Flüssigkeit auf der Zunge, und man ist frei ... für immer! Aber es geht nicht so leicht, es ist die Tradition, die das hindert, diese lange Reihe von Ahnen in Perigord, die Großmütter im Gebete vor der Madonnenstatue, die Großväter in den Gefängnissen der Schreckensherrschaft, für ihren Glauben büßend. Albine hat nicht das Recht, sich das Leben zu nehmen. Sie wird die Wucht der kommenden Jahre tragen ... und sie hat auch einen andern Grund dafür ... sie ist nicht allein ... jemand besitzt Rechte auf sie, heilige Rechte ... denn er würde sich sicherlich töten, wenn sie ihn verließe.

Und da richtet sich wiederum die Mauer vor ihr auf, und sie ballt die Fäuste in ohnmächtiger Verzweiflung. Es geht über menschliche Kraft, das Wahre in diesem Falle zu finden! Es ist unmöglich, daß sie Roger von sich fernhält, indem sie ihm die Wahrheit verschweigt, und es geht über menschliche Kraft, ihm zu sagen: »Ich bin deine Mutter!« Und die Mauer bleibt da, undurchdringlich, und die Zeit vergeht! Roger ist schon seit zwei Tagen nach Paris zurückgekehrt. Er wird noch am Vormittag telephonieren, und wenn er denken muß, daß ihn Albine absichtlich nicht empfängt, so wird er irgendeine Tollheit begehen.

Der Tag ist hell, strahlend, man errät es an den Lichtpfeilen, die durch die Stäbe der Jalousien dringen. Albine betet nicht mehr, ihre Gedanken werden verwirrt, sollte sie wiederum einschlafen? Die Mauer steht nicht mehr vor ihr. Roger steht neben ihr. Roger, der die Wahrheit weiß, der die Wahrheit hingenommen hat. Eine Mutter mit ihrem Sohn, und sie will ihm das Wort sagen, das in den fieberhaft durchwachten Stunden des Vortages ihr so oft auf die Lippen kam: »Mein Kleiner! ... Mein Junge!« Aber die Silben wollen sich nicht zum Worte fügen, die Lippen wollen sich nicht rühren, und diese zwei Worte scheinen sie ersticken zu wollen. Albine röchelt, wehrt sich ...

»Frau Gräfin! Frau Gräfin!«

Es war Justine, die sie rüttelte. Albine stammelte:

»Was ... was gibt es?«

»Frau Gräfin hatten das Alpdrücken. Frau Gräfin schrien laut, ich habe gewagt, die Frau Gräfin aufzuwecken, ah, Frau Gräfin schienen sehr viel zu leiden.«

»Sie haben recht getan, Justine. Nein, ich will nicht länger im Bette bleiben ... bereiten Sie mein Bad, ich will aufstehen.«

Sie stand auf, sie bemühte sich, gewissenhaft den komplizierten Ritus ihrer Toilette auszuführen, aber sie wohnt dieser Zeremonie bei wie eine Fremde. Alles ist ja eitel, und sie ist über diese Armseligkeit zu tiefst erstaunt: »Das also ... diese Pflege meiner Schönheit ... das bildet den Inhalt meines Lebens! Das, und ein Nervenkitzel, derselbe wahrscheinlich, den auch Justine empfindet, obzwar sie nicht eine so komplizierte Toilette macht, wenn sie ihren Liebhaber aufsucht, den Diener von Camille Engelmann!«

Es ist neun Uhr. Roger wird telephonieren. Man kann ihn höchstens auf diesen Nachmittag vertrösten. Aber der Tag wird nicht vergehen, ohne daß er sich einstellt.

»Ich werde nichts sagen! Ich lasse ihn sprechen ... nein! ich werde sagen, daß ich Kopfweh habe, daß ich kein einziges Wort hervorbringen kann ... nein ... ich werde sagen, daß ich abreisen muß ... nach Ungarn ... wegen des Verkaufes der Güter meines Mannes.«

Ah ... nein ... dies alles ist töricht! Aber sie weiß nur das eine, daß sie schweigen muß, daß Roger nie erfahren darf, welch unwürdige Mutter er hat ...

Und noch eines: es muß zu einem Bruch kommen, endgültig, und er muß sich heute vollziehen, aber dies geht nicht, indem sie schreibt, oder indem sie einen Revolver in die Hände des Unglücklichen drückt und ihm sagt: »Verschwinde!« Roger muß wissen, warum dieser Bruch notwendig ist.

»Frau Gräfin ... was hat denn nur Frau Gräfin? Ist Frau Gräfin leidend?«

Justine, die ein Kleid gebracht hat, findet ihre Herrin auf einem Stuhle, ganz steif aufgerichtet. Sie reibt ihr die Hände, holt ein Riechsalz.

»Danke ... Justine, es ist nichts.«

Es ist nichts, in der Tat, das Blut kehrt zurück, die Muskeln rühren sich wiederum, es ist nichts ... und es ist schlimmer als der Tod! Albine hat ein Mittel entdeckt, um ihren Plan auszuführen: sie wird Roger ein letztesmal sehen, und dann wird sie von ihm Abschied nehmen, ein für allemal, ohne daß er das Verlangen hat, noch einmal zu kommen. Ja, dies wäre möglich. Aber könnte dann Albine weiterleben? Ah ... da schrillt schon der Fernsprecher! Das Unabwendbare naht ...

Albine sieht, wie Justine den Hörer nimmt, sie hört zu ...

»Halloh ... Ja ... es ist Justine, Gnädigste.«

Albine denkt:

»Es ist nicht Roger, der spricht ... dann ist es gleichgültig.«

Und sie will gar nicht zuhören.

»Halloh! Die Frau Gräfin ist sehr leidend, ich weiß nicht, ob sie Besuche empfangen kann.«

»Nein! Nein!« winkt ihr Albine zu.

»Ich will trotzdem fragen.« Und Justine wendet sich zu ihrer Herrin:

»Es ist Frau Lorande, die die Frau Gräfin um jeden Preis sofort sprechen will.«

Albine will wiederum eine verneinende Handbewegung machen, dann springt sie auf und nimmt den Hörer.

»Halloh ... bist du es, Berthe?«

»Ja ... ich flehe dich an, ich muß mit dir sprechen.«

»Komm ... ich werde auf dich warten.«

Es ist besser, zu sprechen, zu vergessen suchen, ehe die Marterstunde kommt!

IV

Die ersten Worte, die Berthe sagte, als sie eine Viertelstunde später in das Zimmer ihrer Freundin drang, waren unerwartet, aber echt weiblich:

»Sieh da ... was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

»Mit meinen Haaren? Nichts.«

»Sieh sie doch an!«

Albine hatte ihre Haare vor einer Weile im Ankleidespiegel gesehen, als Justine ihre Herrin kämmte. Weder Albine noch die Zofe hatten etwas bemerkt. Albine näherte sich dem Fenster, mit einem Handspiegel. Es war richtig ... etwas hatte sich in der prachtvollen Üppigkeit des Haares verändert. Aber es gehörte das Auge eines Künstlers dazu, um dessen gewahr zu werden – dieses Auge, das von Formen und Farben wie von einem körperlichen Kontakt erregt wird.

Aber Berthe bereute bereits ihre voreilige Frage.

»Nein ... ich täuschte mich,« setzte sie hinzu, »es ist nur der Widerschein der Tapete.«

»Nicht doch, du hast recht gesehen,« sagte Albine. »Die Haare sind heute stumpf, fahl.«

Und sie stellte den Handspiegel hin mit größtem Gleichmut.

»Schicke Justine aus dem Zimmer,« bat Berthe leise.

»Justine, lassen Sie uns jetzt allein ...«

*

Sie sind allein, sitzen einander gegenüber. Jetzt erst gewahrt Albine, daß Berthe unter dem Mantel den Kimono anhat, und daß ihre Füße in Morgenschuhen stecken. Berthe reißt das Pelzbarett vom Kopfe, die Haare sind unordentlich, zerzaust, und Albine sieht das blutlose Gesicht ihrer Freundin, die rotgeschwollenen Augenlider, den beinahe erloschenen Blick der früher so schönen Augen.

»Großer Gott ... was ist dir widerfahren?«

»Ja, nicht wahr? Ich habe einen tödlichen Schlag erhalten, ich fühle es ... ich habe gar nicht gewagt, mein Gesicht im Spiegel zu betrachten, nach dieser verzweifelten Nacht. Albine! Albine! Ich bin verloren! Alles ist zu Ende!«

Und sie birgt ihren Kopf an dem Busen der Freundin. Von den roten Haaren steigt ein scharfer, gepfefferter Duft zu Albine empor, und sie würde dies unerträglich finden, wenn ihre Geruchsnerven durch das Schlafmittel nicht wie abgetötet wären, wie ihre anderen Sinne. Sie empfindet im Gegenteil eine seltsame Erleichterung, diesen fremden Schmerz zu beruhigen. Sie läßt Berthe sich ausweinen, sie streichelt den heißen Kopf, den feinen Rücken, der wie vom Krampf geschüttelt ist. Sie sagt:

»Weine nur, meine Liebe, erleichtere dich, sprich nicht.«

Warum soll sie sprechen? Albine hat ja schon alles begriffen. Diese zitternde Frau in ihren Armen – sie weiß es ganz gut, daß sie eine Schiffbrüchige ist, eine Gestrandete in demselben Unglück, das auch Albine betroffen hat, und die sich an ihre Freundin klammert, in der Hoffnung, nicht allein unterzugehen.

Berthe hebt endlich den Kopf, wirft die Haare zurück, zieht den Kimono über ihrer mädchenhaften Brust zusammen. Sie lehnt sich im Stuhle zurück, sie überlegt, sie sagt endlich:

»Siehst du, ich habe eine Nacht verbracht, die ich nicht schildern kann! Und als der Tag anbrach, wollte ich mich töten. Doch ich wußte nicht, wie ich das anstellen sollte, ich hatte keinen Revolver, ich suchte in meinem Arzneischrank. Ich fand einige Schlafpulver, die mich eingelullt hätten, aber es war nicht hinreichend, um mich zu töten. Und dann hatte ich endlich eine Idee ... der Balkon! Ich bin hingestürzt, es geht steil hinab auf das Straßenpflaster, ich habe hinabgeschaut ... die Straße war leer, kein einziger Wagen, ich sah einen Mann, der dahinlief, dann ein Handwägelchen, das ein junges Mädchen nach sich zog, von oben gesehen erschien das alles so klein ... wie Ameisen ... Der Balkon ist so hoch, es würde eine ganze Weile dauern, ehe ich unten ankäme, und die Brüstung ist hoch ... ich beugte mich darüber, aber ich bin zu klein, ich konnte das Gleichgewicht nicht verlieren ... ich wollte einen Schemel holen. Durch die offene Glastür sah ich in das Zimmer zurück, ich sah ein gelbes Taburett, und ich sah es immerfort an. Denke dir, Albine, ich vergaß allmählich, daß ich mich töten wollte, ich dachte nur immer: »Werde ich das Taburett holen oder nicht?« Endlich habe ich mich entschlossen, ich holte das Taburett, und wie ich auf den Balkon hinaus will, kam meine alte treue Clarisse und fragte:

»Gnädige Frau brauchen mich nicht?« Dies hat den Zauber gebrochen, ich ließ das Taburett fallen, und ich hatte nun eine entsetzliche Furcht, auf den Balkon zurückzukehren. Ich nahm den Mantel, den Hut ... ich habe dir telephoniert, und als ich deine Antwort erhalten hatte, floh ich aus dem Hause, wie wenn Feuer ausgebrochen wäre.«

Albine hatte sie bei den Handknöcheln gepackt, mit festem Griff. »Liebe ... gute ... was du mir da sagst, macht mich erschauern! Du hast wirklich die Absicht gehabt ...«

»Ja ... ich glaube ... und wenn ich nach Hause komme, wird mich dieser Gedanke abermals anpacken.«

»Bleib hier bei mir, ich will nicht, daß du fortgehst, ehe nicht dieser Gedanke dich verlassen hat. Du hast kein Recht, dich zu töten, es gibt einen andern, dem du notwendig bist. Man kann nicht alles im Stiche lassen und sagen: ›Nun ist's mir alles eins, was auch kommen mag! ... ich flüchte mich.‹ Wenn ich so zu dir spreche, so ist es aus dem Grunde, weil auch ich ... an eine solche Flucht dachte.«

»Du?! ... Du bist auch unglücklich? Und ich falle dir lästig mit meinen Schmerzen!«

»Sprechen wir nicht von mir! Aber was auch immer dein Unglück sei ... ich sage dir, daß ich es gerne mit dem meinigen vertauschen möchte. Nein, verlange nichts von mir! Ich kann es nicht sagen, aber ich kann dir noch helfen, und das tut mir wohl ... nun bist du schon ruhiger ... erzähle doch!«

»Ja ... ich will dir alles sagen ... ich will nur vorher meine Haare etwas in Ordnung bringen, und ich möchte auch meine Augen mit etwas Wasser befeuchten.«

Als sie dies getan hatte, nahm sie ihren Platz gegenüber Albine wieder ein.

»Hast du in den letzten Tagen Riol gesehen?«

»Ich habe mit ihm letzten Samstag bei den Pellet zu Mittag gegessen.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ja ... eine Weile, nach dem Essen.«

»Hat er nicht von mir gesprochen?«

»Er hat mir erzählt, daß er dich in den letzten Tagen dreimal gesehen hat, wegen einer kleinen Behandlung, derselben, die ich im Vorjahre bei ihm durchmachte.«

»Nun ja, er ist verschwiegen, er muß es sein ... aber er hat gelogen! Letzten Samstag? Es war der Tag, an dem er mein Todesurteil aussprach, und er hatte die Kraft, in Gesellschaft zu gehen, zu essen, zu scherzen! Und an demselben Tage hatte er mich zum Tode verurteilt ... ah, dieser Henker!«

»Wie, dein Zustand wäre so ernst?« rief Albine bestürzt.

»Es handelt sich nicht um meine Gesundheit! Riol versicherte mir, daß ich die Pulsadern eines Mädchens von zwanzig Jahren habe, aber diese jungen Pulsadern, die Jugendfrische meines Körpers und meine Haare, die beständig wachsen, dieses Gefühl, daß ich mich beständig entwickle, daß ich noch ein Mädchen bin und demnächst eine Frau werde ... dieses Gefühl ist keine Täuschung, Albine! Es ist Wirklichkeit! Ich bin vierzig Jahre alt, und ich bin ein unreifes Mädchen, ich werde es immer sein! Die guten Feen haben mich in der Wiege mit Schönheit und Talent beglückt, aber die böse Hexe hatte gesagt: ›Das alles wirst du haben, aber du wirst nie eine Frau sein!‹«

»Ich begreife nicht.«

»Nie werde ich ein Wesen sein, wie du, wie Jeanne Saulnois, wie Camille Engelmann, ich kann niemals Mutter werden, man kann mich nicht lieben ... es scheint, daß ich ein Unikum darstelle, daß die moderne Chirurgie alle ähnlichen Fälle heilen kann, ausgenommen den meinigen! Begreifst du, daß ein Doktor dies lächelnd einer Frau sagen kann, die zum erstenmal in ihrem Leben Liebe fühlt, die sich hingeben will, und dieser Arzt hat es mir nach drei Besuchen lächelnd mitgeteilt. Er wollte scherzen.«

Albine wollte etwas erwidern, aber Berthe ließ ihr dazu keine Zeit. Sie hatte es eilig, ihre Beichte abzulegen.

»Nun begreife ich dieses seltsame Leben, das ich führte! Man hat mich eine Kokette genannt, man nannte mich eine Reizdame! Männer hatten mich angebetet und haßten mich dann! Albert Saulnois wird meinetwegen zum Narren, er ist von einer unheilbaren Neurasthenie befallen. Ich glaubte eine Zeitlang, die Männer lieben zu können, und dann war es wiederum nichts ... es war nicht meine Schuld! Ich suchte schließlich mit einer wahren Herzensangst den Mann, der mir Liebe einflößen würde, der für mich das ›Sesam‹ bedeute. Ich habe ihn nicht gefunden. Ich konnte ihn nicht finden, es gibt kein Sesam! Selbst der Mann, den ich jetzt wirklich liebe, nach dem ich dürste, er wäre da machtlos ... begreifst du mich, Albine?«

Albine starrte sie an.

»Begreifst du mich?« wiederholte Berthe, »glaubst du, daß es ein Wesen gibt, das noch unglücklicher ist als ich?«

»Oh ja ... es gibt eins, und das bin ich!« sagte sie endlich, ihre Hände faltend, als wollte sie jeder Frage zuvorkommen und sie aufhalten. »Der Beweis dafür ist, daß du mir dein Unglück erzählen konntest. Ich könnte das nicht, selbst um den Preis meines Lebens!«

Und mit gebrochener Stimme setzte sie hinzu:

»Begreife doch, ich beneide dich beinahe! Sage doch ... was hast du mit dem Manne getan, der dich anbetet? Wenn du ihn zur Verzweiflung brachtest, so hast du unverzeihlich gehandelt! Erzähle!«

»Wie streng du zu mir sprichst!« stammelte Berthe. »Als ich Riol verließ, war ich entschlossen, auf die Reise nach Mainz zu verzichten. Ich fühlte mich so vernichtet, so beschämt! Schon der Gedanke, daß Riol um meinen Zustand wußte, brachte mich zur Verzweiflung, ich hätte gewünscht, Riol töten zu können. Dann also, du begreifst, schickte ich Jean ein Telegramm, daß ich nicht kommen kann, daß ich krank bin.«

»Und er ist am selben Tag nach Paris gekommen!«

»Du hast ihn gesehen, nein? Du hast es erraten ... gestern abends, gegen sechs Uhr, hat er beinahe meine Tür eingeschlagen, er hatte begriffen. In den alltäglichen Worten des Telegramms las er zwischen den Zeilen, daß alles aus sei.«

Der Mund wurde ihr trocken, sie mußte eine Pause machen.

»Weiter!« sagte Albine beinahe herrisch. Und sie dachte:

»Wiederum ein verzerrtes Bild meines eigenen Unglücks! Ist es unabwendbar, ist es eine unerbittliche Rachegöttin, die uns verfolgt?«

Berthe fuhr fort:

»Ich war stark ... oh, ich hätte nie geglaubt, daß ich so viel Stärke aufbringen würde. Als ich ihn sah, fühlte ich, daß sich alles in mir zum Widerstand spannte! Nur nicht nachgeben! Mein Geheimnis nicht verraten! Ich habe meine Rolle gut gespielt ... eine furchtbare Szene, eine Szene, die aber für mich nicht neu war, denn ich hatte sie mit andern Männern schon oft geprobt. Andere, die mich anflehten, mich anklagten, mir zu Füßen lagen, weinten ... und die mich dann beschimpften! Aber er, der arme Jean, ganz Verzweiflung, aber keine Niedrigkeit, keine Häßlichkeit, ich hatte das Verlangen, mich ihm zu Füßen zu werfen, ihm zu sagen: ›Ich liebe dich, stampfe auf mir herum, töte mich, ich möchte dir angehören ... ich schwöre es ... aber ich kann nicht!‹

»Und gerade das konnte ich nicht sagen und mußte wiederum diese Berthe Lorande sein, die früher die Anbeter von sich jagte, einen Gouillaux, einen Saulnois. Ich brauchte nur mechanisch zu wiederholen, was ich früher schon sagte, ich klagte mein Herz an, mein wankelmütiges Herz. Ich sagte wieder einmal: ›Ich glaubte Sie lieben zu können, seien Sie nicht böse! Ich kann nicht ... ich liebe Sie nicht, das Feuer in mir ist erloschen!‹ Und während ich das sagte, brannte das Feuer in mir lichterloh.«

Albine, entsetzt, dachte: »Aber das bin ich ... ich ... es ist die Rolle, die auch ich spielen muß!«

Sie sagte:

»Und Jean?«

»Er war so unglücklich, und dabei so würdig, daß ich ihm, wenn er noch einige Augenblicke länger geblieben wäre, zugeschrien hätte: ›Es ist nicht wahr, ich bin noch immer dieselbe! Ich gehöre dir, du bist mein Gott, aber ich kann über meinen Körper nicht gebieten. Hasse mich nicht, verlasse mich nicht!‹ Ja ... ich wollte ihm dies zuschreien, aber er sah mich an und sagte ... sein Blick brennt noch in mir wie eine Säure: ›Leben Sie wohl! Fürchten Sie nichts, Sie werden mich nie mehr wiedersehen!‹ ... Und er ging ...«

»Und dann?« keuchte Albine.

»Dann? Nichts ... nichts ... ich wollte sterben! Ich habe es dir ja erzählt, sieh mich nicht mit diesen Augen an! Du siehst aus, als ob du mich nicht mehr liebtest!«

Albine hatte sich erhoben und betrachtete dieses entzückende kleine Wesen, dieses zwiespältige Wesen, das nicht Frau, nicht Mädchen war, das sie mit erschreckten Augen ansah. Sie packte sie bei den Schultern:

»Berthe! Bist du dir nicht klar, daß du eine Verbrecherin bist?«

»Aber ...«

»Ich spreche von deinem Herzen! Antworte nicht ... verteidige dich nicht! Höre doch! Du hast mir deine Ängste erzählt, deinen Schmerz, deine Absicht, zu sterben. Und was schrecklich ist, du bist stets dieselbe geblieben, du hast von dem andern nur gesprochen, um das Leid zu schildern, das du ihm angetan hast. Du hast über deine Einsamkeit geweint, aber nicht über die seine, du wolltest dich töten! Und er?! Weißt du denn, ob er zur Stunde noch lebt?«

»Albine!«

»Unglückliche! Es ist wahr, trotz deiner Schönheit, deiner Begabung hat dich die Natur unvollendet gelassen.«

»Schweig doch, Albine,« schluchzte die andere, »bringe mich nicht zur Verzweiflung, ich will alles tun, was du mir sagst!«

»Wie ... du hast dich von dem Mann, der dich anbetete, getrennt, nur wegen eines Geständnisses, das zu machen dich dein Hochmut verhinderte! Du ziehst vor, daß er dich für eine herzlose Kokette hält, für ein Ungeheuer, statt daß er weiß, du seiest eine Verwundete, ein Krüppel? Ah ... törichtes, eitles Kind, du wirst diesen Unglücklichen aufsuchen und ihm sagen: ›Ich habe gelogen, ich liebe dich ... ich habe nur das eine Verlangen, dir anzugehören, aber die Natur hat mich so geschaffen. Willst du mich so? Wenn du mit mir unzufrieden bist, so kannst du mich wegwerfen, du kannst mich mit Füßen treten. Du wirst dein Glück anderswo suchen ... aber ich habe dir zumindest alles gegeben, was ich besaß.‹«

Die Augen von Berthe vergrößerten sich, in einer Ekstase, die ihre Furcht bezwang.

»Ja, ja,« murmelte sie, »ja, das ist ... sag es noch einmal, Albine!«

Albine, wie gebrochen durch ihren Zorn, hatte sich auf den Diwan fallen gelassen, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoße. Berthe sah sie an und dachte:

»Wie schön sie ist! Aber es ist eine andere Frau! Es ist nicht mehr Albine.«

»Wir waren auf einem Irrweg, du und ich,« fuhr Albine fort. »Wenn du glaubst, daß ich mit dir brutal spreche, so wisse, daß ich gegen mich noch strenger bin! Wir waren auf einem Irrwege ... wir haben gegen die heilige Ordnung der Dinge gesündigt, gegen das Gesetz der lebendigen Natur. Es gibt zwei Geschlechter, die sich ergänzen, aber es ist ein Wahn, ihre Rollen in der Liebe vertauschen zu wollen. Wir machten dem Mann sein Privilegium streitig, zu wählen, in der Liebe die Offensive zu ergreifen, wir waren Lüstlinge, und das Ende des Don Juan erwartet uns. Dieser Fuchs von Gouillaux hatte recht. Was er das ›steinerne Bild‹ nannte, es richtet sich jetzt vor uns auf, gerade in dem Augenblick, da wir zum erstenmal von der wahren Liebe bezwungen sind, da wir gewählt sein wollen, statt zu wählen ... es richtet sich vor uns auf und zerschmettert uns! Um so schlimmer für uns!«

Sie strich sich hastig mit der Hand über die Augen, um die Tränen zurückzuhalten.

»Für mich ist alles zu Ende,« sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich bin erdrückt, ich bin tot, frage nichts ... ich will auch nicht getröstet werden! Die einzige Frage für mich ist die, wie ich sterben könnte. Denn ich selbst will mich nicht töten. Du dagegen hast noch eine Hoffnung, du bist auch weniger schuldig, du bist ein Kind ... Hast du eine Ahnung, wo Jean sein könnte?«

»Nein ... aber ich bin sicher, daß er sich nicht töten wird ... er ist gläubig!«

»Und wenn der Schmerz mächtiger ist als der Glaube?«

»Wäre dies möglich? Ah, du hast recht, ich bin eine Verbrecherin ... laß mich, ich will eilen!«

Sie stand schon bei der Tür, sie wollte hinausstürzen, so wie sie war, ohne Kopfbedeckung, im bloßen Haar. Albine hielt sie zurück.

»Warte doch! Wo wird Jean gegenwärtig sein? Zu Füßen eines Geistlichen! Du hast mir gesagt, daß er in Paris einen Beichtvater hat?«

»Ja, den Abbé Polliart, von Sainte-Clotilde. Der Abbé widersetzte sich unseren Plänen, er ist mein Gegner.«

»Das macht nichts, du mußt ihn aufsuchen! Aber vielleicht ist Jean nicht dort?«

»Dann ist er im Hause seiner Mutter, aber du weißt ja, daß Frau von Trevoux nicht in Paris ist! Wo könnte er noch sein?«

Berthe zögerte eine Weile, dann sagte sie:

»Roger ist der Freund Jeans.«

Albine zögerte und überlegte.

»Roger ist der Letzte, dem Jean eine Szene erzählen würde, in der du eine Rolle gespielt hast!«

»Oder Jeanne Saulnois ... er hat viel Vertrauen zu ihr.«

»Jeanne Saulnois empfängt niemanden. Ihr Mann ist sehr schwer krank. Sie verläßt ihn nicht und hält ihre Tür verschlossen. Doch versuche es trotzdem! Warum zögerst du?«

»Ich will nicht nach Hause,« stammelte Berthe.

»Warum nicht?«

»Ich habe Furcht ... ich fürchte den Balkon, und das gelbe Taburett.«

»Dann komm ... ich will dir Schuhe und Kleider leihen. Justine wird dir helfen, aber schnell! Schnell ...«


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