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Wir haben unsern Lesern immer gern die Tageszeit geboten, aber so schwer wie diesmal ist uns das noch nie gemacht worden. In der Stadt Höxter waren die Turmuhren sämtlicher Kirchen in Unordnung; Sankt Peter und Sankt Kilian zeigten falsch, Sankt Nikolaus schlug falsch und bei den Brüdern stand das Werk ganz still; nur auf Stift Corvey, eine Viertelstunde abwärts am Fluß, befand es sich noch in geziemlicher Ordnung und hatte sich auch eine Hand gefunden, die es darin erhielt und es zur rechten Zeit aufzog. Es schlug vier Uhr am Nachmittage auf dem Turme der Abtei.
So viel für die Tageszeit. Was die Zeit sonst anbetraf, so schrieb man den ersten Dezember im Jahre 1673: am 23. November 1873 beginnen wir unsere Erzählung; es sind also gerade ungefähr zweihundert Jahre seit jenem Wintertage vergangen. Maurer, Zimmerleute, Tischler, Schlosser, Glaser und, vor allen Dingen, Uhrmacher sind am Werke gewesen, haben die Mauern wieder aufgebaut, die Pfosten zurechtgerückt, die Türen eingehängt, neue Fenster vorgeschoben und dafür gesorgt, daß auch die Turmuhren wieder die richtige Zeit anzeigen. Es hatte viele Arbeit und große Geduld gekostet; – wehe dem, der von neuem frevelhaft die Hand bietet, die Wände abermals einzustoßen, die Dächer abermals abzudecken und die Türen und Fensterscheiben von neuem zu zertrümmern. Der Gegenwart sei bemerkt, daß das Wiederaufbauen, das Auf- und Einrichten zu allem übrigen stets auch viel Geld kostet. –
Es war ein winterlicher, feuchtkalter Tag. Schweres Regen- und Schneegewölk wälzte sich über den Solling. Die geschwollene, stets hastige und übereilige Weser rollte ihre erbsengelben Fluten in anscheinend völlig breiartigen Wirbeln aus den Bergen zwischen Fürstenberg und Godelheim und Meigadessen her, quirlte durch das kahle Weidengebüsch und das welke Röhricht der Ufer und ärgerte sich heftig über jeden Widerstand, der ihr auf ihrem Wege aufstieß.
Solch einen Widerstand fand sie unter den Mauern der Stadt Höxter; denn da traf sie nicht nur auf die Eisbrecher, sondern auch auf die Pfeilertrümmer des uralten Völkerübergangs: die Brücke selber fand sie wieder einmal, wie so häufig, nicht. Grimmig schäumte und kochte sie empor an den bis auf den Wasserspiegel abgebrochenen Pfeilern und Stützen; aber es war auch etwas wie ein Triumphjubel in ihrem Rauschen:
»Hoho, Menschenwerk! Menschennarretei! Hoho, drüber weg und weiter, dem Weltmeere zu, und mitgenommen, was zu greifen ist! Das alte Spiel durch die Jahrtausende – Triumph!«
Die gelben Wellen der Weser mochten wohl höhnisch brausen. Sie hatten die Brücken des Drusus und des Tiberius, des Königs Chlotar und des großen Karl auf ihrem Nacken getragen an dieser Stelle; – jedes Jahrhundert fast hatte ein halb Dutzend Male für Krieg und Frieden hier eine neue Brücke gebaut; – Triumph! Wo trieben heute die Balken und Bohlen der letzten, die vor drei Jahren neu geschlagen wurde und die vorgestern Monsieur de Fougerais, der französische Kommandant von Höxter, vor dem Abmarsche seinem Feldmarschall Monsieur de Turenne nach, hatte umstürzen lassen?! – – –
Vorgestern war Monsieur de Fougerais dem Marschall nach gen Wesel zu abmarschiert. Ihre Hochfürstlichen Gnaden Christoph Bernhard von Galen, Bischof zu Münster, Administrator zu Corvey, Burggraf zu Stormberg und Herr zu Bordelohe, hatten Kaiser und Reich sowie der Republik Holland ihren französischen Trumpf ausgespielt: der Franzmann hatte es sich bequem gemacht, wie der Deutsche es gewollt hatte, und, wie gesagt, die Uhrwerke auf den Türmen vom Rhein bis zur Weser waren darob wieder einmal in Unordnung geraten und zeigten die unrichtige Stunde oder standen ganz still.
Was die westfälischen Glocken anbetraf, so waren deren eine ziemliche Menge von dem hohen Bundesgenossen des biedern Reichsstandes mitgenommen worden, um in französische Geschützläufe für die Reunionskriege, den Überfall von Straßburg und den Spanischen Erbfolgekrieg umgegossen zu werden.
Weiteres zu seiner Zeit. Vom Stift her wissen wir, was die Glocke geschlagen hat; Christoph Bernhard hat dafür gesorgt. Es ist vier Uhr nachmittags, und wir stehen im Bruckfelde am rechten Ufer des Flusses der zertrümmerten Brücke gegenüber und warten auf die Fähre, die man nach dem Abzuge der wüsten gerufen-ungerufenen Gäste und Bundesgenossen aus dem Westen eingerichtet hat.
Wir warten auf einige Leute, die da kommen werden, um sich nach Huxar übersetzen zu lassen, und sie kommen auch, einer nach dem andern.
Der erste ist ein Mönch aus der Abtei, der unter dem dunkelziehenden Gewölk von dem Landwehrturm unter dem Walde, dem Solling, auf dem Feldwege her der Weser zuschreitet. Es ist der Bruder Henricus, vordem in der Weltlichkeit ein Herr von Herstelle; sein Prior, Nicolaus, vordem im Saeculum ein Herr von Zitzwitz, hat ihn vor acht Tagen mit einem Briefe an den Herzoglich Braunschweigischen Vogt auf dem fürstlichen Amtshause zu Wickensen abgesendet, und er hat den Brief hingetragen und kann sonderbare Sachen erzählen.
An Stelle des Vogtes hat er auf dem Amthause Seine Fürstlichen Gnaden den Herzog Rudolf August selber vorgefunden, und zwar in bester Laune, den Vorgängen und dem französischen Trubel am linken Weserufer zum Trotz. Der Herzog hat den wohlpitschierten Brief des Herrn Priors von Corvey erbrochen, und es ist ein anderes Schreiben – französisch abgefaßt und adressiert – herausgefallen, welches die Fürstlichen Gnaden zuerst gelesen haben, zu einem Drittel mit Stirnrunzeln und für den Rest mit einem Lachen und Spott.
»Ihr tragt gewichtige Sachen im Lande Germanien um, ohne es zu wissen, Bruder«, hat der Herzog gesagt. »Sintemalen wir aber nunmehro im Jahre Einundsiebenzig mit Gottes Hülfe und unserer Herren Vettern Liebden Beistand und freundlicher Handreichung unsere nunmehro zuletzt getreue Landesstadt Braunschweig mit Waffengewalt und guten Worten uns zu Willen und Gehorsam gebracht haben; so danken wir dem Herrn Bischof von Münster, sowie den Herren Prioren, Kanzlern und Räten von Corvey, wie imgleichen dem Herrn Marschall von Turenne für freundliches Erbieten und gedenken fernerhin, wie es uns zukommt, unserer Pflicht und fürstlichen Eidleistung gegen Kaiser und Reich. Wünschen dagegen dem Herrn Marschall eine glückliche Reise gen Wesel und haben Euch, ehrwürdiger Bruder, augenblicklich nichts mitzuteilen, als daß Ihr, solange es Euch belieben mag, unser lieber Gast sein mögten; wie wir es gleichfalls in Euer Belieben setzen werden, Euch in der Gegend umzusehen. Da uns das Stift und das Königliche Hauptquartier zu Höxter aber in Eurer Person einen Mann geschickt haben, der nicht immer die Kutte trug, sondern vordem auch den Harnisch und den Kürasserhelm, so verlassen wir uns darauf, daß Ihr uns zu Hause in re militari loben und den Herren zu Huxar und Corvey nach bester Kenntnisnahme empfehlen werdet.« –
Da nun der Bruder Henricus außer seinem Schreiben willig auch den mündlichen Auftrag mitgenommen hatte, sich in der Gegend rechts von der Weser umzusehen, so machte er Gebrauch von der Einladung des Herzogs. Er sah sich um, und jetzt kam er zurück, nachdem er sich umgesehen hatte. Sehen wir uns ihn jetzt vor allen Dingen selber ein wenig genauer an.
Da stand er, auf seinen Wanderstock gestützt, im Bruckfelde an dem mürrischen Strome und wartete geduldig, bis es dem Fährmann drüben am Brucktor zu Höxter gefiel, ihn herüberzuholen. Und er sah trotz seinem geistlichen Gewande wahrlich aus wie ein Mann, der wohl befähigt war, seinen Vorgesetzten über die militärischen Zurüstungen und Vorkehrungen Seiner Herzoglichen Gnaden zu Wickensen Bericht abzustatten, und zwar einen sach- und fachgemäßen. Der Bruder Henricus von Herstelle trug sein Benediktinergewand würdig und stattlich genug; doch mußte es auch dem gänzlich Unbefangenen gar nicht unglaubwürdig erscheinen, daß von dieser breiten Brust und diesen derben Schultern seinerzeit der eiserne Panzer ohne alle Beschwerden getragen worden sei. Daß die runzlige, aber immer noch kräftige Faust vorzeiten etwas anderes umschlossen habe als den harmlosen Stab von Weißdorn, konnte dann einem irgend aufmerksamen Betrachter auch weiter nicht zweifelhaft bleiben. Der Bruder Henricus trug dem winterlichen Tage ins Gesicht die Kapuze zurückgeschlagen und bot die Tonsur dem Wind, den vereinzelten Schneeflocken und den scharfen Schauern feinen Regens frei hin. Ein Kranz grauer, ein wenig borstiger Haare umgab den runden wohlgeformten Schädel, und eine Narbe auf der Stirn sprach von anderm und wilderem Zusammentreffen als mit den Brüdern und Vätern in Gott und Jesu Christ bei der Hora und Mette. Der Junker Heinrich von Herstelle war jetzt ein alter Mann, doch jung und frisch auf den Beinen. Sein Räuspern selbst und sein Niesen klang kräftig und mannhaft, und man konnte es dem Vater Adelhardus, dem Stiftskellner, vordem ein Herr von Bruch, gar nicht verdenken, wenn er die Freundschaft und gute Kameradschaft gerade dieses ehrwürdigen Bruders jeglicher andern innerhalb der Mauern der Abtei vorzog.
»Wo die Brücke geblieben ist, kann ich mir schon deuten«, sagte der Bruder Henricus kopfschüttelnd. »Ein Ärgernis ist es aber doch!« fügte er hinzu, die Hand über die Augen legend und nach der Fähre ausschauend. Er hatte noch zu warten; denn der Fährmann drüben zu Höxter beeilte sich des einzelnen Fahrgastes wegen nicht. Faul hingestreckt lag er neben der Wölbung des Brückentors auf seiner Bank und wartete auch; nämlich auf die Ansammlung mehrerer Leute drüben am Braunschweigischen Ufer.
Endlich kam der zweite Fahrgast. Diesmal ein altes Weibchen, das auf dem Schifferpfade von Lüchtringen her heranhumpelte, keuchend unter einem schweren Bündel; – ein altes Judenweib, unter dem Namen Kröpel-Leah dem Pöbel zu Huxar wohlbekannt, doch hochangesehen bei ihren Glaubensgenossen, – wegmatt, zeitmatt, kriegszerzaust und kriegerisch, ja kriegerisch unter ihrem Packen trotz ihrem Alter und ihrer Müdigkeit anzuschauen.
Mit tiefen Knicksen und schüchternen Verbeugungen näherte sich die Greisin dem greisen Benediktinermönch, der aber neigte das Haupt, winkte mit der Hand und sagte:
»Der Gott Abrahams knöpfe dem Schlingel da drüben die Ohren auf. Tretet heran, Frau; werft Euer Bündel ab und setzet Euch. Um uns beide rührt sich der liederliche Bursch fürs erste noch nicht.«
»Ich danke Euch, guter ehrwürdiger Herr«, erwiderte die Greisin. »Alte Knochen, müde Füße, schweres Herz – ich kann wohl in Geduldigkeit warten.«
»Ich auch!« sprach der Mönch, und dann, mit einem Blick auf die durch die Wirbel des Flusses vorragenden Trümmer der Brückenpfeiler, fragte er: »Wisset Ihr, Mutter, vielleicht genauer, was das nun wieder zu sagen hat? Wenn man sich auch das Seinige zurechtlegt, so hört man doch gern eines andern Bericht. Als ich abging von Corvey, schritt ich noch trockenen Fußes über die Weser.«
Die Greisin schüttelte den Kopf:
»Ich kann es nicht sagen, ehrwürdiger Herr. Anno Siebenzig am siebenzehnten Januar hat es der Fluß selber getan. Vordem Anno Sechsundvierzig tat es der Herr Feldzeugmeister von Wrangel; vordem taten es Herr Kaspar Pflugk und die Herren Liguisten, – vordem Herr Christian von Braunschweig, den sie den tollen Herzog nannten. Dazwischen dann immer wieder der Strom selber. Ja, wer hat's heute getan?«
Der Bruder Henricus lächelte ein wenig.
»Was Ihr mir da eben ableiert, Frau, kann ich in seiner Richtigkeit für mehr als einen Axthieb in persona bezeugen. Wo kommt Ihr denn her, Frau?«
»Von Gronau im Fürstentum Hildesheim. Da ist meiner Schwester Sohn gestorben. Er war der letzte Mann in meinem Hause. Ich hab' ihn sterben sehen und mir die Erbschaft geholt nach Höxter.«
»Hm!« murmelte der Bruder Henricus und sah auf das Bündel, auf dem die Alte zusammengekauert hockte und von dem aus sie scheu und furchtsam zu ihm seitwärts aufblickte.