Wilhelm Raabe
Im Siegeskranze
Wilhelm Raabe

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Sie zeigte ihre weißen Zähne, lachte und sagte: »Zu früh um eine Stunde, um eine Stund zu früh!« Nichts weiter. Ich umklammerte sie mit lautem Angstschrei, aber sie kannte an diesem Tage keinen mehr, und der Vater machte mich los von ihr und trieb mich hinaus. Da bin ich bis zum Abend wie verstört umhergelaufen, habe an allen Türen und Fenstern gehorcht und gebeten und gefleht, man möge mich wieder hineinlassen zu der Schwester, mich habe sich doch am liebsten von allen, und wenn sie von niemanden mehr wisse, mich müsse sie doch noch kennen. Vergebens; an diesem Tage hat keiner auf mich gehört; aber nachher hat es sich erwiesen, daß ich recht hatte, da habe ich meinen Willen bekommen, und wie sie mich in meiner Unmündigkeit verpflegte, so ist sie nunmehr mir zur Pflege hingegeben worden.

Zuerst hat mein Vater freilich alle Doktoren, deren er habhaft werden konnte, zusammenberufen, um ihre Meinung zu vernehmen, weil kein Arzt sich selber genug traut, wenn es sich um ihn selbst oder die Seinigen handelt. Da ist der Brief, über welchem sie das Schicksal mit seiner unbarmherzigen Hand schlug, wie ein schreckliches Wunder umhergezeigt und von einem zum andern gegangen; denn was in einem Nu aus dem Menschen werden kann, das hat man niemals klarer sehen können, als auf diesem Blatt Papier.

Die Schwester hat so schön geschrieben wie der beste Schreibemeister, und ihre Gedanken konnte sie mit der Feder so trefflich hinstellen, daß keiner es besser machen konnte. Wie sie ihre Füße immer so zierlich setzte und aufrechten Leibes so stolz und anmutig einhertrat und wie jeder Wink und jede Bewegung ihrer Hände gleich einem Zauber gewesen ist, so war es auch mit ihren Buchstaben und ihren Meinungen auf dem Papier. Sie sind dahingezogen, wie der Schwan auf dem Wasser schwimmt, und so auch in diesem letzten Briefe bis zu dem Punkt, bei welchem der Bruder in die Stube gestürzt ist und ausgerufen hat: »Am Freitag ist er erschossen worden!«

Von hier an ist's gewesen, als ob eine Kugel auch den schönen Schwan getroffen habe, daß er nun durch das Wasser taumele, mit den Flügeln schlage, versinke, sich wieder hebe und die Wellen mit seinem Blute färbe. Der Brief ist mit einem Male irr gewesen wie die, welche ihn schrieb, und in solcher Weise wohl noch eine halbe Seite hinuntergelaufen, Verstand und Unverstand, Sinn und Nichtigkeit durcheinander. Ja, sie konnten sich wohl die Köpfe darüber zerbrechen, die Herren Doktoren, was half es aber der armen Ludowike?

Und nun, mein Kind, wie es Finsternis wurde in der armen Seele der Schwester, so wurden auch die Wolken über aller Welt dunkler und dunkler; die großen Gewitter drängten von allen Seiten gegeneinander, und noch ein Stündlein, so war's, wie wenn das Wetter einem grad über dem Haupte steht, daß man zwischen dem Blitz und dem Donnerschlag nicht einen Augenblick einschieben und nicht eins zählen kann. Jetzt hat jeder Tag, jede Stunde so allmächtig zugegriffen, daß selbst die allernächste Liebe nicht das Gesicht zur Seite wenden konnte zu einem Trostwort oder einer Wehklage über das kleinere Schicksal der Angehörigen. Und wie das bei dem einen war, so war's bei dem andern, und auch unser betrübtes Haus hat keine Ausnahme machen dürfen. Was in ruhigeren Zeiten die Stützen unseres ganzen Daseins zerbrochen hätte, das wurde nun mit wilder Dumpfheit als das Gleichgültigere angesehen, und kein Nachbar hat sich darüber verwundert; und ein Wunder war's auch nicht, daß die Alten, weil ihnen der Kopf von den großen Schlachten so sehr dröhnte, die häusliche Last auf die Schultern des Kindes, auf meine eigenen Schultern legten.

Achthundert französische Kürassiere waren an die Stelle unserer einheimischen Reiter in unser Städtchen und die umliegenden Dörfer eingezogen, und unser Haus war auch voll von ihnen. Sie rasselten freilich noch mit Harnisch und Schwert und sperrten immer noch die Mäuler auf, als wollten sie die ganze Welt hinunterschlucken; aber trotz alledem war's doch mit dem alten, übertrotzigen Mute vorbei, und unter den blanken Harnischen klopfte es oft lauter, als sie wissen lassen mochten. Sie stellten mehr Feldwachen und Vorposten als sonst aus, auf den Kirchturm hatten sie einen Wächter zum Auslug hingesetzt, und in einer Woche bliesen sie jetzt häufiger Alarm als sonst während ihrer Prachtzeit in einem ganzen Jahre. Da mußten mein Vater, mein Halbbruder, unsere Nachbarn und guten Freunde das Leben der Zeit leben; ich aber habe mein besonderes Dasein gehabt, und das war, wie ich ganz gewiß weiß, viel schlimmer als alles, was die andern erdulden oder womit sie sich quälen mochten; denn über ihnen regte immerdar die schönste Hoffnung die Flügel; aber ich war so jung, so jung und mußte die Wärterin meiner wahnsinnigen Schwester spielen – das war ein Spiel für ein Kind von dreizehn Jahren!

Ja, mein Liebchen, wenn ich heute um mich sehe und die Menschen von heute in ihrem Treiben und bunten Wesen betrachte, so kommt mich oft ein Staunen an um ihre Hast und Ungeduld. Ich sehe sie rennen und laufen, ich sehe sie auf ihren Eisenbahnen dahinfliegen; ich sehe sie ihre Gebäude aufrichten über Nacht und ihre Gewohnheiten und Meinungen, ihre Kunst und Wissenschaft, alles das, worin und wonach sie leben, ändern, wie man die Hand umkehrt. Ich höre ihr Sprechen und Seufzen, wie alles so schlecht bestellt und wie's kaum noch der Mühe wert sei, Atem zu holen; und mit all dem kommt mir der Wunsch und Gedanke, daß der Herr sie plötzlich mit Haut und Haar zurückversetze in die Welt vor fünfzig Jahren und sie da einmal acht Tage lang ihren Weg suchen lasse. Da würden sie schön in die Kniee fahren.

Es war mit den meisten Dingen anders bestellt als heute und mit sehr vielen gewiß nicht besser; aber wenn ich davon anfangen wollte, so möchte ich schwerlich an diesem Abend noch ein Ende finden. Ich will also nur von den armen Irren reden, wie die vor fünfzig Jahren behandelt wurden – das ist ein Greuel gewesen! Mit dem Lichte der Vernunft schienen sie in jenen Zeiten jeden Anspruch an das Licht des Tages, an die freie Luft, an die gewohnte Kost und Kleidung verloren zu haben, und die Menschheit, die ihren Verstand durch die Güte Gottes noch behalten hatte, stand ihnen ganz und gar ratlos gegenüber. Die Häuser, welche der Staat oder das Land oder die Regierung zu ihrer Aufnahme unterhielten, waren gewöhnlich mit den Zuchthäusern verbunden und sind solche Schreckensorte gewesen, daß es gar nicht auszusagen ist. Mit einer und derselben Peitsche hat man die Verbrecher und die Kranken geschlagen, und deshalb behielten die Leute, welche mit einem solchen unglücklichen Wesen von der letzteren Art in ihrer eigenen Familie behaftet waren, solches, wenn sie es irgend vermochten, bei sich im Hause und sperrten es selber ab. Es war ja eine Schande, ein Kind, einen Bruder, eine Schwester im Irrenhause zu haben, und jeder band im Notfalle lieber selber dem Verwandten die Hände zusammen und legte ihn an die Kette. Auch die stillsten Kranken wurden abgeschlossen gehalten wie die bösesten Tiere; man fürchtete sich eben viel mehr vor ihnen als heutzutage.

Unsere Ludowike war nun im Anfang so still, so friedlich und sanft in ihrer Verdunkelung wie ein Engel, oder besser wie ein gutes Kind, das dann und wann wohl auch seinen Eigenwillen hat und sein Stündlein weint und schreit und strampfelt, aber im ganzen doch nur Sanftheit, Lachen und Lust ist. Jaja, so viel hatte die hohe, stolze Jungfrau für das Vaterland gegeben, daß ihr nichts von ihrem schönen, jungen Leben übriggeblieben war; und sie, deren Gedanken mit denen der Höchsten und Edelsten zogen, sie mußte zu mir im kindischen Spiel niederkauern.

Daß die Kranke ihre Neigung für mich behielt, das haben die andern als ein Glück in allem Elend angesehen und sind darüber sehr froh gewesen. So haben sie mir die Schwester und mich ihr überliefert, und ach, ich glaube nicht, daß sie recht hatten; denn ob ich gleich die arme Ludowike so lieb, so lieb hatte, flößte sie mir doch ein fürchterliches Grausen ein. Ich war ein so junges Kind, und die Scheu der älteren Leute wurde bei mir durch meine Unmündigkeit vermehrt, welche das Schreckliche noch mit dem Geheimnisvollen umhüllte, und auch mir hätte man beinahe meine Seele gebrochen.

Sie sperrten uns zusammen für den Anfang in dem Stübchen, von welchem aus der Vater zuerst meine junge französische Mutter in ihrer Schönheit unter ihren Blumen lustwandeln sah, und an keinen Raum auf der weiten Erde gedenke ich mit solcher Angst wie an dieses enge Gemach. Ach, sie hatte mich so weich und warm in ihrer Liebe gehalten, die gute Schwester! Aus meiner toten Mutter Armen war ich in die ihrigen gefallen, und sie hatte mich aufgezogen, wie man wohl einen jungen Vogel, der aus dem Neste fiel, aufzieht. Wir hatten so gut zusammengehalten zu jeder Zeit, und ich wußte es nicht anders, als daß ich zu ihr emporsehen mußte in allen Dingen und daß ich in allen Dingen ihr folgen und gehorchen mußte. Ich hatte auch stets zu ihr aufgesehen wie zu dem schönsten Wunder, und nun kroch sie auf dem Boden und tändelte mit der Puppe, welche ich schon weggeworfen hatte, und schwatzte, wie ich vor zwei oder drei Jahren geschwatzt hatte! Da war's kein Wunder, wenn alles auch in meinem Kopf ins Schwindeln und Schwanken kam.

Und unterdessen ging es draußen immer wilder her. Der großmächtige Schlachtenherbst von Anno dreizehn war herangekommen, der Tod zog mit seiner Sichel durch das deutsche Land und mähte nach rechts und nach links in immer weiteren, weiteren Kreisen! Es ist gewesen, als ob fortwährend eine große Glocke Sturm läute über der Welt; es war ein Sausen und Brausen um alle Menschen, ein Dröhnen in jedem Hirn; wie ein gewaltig Wehen hat es jedem den Atem genommen. Die große unsichtbare Glocke läutete nun die rechte Stunde ein, auf welche der Schwester Liebster nicht hatte warten können; aber die arme Braut saß jetzt auf der Erde und hatte den Schoß voll Kinderspielzeug und begriff den Sturm, den sie so sehr ersehnt hatte, nicht mehr. Und der Sturm fuhr heran und auch über unsere Stadt.

Die Marwitzschen Kosaken, welchen der Leutnant Kupfermann um eine Stunde zu früh entgegengeritten war, sind nun im vollen Rosseslauf gekommen und haben des Feindes gepanzerte Reiter vor sich her getrieben, daß wir sie nimmer wieder sahen. Aber des Herrn von der Marwitz Kosaken sind auch eigentlich gar keine Kosaken gewesen, sondern es waren viel wildere und tollere Leute, es waren unsere eigenen guten oder vielmehr sehr bösen Landesgenossen, die meisterlosen Brauseköpfe, welche in den Feind brachen, wie sie vordem in des Nachbars Obstgarten oder Vorratskammer gebrochen waren, und auf die Franzosen schlugen, wie sie früher in den Gassen aufeinander geschlagen hatten. Das waren die jungen Wildfänge, welche dem ersten besten Bauer den Gaul aus dem Stall gerissen, die erste beste Bohnenstange zu einer Pike umgewandelt hatten und im Notfall ihrem eigenen Vater das Haus über dem Kopfe angezündet hätten, wenn sie dadurch eine welsche Streifschar ausräuchern konnten. Mit Gejauchz und Hurra kamen sie im Sturm an und fuhren durch die Tore, gleich ihren Namensgenossen weit vorgebeugt über die Pferde hängend. Es sind grimmige Rächer gewesen, und sie hatten ihren eigenen Weg; denn es war niemand da, ihnen einen Zügel anzulegen, und eben weil sie aus ganz Deutschland zusammengeweht und -geblasen waren, ist's gewesen, als ob jeder Ort einen gesendet habe, den anderen die rechten Türen zu weisen. Da wußten sie denn auch anzuklopfen nach ihrer Art, und die war gar nicht fein, und, liebes Kind, ich hab so einen gesehen und denke heute noch mit Schauder daran; das hängt aber wieder mit dem Bruder Wilhelms, mit dem Kommis Kupfermann zusammen.

Diesen hatten sie endlich doch frei lassen müssen in Kassel; denn trotzdem der Kommissarius Schulz alles, was er wußte und vermochte, dransetzte, um ihn zu verderben, konnten sie ihn nicht erschießen wie den Bruder, und so haben sie ihn zu aller Leute Verwunderung heimgehen lassen. Zu langen Prozessen hatten sie eben auch in Kassel keine Zeit mehr.

Dieser Kommis Kupfermann ist denn also wirklich zurückgekommen, noch ein wenig magerer und finsterer als sonst, übrigens aber ganz der vorige, und er ist wieder in sein Geschäft eingetreten und hat wieder wie früher an seinem Türpfosten gelehnt und mit seinen blöden Augen in die Welt hinausgestarrt. Umgang hat er aber gar nicht mehr gehabt und gesucht, und die Stadt hat sich fast vor ihm gefürchtet. Was ich aber erzählen wollte, das ist folgendes.


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