Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

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Fünftes Kapitel

Die kleine Gesellschaft in dem bilderreichen Hinterstübchen der Apotheke ›Zum wilden Mann‹ war dicht am Tische zusammengerückt. Sie wußten, daß der alte Freund nicht übel zu erzählen verstehe, doch so wie heute hatte er seine Gabe noch nicht gezeigt. Dem Förster Ulebeule war die Pfeife ausgegangen, Schwester Dorette hielt die Hand des Bruders fest in der ihrigen, und der Pastor loci klopfte leise mit der Dose auf dem Tische und sagte:

»Also endlich! – Kein Mensch sollte es doch für möglich halten, daß einen solch braves Möbel wie ein weichgepolsterter Lehnstuhl dreißig Jahre lang auf die Folter spannen könne. Lieber Kristeller, dieser Sessel da hat mich in der Tat dreißig Jahre lang auf die Folter gespannt!«

Sie lachten trotz ihrer Erregung, und der Herr Philipp lachte mit und erzählte dann weiter.

»Der Sommer ging, der Herbst kam. Es wurde September, und es wurde Oktober, und die Pracht und Fülle der Natur ging für dieses Jahr auf die Neige. Mein Prinzipal, der zur Zeit der Äquinoktialstürme stets anfing, an Gesichtsschmerzen zu leiden, war gezwungen, mich nun fester an die Offizin zu binden. Es ging wohl ein Monat hin, ehe er mich wieder in die Weite schickte – am 15. Oktober aber jagte er mich drei Meilen weit nach jener berühmten Felsgruppe, die ihr alle unter dem Namen der Blutstuhl kennt, einer Moosart wegen, die um diese Zeit dort blühte, und zwar nur dort allein.

Ich war damals auf dem Blutstuhle, doch nachher nicht wieder. Ich habe eine Furcht vor dem wilden Orte behalten, trotzdem daß damals mir das gegeben wurde, welches dieses Haus in meinen Besitz brachte und mir das Leben, wie ich es geführt habe, möglich machte. Das Rätsel liegt noch ungelöst da. Wenn ihr, meine Freunde, nachher euren Scharfsinn daran prüfen wollt, so soll es mir lieb sein. Ich habe es aufgegeben, nachdem ich ein Menschenalter darüber habe nachgrübeln müssen, und jetzt wird es ja auch wohl gleichgültig sein, ob einer hier im Kreise noch zuletzt das rechte Wort findet. Jenen Tag aber, diesen mir bedeutungsvollen 15. Oktober, werde ich euch nun mit allen seinen Umständen so genau als möglich schildern, und ihr müßt es euch schon gefallen lassen.«

»Kein Hase macht neugieriger seinen Kegel als ich!« rief der Förster.

»Lieber Gott, welch ein Abend!« sagte der geistliche Herr. »Hören Sie nur diesen Sturm! O erzählen – erzählen Sie!«

In der Tat ein stürmischer Abend! Je weiter. die Nacht vorschritt, desto wilder tobte es von Norden her gegen das Gebirge heran, und die Apotheke ›Zum wilden Mann‹ bekam ihr volles Teil.

»Solch ein Wetter war es an jenem Tage nicht«, sagte Herr Philipp in seinem gewohnten Tone, ruhig und gelassen, wie jemand, der eben ein Menschenalter Zeit hatte, ein Erlebnis zu überdenken. Er wurde aber auch noch einmal unterbrochen, denn es kam ein Kunde und holte für einen Groschen Bittersalz und setzte eine Viertelstunde lang dem Verkäufer auseinander wozu – was beides auch Zeit hatte bis morgen, wie Ulebeule mürrisch bemerkte. Die Schwester jedoch benutzte die Pause, die chinesische Schale auf dem Tische von neuem zu füllen, und endlich erfuhren die Freunde doch, was der Apotheker Kristeller an jenem 15. Oktober erlebte.

»Um neun Uhr morgens zog ich mit meinem Auftrage, das Frühstück in der Tasche, die Botanisierbüchse auf dem Rücken, vom Hause, das beiläufig das Zeichen ›Zum König David‹ führte, ab; bei stiller Luft und dichtem Nebel und diesmal im höchsten Grade geknickt und gebrochen. Ich hatte Grund dazu, melancholisch auch in die schönste Witterung hineinzugehen! Am Abend vorher hatte Johanne's Onkel mich bitten lassen, ihn doch einmal auf ein Viertelstündchen zu besuchen, und ich hatte ihn besucht, und er hatte mich zwei Stunden lang unterhalten. Zwei Stunden lang hatte er mir eindringlich zugeredet, endlich doch ein Einsehen zu haben und mir meine Lebensaussichten einmal recht klarzumachen und seine Nichte – nicht unglücklich! Kurz gesagt, er hatte mich aufgefordert, meiner Braut ihr Wort zurückzugeben, und dafür seiner – des Onkels – ewigen Freundschaft und Zuneigung gewiß zu werden. Und der Mann hatte in allem, was er sagte, recht gehabt, und er hatte nicht nur verständig, sondern auch gutmütig gesprochen. Ohne die geringste Leidenschaft und Zornmütigkeit hatte er mir seine und der Welt Meinung vorgetragen: er hatte nichts gegen mich einzuwenden – ich war ihm sogar sehr lieb und wert – und doch! Ich war eben nach Hause gegangen oder vielmehr getaumelt und hatte die Nacht über auf dem Stuhle vor meinem Bette gesessen und die Stirn mit beiden Händen gehalten – durch dieses verständige Zureden unfähig zu allem und jedem Überlegen und vernünftigem Überdenken: daß Johanne, meine arme, liebe Johanne, diese selbige Nacht durchweint habe, wußte ich dazu. Betäubt, verstand ich den Prinzipal, der ebenfalls an Schlaflosigkeit litt, kaum, als er schon um fünf Uhr mit dem Nachtlichte in der Hand an meine Tür kam, um mir seinen neuen Herzenswunsch mitzuteilen und mir seinen Auf trag für den Tag zu geben. Verdrießlich ging er, nachdem ich ihn endlich begriffen hatte, seinen verbundenen Kopf schüttelnd, und ich hörte ihn noch auf der Schwelle deutlich genug murren:

›Auch der wird mir wieder mal unter den Händen zum Narren!‹

›Schreiben Sie dem Mädchen einen braven, ehrlichen, freundlichen Brief, in welchem Sie das Nötige mit etwas Poesie meinetwegen sagen. Ich will ihn abgeben und das Meinige, ohne Poesie natürlich, beimerken – und dann lassen Sie dem Jammer und meinetwegen auch sich selber in Ihrem Elend alle Zeit – es wird schon alles recht werden&‹, hatte mir der Onkel vorigen Abend zum Beschlusse seiner schönen Rede geraten – und dabei sollte man denn nicht zum Narren werden!! – Das blühende Moos drei Meilen ab vom ›König David‹, dem Hause des Herrn Onkels und meiner Braut, war unter diesen Umständen in Wahrheit der einzige Trost, der mir in der Welt wuchs. Ein Tag wurde wenigstens durch den Weg und das Aufsuchen für mich und mein armes Kind gewonnen, und wie sich der Mensch in seinen Nöten an den einen Tag, die eine Stunde, die eine Minute klammert, wer hätte das nicht schon in irgendeiner Weise erfahren?

Ich schlich selbstverständlich unter Johannes Fenster vorbei. Mein Mädchen erblickte ich nicht; aber den Onkel sah ich. Er stand mit der Pfeife hinter den Scheiben und schien nach dem Thermometer zu sehen; seine eigene Temperatur hatte sich seit gestern abend nicht verändert, denn er zog höflichst die Nachtmütze ab und erhob dabei den Zeigefinger. Der Gestus konnte nichts anderes bedeuten als: Vergessen Sie nicht, mein Bester, was ich Ihnen gesagt habe; ich bestehe darauf und weiß, was uns allen gut ist – ich bin ein alter erfahrener Kerl und kenne die Welt ein wenig genauer als ihr guten, jungen, leichtsinnigen, unerfahrenen Leute. – Auch ich grüßte so höflich und submiß, wie ich noch nie einen Menschen gegrüßt hatte, und schleppte mich seufzend matt weiter durch den grauen Dunst des Herbstmorgens.

›O wie voll Dornen ist diese Werkeltagswelt‹, läßt der englische Poet Shakespeare eine seiner erdichteten Personen in einem seiner Stücke sagen. Ich habe diesen Poeten immer gern gelesen und besitze eine Übersetzung von ihm und habe mir vieles darin unterstrichen. Das Wort von den Dornen und der Alltagswelt fiel mir diesmal auf die Seele, und ich wiederholte es mir fort und fort bis auf die Berge hinauf. Freilich war mir jetzo die Welt nach allen vier Himmelsgegenden durch das dichteste Dornengestrüpp verwachsen, und daß es eine erbärmliche und in ihrer Gewöhnlichkeit tränenreiche Werkeltagswelt war, das konnten mir der Boden unter den Füßen und das Luftgewölbe über mir bezeugen.

Der Nebel blieb wohl hinter mir in den Tälern zurück; aber in meiner Brust nahm ich die Trübe auf die sonnigsten Gipfel mit empor. Ich schritt rasch zu und tauchte mehrmals das Taschentuch in einen kalten Waldbach, um es mir dann auf die heiße übernächtige Stirn und die fiebernden Schläfen zu drücken. Um sah ich mich nicht, und es ist ein Irrtum oder gar eine Lüge, wenn man behaupten will, daß einem unglücklichen oder von Not und Sorge bedrängten Menschen eine schöne Gegend und herrliche erhabene Aussicht zum Heil und zur Genesung gereiche. Es ist einfach nicht wahr!

Im Gegenteil, nichts ist schlimmer für einen Kummervollen, Schmerzbeladenen als eine weite sonnenklare, in allen süßen Farben der Erde leuchtende Fernsicht, hoch von einer Bergspitze aus. Es ist arg und eigentlich furchtbar, aber es ist so: den Sturm, den Regen läßt man sich in der bösen Stimmung gefallen; aber die Schönheit der Natur nimmt man als einen Hohn, als eine Beleidigung und fängt an, alle sieben Schöpfungstage zu hassen.«

Der Pastor schüttelte hier bedenklich den Kopf; Fräulein Dorette Kristeller nickte zwar, aber sah doch auch ziemlich bedenklich und trübe drein; der Förster Ulebeule jedoch klopfte mit der Pfeife auf den Tisch und rief:

»Wahrhaftig, es ist etwas dran! Es ist bei mehrerem Nachdenken sogar ziemlich viel dran. Jeder Kümmerer – will sagen jedes durch einen alten Schuß oder durch Krankheit sieche Stück Hochwild will auch von der Pracht der Schöpfung, an der es in gesunden Tagen sein Wohlsein und seine Freude hat, nichts mehr wissen. Und wer viel Umgang mit den Tieren gehabt hat, der weiß, wie wenig der Unterschied zwischen ihnen und dem Menschen zu bedeuten hat in allen Dingen, die mit Erde, Wasser, Licht und Luft zusammenhängen. Ihr waret damals ein richtiger Kümmerer, Kristeller. Der Onkel hatte Euch nicht übel angeschossen, und manch einen in Eurer Lage hat das Schicksal bald darauf als tot verbellt.«

»Nun lasset uns weiterhören!« rief der geistliche Herr, und sie hörten weiter.

»Was mir selten in der mir so bekannten Gegend passiert war, hatte ich heute zu erleben; ich verlor mehrmals meinen Weg und fand ihn stets nur mit Mühe wieder. Die Lebensverwirrung und schlimme Ratlosigkeit war außer mir wie in mir; aber mein Pfad ging doch immer aufwärts, und einen Kompaß führte ich am Uhrgehäuse glücklicherweise auch mit mir. So wand ich mich durch den Buchenwald und dann hinein in die Tannenwälder, an steilen Lehnen, von denen die wunderlichen Granitblöcke der Urzeit in wahrhaft gespenstischen Formationen herabgerollt waren, schräg in die Höhe. Dann ging es über kahle, gleichfalls mit wildem, phantastisch übereinander gestürztem Felsgetrümmer bedeckte Hochebenen – aus dem Nebel in das Sonnenlicht. Die Sonne schien um Mittag herbsthell, und ich holte Atem, auf meinen Weg und die durchwanderten Täler zurückblickend. In den Tälern hielt sich der Nebel den ganzen Tag über, und als ich nach einer Ruhestunde weiterging, schlich er mir leise wieder nach und holte mich am Nachmittag, als ich den berühmten Platz, zu dem mein Prinzipal mich diesmal hingesendet hatte, zu Gesicht bekam, richtig wieder ein; aber freilich nicht mehr als der dichte Qualm der Tiefe, sondern als ein leichter, alles in ein Zaubertuch einwickelnder Dunst. Bei einer Wendung des Weges lag die unbeschreiblich grotesk zerklüftete Steinmasse – der Blutstuhl, vor mir da. Aus dem Tannendickicht vortretend, erblickte ich seine höchste Platte sechzig bis achtzig Fuß über mir; und langsam und ermüdet stieg ich nun noch über den mit kurzem Gras bewachsenen Boden, um im Schutze der untersten Blöcke Kräfte zu sammeln für das Suchen und Finden meiner seltenen Lichenart.

Ihr, Ulebeule, kennt den Blutstuhl. Es ist ein Labyrinth von Steinklötzen, das einen ziemlich bedeutenden Raum auf der Bergebene einnimmt. Viele der Gruppen führen wunderliche sagenhafte Namen, die höchste ist auf ausgewaschenen Treppenstufen zu erklimmen, und von ihr hat das ganze Geblöck seinen Namen, und in ältester heidnischer Urzeit unseres Volkes hat es denselben als Opferstelle vielleicht mit vollem Recht geführt.

Ich verzehrte vor allen Dingen trotz meiner trüben Seelenstimmung den mitgebrachten Proviant nicht ohne Appetit; dann begab ich mich an die Lösung meiner Aufgabe, die gar nicht so leicht war. Das winzige, kriechende Ding, das mein Alter in einem frischen Exemplare zu besitzen wünschte, wuchs keineswegs in jeder Spalte des Blutstuhles. Und mit den Erlebnissen des letzten Abends, den Bildern der schlaflosen Nacht und dem Onkel mit der Zipfelmütze am Morgen vor den schwimmenden Augen ließ sich auch schlecht suchen.

So kroch und kletterte ich zwischen dem Gestein umher: eine Flechte fand ich nicht; aber ich fand etwas anderes, nämlich ein Vermögen!«

»Ah!« sagte die Zuhörerschaft in dem Hinterstübchen der Apotheke ›Zum wilden Mann‹.

»Mühselig in meiner vergeblichen Bemühung hatte ich mich so ziemlich bis an die Basis der obenerwähnten abgeplatteten Gipfelfelsmasse, der eigentlichen Opferklippe, emporgearbeitet, als plötzlich ein Mensch, wie es schien im hastigen Aufklimmen, von der entgegengesetzten Seite her auf der Platte erschien und einen Schrei ausstieß, der mich erschreckt zurückfahren ließ. Die Gestalt, vom Dunst wie alles umher leicht verschleiert, warf die Arme empor, griff mit beiden Händen in die Haare und fiel mit einem neuen Aufschrei erst in die Knie und dann ganz zu Boden. Ich stand und hielt mich zitternd an dem nächsten Granitblocke, und es dauerte einige Zeit, ehe ich mich so weit gefaßt hatte, um mir die Frage vorzulegen: Was ist das?

Ja, was war das? Was konnte das sein? Ein Betrunkener? Ein Wahnsinniger? Ein Epileptiker? Ein lebensmüder Unglücklicher, der sich diesen Ort ausgesucht hatte, um gerade jetzt daselbst zu Ende zu kommen mit sich? Alle diese Vorstellungen schossen mir nun blitzschnell nacheinander durchs Gehirn; aber von der Höhe der Opferklippe kam keine Antwort auf meine Frage.

Und es ist deine Pflicht nachzusehen, was und wer es ist! rief es in mir. Mit zusammengekniffenen Lippen, fest aufeinandergesetzten Zähnen faßte ich Mut, packte meinen Wanderstock fester, um im Notfall auch auf einen Angriff gerüstet zu sein, und stieg langsam und vorsichtig die Steinstufen hinauf, die auf die heilige Opferstelle unserer Vorfahren führten. Scheu und behutsam hob ich das Kinn auf die Platte; da lag er! – Lang ausgestreckt, bewegungslos, das Gesicht auf den Stein gedrückt, lag der Unglückliche da, und rasch sprang ich meinerseits nun hinauf, trat zu ihm, faßte ihn an der Schulter, sprach ihm zu, und nach einer Weile erhob er auch das Gesicht und stierte mich an.

Jetzt schrie ich fast, wie er vorher. Es war mein Kamerad, mein geheimnisvoller Freund, mein botanischer Wissenschaftsgenosse, und zwar mit Zügen so verstört, so von Schmerz, Angst und Zorn verwüstet, daß ich es euch wahrlich nicht, wie es war, schildern kann.

Langsam, wirklich wie aus einem epileptischen Zustande sich erhebend, stand er auf, sah mich blind und meinungslos an, bis ihm nach und nach das Bewußtsein von Ort, Zeit und Zustand zurückkam.

›Philipp!‹ sagte er tonlos.

›O August!‹ rief ich.

›Seid Ihr es, der mich hier gefunden hat?‹

›O und Ihr – was habt Ihr? Was ist Euch geschehen? Ich möchte Euch so gern helfen.‹

›Und könnt es ganz und gar nicht. Es wäre besser, Ihr ginget und ließet mich hier, wie Ihr mich fandet. Ich bin für keines Menschen Gesellschaft mehr tauglich.‹

Er sprach dieses alles so vernünftig, so gesetzt und ruhig, daß seine Verstörung mir dadurch nur noch herzzerreißender in die Seele drang. Ich wollte seine Hand fassen, doch zog er sie schnell und wie ergrimmt zurück und schrie:

›Nein, nein! Das ist zu Ende, Herr – Herr Kristeller. Ich habe heute mit dieser Hand mein Schicksal besiegelt und werde sie niemandem mehr als Zeichen der Freundschaft, der Zuneigung, der Liebe geben. Haltet mich nicht für einen Narren – o ich wollte, ich wäre es; aber ich bin es nicht! Seit drei Tagen wäre es mir eine Wohltat, wenn die letzte Faser, die den Geist noch an eure Welt – eure Alltagswelt bindet, abrisse, und wenn man mich fände, wie man sonst wohl schon arme irre, verlorene Menschen in der Wildnis gefunden hat. Kein anderes Gesicht wäre mir heute so lieb gewesen als das deinige, Philipp; aber meine Hand gebe ich dir doch nicht. Sieh da rund herum, sieh, wie die Städte und Dörfer ausgestreut sind; – sieh, alle diese hunderttausend Menschenwohnungen sind mir von jetzt an verschlossen: ich habe keinen Verkehr mit euch mehr, ich bin allein; es gibt keinen anderen Menschen mehr auf Erden, der so allein ist wie ich!‹

›Aber ich bin da! mich hat das Schicksal gerade zu dieser Stunde zu dir geführt, um bei dir zu bleiben! Meine Braut, mein Mädchen habe ich verloren, oder sie soll mir doch genommen werden. Mir ja auch verschließt sich die ganze Welt. Laß uns einander zum Rat und Trost sein!‹

Nun war es, als ringe er in der Tiefe seiner Seele mit einem gewaltig starken Gegner, und dann war es, als ob er dem Feinde obgesiegt habe, und dann war es, als stehe er triumphierend mit dem Fuße auf der Brust des Niedergeworfenen. Er knirschte mit den Zähnen und rieb sich die rechte Hand, als sei sie feucht und er müsse sie trocknen. Zuletzt sah er mich scharf und kalt an und sagte leise:

›Lieber Herr, Sie können mir doch von keinem Nutzen sein. Ich bitte Sie, sich keine Mühe zu geben. Sehen Sie, Kristeller, ich habe nie in meinem Leben anders gesprochen, als meine Meinung war. Auch ist heute Methode in meinem Wahnsinn gewesen; ich habe mich nicht ohne eine gewisse Absichtlichkeit auf diesem kalten und harten Steine niedergeworfen. Mein Herzblut ist durch diese Rinne niedergelaufen, wie einst das Blut der fränkischen Gefangenen aus dem Heerbann des Kaisers Karl durch dieselbe niederrieselte. Übrigens bin ich allein und will allein sein. Gehen Sie, bester Herr, ich verstehe Ihre Gefühle, Ihre gute Gesinnung gegen mich vollkommen, und wir wollen auch sicherlich einander treu im Gedächtnis behalten – leben Sie wohl, Philipp Kristeller.‹

Das war kühl und abstoßend genug, aber ich war auch Psycholog genug, um zu wissen, aus welchem ganz anders bewegten Grunde dieser Ton heraufquoll. Es ging nicht an, den Unglücklichen vor das Gericht der Eigenliebe zu ziehen und mit einem: So empfehle ich mich denn höflichst – umzudrehen und geärgert nach Hause zu laufen.

›Es ist ja möglich, daß wir heute für immer Abschied voneinander nehmen müssen‹, sagte ich, ›aber weshalb sollen wir es denn in dieser Art tun?‹

Da brachen dem anderen die Tränen aus den Augen. ›Nein, nein‹ schluchzte er, ›du hast recht, es ist doch nicht die rechte Art!‹

Er warf mir die Arme um den Hals und küßte mich und schien mich nun nicht von sich lassen zu können. ›Lebe denn wohl, du Guter – denke nur an mein Elend und nichts anderes an mir! Sieh mir nicht nach; du sollst noch einmal von mir hören, Philipp! Lebe wohl, lebe wohl!‹

So hielten wir uns lange, und dann schieden wir in der Tat voneinander. Ich habe ihn nicht wiedergesehen; aber gehört habe ich freilich noch einmal von ihm; – er hat mir einen Brief geschrieben; und ich bin seit dreißig Jahren der Besitzer der Apotheke ›Zum wilden Mann&‹!«


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