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Sin swebendez herze daz verswank;
Sin swimmende fröude ertrank;
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein swinde vinster dunreslak
Zerbrach im sinen mitten tak;
Ein trübez wolken unde dik
Bedaht in siner sunnen blik.
(Von dem armen Heinriche.)
Vor dem Fenster der Studierstube des Schulrektors und Scholarchen, Herrn Georg Rollenhagen, in der alten, berühmten Stadt Magdeburg war der Frühling erschienen, schöner und blütenvoller als ihn das deutsche Land seit langer Zeit geschaut hatte. Grüne Zweige schlugen an die Scheiben, Vögel sangen in den Bäumen, schmeichelnd und lockend, als wollten und müßten sie jemanden hinausrufen in die lustige, grünende, blühende Welt. Und doch war es gar still und ruhig in dem kühlen, finstern Rektorhause. Nichts rührte sich drinnen; kein Fußtritt, keine Stimme, kein Laut gab Kunde von dem Leben der Bewohner. Freilich, die Frau Rektorin Magdalena war abwesend und saß im Pfarrhause zu Osterburg am Kindbett ihrer Stieftochter Dorothea, die, wie jedermann weiß, den ehrwürdigen, achtbaren und wohlgelahrten Herrn Christophorum Straus, den Pfarrherrn geehelicht hatte; weder die Stimme der Frau Rektorin, noch das Klirren ihres Schlüsselbundes, noch das Klappern ihrer Pantoffeln konnte also die Stille unterbrechen. Der Rektor selbst aber war mit den Söhnen und einer erlesenen Schülerschar schon hinausgezogen in den grünen Wald, auf des Frühlings Gebot zur Käfer- und Pflanzenjagd. Magd und Knecht hatten ebenfalls das Weite gesucht; wen oder was also wollten die blühenden Zweige, der Sonnenschein, die Vöglein herauslocken aus dem alten, dunkeln Schulhause? ...
Da lag schon wochenlang auf dem Schreibtische des Rektors Rollenhagen ein Bündel Papiere mit der Inschrift darauf:
»An Meister Andreas Gehn, Buchdrucker allhier zu Magdeburg.«
Das war das Manuskript des Froschmeuseler, welches der alte Gelehrte am 21. März 1595 – »als am St. Benedictitag, dies Jahr unser Frösch ihr erstes Benedicamus anfingen« – beendet hatte, und welches hier auf den Druck wartete. Das war es, was der Frühling hinausrief in die Welt, allen fröhlichen Gesellen und frommen Jungfrauen zur Lust, Nutz und Ergötzen! ...
Der Fink wiegte sich auf schwankem Zweige nach dem Takte seines wechselvollen Gesanges; der Kuckuck aber, der subjektivste aller Vögel, vagabundierte im Holz umher und ließ bald hier bald da, bald nah bald fern, seine Stimme erschallen, und gab einem jungen Mann und Dichter, welcher mit einem Büchlein voll weißen Papieres und einem Kreidestift im Waldschatten lag, ein gar böses, böses Beispiel: denn Kuckuck, Kuckuck! kann wohl jeder rufen; während der lustig-wehmütige Finkenschlag wahrlich nicht so leicht nachzuahmen ist! Nun, wir sind im Jahre eintausend fünfhundert und fünf und neunzig nach der Geburt unsers Herrn Jesus Christus; – da wußten die Leute noch, was sie wollten, und ruhig können wir Herrn Jonas Rollenhagen, einen wackern Studenten der Medizin, seinen poetischen Feriengedanken überlassen. Lag doch der Dichtertrieb in der Familie, und gab es doch in der alten, vortrefflichen Stadt Magdeburg eine gewisse Gasse, und in dieser ein gewisses Fenster, aus welchem zwei glänzende Augen gar verschämt vorlugten hinter den Gelbveigelein, Basilien und Rosen, jedesmal wenn Herr Jonas, pochenden Herzens, in seinem zierlichen Studentenkleid vorbeischritt.
Eia, reime, Jonas Rollenhagen, einsam im grünen Wald; schlage die Zither nächtlich vor ihrer Tür, sammle die Gesellen zu einem wohlgesetzten Ständchen, im Mondenschein, ihr zu Ehren: die Liebe ist schön im deutschen, treuen Vaterland; schöner als sonst auf Erden; was sie auch sagen mögen vom lustigen Frankreich, vom berühmten Italien, vom stolzen Hispanien!
Eine anmutige Stelle hatte sich der junge Student auserwählt unter den letzten Bäumen des Gehölzes, an welchem die große Heerstraße nach der Stadt Magdeburg, deren Türme in der Ferne ragten, vorbeiführte. Die fruchtbare, hie und da mit Gebüsch bewachsene, mit grünen Wiesen und Kornfeldern bedeckte Ebene flimmerte und schimmerte in der Frühlings-Nachmittagssonne. Da und dort blitzte es auf wie geschmolzenes Silber, das war der Spiegel der Elbe, auf welcher weiße Segel hinauf und hinab zogen. Die Sonne schien durch das junge Grün der Zweige, und das Volk der Waldsänger, Distelfink und Grasmücke, Baumheckel und Baumkletterlein, Rotbrüstlein und Zaunschlüpferlein, Schwaderlein und Greinerlein, begann wieder seinen Lobgesang, welcher während der heißen Mittagszeit geschwiegen hatte. Auf der Landstraße aber herrschte das fröhlichste Leben; Bundschuh und Bürgerschuh zogen darauf in Handel und Wandel hin und her; denn das deutsche Volk benutzte den letzten friedlichen Atemzug, bevor es nach Gottes Geschick und Fügung in die blutigen Wirbel des Dreißigjährigen Krieges gerissen wurde, noch einmal nach Macht und Kraft; bauend, pflanzend und genießend. –
Mit einem Ausruf der Freude und Befriedigung sprang der Student in die Höhe. Der Buchfink über ihm brach seinen Gesang ab und flatterte tiefer in den Wald hinein. Mit dem Finger den Takt in der Luft schlagend, las Herr Jonas Rollenhagen noch einmal sein Lied leise her; dann aber – riß er das vollgeschriebene Blättchen aus seinem Taschenbuch heraus und übergab es in vielen kleinen Stückchen dem lauen Windhauch, welcher in den Bäumen und Büschen spielte und die Worte der Liebe scherzend davon trug, hierhin und dorthin, meistens aber in ein murmelndes Bächlein, welches sie lustig weiter schaukelte der Elbe und dem Weltmeere zu: wie es vielleicht ja auch im Liede stand.
Was brauchte Herr Jonas den geschriebenen Buchstaben? Der Jungfrau von der Spiegelbrücke ging wahrlich nichts verloren, wenngleich der Bach davon getragen hatte, was – er erlangen konnte! ...
Fröhliche Menschenstimmen, Lachen, Hundegebell, welche den ganzen Nachmittag über im Walde erklungen waren, näherten sich jetzt; die Wipfel der Büsche bewegten sich, wie die darunterdurch Schreitenden sie auseinander bogen; das welke Laub auf dem Boden rauschte unter den Füßen der Näherkommenden. –
Ein Knäblein von zwölf Jahren, in hellem Wams und Hosen, ersteres umsäumt mit einem handbreiten Streifen roten Tuchs, sprang auf die sonnige Lichtung.
»Hei, ich bin der erste! Viktoria!« rief es jubelnd dem Studenten zu und zurück in das Dickicht, in welchem es jetzt stärker rauschte. Hunde brachen hervor, und im nächsten Augenblick war schon eine ganze Schar Knaben von allen Größen, und in alle Farben gekleidet, um Herrn Jonas versammelt: alle beladen mit ihrer Beute, Pflanzen, Käfern, Schmetterlingen, alle mit grünen Zweigen auf den Scholarenkappen, alle mit glühenden, schweißglänzenden Gesichtern und lachenden Augen. Eine hoffnungsvolle, lebenskräftige Schar, die jetzt ebenso fröhlich in den Krieg zog gegen alles, was da wächst, kreucht und fleucht; wie sie später ergeben, todesmutig in das Blut und die Flammen des Religions- und Bürgerkrieges sich stürzte; die protestantische Bibel in der Hand, den protestantischen Glauben im Herzen, den Blick nach oben gerichtet – morituri te salutant! ...
»Falsch, falsch, Philippe!« ertönte es. »Herr Jonas ist der erste! Herr Jonas ist der erste auf dem Platze. Herrn Jonas die Krone! Herrn Jonas die Krone!«
Herr Jonas, der wahrlich nichts dafür konnte, daß er zufällig zuerst, in seinen Träumen, auf den allgemeinen Sammelplatz des lustigen Heeres geraten war, machte ein ziemlich wehmütiges Gesicht, daß man ihm so sein stilles Plätzchen störte, aber es half ihm nicht. Immer neue Gesichter drängten sich aus dem Grün hervor. Alle Klassen der berühmten Schule am Dom zu Magdeburg hatten ihre Vertreter ausgesandt. Winzige Quintaner, windige Quartaner, leichtsinnige Tertianer, zuschnellgewachsene Sekundaner, bedächtige Primaner, welche schon in dunklerer Tracht gingen, Bücher in den Schaubentaschen trugen und einen Stift in der Hand, um Anmerkungen zu machen, waren vertreten.
»Willst du meinen Federball nun hergeben?«
»Nein, ich hab' ihn ehrlich gewonnen im Kampf!«
»Willst du ihn nicht hergeben?«
»Nein!«
»Wart' ...«
» Quo, quo scelesti ruitis!« rief eine kräftige Stimme und ein ältlicher, ansehnlicher Mann, in Schwarz gekleidet, trat von zwei anderen Männern begleitet aus dem Gebüsch und stellte sich trennend zwischen die beiden erhitzten Quartaner, die sich eben in die blonden Locken gerieten. »Ei, ei,« fuhr er fort, »wer wird wohl der Natur anmutigen Lustgarten durch Streit und Kampf entweihen? –«
»Der Herr Rektor! Der Herr Rektor!« ging es von Mund zu Mund.
»Das hat wirklich Mühe gekostet!« sagte der Rektor Rollenhagen. »Magister Aaron Burckhart, Ihr habt auch einen Fetzen Eures Gewandes im Gezweig hängen lassen. Ah! ...«
Mit Wohlgefallen streifte das Auge des alten Gelehrten über die lebendige Schar der Söhne (der Mann an seiner Linken war Gabriel, sein Ältester, ein wackerer junger Theologe, und unter den Schülern befanden sich David und Kaspar, die beiden Jüngsten) und Zöglinge, welche auf der sonnig-schattigen Waldlichtung mit ihrem im Laufe des Nachmittags erbeuteten Naturschätzen ihn umgaben und umjubelten.
»Heda, Gesindel!« rief er, mit dem Sacktüchlein winkend, um sich für einen Augenblick Ruhe zu verschaffen: »Heda, discipuli, sind alle beisammen, – Hunde und Gelehrte?« Ein allgemeines lustiges Ja und Gebell antworteten ihm.
»Nun denn, die Sonne sinkt; so wollen wir uns unter Gottes Schutz auf den Heimweg machen. Ordnet die Reihen, und stimmet einen lustigen Wald- und Lobgesang an. Vorauf die Hastati, die kleinsten Bürschlein, daß sie den Schritt angeben; darauf die Principes, die Mittelsorte; zuletzt die Triarier der Legion, nach Heeresgebrauch und Gewohnheit! Ach so, – die Hunde, als leichte Reiterei auf den Flügeln, als Kundschafter vorauf und als Nachtrab hinterher! Vorwärts, signa canunt!«
Allgemeines Gelächter der berühmten Schule zu Magdeburg begrüßte diese Anordnung, und schon während man ihr fröhlich nachkam, stimmten einige Kehlen ein Wander- und Schullied an. Als sich aber der Zug gebildet hatte und aus dem Walde herauszog auf die große Landstraße, ertönte es im vollen Chor:
Der Winter ist vergangen,
Jubilate!
Die grünen Felder prangen,
Jubilate!
Ihr Schüler von den Bänken
Ihr sollt des Mai's gedenken!
Jubilate!
Jubilate!
Auf Gottes Wegen und Stegen,
Jubilate!
Dem Maien frisch entgegen.
Jubilate!
Zum grünen Wald voll Gnaden
Hat er euch eingeladen!
Jubilate!
Jubilate!
Grün Zweiglein ans den Kappen,
Jubilate!
Seind Zeichen euch und Wappen,
Jubilate!
Geschmücket so aufs beste
Seid ihr zum Maienfeste.
Jubilate!
Jubilate!
Herr Mai, Herr Mai, wir grüßen,
Jubilate! ...
Das übrige machte die Ferne unverständlich, und nur das mit aller Kraft frischer Scholarenkehlen hervorgejubelte Jubilate! drang noch vernehmbar zu den Ohren des alten Rektors, der mit seinen beiden ältesten Söhnen und dem Magister Burckhart eine Zeitlang am Waldrande zurückblieb, dem Zuge der Schüler nach- und in die heitere Abendlandschaft hinausschauend.
»Das war wieder einmal ein anmutiger und nützlicher Tag!« sagte er, sich zu seinen Begleitern wendend.
»Wahrlich, wahrlich!« riefen Herr Gabriel und Jonas, und nur der Magister schauete etwas wehmütig auf das Loch, welches ihm ein mutwilliger Dornenstrauch in sein schwarzes Schulgewand gerissen hatte.
»Ei, ei, Meister Aaron,« sagte der Alte, den Magister gutmütig auf die Schulter klopfend, »die edle Kräuter- und Tierkunde erfordert viel Mühen und Schweißtropfen von ihren Jüngern, aber sie belohnt auch mit weidlicher Freud' das zerrissene Kleid und die geritzte Hand. Ist's doch im Leben nicht anders: der Weg zum Himmelreich geht auch durch ein dornenvolles Tränental; glücklich der, welcher nur Fetzen vom vergänglichen Erdenkleid zurückläßt und seine unsterbliche Seele ganz und heil behält! – Aber wir verlieren unsere fröhliche Heerschar ganz aus dem Gesicht; wir müssen ihr doch wohl langsam folgen.«
Damit setzte der Rektor seinen Stab in den Graben und sprang frisch auf die Heerstraße. Die drei anderen folgten seinem Beispiel und stillschweigend schritt die cohors praetoria, hinter dem Zug der hohen Schule von Magdeburg, den man in der Ferne mehr hörte als sah, her. Der alte Scholarch war in tiefe Gedanken versunken und seine Begleiter unterhielten sich leise, um ihn nicht zu stören – sie kannten seine Gewohnheit, Reime zu machen im Wandern auf der Landstraße. Aber sie irrten diesmal – der Rektor machte diesmal keine Reime! Plötzlich schauete er auf, und einen Augenblick in die untergehende Sonne; dann wandte er sich an seine Gesellschafter:
»Es liegt mir heute etwas schwer auf der Seele. Vor langen Jahren begegnete mir einmal ein Ereignis, das immer wieder auftauchet und dessen Erinnerung mich wohl nicht loslassen wird bis an mein Grab. Wie kommt es doch, daß sie heut einmal mit erneuerter Macht mich verfolgt? Ach, es hat mir fast den sonnigen Tag verdunkelt. – Ich will euch die Geschichte erzählen unterwegs. Caput melancholicum est diaboli balneum, saget das lateinische Sprichwort und es hat recht! Wahrlich, es ist nicht gut, wenn man aus seinem Herz und Hirn eine Gespensterkammer macht. Horcht, wie die Frau Nachtigall hinter uns im Walde schlägt: ich will Licht in das Dunkel meiner Seele lassen; dadurch verscheucht man die bösen Geister und imaginationes am leichtesten. Wieder einmal ein Stücklein aus meinem Leben, von welchem ich euch sprechen will, Söhnlein und Kollege! Ihr müsset mich aber nicht unterbrechen; denn ihr wisset, daß ich solches nicht leiden kann.« Näher schlossen sich die drei jungen Männer sogleich an den alten Meister stumm und aufmerksam lauschten sie, und der Rektor Rollenhagen begann:
»Als ich euch zuletzt von meiner Jugend, meinem Vaganten- und Scholarenleben erzählte, hab' ich euch gesagt, daß ich im Jahre nach der Geburt unsers Herrn 1558 nach Mansfeld kam zu dem Kanzler des Grafen, Herrn Georg Müller, als Pädagog und Informator. Wahrlich, das war ein hart Leben, und erwuchs mir eine ziemliche Gefahr aus dem Streit zwischen Herrn Josias Seidelius und dem Superintendenten, Herrn Coelius, in welchen ich eingriff wie der Aff' ins Feuer und entweichen mußte, ein achtzehnjährig Schülerlein anno domini 1559 aus Haus und Futter. Ei, Söhnlein, die Rollenhagen haben nie zu Hofe gut Glück gehabt, und glaubet mir, es ist gar gut sein sub serto virgineo, unter dem magdeburgischen jungfräulichen Kranz; besser als unter den Löwen und Bären, denn eine Jungfrau, wenn man sie auch etwas erzürnet, lässet sich doch leichter wieder erbitten und versöhnen, als das stolze Wappengetier der Löwen und Bären.
So höret denn, wie ich zum erstenmal nach Magdeburg kam, und was mir da geschah. Es ist eine seltsamliche, traurige Geschichte, wohl im stande, den hellsten Sonnentag in die dunkelste Nacht zu verkehren! Nicht allein war ich in das Sudenburger Tor eingezogen – an einem stürmischen Spätnachmittag im Aprilen, wenige Tage vor meinem Geburtstag – sondern begleitet von einem Wandergenoß, welchen ich in Mansfeld kennen gelernt hatte, und den ich unterwegs wiedergefunden hatte in einer Schenke, wo er den Leuten die Zither schlug. Ein gelehrter Scholar, der in Wittenberg die edle Kunst Medicina, wie du, Jonas, studiert hatte, und Paulus Halsinger hieß. Von ihm wird das meistens handeln, was ich zu erzählen habe. Ach, es ist ein traurig Ding. – Paul! Paul!
Es war, wie gesagt, gegen Abend, als wir in das Tor eingezogen, und der Winter schnitt dem Frühjahr ein bös Gesicht. Der Stadt Landsknechte auf den Wällen mußten sich wacker dem Wind entgegenstellen, um nicht fortgeblasen zu werden; denn es schnob gewaltiglich und pfiff übel in ihre weiten Pluderhosen. Die Wetterfahnen auf den Giebeln knarrten und knirschten, die ehrsamen Bürgersleute schlossen fürsichtig ihre Laden, und wir beiden armen Schüler standen mißmütig an der Ecke des Domplatzes und schauten das Sudenburger Tor an, durch das wir eingezogen waren. Zwar hatte ich ein Empfehlschreiben in der Taschen an Herrn Wigandum, den Pfarrer zu Sankt Ulrich; aber wie sollt' ich die Behausung des ehrwürdigen Herrn finden in der großen Stadt voll Dunkelheit und bösen, liederlichen Gesindels. Paulus pfiff zwar eine lustige Weise zwischen den Zähnen, aber auch ihm war wahrlich nicht zu warm ums Herz, und seine Zither guckte gar trübselig unter seinem kurzen Scholarmäntelchen vor. Mit wenig nummum in loculo waren wir in weidlicher Herzensangst, wo unser Haupt hinzulegen die Nacht hindurch, und wußten uns nicht zu raten und zu helfen. Auf dem ›Breiten Weg‹ war bald kein Mensch mehr zu sehen, und nur aus der Wachtstube unter dem Tor schallte noch ein wüster Gesang herfür, nicht sehr ergötzlich anzuhören. ›Wenn ich nur ein Schenkzeichen sehen könnt', so sollt' uns bald geholfen sein!‹ sagte mein Paulus, ›halt, da kommt jemand; sei's auch der böse Feind, unter Dach und Fach soll er uns bringen.‹ Wirklich stampfte jetzt ein Schritt auf uns zu und drückte ich mich gegen die Mauer, denn ich vernahm das Klirren eines Schwertes auf dem Pflaster und dachte, es sei einer von den Stadtsöldnern, ein wild übermütig Volk, das noch von der Belagerung her ein weidlich groß Wort hatte. Paul Halsinger aber trat kühnlich dem Nahenden in den Weg, und stellte ihn wackern Mutes. ›Holla,‹ sagte der Fremde, ›was ist das, mein Bürschlein? Macht Platz!‹ – ›Um Verlaub,‹ sagte mein Paulus, ›habet die Güte und weiset uns doch in ein fröhlich Gasthaus; wir frieren, hungern, dursten und sind fremd.‹ – ›Ihr seid fremd? So, deshalb wisset ihr also nit, daß auf eines wohlweisen Rats Verordnung niemand bei nächtlicher Weile ohne eine Latern' ausgehen soll, der wüsten Zeiten wegen! Nun, saget mir, wer ihr seid, und ich will euch in ein lustig Losament führen!‹ Frisch antwortete Paulus: ›Der da ist ein ehrbares Schülerlein, genannt Georgius Rollenhagen, aus Bernau in der Mark, und ich nenne mich Paul Halsinger aus Osterwiek in der Grafschaft Wernigerode.‹ – ›Was!?‹ schrie der Fremde, ›heißet dein Vater Martin Halsinger, deine Mutter Christina Beltzer?‹ – ›Hießen! Mein Vater ist gestorben, vergeben von einer Unhulden, und mein Mütterlein ist an der spanischen Seuche verdorben.‹ – ›So bin ich dein lieber Ohm Lamprecht Beltzer, deiner Mutter Bruder; Bürschlein, wo kommst du her?‹ – Heiliger Gott, welch Erstaunen meines Pauli! Faßte ihn der Ohm und drückte ihn an sein Lederkoller, daß ihm schier der Atem ausging.
›Komm, komm!‹ rief er. ›Kommt beide: also meine Schwester ist tot? Nun, Gottes Will' geschehe! Will euch auftauen in Malvasier und was euer Herz begehrt. Beim großen Christoffel, so was lebt nicht weiter. Ach Christina, Christina! – Paul Halsinger, mein Schwesterkind!‹ Mit gewaltiger Faust faßte der Ohm jeden von uns am Kragen und schob uns vor sich her, den Breiten Weg hinab, auf ein Haus zu, aus dessen Fenstern noch ein heller Lichtschein auf die Straße fiel.
›Zu Magdeburgk uf dem Markte
Da stat ein isern Mann,
Und will ihn der Kaiser gewinnen,
Sein' Spanier müssen dran! ...‹
erscholl es im Chorus daraus herfür.
›Heda, Holla! Meister Wirt zum Pelikan!‹ schrie der Ohm in den Gesang hinein und schob uns in das Gaststüblein. ›Schaffet schnell ein heiß Biermus, Meister Idelbach!‹ Hörete der Chorus sogleich auf beim Eintritt Lamprechts und schaueten alle gar verwundert auf den wohlbekannten Wachtmeister und uns beide schmächtige, nasse, schwarze, zahnklappernde Schüler, welche das Licht blendete und die in der Wärme nur noch heftiger zu zittern anfingen. ›Ei, Herr Rottenführer,‹ piepte eine quäkige Stimme aus dem Winkel, ›was habet Ihr da für ein paar Nachteulen aufgestöbert?‹ – Aber der Ohm Lamprecht ward gar grimmig. ›Haltet Euer loses Maul, Meister Wendehoike! Ist mein Schwestersohn kein Uhu, kein Kauz, kein lumpiger Rattenfänger und Katzenschinder, wie Ihr, Meister Kürschner, sondern ein wohl gelahrter Scholar und Student! Möcht's Euch raten! – Rückt einmal zu, meine Gesellen!‹ wandte er sich dann an einige bärtige Kriegsleute, die alle der Stadt Wappen – die Jungfrau mit dem freudigen Kränzel über den beiden Türmen – auf der Brust trugen.
›Nun setzet euch ans Feuer und wärmet euch, meine Bürschlein! Ihr schauet ja aus – nehmt's nit übel – wie unsrer Cumpanei welsch' Marketenderweib, die Memma Pozzo, als wir sie mit über die Schneealpen nahmen, nach der Schlachtung im Tiergarten zu Pavien.‹
Fröhlich kamen wir dem Wort des Ohms nach, setzten uns ans Kamin und begannen bald aufzutauen. Tat das Biermus das übrige, und war bald alles Ungemach vergessen. Der Ohm ließ nun auftragen, daß der Tisch knackte, und begannen Paul und der Oheim einander zuzutrinken, daß das Bürgervolk Augen und Mäuler aufsperrte, die Kriegsleute aber wohlgefällig den beiden zuschaueten. Bald hatte sich auch ein Kreis andächtiger Zuschauer um uns versammelt, denn wunderliche Geschichten gab nun der Paul zum Besten von der großen Universität Wittenberg, von der sie ihn weggejagt hatten, und Ungeheuerliches erzählte der Ohm von seiner Fahrt mit Herrn Georg von Frundsberg, mit dem er als freier Knecht gezogen war, ehe er der guten und festen Stadt Magdeburg Diener in Fried' und Fehde ward. Erzählte der Paul, wie ihm sein Väterlein und Mütterlein abgestorben seien, wie er hart studieret habe in Leipzig und Wittenberg, und liefen dem Ohm die hellen Tränen über die Backen, bald vor Weinen, bald vor Lachen, bis er auf einmal, unversehens, in einen wilden Kriegs- und Schlachtgesang ausbrach, in welchen alle Kriegsmänner im Pelikan einstimmten, daß mir der Kopf fast wirbelte, während der Paul weidlich in seinem Element war und mit beiden Fäusten auf dem Tisch den Takt schlug, bis glücklicherweise ein Doppelsöldner kam, den Wachtmeister auf die Wacht an der hohen Pforte zu holen. Da kam das Getös zum Ende, versprach der Ohm vorzusprechen am andern Morgen und befahl dem Meister Martin Idelbach zum Pelikan, uns ein Losament und gut Bett anzuweisen. Dieses geschah, und führte uns der Wirt hinauf in den Erker des Pelikans am Breiten Wege, den Ihr Euch heute noch ansehen könnt, Magister Aaron! Da brachte ich den Paulus zu Bett, betete selbst fröhlich und flugs den Abendsegen und schlief sogleich ermüdet von des Tages Mühen und Drangsalen ein.
Nun ließ Gott es zu, daß ich in dieser selbigen Nacht einen schweren Traum träumete. Stand ich auf einmal am Fuße der Domtüre, die ich am Nachmittage mit Freude und Wunder betrachtet hatte, und schaute hinauf nach den Spitzen. Da ward ich plötzlich entrückt und hörete eine Red' von zwei wüsten Gesellen. Auf der Spitze des linken Turmes, dem die Knospe fehlet – denn nur Gottes Werk ist ganz vollendet – saßen zwo stinkende böse Teufel und ließen die Beine herabhängen und kehrten einander den Rücken zu; denn sie gönnten sich das Höllenfeuer nicht. – ›Hui,‹ sagte der eine, ›guck um! Was schaust du!‹ – Drehete sich der andere halb um und blinzte durch die Nacht nach der Gegend, worauf sein Kumpan zeigte: ›Was soll's? ich sehe einen Markt und Fackeln. Sie schlagen ein Henkersgerüst auf; ist das alles?‹ – ›Hei,‹ grinste der andre, ›darauf wollen sie morgen früh meines Fausten Schatz, dem kleinen Gretel, das hübsche Hälsel abschneiden! ... Ich hab' ihn nun! Mach's mir nach, wenn du kannst!‹ –
Nun hörete ich in diesem Augenblick meinen Schlafgesellen Paulus schwer stöhnen; aber es erweckete mich nicht, und der Traum ging fort.
›Ich bin dabei,‹ sagte der andere Teufel. ›Schau durch das Fenster da drunten, das allein noch hell ist und das Kreuz (beide Kobolde schüttelten sich) auf der Straße abmalt. Schau in das Kämmerchen, den mit den blonden Locken hab' ich mir auserwählt.‹ – ›Puh, ein arm fahrend Schülerlein!‹ lachte höhnisch der erste. – ›Kann ein Doktor werden, wie dein Faust!‹ schrie kreischend der andere, entfaltete die höllischen Schwingen und verschwand in der Nacht. Sein Gesell nickte grinsend mit dem Kopfe und flog ebenfalls fort, Wittenberg zu. Einen Ruck tat's in mir, und stürzte ich hinunter, tief, tief und erwachte mit einem lauten Angstschrei. Da schien die Sonne hell und fröhlich in mein Kämmerlein, und saß ich im Bett auf und schauete nach dem Paulus mit fast besorgtem Blick. Erschrak mich auch fast sehr, als ich sein Lager öd' und leer erblickte; aber mußte über mich selbst lachen, als der Wirt, Meister Idelbach kam und mir verkündete auf meine Frage, daß der Rottenmeister Lamprecht Beltzer ihn schon vor einer Stunde abgeholt habe nach seiner Behausung auf dem Katzensprung. Darauf betete ich den Morgensegen, zog mich an und ging hinunter in die Gaststube, wo alle bösen Nachtgedanken bald verschwanden, als ich hinausschauete auf die Straße und das fröhliche Leben der großen, volkreichen Stadt. Nachdem ich eine Zeitlang vergebens auf den Paulus gewartet hatte, zahlte ich meine Zeche und ging nun auch meinen Sachen und Geschäften fröhlichen Mutes nach, und gelang es mir durch Gottes Gnade ganz nach Herzenswunsch und Willen, denn der Herr Wigand, der Pfarrherr, an den ich ein Brieflein hatte, kommendieret mich dem Herrn Sigfrido Sacco, dem damaligen Schulrektor (dacht' ich nicht, daß ich noch einmal auf seinem Stuhl sitzen sollt!), der verschaffte mir ein Hospitium bei Lamprecht Knust, dem wackern Bürger. Da hatt' ich mein Losament und Atzung nach Leibesnotdurft, und war angestellt als ein privatus praeceptor bei den Werners von Halberstadt, die bei Herrn Ambrosius Emmen zu Tisch gingen. Ach, wär' doch der Paulus Halsinger auch in so guter Leute Hände gefallen! – Der Ohm Lamprecht Beltzer freilich war ein wackerer Mann, wenn auch ein rauher Kriegsknecht und dem Trunke ein wenig ergeben, wie all das wilde Söldnervolk. Er tat dem Paulus nicht viel Schaden, ja, was er konnt', tat er dem Schüler und wiedergefundenen Schwesterkind zu gute. Aber der Paulus war im Leben wie ein Verirrter in einem Zaubergarten, wo die lockenden Pfade alle immer tiefer hinabführen ins Verderben. Ein hübscher, lustiger Gesell war er, schlank und wohl gewachsen mit hellen, klaren Augen und krausem Haar, wie Meister Lucas Kranach den heiligen Johannes malt auf seinen Bildtafeln. Niemand konnt' ihm etwas verweigern, wenn er bat, und hatt' ich mich fast sehr vergafft in sein fröhlich Wesen. Die Zither verstand er zu schlagen wie ein welscher Spielmann, und ein wackerer Scholar war er auch und wußte seinen Horatius und Virgilius an den Fingern herzusagen. Weh, weh! Was ist aus alledem geworden! Wahrlich, o Söhne und Magister Aaron Burkhardt, der Teufel gehet nicht immer umher wie ein brüllender Löwe, quaerens qeum devoret; er kann auch seine scharfen, bösen Klauen in weiche, weiße Patschhändlein verwandeln und hold blicken und mit den Augen winken, wie die Schlange Empusa in Afrika, die oben ein schön' Weib und unten ein garstiger Wurm ist –
Lässet sich nit ferner anschauen,
Ohn' so weit sie gleicht einer Frauen –
locket die jungen, müßigen Gesellen also und zerreißet sie und trinket ihr Herzblut. Weh, was ward aus dem lustigen Studenten und wackern Gesellen! Muß ich doch heute noch an sein verwüstet Bild mit Schmerzen denken.
Wie's Feuer das Stroh küßt und anlacht,
Bis daß es alles zu Aschen macht –
so hat es auch den armen Paul Halsinger angelacht und geküßt, das Wildfeuer, das der Menschen Herz leer und öde macht, wie eine Kirche Gottes ohne Altar und Orgel, wie eine Kirche, in welcher die Bilderstürmer gehauset haben. – – – In der venedischen Straße hatte sich Paulus ein Gemach gemietet, da hausete er nun nach seiner Gewohnheit. Ei, sie kannten ihn bald, die Schenkwirte und tollen Gesellen und Vaganten zu Magdeburg, die Mägdelein und die Stadtscharwächter! Hing es doch an einem Haar, daß er mich mit hinein gezogen hätte in das wilde Leben, das er führete, hätten mich nicht Herrn Lutheri Wort und meines frommen, toten Mütterleins Ermahnungen und vor allen ein schönes Bild, eine Jungfrau, fast noch ein Kind, – errettet aus der Gefahr. Euphemia hieß der holde Schutzengel, Magister Burckhardt, und sie war die Tochter des damaligen Syndikus, Herrn Pfeils, und ward auch mein eheliches Gemahl, jahrelang nachher, als ich hier in dieser selbigen Stadt Magdeburg nach vielen Fahrten ein Konrektor geworden war, Rectore de Edone. Ach, nun ist mir nichts mehr von ihr übrig, als ihr Gedächtnis und mein Töchterchen Dorothea zu Osterburg, eure Stiefschwester, Jonas und Gabriel, der Gott in ihrer seligen Not und Angst beistehen möge. Hieß auch meine Mutter Euphemia, meine Schwester Euphemia, und meiner ersten Braut und Frau Euphemia Mutter und Großmutter ebenfalls Euphemia – miro quodam omine! Doch was schweif' ich ab: ging es dem armen Paul wahrlich nicht so gut. Der war ein' Wais' seit frühesten Jahren und hatte seine Mutter gar nicht gekannt, und keine keusche Lieb' hatte ihm ihr seliges Lämplein im Herzen angezündet. Ihn sollt' ein anderes Geschick treffen!
Geschah es eines Tages, daß ich die Staffel zu seiner Stube hinaufstieg und bei ihm eintrat gegen Abend. Ich hatt' ihn wochenlang nicht gesehen und auch nicht von ihm gehöret, welches mir verwunderlich schien, denn man sprach in der Stadt schon viel von ihm und seinem Treiben. Ich traf ihn lauschend am Fenster im Dunkeln, und er antwortete meinem Gruß nicht, sondern drückte mir die Hand auf den Mund und gebot mir so Schweigen. Da hörete ich über die Gasse einen Klang wie eine Harfe; und eine Frauenstimme, wie ich sie noch nie gehört hatte, sang dazu eine ausländische Weise, in ausländischer Sprache. Auf den Zehen schritt ich ebenfalls zum Fenster hin und lugte hinaus in die dunkle Gasse, ob ich nichts von der Sängerin erblicken könne. Da sah ich drüben in einem hohen Hause, welches heute nicht mehr stehet, ein erleuchtetes Fenster mit einem roten Tuche verhängt, im Mittelstocke, in einem hervorragenden Erker. Ein Schatten fiel dagegen und auf ihn hatte Paul Halsinger den Blick gerichtet, wie ein Hohepriester auf das Allerheiligste. Solange der Gesang dauerte, blieb er wie versteinert, das Fensterkreuz umklammernd, als habe der böse Geist, den ich einst im Traume sah, Besitz von ihm genommen. Als der Gesang abbrach, seufzte er tief, setzte sich auf einen Schemel und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
›Paul, Paul!‹ rief ich, ›Was ist das? was ist dir?‹ Er antwortete aber nicht, sondern ließ nur seine Hand leise über die Zither gleiten, die neben ihm lag, und griff wie im Traume einzelne Klänge aus der Weise, welche die Frauenstimme gesungen hatte, darauf nach. Auf einmal bewegte sich drüben der Vorhang und ward zur Seite geschoben, und eine Gestalt beugte sich aus dem offenen Fenster und schaute hinab in die Gasse. Da war Paul wieder auf den Füßen und zitterte an allen Gliedern und streckte die Hände nach dem Wesen aus, bis der Vorhang wieder fiel und die Gestalt verschwand. Zuletzt erlosch auch das Licht drüben, und nun kam mein Freund dazu, daß er mir auf meine Fragen nach dem Abenteuer antwortete. Da erzählte er denn, daß da drüben der italische Goldschmied Malco Guarnieri mit seiner Tochter Felicia wohne, und daß diese Felicia sein Lieb werden müsse, wenn er nicht elendiglich verderben und vergehen solle. Ich erschrak heftig, denn schon hatte auch ich mancherlei gehört von dem künstlichen Meister Malco und seiner schönen Tochter, und es gingen böse Gerüchte in der Stadt und schwatzten die Leute mancherlei über den Goldschmied, den die Klügern scheel ansahen als einen Katholiken und Italiener, und der große Haufe als einen Katholiken und Zauberer und Goldmacher. Bat ich und beschwor ich den Paul Halsinger, führte ich ihm Gottes Wort und seinen lutherischen Glauben zu Herzen; aber er wollte mich nicht hören und murmelte nur den Namen Felicia und war wie ausgewechselt, daß ich ihn mit Kummer und Angst ließ – denn ich liebte ihn – und betrübten Gemütes in mein Dachkämmerlein im Hause Herrn Lamprecht Knusts zurückkehrte. Und konnt' ich die ganze Nacht nicht schlafen vor bösen Gedanken und Träumen.
Nun begab es sich, daß ich den Paul wieder viele Tage hindurch nicht zu sehen bekam, bis einmal ein feierlicher Aufzug der Gewerke in der Stadt war. Es hatten nämlich die Schmiede einen Aufruhr gemacht; die Gesellen hatten den Meistern den Hammer gelegt und die Stadt war voll Lärms und Getümmels. Nun zogen auf des Rats Anstiften die andern Zünfte auf in Wehr und Waffen, mit Fahnen und Pfeifern, nach Handwerksgebrauch und Gewohnheit, die Kompanen zu bändigen.
Da erblickete ich den Paul wieder. Als ein leichtsinniges und leichtfüßiges Bürschlein hatte ich mich auch herausgemacht, das Getümmel zu schauen, und hing an dem Fußgestell des Reiterbildes Kaiser Ottens auf dem Markte. Da spülte eine große Welle Volkes den Scholaren heran. Ich kannte ihn fast nicht wieder! Er war bleich und abgemagert und sein Lockenhaar hing in Unordnung um seine Stirn, seine Lippen waren zusammengepreßt, und ich mußte an das Wort der Offenbarung denken – – ›sie zerbissen ihre Zungen vor Schmerzen.‹ – Er sah mich nicht; ich griff ihn beim Arm und zog ihn hinauf zu meinem ruhigen Standpunkt. Da wollte ich ihn ausfragen, aber er antwortete nicht, sondern schaute nur stieren Blickes in das Getümmel, wie einer, der nichts von sich weiß. Plötzlich aber wurden seine Augen weit und starr und seine Hand fassete die meinige, daß ich vor dem Druck fast aufgeschrien hätte. ›Da, da!‹ stöhnte er hervor und wies in die Menge zu unsern Füßen. ›Felicia!‹ – Wie ein Blitz war er hinunter von unserm Standpunkt. Ich erkannte in einem tobenden Volkshaufen den Meister Malco, an dessen Arm sich ängstlich ein verschleiert Weib angeklammert hatte; denn der rohe Haufen hatte sich an die Fremden gehängt, und waren sie in ziemlicher Not. Wie ein Wütender war Paul Halsinger zugesprungen, das Volk abzuwehren, und auch ich eilte ihm zu helfen; aber es wäre uns fast übel gegangen, hätte es nicht Gott gefügt, daß in diesem Augenblicke der Ohm Beltzer mit seiner Schar gezogen kam; der ließ den Meister Malco und die schöne Felicia zwischen die Reihen der Söldner treten, und gelangten wir so glücklich aus dem Aufruhr und der Gefahr heraus auf den Breiten Weg, wo der Ohm uns entließ, indem er mit seiner Manipul nach dem Sudenberger Tor zu zog, während wir die Gasse hinaufschritten, der venedischen Straße zueilend. Der Meister Guarnieri wußte fast nicht, wie er uns seinen Dank aussprechen sollte, und die schöne Felicia hatte ein wenig ihren Schleier zurückgeschlagen und lächelte uns so holdselig zu, daß ich nun wohl den Paul zu begreifen anfing. So kamen wir vor das Haus des Meisters Malco, und dieser bestand darauf, daß wir ihn hineinbegleiten sollten. Ich zauderte fast ein wenig, aber ein Blick Felicias machte allem Verweilen ein Ende und so stieg ich mit die dunkle, steile Treppe hinauf. Von außen sah das Haus schier unansehnlich und verfallen aus, und das Geländer der Staffel war feucht und schwarz, aber wie erstaunte ich, als uns, nachdem wir oben angelangt waren, eine alte Frau die Tür des Wohngemaches öffnete! In eine verwunderliche Pracht schauete ich hinein! Ein herrliches Gemach tat sich vor uns auf; rote goldgestickte Tapeten hingen an den Wänden, ein feurig Licht blitzte durch die gemalten Fensterscheiben, und über einem mit köstlichem Geschirr bedeckten Tische schaukelte sich in einem silbernen Ring ein unbekannter Vogel mit funkelndem Gefieder und begrüßte uns kreischend. Die schöne Felicia war uns entschlüpft, und der Meister sagte in seinem gebrochenen Deutsch, indem er uns zum Sitzen einlud: ›Wird meine Tochter wohl sogleich wieder erscheinen, wird sich aber wohl erst putzen nach alter Weibergewohnheit, ihr wisset ja als gelehrte deutsche Scholaren, dum comuntur, dum moliuntur, ... und wie es weiter heißt, meine Gesellen! Ei, was muß ich euch danken für euere Hilfe in der Not. Wie werd' ich doch erfreut sein, wenn ich erst die böse Stadt verlassen kann. Aber da ist meine Tochter. –‹
Ein Vorhang erhob sich – ich hätte fast die Hand auf die Augen drücken müssen, so blendete die Erscheinung, die da herfürtrat im purpurnen Sammetkleide, der Nacken und die milchweißen Ärmlein blitzend im Schmuck der köstlichen Steine, das schwarze Haar wie die Nacht herabfallend auf die Schultern. – Seitwärts beobachtete ich, als wir uns erhoben, den Paul. Er stand wie ein Wachsbild, die Augen fest auf die schöne Maid gerichtet; noch kein Wort hatte er gesprochen.
Lächelnd schritt Felicia auf uns zu und redete uns gar freundlich an, und mußte ich mich fast über mich selbst verwundern, daß ich so gut ihr antworten konnte, da ich doch sonst den Frauen gegenüber vor Blödigkeit fast vergehen wollte. Sie kann kein böses Bild sein, dachte ich bei mir, und erstaunte nur immer mehr über den Paul, welcher keinen Laut hervorbrachte, und der doch seinem Lieb gegenübersaß und sonst bei den Dirnen gar nicht stumm war.
›Nun wolle es euch gefallen, einen Imbiß mit uns einzunehmen, den ich hab' herrichten lassen,‹ sagte Felicia, und der Meister Malco schritt uns voran in ein anderes Gemach und führete uns an ein prächtiges Täfelein, da setzeten wir uns, die Maid dem Paul Halsinger gegenüber. Der Goldschmied füllte einen Goldbecher mit funkelndem Wein, reichte ihn der Tochter und sprach: ›Kredenz ihn doch dem blöden Scholaren da, der vorhin so ritterlich gesprochen und gestritten hat und jetzt tut, als säß er in einem Collegio, Herrn Melanchthonis oder Herrn Eberi conciones nachschreibend.«
Da berührte Felicia mit ihren kirschroten Lippen den Rand des Bechers und reichte ihn, sich verneigend, dem Panl, der ihn zitternd nahm und an die Lippen setzete. Unterdessen hatte der Meister auch mir zugetrunken. Strömte mir ein wild unbekannt Feuer durch die Adern, und es legte sich mir vor die Augen wie ein roter Nebel, durch welchen die Augen Felicias wie die Sterne funkelten.
›Eia, Meisterlein,‹ rief der italische Goldschmied, ›Wein von Cypern! Wohl bekomm's und laßt euch einschenken! So! ... Schauet euch aber, ehe ihr weiter trinket, einmal das Becherlein an; das ist das Werk des trefflichen Künstlers Benvenuto Cellini, der die Falkaune losbrannte auf der Engelsburg, welche den Connestable niederwarf von der Sturmleiter in den Mauergraben der ewigen Stadt Rom!‹ Wandt sich ein Gewühl nackter Heidengötter und Dirnen, ziegenfüßiger Ungeheuer und wilder Panthertiere um den Becher, und schien's mir fast, als ob das heidnisch' Wesen lebendig sei. Tanzten die Menschlein und schwangen Laubstäbe, sprang das bocksbeinige Ungetier mit Schläuchen auf den Schultern einher, streckten sich die Panther, und wandt und schlang das alles sich durcheinander, daß ich beinahe das Gefäß hätte fallen lassen, wenn mich nicht das Lachen des Meisters Malco erweckt hätte. Dieses Gelächter galt aber der Tochter, die sich vergeblich bemühete, den erstarrten Paul in ein Gespräch zu ziehen, und drohete der Meister schalkhaft mit dem Finger und sagte: ›Wenn das dein Verlobter Lucio in unsrer schönen Vaterstadt Florenz ahnen könnte! Ei, ei, Töchterlein!‹ – Da ward die Felicia rot wie ein weißes Röselein, wenn die Sonne aufgeht, und lächelte gar verschämt und glücklich und ich mußte bei diesem Lächeln an einen Waldbach denken, der aus dem dunklen Grün lustig hervorspringt in einen hellen, blumigen Wiesengrund.
Weh, weh, was ist aus dem herrlichen Geschöpfe Gottes geworden! ... Der Paul neigte bei den Worten des alten Meisters das Haupt tief auf die Brust, und die Hand, mit welcher er sein Trinkglas hielt, zitterte gleich einem Laubblatt im Sturmwind: Einen andern liebte sie und dachte an ihn und hegte sein Bild in ihrem Herzen. –
Indes lief die Sanduhr auf dem Nebentische aus, und auf den Türmen läutete man die Bet- und Türkenglocke; da mußt' ich scheiden, denn man erwartete mich zu Hause. So nahm ich Abschied von dem Meister und der schönen Felicia, die mich liebreich einluden ferner zu kommen, und ließ ich den Paul zurück in ihrer Mitte. Ging ich fast getröstet fort; denn das holdselige Bild der italischen Jungfrau hatte mich wundersam überzeuget, daß von ihr nichts Böses kommen könne. Wehe, wehe! Nieder fiel es nach der Fügung Gottes wie ein Donnerschlag, und ich weiß nicht, wer von den drei Unseligen die Schuld auf sich geladen hatte, deren Sühne alle drei treffen sollte!
Nun ward es Sommer im Land; still und ruhig flossen mir die Tage und Wochen dahin; denn ich arbeitete viel, weil ich im kommenden Jahr 1560 mit Gottes Hilfe nun auch nach Wittenberg gehen wollt, nach dem Ort, wo das heilige Licht des neuen reinen Glaubens zuerst aufgegangen ist und durch des Allmächtigen Gnad' noch hell leuchtet. Traf mich oft die rote Morgensonne über meinen Büchern, und trompetete mich der Hahnenschrei oft genug ins Bettlein, daß ich ganz bleich und mager ward vor vielem Studieren.
Aber leider der Paul Halsinger ward noch viel bleicher als ich, und der Ohm Beltzer klagte mir, daß die Unholdin, die den Vater des Paul vergeben habe, auch den Scholaren ins Verderben gezaubert haben müsse, und schwor gräßlich, zu dem nächsten Scheiterhaufen, welchen der Rat der Stadt einer Hexe anzünden ließe, drei Holzscheite mit eigener Hand zuzutragen. Ach, er wußte noch nicht, daß der böse Zauber, welcher den Paul verdarb, in den schwarzen Augen der schönen Felicia in der venedischen Straße liege! Er erfuhr es aber! –
Der Paul selbst vermied mich schier, obgleich er überall war, und ruhelos mit sich selbst sprechend in den Straßen umherirrte wie ein Verlorener. Die Mädchen in den Fenstern schüttelten die Häuptlein, und die Begegnenden blieben stehen und schauten dem Armen verwundert nach und erkundigten sich untereinander nach dem Namen und Wesen des verwüsteten Bildes. Dann hieß es: ›Das ist der traurige Student von Wittenberg!‹ und das Volk beklagte und bedauerte den verzauberten Paul Halsinger.« – – –
Der alte Rektor Rollenhagen hielt hier seufzend ein und versank eine Zeitlang in tiefes, trauriges Sinnen, und seine Begleiter schritten stumm, die Häupter auf die Brust gesenkt, neben ihm her. Plötzlich aber schaute der Erzähler auf und fuhr fort:
»Es war der 25. Juli 1559 – der Tag steht mit blutigen Buchstaben in meinem Herzen geschrieben – da brach das Geschick los! Gegen Abend, in der Zeit, wo Tag und Nacht sich vermischen, hatte ich mein Lämpchen angezündet, schlug wie gewöhnlich das Wort Gottes auf und neigete mein Haupt, den Worten der Heiligen des Herrn nachzugehen und nachzusinnen. Da hörete ich einen Schritt auf der Treppe, die Tür ward aufgerissen – ich drehte mich um – Paul stand vor mir.
Heiliger Gott, wie erschrak ich! Wie sah er aus! Nur an den Augen merkte man, daß noch Leben in dem Totenbild sei; aus ihnen blitzte es wie das Sankt Elmsfeuer, aber auch sie waren eingesunken und verschwanden fast in ihren Höhlungen. ›Paul! Paul!‹ – er antwortete meinen Fragen, meinen Beschwörungen nicht; er sank auf den Stuhl, von welchem ich aufgesprungen war, legte den Kopf auf die Arme und weinete bitterlich. Ich stand da mit gefalteten Händen, und ein Schauder ging mir durch das Herz, wie ich ihn noch nie gefühlet hatte. Es war draußen eine schöne Nacht, der Mond leuchtete so sanften Lichtes, die Sternlein Gottes funkelten so mild und selig, der Rosenbusch in dem Scherblein vor meinem Fenster verströmte seine süßesten Düfte: ich konnte diesen Jammer und dieses Elend da vor mir fast nicht damit zusammenbringen. ›Paul, Paul!‹ – – Vergeblich suchte ich meinen armen Freund zu beruhigen; leise schluchzte er vor sich hin. Dann richtete er zuletzt das Gesicht in die Höhe und starrte wie im Traum auf die heilige Bibel, die vor ihm aufgeschlagen war. Da überlief ihn ein Zittern, mit leiser Stimme las er her: ›Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn! ...‹ Wild sprang er auf und sprach furchtbare, üppige Worte, daß ich in Eifer und Zorn geriet und das heilige Buch den Händen des Wahnsinnigen entriß; denn er entweihete es mit seinen irdischen Gedanken. Aber er lachte wie ein Toller und mischete alles durcheinander, und klar war nur in seinen verwirrten Worten der eine herzzerreißende Ausruf: ›Felicia! Felicia!‹ – Urplötzlich aber kam dieser Taumel zu seinem Ende, es war, als ob der böse Geist, der den Paul besaß, ihm einen Augenblick Ruhe ließ, nur um ihn fester und greulicher packen zu können; – es gelang mir zu erfahren, was vorgefallen war. Da vernahm ich denn, daß es dem unglücklichen Freunde gelungen war, sich der holden Felicia zu nähern und dem schönen Bild seine Liebesbrunst zu gestehen. Aber die italische Jungfrau hatte das Lockenhaupt geschüttelt und gelächelt und den Namen Lucio ausgesprochen; und als der Sinnverwirrte sich in Verzweiflung zu ihren Füßen wand, hatte sie ihn zornig fortgestoßen, und der alte Meister, der dazu kam, hatte den unseligen Studenten in wilder Wut aus dem Hause getrieben. Das erzählte mir Paul, als der böse Geist in ihm sich wieder rührte; abbrechend schrie er auf: ›Sie wartet! Sie wartet! – Ich komme, ich komme!‹ Er riß sich los aus meinen Armen und stürzte fort wie ein Rasender: ›Felicia! Felicia!‹ hörte ich ihn wild in der Gasse drunten rufen. –
Mir war es schier wie ein Traum! Ich ergriff mein Barett und eilte dem Kranken nach; doch als ich hinunter kam, war er bereits verschwunden, und ich blieb in schrecklicher Angst stehen und sann, was nun anzufangen sei. Kein Lüftlein regte sich; wie konnte doch bei solcher Herrlichkeit und Friedlichkeit der Schöpfung Gottes der böse Feind solche Macht haben, die Menschen ins Verderben zu jagen! Die Leute in den Haustüren sahen mich sonderbar genug an; denn sie wußten, daß ich der Freund des Wahnsinnigen war, der an ihnen vorbeigestürzt war. Sie flüsterten untereinander und der Name Felicia ging von Mund zu Mund; denn schon hatte sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, daß die schöne Welsche an der Verzauberung des Paul schuld trage. Selbst die Kinder, die im Mondenschein gespielet hatten, endigten ihre Kurzweil und kamen mich anzustarren. Was konnte ich tun? In meiner Angst fiel mir ein, wenigstens den Ohm Beltzer aufzusuchen, um ihn von dem verlorenen Zustande des Verwandten zu benachrichtigen, und eilenden Fußes lief ich nach dem Pelikan, wo der Kriegsmann um diese Zeit zu sitzen pflegete. Als ich vor dem Schenkhaus ankam, fand ich daselbst eine große Menge Volks versammelt und ein wild Geschrei und Getümmel. Den Ohm hört' ich drinnen im Haus gewaltiglich toben und mit Mühe brach ich durch den Haufen und gelangte in das Gaststüblein, welches angefüllt war mit Söldnern, Handwerksgesellen, Weibern und müßigen Bürgern. Der Wirt, Meister Martin, hatte sich hinter seinen Schenktisch geflüchtet, und der Wachtmeister Lamprecht Beltzer arbeitete sich ab zwischen den Händen einiger Zech- und Kriegskumpane, die ihn hielten, daß er kein Unheil anrichte; denn er war wieder weidlich trunken. Das ganze Haus war voll Geschrei und Getös', und vor der Tür im Mondenschein tobete das böse Gassenvolk aus Leibeskräften.
›Paul, Paul, mein Paul!‹ schrie der Wachtmeister, ›ich stülpe den Zauberer und die Hexe um, wie zwei Handschuhe, – o, meiner Schwester Sohn, mein wackeres Studentlein! mille millions lutins! wie die welschen Hunde sagen – schafft mir meinen Paul wieder.‹ –
›Schütz uns Gott, Herr Rottmeister, wo seid Ihr hingeraten so früh?‹ rief der Wirt. ›Ins Rößlein oder in den Schwan oder in den grünen Kranz – Gott verdamme die Zeichen. Verzeih mir die Sünde!‹ –
›Nirgends gerat ich hin!‹ schrie der Ohm in höchster Wut. ›Den Zauberer in der venedischen Straße und die Teufelshexe, seine Tochter, will ich verbrannt haben. Erzählt doch, Meister Hennig Klockreep, mir geht der Atem aus!‹ brüllte er einen feisten Büchsenmeister der Stadt, seinen Zechgesellen, an, der neben ihm stand. Dieser aber stieß nur ein unverständliches Gebrumm aus und schien zu tief in die Betrachtung eines gewaltigen Bierkruges, welchen er in der Hand hielt, versunken zu sein, als daß er dem Wunsche des Genossen nachkommen konnte.
›Meister Hennig Klockreep!‹ schrie der Ohm den Arkeleymeister an, ›Meister Hennig Klockreep, wohlbefahrener Büchsenmeister dieser guten Stadt, hab' ich nit mit Euch Wacht gehalten auf der hohen Pforte von elf bis drei?‹ – ›'s ist so, Lamprecht Beltzer, bei Kugel und Pfropfen!‹ – ›Hab' ich Euch nicht unter den Tisch getrunken von drei bis vier?‹ – Nickte der Büchsenmeister und schaute wieder in seinen Krug. – ›Nun denn, Gevatter Klockreep, habt Ihr nit geschnarcht von vier bis acht und habt Ihr mir nit dann vier Stadtgulden abgewonnen zum Zeichen Euerer vollständigen Besinnlichkeit?‹ – ›Wahr wie die Bibel, Gevatter Lamprecht, und können's bezeugen Tileke Kron, Lütke Hornscheit und die ganze Wachtkumpanei,‹ sagte der Büchsenmeister, den die Erinnerung an seinen Gewinn ein wenig aufmunterte. – ›Nun dann?‹ rief der Ohm wieder. – ›Und dann – dann ist uns am Sankt Kathrinenkirchhof der Scholar – Euer Verwandter, begegnet, und Ihr – Ihr habt ihn mitnehmen wollen, und, und – er hat mich für die – hahaha – hat mich für die hübsche Felicia aus der venedischen Straße gehalten – und Euch, Gevatter – bei Kugel und Pfropfen, hahaha – für den alten Hexenmeister, den italischen Goldschmied.‹ –
›Der Paul ist vergeben, wie sein Vater vergeben wurde!‹ rief der Wachtmeister, ›und das welsche Weib hat ihm den Zauber angetan! Paul, Paul, mein Söhnlein! Ich komme von Sinnen! Vorwärts! Wer seinen christlichen lutherischen Glauben lieb hat, der folge mir nach dem Hexenneste, die Teufelsbrut auszuräuchern. Laßt mich los, Gevatter Schnarcher, oder! – herunter die Spieße! Bum bum bidibum, der frummen Landsknechte Trommelschlag! Vorwärts Gesellen, hoch lebe Herr Georg von Frundsberg! Zeigt's den italischen Schuften!‹
Ein wildes Geschrei auf der Gasse antwortete dem Trunkenen, Wütenden; der Haufe draußen zündete schon Fackeln an; ich sah wohlbekannte Bürger von der Goldschmiedebrücke, die den fremden Meister neideten, arglistig und heimtückisch die Flamme des Aufruhrs anblasen. Vergeblich versuchte ich es, den tollen Ohm Lamprecht zurückzuhalten, vergeblich sprach ich ihm Vernunft; er hörte nicht mehr, er sah nicht; wie ein Besessener stürzte er aus dem Haus unter das Volk, welches ihn mit einem wilden Jubel- und Mordgeschrei begrüßte. In grausiger Angst sprang auch ich fort; die schrecklichen Drohungen des wüsten Haufens machten mir das Blut in den Adern erstarren. Ich durcheilte die Straßen, ich fand mich vor dem Hause Guarnieris, ich zog die Glocke, die alte Dienerin öffnete, ich stürzte die Treppe hinauf; außer Atem, schwindelnd lehnte ich an den Pfosten der halbgeöffneten Tür jenes Gemaches, in welches uns der Meister Malco an jenem Tage, wo wir ihn nach Haus begleiteten, zuerst geführt hatte. Eine Lampe brannte auf dem Tische, und Vater und Tochter saßen nebeneinander, der Meister in einem hohen Lehnstuhl, Felicia auf einem Schemel ihm zur Seite. Es war ein so stilles, schönes, friedliches Bild, – mir schwamm alles vor den Augen, es sauste mir in den Ohren; ich wollte schreien und konnte keinen Laut hervorbringen. Da hörte ich eine süße Stimme, welche sprach oder las; ich schloß die Augen und horchte. Anfangs vernahm ich nur den holden Klang der Worte, dann aber ordneten sich die Gedanken. So las Felicia:
›Und so pflücke ich denn die Rose und den Lorbeer und lege Dir von jedem ein Blatt in diesen Brief und flüstere Dein Lob, süße Braut, in das Gemurmel des Arno. Ich bitte für Dich, Felicia! Möge mein Gebet mit dem Marienlied des armen Schiffers unter meinem Fenster aufsteigen zum Throne des Gottes der Schönheit. Wie herrlich die Nacht ist! Das Haupt meiner Bildsäule der Venus Urania funkelt silberweiß im Mondenlicht, und Deine süßen Züge, Felicia, Felicia, sind vor mir, wie ich sie dem Marmor gegeben habe! Ein Johanniswürmchen ist durch das offene Fenster gekommen und steigt langsam, funkelnd an dem Gewande meiner Göttin empor; – o Felicia! Felicia! Ich habe den goldnen Kranz, den mir die Genossen brachten, zu den Füßen Deines Bildes niedergelegt, meine Braut – o komm und nimm ihn auf! Komm zurück, komm zurück, Felicia ...‹
Ein dumpfes, fernes Murren riß mich empor. Ich stürzte in das Gemach; die Jungfrau ließ das Papier fallen, der greise Meister trat mir entgegen. ›Rette! Rette!‹ rief ich. ›Sie kommen! Rettet Euch, rettet Euer Kind!‹
›Götter! was wollt Ihr, Messire?‹ rief der Alte.
›Welche Gefahr drohet uns?‹ fragte zitternd Felicia.
›Horcht, horcht! Das Volk! Sie sagen, Ihr wäret eine Zauberin –‹
Die schöne Felicia trat einen Schritt zurück, und der Meister zog sein Dolchmesser halb aus der Scheide.
›Sie sagen, Ihr habet den Studenten, meinen Freund, verzaubert! Rettet euch! Rettet euch!‹
Felicia hatte sich hoch aufgerichtet und schauete mir voll ins Gesicht. ›Euren Freund verzaubert?‹
›Den Studenten dort drüben, den Paulus Halsinger. Sie kommen, sie kommen! Im Namen Gottes, rettet euch!‹
Ein verächtliches Lächeln lief über die Züge der schönen Maid; der alte Meister aber faßte mit eiserner Gewalt meinen Arm: ›Ich erdolche Euch, wenn Ihr den Namen meiner Tochter noch einmal mit dem jenes Erbärmlichen zusammenbringt!‹ rief er. Ich befreiete mich von seinem Griffe – das Getöse des wütenden Haufens erschallte bereits näher.
›Und diese Barbaren drohen uns?!‹ rief Felicia zitternd, sich an ihren Vater klammernd.
›Mir und meinem unschuldigen Kinde?‹ rief der Alte.
›Euch! Euch! Weh', hört Ihr sie?‹
›Vater! Vater! O Lucio!‹ rief die Jungfrau.
›Laßt uns das Haus verlassen!‹ rief der Meister, seinen Dolch ziehend; ›noch ist es Zeit!‹
Ein roter Schein zuckte in den Mondschein der Gasse hinein. Zu spät! Zu spät! Der mordbrennerische Haufe erfüllte wie eine Sündflut die Straße.
›Das ist ein Traum! ein böser Traum!‹ rief der Goldschmied, die Hände in die Höhe hebend, während Felicia auf den Knien lag und leise betete und den Namen Lucio und den Namen ihres Vaters murmelte.
Ein Stein zerschmettete ein Fenster und rollte über den Teppich des Gemaches; im nächsten Augenblick erwartete ich den Mordhaufen im Hause, ich hörte ihn schon an der Tür. Da – urplötzlich trat eine Stille ein, – ich vernahm einen herzzerreißenden Ruf: Felicia! Felicia! An das Fenster sprang ich und schauete hinab auf das wilde Meer von Köpfen drunten. Dicht an dem Haustore sah ich zwei Männer miteinander ringen, ich sah den einen zu Boden stürzen; das Wutgeschrei brach wieder los, Schläge donnerten gegen die Tür – sie brach, der Haufe der Aufrührer erfüllte das Haus! ... Nein! nur einer war eingedrungen. Ich hörte den Türflügel wieder zufallen, den Riegel vorklirren, ich hörte ein Getöse im Hause, als werde ein schwerer Gegenstand dagegen geworfen; dann kamen Schritte die Treppe herauf, während die Äxte, Brecheisen und Steine von neuem gegen die Tür schlugen und flogen – – Paul! Paul! Paul Halsinger! ... Vor uns stand er! ... Und der Tod stand auf seiner Stirn geschrieben! – Sein Wams war zerrissen, aus seinen wirren Locken rieselte Blut aus einer Wunde, die er empfangen hatte, als er eben den wütenden Haufen zerteilte, der seinetwegen gekommen war. Wie ein Rasender hatte er die Andringenden zurückgeworfen, die Haustür freigemacht, sie verschlossen und verriegelt und einen Schrein zum Schutz dagegen geworfen. Er trug das Schwert des Ohms, welches er demselben entrissen hatte, in der Hand: – der Meister Malco trat zwischen ihn und seine Tochter. –
›Felicia!‹ rief der unselige Scholar.
›Ich kenne Euch nicht! Fort von mir, Mörder!‹ rief die italische Maid. ›Lucio, Lucio! rette! rette! ...‹
Ihre Stimme verlor sich in dem Gebrüll auf der Gasse, welches immer heftiger ward. Ich hörte den Ohm: ›Jagt die Hexenbrut in die Spieße! Rettet meinen Paul!‹ Die Lampe auf dem Tische ward durch einen Stein zerschmettert, der Mondschein und die Fackeln drunten erleuchteten allein noch das Gemach.
›Was hat dir mein armes Kind getan, Satan!‹ rief der italische Meister, seine Tochter in den Arm fassend. ›Verderben und Fluch über diese Stadt! O mein Kind, mein Kind! ...‹
Paul hatte sich zu Boden geworfen, seine Stirn berührte die Erde – er sprach wirre, wahnsinnige Worte – er richtete sich wieder auf, die Hölle schien aus seinen Augen zu leuchten.
›Sei mein! sei mein!‹ schrie er. ›Sie sollen dir nichts tun! Ich schwör's bei der heiligen Jungfrau! Ich schwör's bei dir selbst, du Selige, Heilige!‹
›Paul,‹ rief ich entsetzt, ›denke an Luther, gib deinen protestantischen Glauben nicht auf für irdische Lust und Liebe!‹
Er war auf den Füßen – er schlug mich vor die Brust, daß ich zurücktaumelte. ›Verräter!‹ schrie er, – ›was hab' ich mit dir zu schaffen? Felicia, höre mich! ...‹
Der Meister Malco stieß den Vorstürzenden zurück: ›Fort, Elender – rufe nur deine Henkersknechte herauf. O, mein armes, armes Kind, muß unser Leben und Glück so zu Ende gehen? ...‹
›Ruhig, ruhig, Vater!‹ schluchzte die Jungfrau, ›laß sie kommen, die Wütenden; aber laß mich nicht in ihre Hände fallen! Töte mich, töte mich, mein Vater – meine Mutter winkt aus dem Himmel – Töte mich – o Lucio! Lucio!‹ Sie rang die Hände in schrecklicher Angst. – ›Töte mich! Töte mich!‹
›Sie sollen dir nicht nahen! Bin ich nicht da?‹ rief Paul wieder. ›Fluche mir nicht! Ich habe sie nicht gerufen, – ich habe nichts mit ihnen zu schaffen. –‹
Da, da! die Haustür brach zusammen, das Haus erzitterte unter dem Geschrei der Einbrechenden, – die Treppe erkrachte unter ihren Füßen, – der Ohm Lamprecht mit seinem Gefolge von Bürgern, Landsknechten, Gesellen und wütenden Weibern drang in das Gemach.
Wie ein Rasender stürzte sich Paul Halsinger ihnen entgegen, das Schwert hoch schwingend.
›Zurück! in der Hölle Namen, zurück!‹ schrie er, Felicia lag ohnmächtig in den Armen ihres Vaters.
›Da ist sie!‹ brüllte der Ohm Lamprecht. ›Da ist der Hexenmeister! Aus dem Fenster mit ihm, in die Spieße! Hierher, zu mir, Paul, mein Söhnlein!‹
Er wollte sich des Scholaren bemächtigen, aber dieser, außer sich vor Liebeswut, Angst und Verzweiflung, stieß ihm den Schwertgriff in das Gesicht, daß er blutübergossen, besinnungslos zu Boden stürzte.
›Fluch über euch!‹ rief der Student. ›Der erste, der sich nähert, fährt in die Hölle –‹
›Greift ihn! Greift ihn!‹ schrieen die Wütenden und stürzten vor.
›– Fährt in die Hölle zu seinem Teufelsdiener Luther! –‹
›Er lästert den Mann Gottes,‹ brüllte der Haufen. ›Greift ihn! Faßt die Hexe! Ins Feuer! Ins Feuer!‹
›Felicia! Felicia!‹ rief Paul Halsinger. Ich sah sein Schwert durch die Luft funkeln, ein vorspringender Landsknecht stürzte durchbohrt zur Erde. Ich fühlte einen stechenden Schmerz am Haupt, es ward mir dunkel vor den Augen, – noch hörte ich den verzweifelnden Schrei eines Weibes, – dann verlor ich das Bewußtsein!«
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Der alte Rektor Georg Rollenhagen hatte das Barett abgezogen, die Hände darauf gefaltet und betete leise im Gehen. Seine Begleiter schritten bewegt neben ihm her.
»Und dann? Und dann?« fragte mit zitternder Stimme der Magister Aaron Burckhardt, als er sah, daß der alte Herr sich wieder gefaßt hatte.
»Als ich wieder erwachte aus meiner Betäubung,« sprach der greise Scholarch weiter, »stand der Mond am schwarzen Himmelsgewölb' grad' über mir, und war es das erste, was ich von diesem irdischen Leben und Jammer wieder zu Gesicht und Gedächtnis bekam. Eine lange Zeit blieb ich liegen, wie ich lag, ohne zu wissen, was mir geschehen sei, ohne zu wissen, wo ich war. Es herrschte ein wirres, dumpfes Getöse in der Stadt, und in der Ferne hört' ich die kurzen, schnellen Schläge einer Sturmglocke; aber um mich her war's still und nur zuweilen vernahm ich einen eilenden Schritt in den Gassen. Ich hatt' die Hände auf der Brust ineinander gelegt, vermochte aber kein Glied zu regen, doch fühlt' ich, daß mein Haupt mit einem Tuch verbunden war. So lag ich denn auf dem Rücken und schauete empor zu dem stillen Vollmond, und hatt' ich ein Gefühl, als müsse ich ewig in diesem Schwindel und Vergessen bleiben, sollte ich nicht vor Elend und Schreck zugrunde gehen. So dacht' ich denn an mein Vaterhaus in der fernen Mark, zu Bernau, an meine Mutter Euphemia, an meinen Vater, an meine Geschwister – da hörete ich Stimmen in meiner Nähe und ein Schatten fiel über mich. ›Hier, hier!‹ sagte jemand, ich schrak zusammen und schloß die Augen, um nicht zu sehen. – ›Er ist noch immer ohnmächtig, reiche mir noch einmal das Balsamfläschlein, Euphemia!‹ sagte dieselbe Stimme. ›Euphemia?!‹ Ich zitterte bei diesem Namen zusammen und wollte mich aufrichten. ›Er lebt, er lebt! Gelobt sei Gott!‹ ertönte eine andere süße Stimme. Eine warme, weiche Hand nahm die meinige. ›Es wird das beste sein, wenn wir ihn jetzt fortschaffen, Herr Syndikus,‹ sagte ein dritter. – ›Ja wohl, ehrwürdiger Herr – da kommt die Bahre schon – welche Nacht! welche Nacht! – Man sieht den Feuerschein am Himmel nicht mehr; was hat der Türmer meiner Ulrichskirche noch Sturm zu läuten?‹ – ›Lasset ihn, Herr Wigandus, schaffen wir zuerst nur unser Schülerlein in mein Haus! Hier Leute – Euphemia, unterstütze sein Haupt! So.‹ –
Ich ward auf eine Bahre gehoben, die Träger setzten sich in Bewegung, und der Zug ging durch die Straßen. Ich war wie in einem seltsamen Traume. Oft befanden wir uns allein in einer verödeten Gasse, oft wurden wir durch ein wildes Gewühl am Vorschreiten gehindert. Dann sah ich Waffen um mich her blitzen, hörte Trommeln und wildes Geschrei – was war das? Was war das?
Manchmal griff ich einzelne Worte auf. – ›Der Student – tot – Der italische Goldschmied – das Haus brennt noch – alles Asche.‹
Ich verlor wieder die Besinnung und diesmal für lange, lange Zeit; denn als ich wieder erwachte zum Licht, waren die Bäume entblättert, und lag Schnee auf den Dächern. In dem Haus' des Herrn Syndikus Pfeil stand mein Schmerzenslager, und das holde Gesicht seiner Tochter Euphemia war das erste, was ich wieder erkannte nach der langen, finstern Nacht der Vergessenheit. In deinen Rat, Herr Gott, befehlen wir unser Seelenheil, – was vernahm ich, als ich wieder denken konnt'! Wehe, wehe, wie hatte der böse Feind Haus gehalten und mir allein nichts anhaben können! Was hatten mir der Herr Syndikus und der ehrwürdige Herr Wigand von Sankt Ulrich zu erzählen! Alle tot! tot! tot! Die schöne Felicia, der greise Meister Malco Guarnieri! Tot der unselige Paul Halsinger! Tot der Ohm Lamprecht! Ich allein durch Gottes wunderbaren Schutz gerettet aus den Flammen des Hauses in der venedischen Straße! Ich wand mich wie ein Wurm auf meinem Lager, zu dessen Fußende Euphemia weinte.
Ein barmherziger Bürger, der mich kannte, hatte mich Ohnmächtigen aus dem Getümmel und Blut hervorgezogen und auf die Gasse hinabgeschleppt und mich mit Hilfe anderer barmherziger Samaritaner auf dem Kathrinenkirchhof niedergeleget. Da hatt' mich der Herr Syndikus, welcher seine Tochter aus dem Hause einer Verwandten in der venedischen Straße errettete, gefunden und der Pfarrer Wigand ihm geholfen, mich fortzuschaffen. Wehe, wehe! Felicia! Wehe Paul! ... Lasset mich, ich kann nicht weiter sprechen – am Tage des jüngsten Gerichtes werden die Menschen solches Herzklopfen haben, wie ich bei dieser Erinnerung! ...«
... »Weiter! weiter, ihr Kinder, singet weiter ...«
»Es bricht herein die dunkel' Nacht.
Schütze uns Gott mit deiner Macht!
Lass leuchten deine Sternelein,
Sende deine heiligen Engelein!
Führe uns sicher auf unserm Weg,
Laß uns nit gleiten vom schmalen Steg!
Laß leuchten deinen Mond,
Send' uns dein Licht!
Verlaß uns nicht! Verlaß uns nicht!
Schütze uns Gott mit deiner Macht,
Führ' uns in dein Reich aus der dunklen Nacht! ...«
erschallte es um die vier tiefbewegten Wanderer. Ohne daß sie es merkten, hatten sie die wackere Schar der Schüler wieder erreicht und tiefbewegt vereinigten sie ihre Stimmen mit dem feierlichen Abendgesang der Kinder der Reformation. Bald war das Tor der guten, alten Stadt Magdeburg erreicht, die hohe Schule endete ihren Gesang und schritt sittsam und ehrbaren Schrittes über die Zugbrücke, an den bärtigen, wachthaltenden Bürgern vorbei, welche wohlwollenden, schmunzelnden Blickes die wackere Knabenschar mit ihren grünen Zweigen und Blumensträußen an sich vorbeiziehen ließen und ehrerbietig den Scholarchen und seine ältern Begleiter grüßten. Die Dämmerung ward schon zur Nacht, als die Schule den Johannisberg nach dem Markt zu hinauf zog. An der Bildsäule des großen Kaisers Otto entließ der abbas laetitiae Georg Rollenhagen sein fröhliches Volk, und jubelnd zerstreuten sich die Knaben nach allen Seiten hin. Auf der Spiegelbrücke nahm der Magister Abschied, um seine Wohnung an der Ulrichskirche aufzusuchen, und Herr Jonas hatte Zeit, verstohlen nach einem offenen Fenster zu lugen und auf eine Waldrosenknospe in dem Knopfloche seines Mantels zu deuten – welches Zeichen sagen wollte: »Heut' nacht, Jungfrau Agathe! Öffnet Eure feinen Öhrlein; schlummert nicht zu fest, Jungfrau Agathe!« – Mit vollständiger Dunkelheit gelangte der Rektor nebst seinen Söhnen in seiner Behausung an.
»Ein Brief! Ein Brief aus Osterburg, Herr Rektor!« rief Martin, der Ofenheizer der hohen Schule zu Magdeburg, Famulus des Scholarchen, Faktotum der gestrengen Frau Rektorin Magdalena Rollenhagen.
»Ein Brief! Ein Brief aus Osterburg!« rief Sabina, die Magd, mit der Lampe herbeilaufend.
»Ein Brief aus Osterburg!« rief der alte Gelehrte, mit zitternden Händen das Siegel brechend und die gewaltigen, unsichern Schriftzüge, denen man den Herzensjubel des Schreibenden ansah, überfliegend. »Gabriel! Jonas! ... Großvater! ... ein feister, gesunder Bursch ... schreit gewaltiglich ... Gelobt sei Gott, der Herr! – – – Morgen soll Meister Andreas Gehn, der Buchdrucker, mein Manuskriptum haben!...«