Wilhelm Raabe
Eulenpfingsten
Wilhelm Raabe

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Erstes Kapitel

De dag was schöne, dat weder klar, und die Frankfurter Glocken, die am 22. Mai 1858 das Pfingstfest einläuteten, läuteten harmonisch in den entstandenen Wirrwarr, von dem wir erzählen wollen, hinein. Die Sonne hatte den ganzen Tag geschienen und ging sehr schön unter über Frankfurt am Main. Wenn sie es sonst recht wohl versteht, ihre Schleppe mit einem Griff zusammenzuraffen und rasch über den Horizont hinüberzutreten, so ging sie diesmal in vornehmer, lächelnder Ruhe, und der rote Saum ihres Gewandes schleifte lang durch den Abend nach. Die Stadt hatte vollkommen Zeit, letzte Hand an ihren Putz für den morgenden Tag zu legen, und tat es mit Eifer im Innern wie im Äußern.

Ein Personenzug der Main-Weser-Bahn hatte den Main-Weser-Bahnhof gerade beim Ausklingen des Vigiliengeläutes erreicht, und die Tante Lina Nebelung war ausgestiegen und war richtig von Käthchen Nebelung, der Nichte, sofort »der Beschreibung nach« erkannt worden.

Der Legationsrat hatte die Tante dem Töchterlein diplomatisch genau und zwar sehr häufig abgemalt. »Ich habe sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen,« sagte der Bruder Legationsrat, »aber sie hat sich nicht verändert, sie kann sich nicht verändert haben; es liegt nicht in ihrem Charakter, in ihrer Natur; ich kenne sie darin.« Darauf war dann jedesmal die allergenaueste Personalbeschreibung der Tante, wie sie vor zwanzig Jahren war, gefolgt, und zu allem übrigen trug Käthchen Nebelung auch noch zwei vor einem halben Jahre aus Neuyork gesandte Photographien der guten Dame (ein Brustbild und ein Bild in ganzer Figur) in der Tasche. Daß aber der Papa nicht mit zum Bahnhof ging, sondern es dem Kinde allein überließ, die ankommende Verwandte aus dem Gewühl herauszufinden, das eben hatten die Furien, die Erinnyen gewollt. Das war der Spaß, den sie sich zu Pfingsten machten.

Mit roten verweinten Augen und zuckenden Lippen, verstört, ärgerlich und voll Angst, an die Unrechte zu geraten, stand Fräulein Katharina Nebelung im Getümmel, ihre beiden photographischen Kabinettstücke nebst dem tränenfeuchten Taschentuche in der Hand.

»Es ist zu abscheulich!« hatte sie gesagt, und dann war der Zug herangeschnoben und hatte ausächzend seine Insassen von sich gegeben. Arg war das junge Mädchen hin und her geschoben worden; es war fast zu arg gewesen, und die Leute waren doch eigentlich zu rücksichtslos; aber als der Schwarm sich so ziemlich verlaufen hatte, hatte das Kind schüchtern vor einer stattlichen, länglichen, in ein graues Reisekostüm gekleideten und etwas verwundert, verschnupft um sich blickenden Dame geknixt und – immer ihre Photographien in der Hand – dem hellen Weinen nahe, gestottert:

»Gnädige Frau – Fräulein – liebe Tan – vielleicht bin ich Käthchen, – Käthchen Nebelung!«

»Wa – was? Bist du vielleicht Käthchen? Meine Nichte Katharina Nebelung?«

»Ja, liebe Tante – o Gott sei Dank!« hauchte das junge Mädchen.

»Also du bist es«, sagte die Deutsch-Amerikanerin, klopfte auf die kleine Hand, die krampfhafter denn je die zwei Photographien hielt, aber jetzt schnell mit ihnen in die Tasche fuhr – neigte sich, gab der Deutsch-Frankfurterin einen ruhigen Kuß und sprach:

»Aber ich wundere mich doch! Du allein? Ohne deinen Vater? Ist dein Vater nicht zugegen? Weshalb ist dein Vater nicht zugegen?«

Das war die Frage! Und der Leser wird sie mit der Tante wiederholen. Was uns anbetrifft, so fragen wir nicht nur wo? Sondern auch wer? Nicht nur, wo ist dein Vater, sondern auch wer ist dein Vater, – dieser Herr Legationsrat von Nebelung, kleines Käthchen? Damit sind wir drin, – im Hader, Verdruß und Unfrieden mit aller Welt, wie der alte Biedermann es sich und uns und vor allen Dingen der Tante recht hübsch zugerichtet hat.

Man hat sich an die Stirn zu greifen, wenn man es sich genauer überlegen will, wie rasch der Adler zur Sonne und wie langsam das Faultier in den Gipfel des Baumes emporsteigt: der Karriere des Rats Nebelung wegen brauchte sich jedoch niemand an den Kopf zu fassen. Der Mann hatte Jurisprudenz studiert, hatte sich das Wohlwollen und Zutrauen seiner Vorgesetzten erworben und war nach Frankfurt gekommen als Sekretarius des Gesandten für – für – beim Ruder des Charon, es ist uns augenblicklich nicht möglich, uns auf den Namen des Staates zu besinnen, den dieser Gesandte damals vertrat am durchlauchtigsten deutschen Bundestage! Beide sind seit Jahren hinübergegangen, der Gesandte wie der Staat; daß der Herr Sekretär Nebelung mit dem letzten Exemplar des Landensordens, dem daran haftenden persönlichen Adel und dem Titel Legationsrat noch übrig ist, das eben ist unser ganz spezielles Glück. Wir haben gottlob! schon öfters dergleichen Venuswürfe zu verzeichnen gehabt.

Es war mehreres, was den Legationsrat bewog, in Frankfurt am Main zu verbleiben, nachdem er daselbst überflüssig geworden war.

Erstens, natürlich das Aussterben des angestammten Fürstenhauses selber. Was war das Vaterland ohne den Vater desselben? Nichts! – Gründlicher wie dem Rat Alexius von Nebelung durch das höchstselige Abscheiden Alexius des Dreizehnten war selten einem Staatsangehörigen der Boden der Heimat unter den Füßen weggezogen worden.

Zweitens, seine Verheiratung mit der Witwe eines Frankfurters (die Dame selbst war keine Frankfurterin), die gleichfalls keinen Gefallen an Nullmalnullburg fand und seltsamerweise an ihren von dort her angeheirateten Verwandten noch weniger als keinen.

Drittens, die Geburt seiner Tochter, die vom ersten Aufblick an sich auf den Standpunkt ihrer Mutter stellte und nach dem Tode derselben diesen Standpunkt festhielt.

Viertens, eben der Tod seiner Frau.

Fünftens, seine angenehme Wohnung auf der Hanauer Landstraße.

Sechstens, sein Freund und Nachbar auf der Hanauer Landstraße, Herr Florens Nürrenberg, und:

Siebentens, er selber, Legationsrat Alex von Nebelung, ohne daß wir uns hier eines Pleonasmus oder einer Tautologie schuldig machen. Wem übrigens daran gelegen ist, die sonstigen sechs Taufnamen unseres Gönners zu erfahren, der mag selber im Kirchenbuche zu 0x0burg nachschlagen.

Es ist immer unser Bestreben, so kurz als möglich zu sein, und das Längere und Breitere über uns kommen zu lassen, aber nicht es faul an uns heranzuziehen. Wir könnten nun ganz wohl eben aufgeführte sieben Punkte durch A A, a a, B B, b b usw. ins Unendliche zerlegen, tun’s aber nicht, sondern wenden uns zum Freunde unseres Freundes und Gönners und sagen einiges über den Herrn Kommerzienrat Florens Nürrenberg, den Nachbar des Herrn Legationsrats.

Einiges? Das Wort reicht doch nicht aus einem Manne gegenüber, den der letzte Doge von Venedig, nein, der letzte reichsunmittelbare Bürgermeister der weiland freien Reichsstadt Rottweil am Neckar aus der Taufe gehoben hatte. Das war im Jahre 1800 geschehen, und der Vater des Täuflings war Präsident des kaiserlichen Hofgerichts und aus Sachsenhausen gebürtig. Nach Sachsenhausen verzog er denn auch wieder mit seiner Familie, nachdem der dicke erste württembergische König Friedrich auch Rottweil verschluckt hatte, und das kaiserliche Hofgericht daselbst ebenso überflüssig geworden war, wie der Legationsrat von Nebelung einige vierzig Jahre später zu Frankfurt am Main.

Ob der kaiserliche Rat Herr Elardus Nürrenberg als ein vermöglicher Mann von Rottweil nach Sachsenhausen ging, können wir nicht sagen; allein sehr vieles deutet darauf hin, daß er seine Schäflein am Hofgericht nicht ohne Verständnis geschoren habe. Sein Sohn Florens saß jedenfalls Ende der Fünfziger Jahre in der Hanauer Straße in der Wolle, als ein Mann in den besten Jahren, Darmstädtischer Kommerzienrat, gleichfalls Witwer und als der Vater eines Sohnes, der wiederum Elard hieß und sich in den noch besseren Jahren des menschlichen Lebens befand. Bis zum Jahr 1850 hatte es sich Herr Florens zu Höchst als ein berühmter Tabaksfabrikant sauer werden lassen; aber nachher – konnte er’s, und beim Beginn unserer Geschichte konnte er’s immer noch. Er bewohnte mit seinem Sohn (NB. wenn derselbe in den Ferien daheim war) und seiner Haushälterin, der Frau Drißler, sein eignes Haus mit Garten in der Hanauer Landstraße; der Rat Nebelung gegenüber wohnte zur Miete, jedoch als eine stille Familie bereits seit fünfzehn Jahren in dem selben Hause und Stockwerk; ja, er war sogar während dieser Zeit zweimal mit dem Grundstück verkauft worden, und der neue Besitzer hatte ihn wie das Käthchen stets gern mit in den Handel genommen.

Der jüngere Elard hatte auf verschiedenen Universitäten Philologie studiert und hatte Italien und Griechenland mit Nutzen gesehen. Er war Professor der Ästhetik zu Heidelberg und augenblicklich in den Pfingstferien zu Hause. Sachverständige behaupteten, daß er zu den schönsten gelehrten Hoffnungen des deutschen Vaterlandes gehöre, und – wir dürfen es gleich sagen – Fräulein Käthchen Nebelung teilte diese Hoffnungen des Vaterlandes; – schnöde Kritiker werden das wohl den ganz gewöhnlichen Romanapparat nennen.

Außer seinem Professor besaß der Kommerzienrat Nürrenberg eine der größten Sammlungen gläserner Pokale zu Frankfurt am Main. Seine Kakteenzucht war weit berühmt, und es existiert natürlich auch ein ganz neuer Cactus Florens Nürrenberg. Mit seinem diplomatischen Nachbar war der vergnügliche Patrizius politisch einig. Beide bedauerten eine untergegangene schönere Welt, der Kommerzienrat jedoch mit einem höchst willkommenen Behagen an der Gegenwart. Um einen Hausfrauenausdruck zu gebrauchen, waren ihm drei Fingerspitzen Reize der Vergangenheit vollständig genügend, um dem augenblicklich vorhandenen Tage den nötigen Haut-gout zu verleihen. Der Legationsrat brauchte mehr; und damit werfen wir uns wieder in die volle Gegenwart und kehren zurück zum Main-Weser-Bahnhof, wo wir die Tante Lina und das aufgeregte Käthchen, wenn auch notgedrungen, so doch sehr ungern nach der ersten flüchtigen Begrüßung verlassen haben. Es ist die höchste Zeit.


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