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Die große Waldschule hatte wandern müssen, und der Klosteramtmann war geblieben und hatte, sich die Hände reibend, gemeint, nun sei endlich wohl für ihn die bessere, die ruhigere Zeit gekommen, und – hatte sich sehr geirrt, wie man sich eben bei seinen Hoffnungen und Wünschen dann und wann im Leben zu irren pflegt. Der Mann hatte für sein Teil Ruhe und Behagen in der Welt zu wenig mit den übrigen Zeitumständen gerechnet. Im Jahre 1761 gab es trotz des Abzuges des Cötus keine Ruhe in und um Kloster Amelungsborn, weder für den Herrn Amtmann noch die andern In- und Umsassen der Stiftung Siegfrieds von der Homburg.
Das Verhältnis zwischen der Schule und dem Amt war immer nicht das beste gewesen; aber im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts hatte es sich derartig verschlechtert, daß es zuletzt gar nicht schlimmer mehr werden konnte. Zu verwundern war's grade nicht. Sie saßen einander zu nahe und mit sich zu sehr widersprechenden Interessen auf dem Kasten. Ihre Anschauungen über Recht, Rechte, Berechtigungen, über Moral, Tugend, Sitte und Gewohnheit, ja im pursten, krassesten, blassesten Sinne über Mein und Dein waren allzu verschieden. Sitte, Gewohnheit, Recht liefen zwischen beiden Mächten allgemach nur darauf hinaus, sich gegenseitig den größtmöglichen Verdruß und Tort, ja das gebrannteste Herzeleid anzutun.
»Lieber die Franzosen, solange es ihnen beliebt, im Lande als diese gelehrte Kumpanei von Schlingeln, Lümmeln, Flegeln und Spitzbuben einen Tag auf dem Buckel!« hatte der Klosteramtmann schon seit Jahren geseufzt und geflucht. Ach, leider, ohne zu ahnen, wie bald und wie sehr ihn das Schicksal beim Wort nehmen werde!
Nun hatte er von der ganzen Schule nur noch den Magister Buchius im Hause, aber volle Gelegenheit, es auszuprobieren, ob es sich mit dem Herzog von Soubise, dem Marschall von Broglio, dem Marquis von Belsunce und dem Vicomte von Poyanne behaglicher Kirschen essen lasse als mit den gelehrten und ungelehrten, den jungen und alten Erbnehmern der Zisterzienser von Amelungsborn.
Wir reden mit ihm wohl noch einmal darüber oder hören seine Meinung aus der Vergangenheit. Fürs erste haben wir es vor allen Dingen mit dem Magister Noah Buchius zu tun, den die Klosterschule bei ihrer Auswanderung allein zurückgelassen hatte auf dem Auerberge, wie man beim Auszug, halb des Spaßes wegen, einen alten, zerrissenen Rock am Nagel, einen alten, bodenlosen Korb im Winkel, ein altes, vermorschtes Faß im Keller zurückläßt und das alles dem von seinen Nachfolgern schenkt, der es haben will oder es mit in den Kauf nehmen muß. Der Amtmann hatte den letzten Magister von Amelungsborn mit in den Kauf zu nehmen, nur auf allerhöchsten Spezialbefehl von Braunschweig aus auf Gutachten herzoglichen Consistorii zu Wolfenbüttel. Wir aber heute, wir würden wohl nicht nach dem Herrn Amtmann in die Tage der Vergangenheit zurückgehorcht haben, wenn dem nicht so der Fall gewesen wäre. Wir haben dann und wann eine Vorliebe für das, was Abziehende als gänzlich unbrauchbar und im Handel der Erde nimmermehr verwendbar hinter sich zurückzulassen pflegen. Wir nehmen manchmal das auch etwas ernster, was die Menschheit in ihrer Tagesaufregung nur für einen guten Spaß hält. Oh, wir können sehr ernsthaft sein bei Dingen, die den Leuten höchst komisch vorkommen. –
Ach Gott, ach Gott, sich in einer Welt zu finden, in der man sich gar nicht zurechtzufinden weiß! Das Los war dem armen letzten Magister von Kloster Amelungsborn im vollsten Maße zuteil geworden. Als Sohn des Pastors von Bevern war er geboren worden, in Helmstedt hatte er Theologie studiert, aber sich auf der Kanzel nimmer auf das besinnen können, was er der christlichen Gemeinde aus bestem Herzen sagen wollte. Auf drei oder vier adeligen Gütern zwischen der Weser und der Leine hatte er das bittere Brod des Präzeptorentums des achtzehnten Jahrhunderts gegessen und zuletzt – vor Jahren, Jahren, Jahren – sehr verhungert an die Pforte geklopft, durch die sein Ahnherr vordem in Würden ein und aus gegangen war.
Wohl mit seines Familiennamens und des Ahnherrn wegen hatte man ihm diese Tür nicht auch vor der Nase zugeschlagen, sondern ihn durch sie eingelassen und ihn zuerst auf Probe und sodann aus Gewohnheit, Mitleid, und um immer einen Sündenbock zur Hand zu haben, im Lehrerkonvent behalten. Der Cötus aber hatte ihn sofort bei seinem Taufnamen gefaßt und ihn als »Vater Noah« gewürdigt – wenn auch leider mehr im Sinn des bösen Ham als des braven Sem und des biedern Japhet. Daß die Generationen von Schulbuben, die während seiner Lehrtätigkeit im Kloster vor seinem Katheder in der Quinta vorübergingen, nicht auch so schwarz wurden wie die Nachkommen des schlimmen Ham ob ihrer Versündigungen an ihm, das war ein Wunder. Verdient hätten sie es sämtlich.
Als Dreißigjähriger war er gekommen, nun war er den Sechzigen nahe und hatte also ein Menschenalter im Dienst der hohen Schule zu Amelungsborn hingebracht. Seltsamerweise konnte man eigentlich nicht sagen, daß diese Jahre wie römische Feldzüge doppelt gezählt hatten. Er konnte trotz ihnen ein recht alter Mann werden und »der Menschheit bis ans Hundertste heran auf dem Halse liegen«. Solche Bosheit und Rücksichtslosigkeit hätte sogar ganz zu seinem Charakter gepaßt, der von seiner Mutter Brust an etwas Hinterhaltiges an sich gehabt hatte, etwas Sich-Anhaltendes, etwas Festklebendes, etwas auf keine Manier Wegzuekelndes.
Wenn er ein Held war, so war er ein vollkommen passiver, und diese pflegen es dann und wann vor allen andern Menschenkindern zu einem hohen Alter zu bringen, wenn auch nicht immer zu einem gesegneten.
Dreißig Jahre Schuldienst als der Sündenbock und Komikus der Schule! Der gute Mann mit dem ernsthaften Kinderherzen! Der von Mutterbrüsten an alte Mann mit der scheuen, glückseligen Seele der guten Kinder!
Wer in Kloster Amelungsborn hätte ihn missen mögen, da er einmal da war? Wer hätte nicht sein Behagen an ihm genommen? Wer hätte nicht seinen Ärger oder seinen Witz an ihm ausgelassen, und zwar ohne sich vorher nach seinen Stimmungen für beides ein wenig umzusehen? Im Lehrerkonvent wie im gesamten Cötus wußten sie, was sie an ihm hatten, und wußten ihn danach zu schätzen.
Und doch – doch hatten sie ihn bei ihrem Abzuge nicht mit sich genommen nach Holzminden, in die neue gelehrte Herrlichkeit, sondern ihn zurückgelassen am alten Ort, allein in den leeren Auditorien und Dormitorien, vor den jetzt so gespenstischen Subsellien und in seiner Zisterziensermönchszelle über dem Hooptale als das unnützeste, verbrauchteste, überflüssigste Stück ihres Hausrats! Man hatte einfach eben wieder einmal nicht gewußt, was man tat, – wer kann denn aber im Tumult des Lebens und eines Hauswechsels sich recht auf alles besinnen? Freilich hatte man von Wolfenbüttel aus auch sein Wort dazu gegeben. Dort wußten sie noch weniger, was der Magister Buchius wert war, und glaubten mit seiner Emeritierung ganz das Richtige zu treffen. Dreißig Reichstaler des Jahres ließen sie ihm und die Zelle des Bruders Philemon bis zu seinem Lebensende. Und mit Kost, Licht und Feuerung wiesen sie ihn leider Gottes auf das Klosteramt und den Klosteramtmann an. In Anbetracht, daß man sich mitten in den Kriegen des Königs Fritzen befand und Geld rar war, Kost, Licht und Feuerung auch nicht jedermann vom Heiligen Römischen Reiche garantiert wurden – hätte sich der Magister für den undankbarsten Kostgänger des allgütigen Herrgotts erachtet, wenn er darob, nämlich über die Verweisung an den Herrn Klosteramtmann, sich über einem Murren betroffen hätte. Herr Gott, wo bliebe Dein Titel Zebaoth, Herr der Heerscharen, wenn Du allen Deinen Kostgängern das Gemüte gegeben hättest, ihr Tischgebet und Nachtgebet so zu sagen wie Dein letzter Magister und Quintus von Amelungsborn, der alte Buchius? Du hast es nicht getan, und so ist es nicht meine Schuld, wenn auch diese Historie einmal wieder zum größten Teil vom Gezerr um die Brosamen handelt, so von Deinem Tische fallen, Herr Zebaoth.