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Die sinkende Sonne dieses Tages hatte Phöbe Hahnemeyer im seele- und sinnzerrüttenden Nachgrübeln und ihren Bruder im unruhigen Erstaunen und einigen Unmut über einen Besuch gefunden, den beide Geschwister am Nachmittage zu empfangen hatten.
Die Zeitlichkeit als Weib, in all ihrer Liebenswürdigkeit und Schönheit, hatte das stille asketische Pfarrhaus im Gebirge überfallen, es sozusagen mit Sturm genommen und jedenfalls durchaus nicht vorher um die Erlaubnis dazu angefragt.
Fräulein Valerie, der unruhige Gast, hatte ihr Reittier samt ihrem Knappen nach dem Dorfkruge geschickt und war in die Laube an dem versunkenen Kirchhofe und im Schatten der Kirche eingetreten – lächelnd, sieghaft, fürstlich und vor allem mit herzbezaubernder Freundlichkeit und Natürlichkeit.
Sie hatte nicht einmal das alte, schon biblisch bekannte Mittel gebraucht, einen Trunk aus dem Brunnen für ihren Durst zu fordern, um die Bekanntschaft einzuleiten. Sie hatte einfach gesagt, wer sie sei und wie sie heiße, hatte gesagt, daß sie drunten im Bade wohne und daß sie eine gute Bekannte des Herrn Veit Bielow, des Jugendfreundes des Herrn Pastors, sei.
»Und entsetzlich heiß und staubig und langweilig ist's da unten, und Professor von Bielow, der ein so guter Freund des Herrn Pastors ist und ein so großer Lobredner dieses lieben Fräuleins geworden ist, hat mir so viel von diesem lieben, gastlichen Hause berichtet und von den Felsen und Wäldern und Leuten umher, daß ich widerstandslos das alles selbst kennenlernen mußte. Und nachdem sie mich gestern abend im Hotel um den letzten Funken von gutem Humor gebracht und von jeder Rücksichtnahme auf Papa, Onkel und sonstige Familien- und Gesellschaftsgenossenschaft entbunden haben, bin ich ihnen allen heute morgen in der Frühe durchgegangen und bin unter dem Schutz und Schirm des Eselstoffels hierher gekommen und habe mich in der Wildnis umgetrieben, um frische Luft zu schöpfen. Sehr hungrig bin ich auch; denn nur mit einem Zwieback und einer Düte voll Zuckerwerk bin ich ausgeritten, und was aus mir geworden wäre, wenn mich nicht ein wilder Waldmensch ganz zivilisiert zu seiner Suppe eingeladen hätte, das weiß ich nicht. Ja, Glück habe ich immer; auch dieser wilde Mann war mir schon ein Bekannter; und seine Axt, sein zottiger Bart, seine Reden und seine beiden Kinder durften mir weiter keinen Schrecken einjagen. Herr von Bielow hat uns da unten fast ebensoviel von dem Räkel wie von Ihnen, mein liebes Fräulein Hahnemeyer, erzählt; und da saß ich nun im Herzen der Romantik und tauchte des Räkels schwarzes Brot in seinen Topf gradeso, wie der Herr Pastor hier in jener schlimmen Nacht aus seiner Flasche getrunken hat. Die Leute zutraulich zu machen, ist ein Talent, zu welchem man geboren werden muß, Herr Pfarrer. Ich gehöre von heute an vollkommen zu der Familie Fuchs. Sie hat mir stundenlang das Geleit gegeben, und nun läßt sie herzlich grüßen; und herzlich bitte ich, mir meine Andränglichkeit zu verzeihen. Papa, der leider Gottes stets wenig an seiner Tochter zu loben hat, nennt dies Valeriens grenzenlose, widerstandslose, rücksichtslose Zuversicht im Menschenverkehr, und nun, bitte, fürchten Sie sich nicht zu arg davor! Lassen Sie auch mich wie Herrn Veit Bielow ein Stündchen in Ihrer Stille sitzen und ausruhen!« ...
Nun hatte sich freilich Fräulein Phöbe als rechtes Weib im geheimen gefragt: »Sollte jener Mann wirklich dort unten im Tal unter den Seinigen und den Fremden über mich – über uns so laut gewesen sein?« Aber viele Waffen hatte sie gegen die wunderschöne, lachende, rauschende und doch auch wieder so ernsthaft teilnahmvoll blickende und redende Fremde, die so plötzlich auch zu einer Gastfreundin oder gar einer Freundin werden wollte, nicht gehabt. So hatte Valerie nicht nur ebenfalls in der Laube am alten Kirchhof gesessen und die Unruhe im Turm gehört, sondern sie hatte auch das Haus gesehen, von der Küche im Erdgeschoß bis zu den Fenstern im obern Stock, denn »von dort aus sollte ja die Aussicht so wunderbar schön sein«.
Auch in Phöbes Stübchen und Kämmerchen war sie gewesen und hatte in letzterm die kleine Bleistiftzeichnung der Idiotenanstalt Halah vom Nagel über dem Bett abgehoben und dieselbe sehr hübsch und interessant gefunden. Sie hatte erzählt, daß ihr guter Onkel Anton im Ministerium des Kultus an diesen wohltätigen, barmherzigen Einrichtungen viel Anteil nehme und nach Kräften in seiner Stellung sich bemühe, dafür zu wirken. Über dieses war die junge Schulschwester sehr erfreut und dankbar gewesen. Auch seine Kirche hatte Prudens Hahnemeyer seinem diesmaligen Gast aus der Weltlichkeit aufschließen und zeigen müssen, und die Fremde hatte sich sehr gut und still darin betragen. Sie hatte leise erzählt, daß sie auf Reisen sehr gern in solche kleine Kirchen gehe und sich still in einen Stuhl setze, vorzüglich in katholischen Ländern, wo man nicht erst den Küster mit seinem Schlüsselbund zu holen brauche. Von allerlei Kirchen, an welche diese gegenwärtige Kirche sie erinnerte, hatte sie gesprochen, hatte dann nach den Totenkränzen hinter dem Altar gefragt und die Tafel mit den Namen der drei aus dem Dorfe im Franzosenkriege Gefallenen gelesen. Dabei hatte sie mitgeteilt, daß auch einige von ihren Verwandten mit im Felde gewesen seien und daß ein junger Vetter von ihr, ein guter, prächtiger Junge, auch vor Metz gefallen sei und bei Saint-Privat unter der Garde mit begraben liege. Hierdurch war die Rede ganz natürlich noch mehr auf Leben, Sterben und Begrabenwerden der Menschen gekommen, und da der Pastor Prudens nun wirklich nicht länger Zeit hatte, sondern in sein Studierzimmer zu seiner Predigt zurückmußte, so hatte Fräulein Valerie Fräulein Phöbe sanft unter den Arm genommen und ihr zugeflüstert: »Wie furchtbar ernst und wie böse auf mich Ihr Herr Bruder ist, Liebste! Ich gefalle ihm gewiß nicht recht; – es tut mir leid, aber ich kann wirklich nichts dafür. Und Sie, Sie müssen doch wohl manchmal ein recht schweres Leben bei ihm haben in seiner Schweigsamkeit?! Wir wollen ihn jetzt gehen lassen zu seinen Büchern. Ach, wenn er nur wüßte, wie grade uns bunte Törinnen im öden Lärm und Wirbel da draußen unter unserer Tanzmusik dann und wann die bitterste Sehnsucht nach solcher Stille und Ruhe wie hier um ihn und Sie überkommen mag! Dann sähe er nicht so verdrießlich auf mich hin! Bleiben Sie freundlich, aber lassen Sie auch uns wieder ins Freie. Mich fängt an hier zu frösteln, lassen Sie uns wieder in die Sonne, Phöbe, – in dieser Kühle merkt man es erst, wie sehr die Sonne zu einem gehört, schiene sie uns selbst auf einem Kirchhofe. Er ist zu seinen Büchern, lassen Sie uns auch gehen, Liebe, Süße; – zeigen Sie mir das Grab der Feh.« ...
»Das Grab der Feh?« hatte Phöbe gefragt.
»Das letzte, das jüngste Grab auf eurem Friedhofe, Kind! In der Gesellschaft da unten war viel Redens darüber, was der Staat, die Polizei und Kirche mit dem armen Mann anzufangen habe, der wie Michel Kohlhaas im Streit, aber nicht mit den Junkern, sondern mit seinesgleichen liege. Ich aber möchte den Hügel seines toten Weibes sehen, Fräulein Hahnemeyer!«
Die Stimme, mit der das gesagt oder geflüstert wurde, war plötzlich hart und rauh geworden, der Gesichtsausdruck der schönen, lachenden Fremden strenge und zornig. Überrascht, erschreckt, einen Augenblick mit unsäglicher Angst, blickte Phöbe Hahnemeyer auf den Gast, aber nur einen Augenblick; dann neigte sie das Haupt und wies stumm unter der Kirchtür mit jener ruhigen Anmut, die aus der höchsten Höflichkeitsschule der Welt stammt, den Pfad an und schritt auf ihm voran. Aus Halah-Schmerzhausen wußte sie, wie verschiedenartiges Elend es auf Erden gab und was Menschen auf ihr leiden müssen.
Sie öffnete die kleine Pforte in dem niedrigen Zaun und ließ die Fremde vorantreten: »Dort links, dem Felsen zu.«
Die rote Abendsonne überglänzte wieder die Gräber des Dorfes, die Klippen, Tannen und einzelnen Steinblöcke umher, die Berge und die weite Ebene über die Berge hinaus. Die beiden Mädchen hatten die Schönheit und die tiefe Stille ganz für sich allein.
»Hier hat der Herr die arme Anna Fuchs in seiner Liebe gebettet.«
Valerie, ihr weißes Taschentuch in den erregten, zitternden Händen zerzerrend, flüsterte:
»Ich weiß es ja wohl, wie Sie ihm dabei geholfen haben! Von dem Freunde drunten im Kurhause, im Narrenschwarm habe ich es gehört, auf welche liebe, aber sonderbare Weise Sie es fertiggebracht haben, den Räkel zu zwingen, euch und der dummen Welt zu Willen zu sein. Es verlohnte sich der Mühe!«
»Oh!«
Das war ein Aufblitzen des Schmerzes, des Zornes, wie das die junge lutherische Nonne bis jetzt nimmer in ihrer Seele erfahren hatte. War das jetzt erst die richtige Welt, von der der Herr wußte, daß es den Seinigen besser sei, wenn sie nichts damit zu schaffen hätten? Hatte jener Mann aus dem unbekannten Treiben auch dieses zu einem Unterhaltungsthema drunten im Lärm der Erde gemacht? Hatte er so gesprochen, daß diese Unbekannte, diese ganz unbekannte Fremde, sich das Recht nahm, so hier zu sprechen?
Wie diese rote Sonne blendete! Und was war das? Diese Fremde, diese Unbekannte legte ihr, der armen Phöbe, jetzt heftig und doch wie schwesterlich-zärtlich den Arm um die Schultern und rief weinend:
»Oh, wußtest du genau, was du tatest, als du dich so bandest und ihn an dich?! Dachtest du nicht vorher nach, ob du nicht anderen – einer anderen hierdurch wehtun könntest – für alle Zeit, für ihr ganzes, armes Leben?! ...«
Doch nun war es, als seien die Rollen, wenn dieses der richtige Ausdruck hier sein kann, zwischen den beiden ausgetauscht. Erbleichend und schweratmend machte Phöbe sich frei von dem Arm Valeriens. Streng und hart sah sie ihr in das leidenschaftliche, zuckende Gesicht, und hart und klar war die Stimme, mit der sie fragte:
»Also deshalb sind Sie zu mir gekommen?«
»Ja, ja – ja!«
»So fragen Sie die Tote da unten und den barmherzigen Gott über uns, wem zu Ehren ich meinen Schrecken über den Einfall überwand, wem zuliebe ich hierzu eingewilligt habe. O, und nun gehe wieder und laß mich allein in meiner neuen Verstörung. O, du hattest kein Recht, mich an diesem Orte so zu ängstigen. Gewiß nicht! O bitte, nun gehe zurück zu den Deinigen und laß mich versuchen, hierüber mit meinen Gedanken zurechtzukommen; – ich habe diese Sonne jetzt wie blutige Flammen im Auge und kann mich nicht besinnen. O, wie soll ich nun an diesen Mann denken, dem meine Seele eben noch nur dankbar in ihrer Zuneigung nachfolgte? O, weshalb ist dein Freund nicht seines Weges weitergegangen und hat uns mit unsern Nöten und Ängsten alleingelassen? Gehe du nun wieder und suche dich auch zu besinnen und sprich kein Wort von dieser Stunde und Stelle, bis der Herr uns geholfen hat, bis er dich und mich aus dieser Verwirrung herausgeführt hat!«
Sie stand auf ihrem Eigentum neben der Ruhestelle der Feh und legte die Hände zusammen und sprach, jetzt wieder leise wie ein Kind, das sein Abendgebet spricht:
»Und gib uns deinen Frieden, Amen!«