Wilhelm Raabe
Das Horn von Wanza
Wilhelm Raabe

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Dreizehntes Kapitel

»Ehe einer alles, was so in unserer deutschen Bevölkerung, oder was man sonst deutsche Nation nennt, zerstreut liegt, herausgeholt hat, wird mehr als einer hoffentlich noch oft genug als trübseliger Epigone ruhig sich an der Nase nehmen lassen können. Erzähle dies mal der Welt, Grüner, wie der Alte hier es eben uns vorgetragen hat, und laß dich gelassen einen Nachgeborenen nennen oder erwidere dem zu persönlicher Bemerkung sich Meldenden noch gelassener: Schafskopf!« sprach der Bürgermeister von Wanza, die Frage anknüpfend: »Na, wie findest du diese Wanzaer Geschichten?«

»Sie müssen uns weiter von sich erzählen, Marten«, rief der Student. »Achten Sie gar nicht auf uns und was einer von uns sagen mag! Wir reden nur, wie wir es heute verstehen.«

»Dann sehen Sie gütigst jetzt einmal nach, ob Sie nicht noch einen Namen in Ihren Akten finden, Herr Burgemeister«, sagte der Nachtwächter. »Nehmen Sie es nicht für ungut; es muß nämlich der Ihrige sein! Derselbige spielt in der Geschichte hiesiger Stadt wohl schon länger honorabel mit; aber in meiner Geschichte handelt es sich diesmal nur um einen gewissen aus Ihrer Familie, Herr Burgemeister.«

»Ein Justitiarius Dorsten hat hier ein ander Protokoll unterzeichnet«, sagte Dorsten, wie zögernd ein neues vergilbtes Faszikel aufnehmend; doch der Greis schüttelte den Kopf:

»Das brauchen Sie mir nicht weiter in die Hand zu geben. Ich weiß schon, was es ist. Es wird nur mein damaliger Kriminalprozeß sein, und der Herr Justitiar seliger hat nur seine Pflicht und Schuldigkeit getan, als er mich von wegen meines Pferdediebstahls vom Schindanger ins Loch stecken ließ. Nein, der, den ich hier meine, war der Herr Kandidat Erdmann Dorsten und war nur ein paar Jahre älter als ich und, wenn ich mich nicht irre, Ihr richtiger Großonkel, Herr Burgemeister. Ihre Frau Großmutter kam ja bald nach der Frau Rittmeistern aus Halle an der Saale, und deren Tochter, Ihre selige Frau Mutter, hat seinen Brudersohn geheiratet. Er aber hatte auf die Theologie studiert und ist dabei ein merkwürdig feiner Poete gewesen, wie ich weiß; aber Gedrucktes gibt es nicht von ihm, und an der Elster, am Ranstädter Tor bei Leipzig ist er mir im Arme gestorben, und ich habe seine Brieftasche und Uhr nachher hier in Wanza seiner Verwandtschaft, das heißt seiner lieben Braut, Fräulein Thekla Overhaus, abgeliefert.«

Der Bürgermeister von Wanza hielt sich jetzt den Kopf mit beiden Händen.

»Bleiben Sie mir mit meinem Stammbaum vom Leibe, Marten!« rief er. »Ich sage dir, Grünhage, wie zu Anfang dieses Säkulums die Welt und hiesige Umgegend mit lauter Dorsten bevölkert gewesen sind, davon ist ganz das Ende weg. Ich werde jedesmal konfus wie ein Hammel mit der Drehkrankheit, und die Welt geht mir absolut im Nebel unter, wenn ich mich so an einen von uns erinnern soll. Gott sei Dank, daß ich augenblicklich wenigstens der einzige von der Sorte bin.«

»Sagen Sie das nicht, Herr Burgemeister«, rief der Alte. »Es waren ganz ordentliche Leute unter der Familie.«

»Und sicherlich gehörte zu den letztern der eben von Ihnen heraufbeschworene Onkel Erdmann. In den Akten habe ich ihn nicht; aber eine dunkle Erinnerung dämmert mir freilich jetzt, daß ein junger und, wie die Sage meldet, ungeheuer begabter, also völlig aus der Art geschlagener Dorsten bei Leipzig den Tod für König und Vaterland gestorben ist.«

»Das ist so, Herr Burgemeister«, sprach der Greis ernst, »ich habe ihn gekannt und sterben sehen! In Ihrer Frau Tante Hause, Herr Grünhage, was nachher im Jahre siebenzehn der westfälische Rittmeister Herr Grünhage kaufte, als er sich hier in Wanza besetzte, ist die Giebelstube; in der wohnte der Herr Kandidat –«

»Meine Tante hat mir in vergangener Nacht in der Kammer nebenan ein Bett angewiesen.«

»I, sehn Sie mal!« rief der Meister Marten. »Dann hat sie es gut mit Ihnen im Sinne und traut Ihnen ein verständiges Herze zu. Es ist auch ihr Unterschlupf gewesen durch lange schlimme Jahre. Sie hat auch davon Ihnen wohl schon gesprochen, junger Herr?«

»Ich habe es selber herausgefunden, Marten«, rief der Student, dem Greise leise die Hand nehmend und ihm den andern Arm um die Schultern legend.

»Das freut mich, Herr Studente«, sprach der Alte. »Doch um weiterzureden, so hat mich Herr Erdmann in dieser Stube ihm von meinem tollen Ritt zum Herrn von Schill erzählen lassen, will sagen, mich des genaueren danach ausgefragt. Ins Prison ist er mit mir gegangen durch Wanza, als ich doch hineinmußte, und hat gesagt: Junge, heule nicht ärger auf deinem Ehrengange wie andere Leute. Sitzen mußt du, auf daß dem Gesetze sein Recht werde; aber ach Gott, wenn nur das ganze edle deutsche Volk, vom Schinder jetzt gejagt und gefangen, so froh sitzen und singen könnte wie du, armer Narre. Höre, Martin, jetzt besuche ich dich, bis du frei wirst; aber ist die Zeit da, so hole ich dich ab.« – Meine Herren, und dieses ist alles also geschehen, und seine liebe Braut ist auch mit ihm zu mir in den Teichtorturm gekommen und hat mir immer beim Kommen und Abschied die Hand gegeben. Es ist das Fenster linkerhand über dem Teichtore, wo ich hinter dem Eisengitter meine Strafe für meine Tollheit absaß. Besuchen Sie mich nur einmal in dem Turme, Herr Studente. Er ist jetzo meine städtische Dienstwohnung; und ich kann Ihnen das Loch zeigen, wo man damals die Vagabunden und sonstigen Übeltäter einsperrte und wo Herr Erdmann und Fräulein Thekla Overhaus zum Besuch zu mir kamen. Je ja, anjetzo haben sie den armen Sündern ein besser Quartier im Kreisgerichtsgebäude zurechtgemacht; ich aber habe aus meinem Prison von Anno zehn einen Taubenschlag gemacht, und den Tierchen gefällt es ganz gut drin.«

»Sicherlich werde ich Sie besuchen und mir alles ganz genau zeigen lassen, Meister Marten!« rief der Student. »Erzählen Sie aber weiter.«

»Davon könnte nun eigentlich Fräulein Thekla Ihnen viel besser berichten«, sagte der Alte lächelnd. »Sie werden sie ja dann und wann bei der Frau Tante antreffen oder vielmehr die Frau Tante bei ihr. Sie spricht auch ganz gern von der alten Zeit und dem Turm, obgleich sie so großes Herzeleid bald darauf erfahren mußte, daß sie es bis heute noch nicht verwunden hat, wenn es heute ihr freilich nur so sein wird, als habe sie vor langen Jahren in einem traurigen Buche davon gelesen, wo sie denn jetzt selber wie ein Buch so schön davon reden kann.«

»Diese Braut deines Großonkels lebt auch noch, Dorsten?« rief Grünhage.

»Hat sich bis auf die Augen ganz gut konserviert und hat auch die Brieftasche und die Uhr vom Ranstädter Tor noch in ihrer Kommode. Es ist eine Kuriosität diese Uhr, die am neunzehnten Oktober achtzehnhundertdreizehn, Punkt ein Uhr, grade als die hohen Verbündeten in Leipzig einzogen, stehengeblieben ist. Manchmal kommt es einem vor, als sei die alte Jungfer gleichfalls in der nämlichen Stunde, an dem nämlichen Tage und in dem nämlichen Jahre stehengeblieben. Na, du wirst ja sehen. Die Brieftafel wird sie dir aber nicht zeigen. Marten sagt, es seien allerlei Verse darin durch Blutflecke ausgelöscht. Ich habe schon alle Künste angewandt, aber vergebens; die Alte läßt kein profanes Auge von heute drüber.«

»Ja«, sagte der Meister Marten Marten, »das ist so, junger Herr. Es ist ihr höchstes Heiligtum, und sie will es mit in ihren Sarg haben. Eines von den blutigen Liedern ist aber in dem Teichtorturme gemacht und handelt von meinem Ritt zum Herrn von Schill. Ich verstehe wohl nichts davon, aber ich denke doch, es ist eigentlich schade, daß es niemalen gedruckt in den Büchern herumgehen kann; denn da wäre ich jetzt auch wohl als Nachtwächter in Wanza ein berühmter Mensche, und für des Herrn Reitenden Försters Eulemann blinden Dummkollerigen wäre es gleichfalls eine hohe Ehre.«

Der Bürgermeister von Wanza lachte; aber sein Freund lachte nicht. Der ging ein paar Male in dem Amtszimmer auf dem Rathause in Wanza hin und her, lüftete an seiner Krawatte und kam wieder zu dem grünen Tisch mit dem verstaubten Aktenbündel. Der Nachtwächter sah ihn freundlich an und sagte:

»Wenn Ihnen meine Historien in Wahrheit nicht langweilig sind und weil mich der Herr Burgemeister, mit allem Respekt, doch nur um sie heute morgen allhier aufs Rathaus beordert hat, so will ich weitergehen mit den Papieren hier auf dem Tische. Es ist mir nämlich jetzt selber zu kurios, daß da so vieles hier auf dem Rathause von mir altem Menschenkinde im Fach gelegen hat und für die Ewigkeit aufgeschrieben ist zu seiner Zeit, wo ich es freilich selber habe manchmal schreiben sehen, freilich ein paar Male auch mit dummkollerigen Augen und halb blind vor Tränen und Menschenelend.«

»›Anbei ein Paket mit gleichlautender Adresse‹, sagt gewöhnlich der weise Seneka, wenn er an den jungen Menschen, den Lucilius, schreibt, und schiebt eine Redensart aus dem Epicurus in den Brief, ehe er an die Freimarke leckt. Nehmen Sie hin, Marten«, sagte Dorsten und reichte dem Greise abermals ein Dokument aus seinem Leben.

»Das ist ja doch Herrn Erdmanns Handschrift!« rief der Meister Marten verwundert. »Die kenne ich, wie ich ein Weizenfeld von jedem andern bestellten Acker unterscheiden kann!« rief er und versuchte zu lesen, brachte es aber nicht mehr fertig. »Es ist zu klein. Er schrieb immer so 'ne feine Hand; aber ihr Herren, liebe Herren, ich könnte es doch nicht lesen!«

Das Blatt zitterte wirklich zu sehr in seinen Händen, und der Herr Bürgermeister nahm es zurück und sagte, gegen den Studenten gewendet:

»Es ist eine Zuschrift meines Herrn Großonkels an den hiesigen Magistrat von damals, in welcher er für sämtliche bei dem Meister Rasehorn in betreff des Jungen mit Namen Martin Johann Anton Marten für Unterkunft, Atzung, ruiniertes Handwerkszeug, Kleidung usw. auf gelaufene Kosten aufkommt und erbötig ist, besagten ›Knaben‹ von der Stadt Händen zu nehmen, besagten Meister Rasehorn in allen vernünftigen Dingen schadlos zu halten und (wie er hochlöblichem Magistrat mit ziemlicher Ironie unter die Nase reibt) wo irgend möglich, dem Gemeinwesen zu Nutz, der Stadt Wanza an der Wipper aus dem Stadtkinde Martin Marten trotz allem doch noch einen wohlgesinnten Mitbürger heranzuziehen. – Bürgermeister, Rat und Bürgerschaft haben hierauf hin sofort grinsend ihre Hände in Unschuld gewaschen und das unglückselige Geschöpf Marten Marten vom Teichtorturm aus cum omnibus appertinentiis, mit allem gegenwärtigen Besitz und allem, was von Zukunftshoffnungen an ihm hing, dem Herrn Kandidaten Erdmann Dorsten eilfertigst überwiesen und das Geschäft so rasch als möglich schriftlich abgemacht. Daß nachher ein jeglicher vom Rathause mit erleichtertem Herzen nach Hause und erhöhtem Appetit zu Tische gegangen ist, glaube ich, ohne daß ich es hier schriftlich in den Akten habe. So schlimm ist der Mensch nicht, daß er sich nicht erleichtert fühlen sollte, wenn er die Verantwortlichkeit für irgendeinen Menschenjammer mit Anstand auf die Schultern eines gutwilligen andern hat abladen können. Was meinst du, Grüner?«

»Der noble Mensch, der Kandidat Dorsten, hat Sie doch sofort persönlich vom Turm abgeholt?« fragte der Student den Greis, der jetzt ganz zusammengefallen auf dem Stuhle saß, mit gesenktem Kopfe und den Händen auf den Knieen.

Er sah aber langsam auf und sagte leise:

»Nein. Er ging erst auch zu Tische. Er aß nämlich damals im Overhausschen Hause. Es war an dem Tage Jahrmarkt und Viehmarkt in Wanza; und nachmittags so zwischen drei und vier Uhr, als der Trubel in der Stadt am größesten war und alle Bürger und die Bauern vom Lande auf dem Markte und in den Straßen und die Honoratioren an ihren Fenstern, da ist er mit Fräulein Thekla gekommen. Und ich bin zwischen ihnen gegangen durch Wanza, und sie haben mich jeder an einer Hand gehalten, durch die Menschenmenge hin und an den Häusern vorbei. Liebe Herren, es waren damals die zwei stolzesten Herzen in Wanza, und auf diese Weise dachten sie mich am leichtesten wieder ehrlich zu machen bei den Leuten nach meiner Dienstzeit auf dem Schindanger!«

»Und es wurde so?« rief der Student mit fliegendem Atem und nassen Augen; aber der Greis schüttelte wiederum den Kopf:

»Ach, Herre, junger Herre; da kennen Sie doch die Leute noch schlecht! Das hat knapp und mit Mühe das Jahr dreizehn fertiggebracht!... Wenn auch wohl die Verständigen sich bedachten und sich sagten: ›Was kann der Junge dafür?‹, so war das doch nichts gegen die Menge, die sich gar nichts vernünftig überlegte. Meister Consentius der Stellmacher und Meister Melzian der Schneider haben es wohl auf Andringen des Herrn Kandidaten mit mir probiert; aber der Geruch steckte mir mal im Rocke, und es waren allemal immer die Jungen und die Gesellen, die ihn herausrochen und mit mir in Worten und Sticheleien anbanden, bis ich mit der Faust darauf antwortete. Der Herr Burgemeister hat ganz recht, sein Vorfahrer und der löbliche Magistrat von damals konnten wohl froh sein, daß sie mich auf das freundlichste und nicht bloß stolzeste Herz in Wanza abgeladen hatten. Der Herr Erdmann hat mir auch das Messer aus der Faust reißen müssen, als der letzte Lump unter mir lag, der mich bei dem Meister Bünning einen Schinder geheißen hatte; und da hat seine liebe Braut gesagt: ›Es hilft nichts, Erdmann; und der heilige Krieg läßt noch immer auf sich warten; – jetzt tu ihn zu uns; mein Vater wird ihn als Ausläufer in sein Geschäft nehmen, und ich kann ihn da auch besser unter Augen behalten.‹ – So bin ich zum Herrn Kaufmann Overhaus als Hausdiener gekommen, und unter den Augen von Fräulein Thekla Overhaus und Herrn Erdmann bin ich zu einem wirklichen Menschen geworden, bis die Zeit erfüllet war und alles rundum aufbrach gegen die Franzosen –«

»Und das ganze deutsche Volk sich wieder ehrlich machte!« rief der Student.

»So wird es wohl sein«, meinte der Greis lächelnd. »Zum Henker war ihm die Freude an sich selber freilich durch eine ziemliche Reihe von Jahren gewesen. Wie der Herr Kandidat in einer Nachmittagspredigt von den Wanzaern Abschied nahm und von seiner Giebelstube im jetzigen Hause der Frau Rittmeistern herunterkam und mich, ganz wie er es versprochen hatte, von dem Overhausschen Kornboden abrief, das wird Ihnen Fräulein Thekla viel besser erzählen, als ich es kann. Ich will nur noch sagen, daß mehr als ein Wanzaer Bürgerssohn auf dem Marsche oder in der Schlacht, ohne sich zu zieren oder zu ekeln, aus meiner Feldflasche einen guten Schluck getan hat; und daß mein lieber Herr Erdmann seinen allerletzten Trunk auf Erden auch daraus getan hat, dies habe ich wohl schon gesagt. Der teure, liebe Herr hat leider Gottes nur bis ans Ranstädter Tor bei Leipzig mit uns kommen dürfen. Den Totenbrief, den ich damals, so gut ich's vermochte, nach Hause schreiben mußte, den haben Sie nicht unter den Papieren hier, Herr Burgemeister, aber Fräulein Thekla hebt ihn heute noch auf bei ihren andern Andenken in der Kommode. Er hat mir denn wohl auch nachher ein bißchen mit zu meinem jetzigen Ruhe- und Nachtwächterposten verholfen; denn die Overhaus waren Anno achtzehn und neunzehn noch ein vielvermögend Geschlecht in hiesiger Stadt. Zum Besinnen auf ein feines Briefschreiben bin ich aber damals nicht gekommen, selbst wenn ich's sonst hätte prästieren können. Die Herrens wissen's ja selber viel besser als ich, wie es damals zugegangen ist. Bei Tag und Nacht weiter – nicht aus den Kleidern – in Schweiß und Blut – vorwärts und rückwärts und wieder vorwärts durch den französischen Winterdreck und Schnee und Regen bis zum erstenmal hinein in ihr Paris! Und wie als wenn mir damals mein Dienst beim Meister Rasehorn gutgetan und mir die Haut hörnern gemacht hätte: keine Kugel, kein Kolben oder Reitersäbel hat mir was angehabt. Das war mir erst für das sakramentsche gluhe Nest Sankt Amand, was, wie Sie wissen, zu der großen Bataille bei Ligny gehörte, aufgespart. Da legt's mich hin zu den andern in den Brand und Qualm, und ich konnte nur sagen: ›Siehste, Marten, nun nimm dir ein letztes gutes Exempel an deinem Herrn Erdmann, deinem liebsten Herrn und einzigen Freund und rechten Lehrmeister.‹ – Aber, meine Herren, gerecht muß der Mensch immer sein, Prügel haben wir damals gekriegt, daß sich kein Mensch zuerst, und der alte Blücher auch nicht, recht besinnen konnte, wie es eigentlich zuging, und so haben es denn eben auch nur französische Menschenkinder sein können, die mich unter dem brennenden Gebälk und übrigen Schutt vorgezogen haben und mich aufsparten für Wanza und bis an den heutigen Tag zum Nachtwächterdienste. Aber rückwärts und vorwärts ist's wiederum in der Weltgeschichte gegangen, wie es auch heutzutage noch geht; und ich will's doch keinem zärtlichen Gemüte und Leibeszustande wünschen, so von einem Verbandplatze auf den andern geschleppt zu werden! Erst in dem Lustschlosse Laeken bei Brüssel habe ich das nichtsnutzige Bein für eine längere Zeit ruhig ausstrecken dürfen; aber in Deutschland habe ich doch auch noch langweilig genug im Spital gelegen, bis ich im Jahre achtzehnhundertachtzehn nach Wanza heimhumpeln durfte.«

»Das Heimweh kann ich mir aus eigener Erfahrung ganz genau vorstellen!« brummte der gegenwärtig in Wanza regierende Bürgermeister.

»Nein, Herr Burgemeister«, sagte der Meister Marten, »es war kein Heimweh; es war Krankheit und Kummer und Verlassenheit von meinem Herrn Erdmann Dorsten, und es war, weil ich doch noch mit Fräulein Thekla von unserm Bräutigam und sieghaft Gestorbenen sprechen mußte. Sonst hatte ich nichts in der Stadt zu suchen und wäre wohl ebensogern unterwegens in einem Graben liegengeblieben. Ich will lieber nicht wünschen, daß einer von denen, die neulich aus Böhmen auf der Eisenbahn oder sonst als invalid heimgekommen sind, so wenig Sehnsucht mitgebracht hat als ich zu meiner Zeit aus Flandern. Allen Siegereinzug hatte ich ja auch verpaßt, und so erwartete mich nur Fräulein Thekla in ihrem schwarzen Kleide, und auch nicht am Tor, sondern in ihrer stillen Stube, und ihre selige Frau Mutter ging zuerst hinein und sagte: ›Kind, Marten ist da; willst du jetzt mit ihm sprechen, oder soll er wiederkommen –‹«

»Denn er bleibt jetzt in Wanza!« sagte Dorsten, und zwar leisern Tones, als wie bis jetzt sonst irgendwo in diesen Blättern von ihm angewendet wurde.

»Sie haben auch das vor allem übrigen freilich wohl schriftlich da in Ihren Akten und Papieren, Herr Burgemeister!« rief Meister Marten Marten ganz vergnügt und munter. »Je ja, er blieb jetzo in Wanza, der närrische Tropf, und zwar mit Hülfe seiner Freunde! Es war ihm selber ein Wunder, wie viele es doch gab, die es ganz gut mit ihm meinten! Zuerst freilich mußten sie noch eine ziemliche Weile an mir herumkurieren; doch da lag ich wie ein Kind im Overhausschen Hause, und kein krankes Kind konnte es besser haben. Lassen Sie uns nur nicht auch davon noch anfangen, denn dann kommen Sie fürs erste noch nicht zum Mittagsessen, meine Herren! Fräulein Thekla saß immer an meinem Bett und ließ sich erzählen von Tag zu Tag von ihrem Bräutigam und wieviel Freude er in seinem Kriegsjahre dreizehn gehabt hatte bis zu seinem edeln Tod. Da sollte ich jedes Wort noch wissen, was mein lieber Herr und Freund auf dem Marsche oder im Biwak gesprochen hatte. Und, wie es so kommt, wenn einer einen so recht aus zu Tode betrübtem und doch freudigem Herzen ausfragt und, sozusagen, zum Erzählen selber mithilft: ich habe auch alles noch gewußt, so gut es eben ein solch armer unerfahrener Bursch, als ich damals war, bei sich aufbewahren kann. Währenddem haben die Doktors die Kugel in meiner Lende immer noch vergebens gesucht, und als sie sie gar nicht finden konnten, die Sache endlich aufgegeben, das Loch heilen lassen und gemeint: ›Da ist weiter keine Hülfe, Marten; probiere Er's und laufe Er meinetwegen zu – Er wird nicht der einzige sein die nächste Zeit hindurch, der mit einem Stück Blei im Leibe herumzulaufen hat.‹ – Dies habe ich mir denn gern sagen lassen, und mit dem Laufen ist's auch allgemach immer besser gegangen. Anfangs am Stock und nachher am Spieß –«

»Und mit dem Horn, um, wenn das Wetter umschlug und es mal stärker im Pedal kniff, die Wehmut hineinzututen«, sagte Dorsten. »Sub dato 25. September 1819 habe ich Ihre Bestallung zum hiesigen Wächter nächtlicher Ruhe und Ordnung laut Magistratsbeschluß von meinem Amtsvorgänger (ich habe außer ihm aber auch noch ein halb Dutzend anderer vor mir gehabt, Grünhage; und es scheint also ein merkwürdig ungesunder Posten zu sein) zu den Akten gegeben.«

»Stimmt ganz genau, Herr Burgemeister. Von Michaelis neunzehn an habe ich meinen Dienst angetreten und bis heute, wo wir neunundsechzig schreiben, nach besten Kräften versorgt. Gestohlen ist wohl dann und wann, ohne daß ich's hindern konnte; aber ich glaube, doch nicht mehr als unter einer andern Regierung. Dummheiten sind auch wohl vorgekommen. Anno dreißig und achtundvierzig hat es nächtlicherweile allerhand Lärm in den Straßen gegeben. Von Bränden, Ungewittern und wie oft ich außeramtlich den Doktor oder die Hebamme herausgeläutet habe, brauche ich gar nicht zu reden. Alles kommt immer wieder, wenn es dem Menschen auch noch so neu scheint.«

»Aber eines kam doch nur einmal vor während Ihrer Amtstätigkeit, Meister Marten!« rief der Neffe Bernhard Grünhage.

»Und das wäre, lieber junger Herre?«

»Daß mein seliger Onkel, der Rittmeister Grünhage, meine Tante Sophie, seine junge Frau, von Halle an der Saale nach Wanza an der Wipper brachte!«

»Da haben Sie recht«, sagte der alte Mann. »Es mag so was wohl auch häufiger passieren in der Welt; aber ich habe nur ein einziges Mal dabei helfen können; und es war ein Glück, daß ich gleich am andern Morgen Fräulein Thekla dazurufen konnte. Mit meiner Hülfe wäre wohl wenig auszurichten gewesen.«

»Du, es wird sofort drei Viertel auf eins schlagen. Kommst du eine Minute nach eins zur Suppe, so ißt du am Katzentisch, wenn sie dir nicht die Tür ganz vor der Nase zuschlägt«, sprach Dorsten mit der Uhr in der Hand. »Ich mache dich als Freund darauf aufmerksam, mein Sohn. Sie aber, alter Freund, fordere ich hiermit auf, sich mal etwas – recht Hübsches zu wünschen: die Frau Rittmeisterin Grünhage hat mir den Wunsch ausgesprochen, das Datum des fünfzigjährigen Jubiläums Ihres Amtsantrittes recht vergnüglich zu feiern; und amtlich, Nachtwächter Marten, habe ich Ihnen hierdurch mitzuteilen, daß Bürgermeister, Rat und Bürgerschaft der Stadt Wanza keineswegs abgeneigt sein werden, sich nach Gebühr zu beteiligen. Sollten Sie also, Nachtwächter Marten, speziellere Wünsche für den besagten Tag haben, so bin ich gern bereit, dieselben in der heute nachmittag um vier Uhr stattfindenden Magistratssitzung vorzutragen und zu befürworten. Dixi.«

»Das heißt, Meister Marten, er will gesprochen haben«, rief der Student; »aber für das, was er und ich und meine Tante Grünhage und so viele andere nach dem, was ich jetzt gehört habe, zu sagen haben, dafür lassen sich so leicht keine Worte finden. Unbedingt aber rechnen Sie mich mit zu denen, die Ihnen vom ganzen Herzen gern auch einen Gefallen tun möchten!«

Der Greis blickte fast ängstlich und jedenfalls nicht wenig erstaunt von einem der beiden jungen Menschen auf den andern.

»O du liebster Himmel, es ist wohl nur Ihr Spaß? Was sollte ich mir so spät am Tage auch wohl noch Besonderes wünschen?«

»Unser Spaß ist es gar nicht, sondern der allerbitterste Ernst von uns, Wanza und Umgegend. Also, frisch von der Leber weg, Marten!... Oder wollen Sie ein paar Tage Bedenkzeit?« rief Dorsten.

Da wiegte der alte Knabe den Oberkörper hin und her wie ein jung Mädchen, das in der Tat einen Herzenswunsch auf der Seele hat, aber am liebsten ihn mit Gewalt erraten lassen will. Seine Mütze zerrieb er fast vor Verlegenheit in den harten knöchernen Händen.

»Na denn, Herr Burgemeister, einen Wunsch habe ich freilich diese letzten Jahre mit mir herumgetragen; aber, Herr Burgemeister, Sie sind selber schuld daran, wenn ich mir herausnehme, Ihnen damit zu kommen. Zu erfüllen steht das, was ich freilich lieber als alle Festivitäten und unverdienten Ehren möchte, ja doch wohl nicht, und Sie werden nur sagen können: ›Marten, Sie sind und bleiben ein närrischer Kerl!‹«

»Das sind und bleiben Sie freilich«, lachte der Bürgermeister von Wanza; »aber grade deshalb mit will Wanza wissen, wodurch es Ihnen für Ihre fünfzigjährige treue Dienstführung einen Gefallen tun kann. Heraus damit!«

»Mein altes Horn möchte ich wieder in meinem Dienst blasen dürfen, und wär's auch nur für eine einzige Nacht!« platzte der Alte heraus. »Der Magistrat hat gewißlich seine Gründe gehabt, und Mode mag es auch schon lange nicht mehr gewesen sein; aber mir ist doch eigentlich meine halbe Seele damit genommen worden, und ich gehe seit der Zeit, da ich nur pfeifen und rufen darf, als ein halber Mensch herum. O lachen Sie nur, meine Herren!«

Es lachte keiner von den beiden, selbst Dorsten nicht. Der seufzte nur, legte die Hände auf den Rücken und starrte seinen Freund an:

»Was sagst du dazu?... Na, eines weiß ich genau, Marten. In Ihre Personalakten gehört dies auch, und zwar als das Beste von Ihnen, was bis dato drin steht!«

Aber bei dem Greis war das Eis völlig gebrochen, und er fand in sich kein Hindernis mehr, seinen letzten innigen Lebenswunsch dem nüchternen modernen Tage gegenüber so fließend als möglich zu begründen. Der Student fand ihn gottlob rührend dabei, und der Regierende setzte sich und hörte ihn stumm an.

Da stand er vor den zweien, der Meister Marten Marten, jeder Zoll ein Nachtwächter.

»Sehn Sie mal«, sagte er, »es ist ja wohl Eigenturn der Stadt, das Horn; aber abgefordert hat es mir keiner als mal Putferkel, der städtische Schweinehirte, und dem hätte ich es nicht hingegeben und überlassen, und wenn's mich zu dem Dienst mein Leben gekostet hätte. Nachher ist es in Vergessenheit geraten bei der Kommune, obgleich ich doch glaube, daß die ältern Leute in der Kommune in schlaflosen Nächten sich doch noch dran erinnern. Und so hängt es immer noch über meinem Bette im Teichtor, Herr Burgemeister, und wenn es sprechen könnte, so würde es ganz andre Dinge erzählen als wie ich heute, ohne daß ich weiß wie, eben von mir gegeben habe. Gut fünfundvierzig Jahre habe ich es blasen dürfen ohne eine Reparatur auf die Stadtkasse. Und der, der es vor mir geblasen hat, hat es auch schon von seinem Vorfahrer überkommen. Wohl mehr als hundert Jahre hat Wanza in der Nacht darauf gepaßt. Fragen Sie nur die Frau Rittmeistern, fragen Sie Fräulein Overhaus, fragen Sie den alten Rat Lammberg in der Schützenstraße, der auch schon über die Neunzig ist. Aber Sie können auch jüngere Leute, junge Frauen und dergleichen fragen, ob sie sich aus ihren Nächten nicht auch noch auf des Meister Marten altes Tuthorn besinnen!... Herr Burgemeister, womit ich ein Jubiläum verdient haben sollte, weiß ich nicht; aber wenn Sie und die Stadt und die liebe Bürgerschaft mir in dieser Michaelinacht dieses Jahres neunundsechzig wirklich und wahrlich eine Freude antun wollen, so lassen Sie mich mein altes Tuthorn wieder blasen und setzen Sie es wieder ein in sein altes gutes Recht! Ich weiß es ja ganz gut, wie sich die Welt mit ihren Gewohnheiten ändert und daß es eigentlich nur eine Schrulle von mir ist; aber – Sie haben einen alten Mann gefragt, und so müssen Sie es auch nicht übelnehmen, wenn ein alter Mann, und einer, den Sie gar zum fünfzigjährigen Jubilanten machen wollen, von sich aus Antwort gibt. Mit meinem Lohn, Behausung und Deputaten hier in meinem Amte bin ich ja nach aller Notdurft versehen und kann mir wirklich nichts denken, was ich mir noch dazuwünschen könnte, als vielleicht, wenn die Zeit da ist, einen guten Tod und einen ordentlichen Nachfolger im Amte.«

»Ein Uhr! Herrgott noch mal – die Sitzung ist geschlossen!« rief der Wanzaer Bürgermeister, die den Meister Marten Marten, den städtischen Nachtwächter, betreffenden Aktenstücke zusammenraffend und den staubigen Bindfaden von neuem drumknüpfend. »Wie du dich bei deiner Tante entschuldigen wirst, überlasse ich dir, Grüner. Gottlob, mich erwartet bis jetzt noch nicht Mathilde heiß mit der kalt gewordenen Suppe. Noch gehe ich nach dem Bären zum Essen; – und wenn wir uns heute abend daselbst treffen, so wird mir dies sehr erfreulich sein, Grünhage. Was Sie anbetrifft, Nachtwächter Martin Marten, so wissen Sie, daß heute nachmittag um vier Uhr Magistratssitzung stattfindet. Ich werde jedenfalls darin Ihr korruptes Gelüste zu Vortrag bringen. Geben Sie mir aber erst die Hand, ein famoser Kerl sind und bleiben Sie, und solange ich Bürgermeister in Wanza bin, tute ich mit Ihnen in ein Horn. Hujahn, die Klappe zumachen! Nicht wahr, Hujahn, Sie sind auch imstande, heute mal wieder allerlei bei Ihrer Gattin auf den Herrn Burgemeister zu schieben?«

Der Neffe der Frau Rittmeisterin Grünhage stürzte vom Rathause nach dem Hause am Markte in weiten Sprüngen. Es war diesmal nicht seine Schuld, wenn die Tante ein wenig auf ihn gewartet hatte in ihrer Gastfreundlichkeit.


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