Wilhelm Raabe
Eulenpfingsten
Wilhelm Raabe

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Elftes Kapitel

Nachdem der Professor der Ästhetik, Herr Elard Nürrenberg, mit seiner Flasche und der guten aus dem übrigen Verlaufe des Tages sich so merkwürdig selbständig loslösenden Stunde in Oberrad zu Ende gekommen war, hatte er sich als ein »wenn auch sehr gelehrter und verliebter, so doch nicht unverständiger junger Mann« auf den Heimweg begeben. Dieses wissen wir bereits.

Wahrheit und Dichtung begleiteten ihn, der Weg lag wieder vor ihm, und er spazierte gen Sachsenhausen – weit langsamer, als er von dort hergelaufen war. Dieses wissen wir ebenfalls.

»O Käthchen, mein Käthchen,« flüsterte er, »wir haben uns nicht ineinander geirrt; wir gehören zueinander, wir bleiben beieinander. Niemand, niemand soll uns voneinander trennen! Weine nur nicht, mein Kindchen, wir haben uns doch für das höchste Lebensglück einander verpflichtet, und morgen ist Pfingsten, und die Sonne scheint, und alles ist gut.«

Hm, jener Jüngling mit den Feueraugen und den wallenden Locken schritt nicht bloß zwischen Darmstadt und Frankfurt hin und wider und erlebte und sah alle Wunder der Welt: er ging auch zwischen Offenbach und Frankfurt, und wiederum zitieren wir ihn.

»Ich ging die Landstraße nach Frankfurt zu, mich meinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen – Sachsenhausen lag vor mir, leichte Nebel deuteten den Weg des Flusses an: es war frisch, mir willkommen. Da verharrte ich, bis die Sonne nach und nach hinter mir aufgehend das Gegenüber erleuchtete. Es war die Gegend, wo ich die Geliebte wiedersehen sollte, und ich kehrte langsam in das Paradies zurück, das sie, die noch Schlafende, umgab.«

Der Professor wußte seinen Goethe so ziemlich auswendig; in ein Paradies kehrte er auch zurück, wenngleich die Geliebte – seine Lili – noch nicht darin zu Bett gegangen war, und er nicht die Absicht hatte, auf einem Stein am Wege sitzend, den Aufgang der Sonne und das Wiedererwachen des guten Kindes abzuwarten. Die unsterblichen Worte tanzten ihm doch gleich lieblich flammenden Meteoren voran auf dem Wege nach Sachsenhausen und zündeten ihm heimwärts.

Es ist ein angeborenes Recht des Menschen, sich nach jedem gegenwärtigen Ärger und Verdruß schnellstens in alle möglichen und unmöglichen Seligkeiten der Zukunft selber hineinzulügen. Wenn auch nicht immer, gelingt das doch recht häufig. Manchmal ist die wieder gewonnene gute Laune von Dauer, manchmal aber fährt sie auch vorüber wie ein Sonnenblick an einem Apriltage. In letzterem Falle redet die Welt in allen Zungen von Eulenpfingsten – St. Nimmerleinstage – verschiebt das Behagen am Erdenleben at latter Lammas, ad graecas Calendas, aux calendes grecques, auf die Pfingsten, wenn die Gans auf dem Eise geht; recht aber behält für alle Zeit die jüdische Weisheit: Freue dich, Jüngling, in deiner Jungend, ehe denn die bösen Tage kommen, von denen du sagen wirst, sie gefallen mir ganz und gar nicht.

Man muß es dem Professor der Ästhetik Elardus Nürrenberg lassen: er hatte bis jetzt, unbeschadet seines Hellenismus, das hebräische kluge Wort nicht verachtet. Er hatte seine Jugend nach besten Kräften benutzt und sich ihrer gefreut; und wie wir ihn kennen gelernt haben, ist Aussicht vorhanden, daß er aus dem kleinen Käthchen Nebelung eine vergnügliche vergnügte Frau macht. Wir freuen uns darüber und begleiten ihn in der Hoffnung um so lieber auf seinem Wege nach Hause.

Daß er auf diesem Oberrader Fußwege sich weiter noch tief-, un- oder einfach sinnigen Gedanken hingegeben habe, ist nicht darzutun. Er schlenderte, ein Studentenlied pfeifend, durch den warmen Abend und überrechnete dabei den Gesamtbetrag seiner Kollegiengelder. Darüber ein wenig zu seufzen, war ihm gerade nicht zu verdenken; allein da er es von vornherein gewußt hatte, daß das ästhetische Bedürfnis seiner Nation gering sei, so seufzte er nur über das Vergnügen, in einem leeren Auditorio zu lesen, und ärgerte sich nicht darüber.

»Hab’ ich doch von jetzt an eine Zuhörerin, die einen ganzen Pandektensaal voll Musensöhne aufwiegt!« tröstete er sich. »Und nicht nur von Mund zu Ohr, sondern von Mund zu Mund werde ich zu ihr reden«, fügte er hinzu, in die dereinstigen Wonnen aller möglichen Frühlingsmorgen, Sommernachmittage und Winterabende versinkend und zerschmelzend, und das Wort war denn doch sinnig, und mit diesem Worte erreichte er das Rondel vor dem Affentore von Sachsenhausen.

»Elard – Herr Professor – lieber Nachbar!« rief ihn eine etwas krächzende Stimme an, und er fuhr zusammen, denn er erkannte diese Stimme.

Die Götter, welche lösen und binden, zertrennen und vereinigen, führten ihn im richtigen Moment an das Tor von Sachsenhausen zurück. Dicht vor sich erblickte er den Schwiegervater, den durchgegangenen Legationsrat Alexius von Nebelung – drüben von der Hanauer Landstraße – Arm in Arm mit einem breiten, kurzen, dicken, behaglichen, aber etwas plebejisch aussehenden Unbekannten. Und hätte er auch nur eine Ahnung davon gehabt, daß er gerade diesem fidelen Unbekannten den merkwürdigen freundlichen Anruf des Papas seiner Verlobten verdankte, so würde er ihm unter den obwaltenden Umständen auf der Stelle um den Hals gefallen sein, um ihn abzuküssen, wie er bald sein Käthchen abzuküssen verhoffte, – zärtlich – zärtlich nämlich und – vor den Augen ihres Vaters.

Der Tante Lina wegen hatte der Legationsrat von Nebelung zuletzt mit beiden Händen nach dem Jugendkameraden gegriffen; des Jugendkameraden halber griff er jetzt mit beiden Händen nach dem Sohne des verfeindeten Nachbars. Dieser Lohgerber hatte sich dem Diplomaten von der Isenburger Warte herunter von Schritt zu Schritt schwerer auf die Schultern und auf die Seele gelegt. Der gute Fritz hatte den Jugendfreund und Protokollführer in der Tat doch über den Gerbebaum gezogen und ihn mit dem Abfleischeisen bearbeitet, wie ein im Eschenheimer Palais in die Lehre und nachher auf die diplomatische Wanderschaft gegangener und dann vollkommen losgesprochener Meister. Das waren ebenfalls »obwaltende Umstände«, und unter denselben kam der Ästhetiker dem mürb’ gemachten Rate wie der im Meer schwimmende Mast dem Schiffbrüchigen; er klammerte sich dran und stellte in zitternder Hast vor:

»Herr Hessenberg aus Romanshorn (»Lohgerbermeister Hessenberg!« fügte der alte Demagoge bei), ein teurer Jugendfreund und Freund meines Hauses! Herr Professor Nürrenberg aus Heidelberg! Nicht wahr, lieber Elard, wir haben wohl denselben Heimweg? Mein guter Friedrich, der Herr Professor, ist nämlich der Sohn des Herrn Kommerzienrat Nürrenberg, meines Nachbars in der Hanauer Straße.«

»Wie dein Kätherle deine Tochter ist. Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Nürrenberg«, sprach Fritze, dem jungen Manne die Hand schüttelnd. »Kurios ist’s eigentlich, daß in dieser krakehlerischen Welt die Wege doch immer wieder zusammenlaufen und sich immer wieder Leute finden, die des nämlichen Weges gehen. Mit Erlaubnis zu fragen, was dozieren Sie?«

»In diesem Semester lese ich publice über die Sturm- und Drangperiode in der deutschen Literatur; privatissime über die Bildwerke vom Tempel des Zeus Panhellenios auf der Insel Ägina und als Professor extraordinarius Kulturgeschichte der Araber in Spanien«, sagte der junge Gelehrte sanft und bescheiden.

»Allmächtiger!« rief Fritze Hessenberg. »Wissen Sie, ich habe allerhand Juristika bloß gehört, und selbst das konnte ich kaum aushalten. Wie muß ihnen erst zumute sein? – Na, aber bon! Geben Sie mir noch mal die Hand; es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Sie kennen gelernt zu haben.«

Der Professor der Ästhetik sah sich hierauf den Mann, der da redete, genauer an, und die Dämmerung erlaubte es dem Meister Hessenberg noch, die Wirkung seiner Ansprache auf den Gelehrten in den Zügen desselben zu erkennen. Gutmütig drollig sagte er:

»Na, gucken Sie nur zu. Ich bin nicht allein der Lohgerbermeister Hessenberg aus Romanshorn, sondern auch sonst das Kind recht netter Eltern, und habe das meinige meinerzeit gleichfalls auf Universitäten profitiert. Der Nebelung da kann Ihnen das Nähere darüber sagen.«

»Mein verehrter Herr, ich glaube –«

»Mein verehrter Herr, glauben Sie nichts! Sehen Sie, über die Sturm- und Drangperiode könnte auch ich publice lesen; fragen Sie nur diesen Nebelung hier. Das Chaos und das Glück lassen immer wieder von neuem taufen. Sie wissen doch: des Chaos wunderlicher Sohn, – Goethe. Des Glückes abenteuerlicher Sohn, – Schiller! Und ich bin auch ein Sprößling aus solcher Ehe. Patenstelle vertrat das Untersuchungsgericht zu 0x0burg, und dieser Mensch hier, dieser Nebelung trug mich in das Kirchenbuch ein; nämlich er führte das Protokoll. Drei Jahre hielten sie mich in den Windeln; dann brach ich ihnen heraus, ging durch die Lappen und über die Grenze. Ihr Herr Vater hat heute mit meinem Freunde Alex hier einen Disput über unseren seligen Landesvater Alexius gehabt, – wissen Sie, und schon deshalb allein haben wir die herzlichsten Bezüge auf- und zu- und miteinander; und jetzo fassen Sie den Legationsrat unter den andern Arm. Er hat es ein wenig nötig, daß wir ihm unter die Arme greifen, und die Hilfe der Jugend ist bei keiner Gelegenheit zu verachten. Seine Schwester ist zu Besuch gekommen, und wir bringen ihn nach Hause. Eine niedliche Tochter hat er auch, wie er sagt, Herr Professor.«

Der Herr Professor hatte schon lange auf den Legationsrat gesehen, und auch ihm hatte die Dämmerung noch erlaubt, die Züge des würdigen alten Herrn zu erkennen. Privatissime las er sich selber in angsthafter Spannung ein Kolleg über dieselben, und hätte ganz wohl Doktor, wenn auch nicht der Philosophie, durch eine Dissertation über sie werden können; wenn er eben nicht schon Doktor der Philosophie gewesen wäre.

Ja, Philosophie?! Die ließ ihn in diesem Moment vollständig im Stich der Physiognomie seines zukünftigen Schwiegervaters gegenüber. Medizin studiert zu haben und Vorsteher eines Asyls für Nervenleiden zu sein, war das einzige, was in diesem Augenblick helfen konnte.

Der Legationsrat von Nebelung sah am Ende gar nichts mehr. Dagegen spürte er hundert gespenstische Hände um sich herum. Er fühlte sie am Kragen, er fühlte, wie er von ihnen von den Füßen gehoben und sanft geschüttelt wurde. Das kam mit angesengten Körken, um ihm die Nasenspitze zu betupfen, und das tätschelte ihm die alten, ledernen Wangen, das sah er, zu einer Faust geballt, vor seinen Brillengläsern, und das kam freundlich mit einer Bürste, um ihm zierlich den Staub der Darmstädter Chaussee vom Rocke zu bürsten. Er hatte nie an Geister geglaubt, das Zeugnis konnten ihm seine Vorgesetzten, vom Anfang seiner Laufbahn an, geben; – er hatte aber auch nie an Gespenster geglaubt – dies Zeugnis stellen wir ihm aus – und jetzt, in dieser lieblichen Dämmerung des Maiabends, des Abends vor Pfingsten, spukte es um ihn und in ihm auf jegliche Weise.

»O teurer Herr,« sagte Elard schüchtern und befangen, »ich freue mich unendlich, Sie noch getroffen zu haben. Wir machten uns so große Sorge um Sie, und Käth- Fräulein Tochter, die ich sprach, – ja, die ich gesprochen habe, fuhr in heftiger Angst zum Main-Weser-Bahnhof.«

»Sie ist also zum Bahnhof gefahren?« ächzte der Legationsrat.

»Ich sah sie in den Wagen steigen, und dann trieb mich die eigene Erregung Ihnen nach, teuerster Herr Legationsrat. O, Sie wissen nicht –«

»Und meine Schwester ist angekommen?« fragte der Rat, immer wieder auf den einen Punkt bohrend.

»Du hörst ja, daß der Herr dir nachgelaufen ist, Alex«, brummte Fritz Hessenberg. »Nimm doch den Arm des Professors; je eher wir nach deiner Wohnung kommen, desto eher erfahren wir, in was für häusliche Zustände du dich wieder einmal hinein vergaloppiert hast.«

Der Legationsrat Alexius Nebelung nahm wirklich den Arm des Professors, und er hielt sich von jetzt sogar sehr fest daran. Vom Hause weglaufen, ist leicht genug; aber wieder heim kommen und Rechenschaft ablegen müssen, ist die Schwierigkeit!

Da die Geister der Vergangenheit ihn nunmehr zwischen den beiden wackeren handfesten Helfern sahen, warfen sie die letzte Rücksicht weg und hoben ihn vollständig von den Füßen. Er hing zwischen den zwei Herren. Ja, so war es; – zu Hause saß die Schwester Lina, und hier in der Elisabethgasse zu Sachsenhausen hing er, Alexius Nebelung, zwischen dem Sohne des von ihm am Nachmittag allen Furien überantworteten Nachbars Nürrenberg und dem biedern Lohgerbermeister und Erzdemagogen Friedrich Hessenberg aus Romanshorn, über dessen Staatsverbrechen und Hochverrat er vor dreißig Jahren kühl und gelassen das Protokoll geführt hatte, ohne sich um die Gefühle der Schwester Lina im geringsten zu kümmern.

»Fassen Sie ihn fester, Professor«, sagte der brave Fritz. »Es hat seine guten Gründe, daß ihm schwül und schwankend zumute ist. Wär’ ich kein Gerber, so hätte ich ihn Ihnen schon allein auf die Schulter gelegt, hätt’ Kehrtum gemacht und Reißaus genommen – einerlei wohin!«

Jetzt tanzte das Deutsch-Ordenshaus vor ihren Augen und stellte sich auf den Kopf; aber noch schlimmer war es mit ihnen auf der Mainbrücke. Alle drei zogen in ein vollständig verzaubertes Frankfurt hinüber und hatten sich dazu durch ein Gewimmel maientragenden Volkes durchzuwinden. Dicht zu den Füßen des Kaisers Karl stieß eine grüne lustige Birkenrute dem Legationsrat den Hut vom Kopfe, und der Kerl, der den Busch trug, ließ es sich außerdem nicht zuviel sein, ihm zu seinem, ihm von seinem hochseligen Landesherrn verliehenen Titel noch einen anderen beizulegen. Aber der Kaiser Karl der Große rächte weder mit seinem Schwerte den Frevel, noch warf er dem Frevler den Reichsapfel an den Kopf. Im Gegenteil, er schien ein Vergnügen an der Untat zu haben; er grinste durch die hereinbrechende Dunkelheit, und der Messinghahn nebenan hob sich wahrhaftig auf den Füßen, schlug mit den Flügeln und krähte dem Trio nach, obgleich er diesmal doch keinen Juden vorübergehen sah.

Der Professor Elard setzte dem Schwiegervater seiner Hoffnung den Hut wieder auf. Der brave Fritz brummte und grummelte immer wunderlicher in sich hinein, blöde und voll Unruhe zog er hin und fühlte sich nicht mehr imstande, dem Jugendgenossen die Vorfälle jener Zeit, da sie beide, und die Tante Lina dazu, noch jung waren, vorzurücken. Wahrlich, er würde jetzt viel darum gegeben haben, wenn er nicht mit dem Legationsrat an der Isenburger Warte zusammengetroffen wäre und ihn an die alte Bekanntschaft erinnert hätte. Er war Lohgerber, und das Schicksal hatte ihm freilich selber im Laufe der Zeit das Fell weidlich gegerbt; aber unter der harten, zähen Haut lag doch noch das weiche, zärtliche Fleisch, und – die Lina Nebelung saß in der Hanauer Landstraße, und er – er sollte nach einem Menschenalter wieder vor sie treten und ihr die Hand bieten, und zwar als Witwer und Vater von drei erwachsenen Kindern.


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