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Diejenigen, welche durch eigenes Verdienst oder durch Glücksfall ein glänzendes Los erreichen, sind es nicht immer, die auch die Früchte dieses Loses am schnellsten und ungestörtesten genießen.
Hier weist uns die Geschichte einen tapferen Feldherrn auf, welcher nach Bürgerkriegen und Schlachten ein neues Reich begründet, fürstliche Titel und Würden annimmt, eine Hofhaltung voll Glanz und Lustbarkeit entfaltet und von Freund und Feind beneidet wird; allein in den Schimmer der neuen Würde hat der Held ein vorwurfsvolles Gewissen, einen unersättlichen Ehrgeiz oder die Störerin einsamer Nächte, die Sorge vor inneren und äußeren Gefahren des Reiches mit herüber genommen, und während Verwandte, Günstlinge und Bestallte bis zum Pagen und Diener herab sich ungetrübt im Glanze seiner Herrlichkeit erlaben, geht sein Gemüt im Kleide der Trauer einher oder brütet über neuen Planen und Kämpfen.
Dort hat sich ein begabter Bürgersohn durch Fleiß und Ehrgeiz bis zum ersten Rate der Fürsten emporgeschwungen, Orden schmücken seine Brust, sein Name ist unter die adeligen der Reiches aufgenommen und Staatsbezüge wie Beschenke des Fürsten, geben ihm die Mittel, ein Haus des Glanzes und der Freude zu führen; allein während er Freunde seines Lebenslaufes durch Beförderungen beglückt, während Verwandte mit ihrem Anhang sich im Glanze seines Namens und Hauses freudig tummeln, bebt sein Argwohn beim Gedanken an den Wankelmut des Fürsten, leidet er unter den giftigen Intrigen und Nadelstichen namen-protziger Familien und Personen, die, begabt oder nicht begabt, ein Anrecht zu haben glauben auf alle glänzenden Stellungen des Landes.
Diese Erscheinung zeigt sich ebenso in bürgerlichen Kreisen. Der Glück machende Kaufmann ist nicht immer der Glückliche seines Hauses, der erfolgreich spekulierende Mann der Industrie zählt frohere Personen in seiner Umgebung, als er selbst ist, sogar der ruhige Kuponabschneider ist selten der Harmloseste seines häuslichen Kreises; denn ein dunkles Gefühl der Sorge vor dem Wankelmut des Glückes beunruhigt die Seelen aller, und oft umso peinlicher, je rascher der Segen des Glückes seine unverhoffte Gunst erzeigt.
Sollte – um von kleineren Verhältnissen zu reden – eine ähnliche Erscheinung sich nicht auch im Dasselhof jetzt zeigen?
In der Tat hatte schon einige Tage nach der Einkehr und Verlobung der Luzia ein neuer Geist der Freude und Zuversicht im Dasselhofe Platz gegriffen.
Der Erste, der diesen Geist mit offenen Armen aufnahm, war, wie sich erraten lässt, der alte Dasselherr. Ihm verschwanden, der Tatsache gegenüber, dass Luziens Mitgift den Dasselhof auf einmal schuldenfrei und im alten Glanze herstellen werde, alle anderen Schwierigkeiten und Bedenken, in leuchtender und greifbarer Gestalt erschienen vor seinen Blicken lang entbehrte und wieder mögliche Genüsse, die er umso sicherer erwarten durfte, als ja Gotthard jetzt schon anfing, kleine Besserungen eintreten zu lassen.
Treulich seine Hoffnungen teilend, stand ihm hier auch seine Frau zur Seite.
Nur war sie stiller in Worten und vorsichtiger im Auftreten als ihr Mann, der, soweit es Anstand und Rückgrat nur erlaubten, wieder vor die Leute trat wie anno damals, als er selbst als Dasselherr in Mängelheim erschien.
Merkwürdig genug widerstand auch Beate einer besseren Hoffnung auf die Zukunft nicht mehr, seitdem sie Luzien in einer für unmöglich gehaltenen Milde und Ergebung erblickt hatte. Bruder Gotthard, der sie, als sie noch in voller Wildheit und Unabhängigkeit dastand, bis zu solchem Grade bändigen und leiten konnte, musste auch künftig, wenn schon immer unter Schwierigkeiten, Luziens Herr und Meister bleiben. Dann aber hatte auch Beate Schutz und Unterkunft im Elternhaus zu erwarten – und, etwas mehr oder weniger Beschwernisse abgerechnet – war ihr Wunsch und Ziel denn doch erreicht.
Aber der als Sieger eines schweren Kampfes, geehrt und bewundert dastand – Gotthard selbst erschien, wenigstens für die nächsten Tage, nicht als der Glückliche, für den er gelten sollte.
Eines Morgens war er ganz besonders stille und zerstreut. Ohne äußeren Anlass ergrimmte er oft, sah sich dann forschend um, ob er beobachtet werde, schüttelte über sich selbst den Kopf und richtete manchmal deshalb bloß an die Schwester oder an das Gesinde ein mildes Wort, um die Verstimmung seines Innern zu verbergen.
»Was hat der Bruder? Was ist ihm quer gegangen?« dachte die stets wachsame Schwester.
Eine Antwort konnte sie sich nicht zurechtmachen, da die Geschäfte des Hofes den Tag über regelrecht verrichtet und sonst auch kein Anlas zur Verstimmung sichtbar war.
»Man muss nicht an ihm rühren, wenn er so ist«, beruhigte sich die Schwester, »er weiß ja immer selbst am besten, wo aus und ein, seine Sachen sind seine Sachen!«
Mit diesen halblaut gesprochenen Worten trat Beate aus der Küche in die Stube, um den Tisch für die Abendsuppe zu decken, als sie gewahrte, dass im Hofraum eben ein Frauenzimmer an Gotthard hinzutrat, ihm mit ängstlicher Dringlichkeit ein Zettelchen in die Hand drückte und sich dann wieder aus dem Hofe entfernte.
Da die Botin ein großes Tuch um Kopf und Schultern geworfen hatte, so war ihre Person unkenntlich geblieben; umso mehr aber machte das Geheimnisvolle der Schwester jetzt zu schaffen.
Anstatt das große Tischtuch, welches sie wurfbereit in den Händen hielt, rasch über die eichene Tischplatte zu schwingen, stützte sie vielmehr die beiden geschlossenen Hände auf das Tuch, hob sich auf die Fußspitzen und blickte gespannt nach dem Bruder, ob er das Zettelchen lesen und irgendein Zeichen von Unruhe verraten werde.
Das war nun freilich wieder ein Verkennen der Eigenheiten des Bruders; denn gerade die Wichtigkeit eines Vorfalles machte ihn stets umso undurchdringlicher, je größer sie ihm schien. Und so hatte Gotthard auch bei Empfang des Briefes kaum aufgeblickt, der Botin, da sie ging, mit keinem Blicke nachgesehen, sondern steckte das Papier jetzt ungelesen ein, rüttelte prüfend eine Wagenleiter und rief dem Oberknecht, um mit dessen Hilfe den schweren Wagen unter Dach zu schieben.
Die Schwester deckte jetzt ruhig den Tisch, ordnete alles für das Abendessen und dachte: »Warum ich doch immer Schweres und Seltsames in jedem Vorfalle suche?«
Und doch, wie viel Schweres und Seltsames steckte wirklich hinter dem unscheinbaren Falle!
Gotthard hatte das verhüllte Frauenzimmer kaum nähertreten und den Zettel hervor nehmen sehen, als er die Farbe wechselte, zähneknirschend nach der Wagenleiste griff und dachte:
»Weiß ich's nicht gut genug? Auch noch schicken und drängen im letzten Augenblick!«
Ein schmerzlicher Ingrimm schwellte seine Brust, und wenn man die Gründe näher kannte, war es nicht zum Wundern.
Seitdem die Frau Eichrodt für Gotthard so wacker gestritten und durch ihre Freundin erfahren hatte, dass Gotthard sie einstens wirklich geliebt und nur deshalb sich von ihr zurückgezogen habe, weil er sie nicht an sein voraussichtlich ärmliches Schicksal fesseln wollte, war über das Herz der jungen Frau eine ruhelose, brennende Heimsuchung gekommen, die sich in Gestalt von Mitleid und Teilnahme für den einstigen Geliebten einschlich und sich dann rasch in neu erwachte heftige Liebe verwandelte. Ihrem Manne, der ihr an Alter so sehr voran und durch die widrigste Habsucht entstellt war, ohnehin nichts weniger als ergeben, glaubte sie jetzt ein Recht zu haben, ihr Herz für lange Entbehrungen und Verluste zu entschädigen. Sie ließ daher teils durch Briefchen, teils durch ihre Freundin Brigitte immer unverhüllter Andeutungen ihrer Liebe an Gotthard gelangen, von dem sie ein Entgegenkommen umso mehr erwartete, als ja seine nie ganz erstorbene Neigung durch die Dankbarkeit für wichtige Dienste jetzt ebenfalls aufs Neue erwacht sein musste.
Gotthard nahm die ersten Winke um Botschaften Agathens betroffen auf und hoffte durch kluges, ruhiges Verhalten und Hinhalten die junge Frau zum Nachdenken über sich selbst und ihre Pflichten zu vermögen; indem er also die Botschaften unter dem Scheine eines unbestimmten Wohlwollens aufnahm, wich er einer jeden Erklärung und heimlichen Begegnung standhaft aus.
Allein gerade diese Unbestimmtheit, dieses Zurückweichen erhitzten die Neigung der einstigen Geliebten nur noch mehr, und die geheimen Boten und Zettelchen verdoppelten sich mit jeder Woche. Als nun gar die Kunde durch die Gegend lief, Gotthard denke eine Hausfrau zu nehmen, die reich und schön zugleich sei, da rissen alle Dämme des Maßes und der Selbstbeherrschung, Agathe berief sich nun förmlich auf ihre jüngste Hilfe in der Not und nannte ihre einstige Liebe eine schmerzlich hintergangene. Gotthard sollte ihr jetzt ein Stelldichein gewähren wie eine einfache Schuldigkeit, da sie wissen müsste, wie er ihrer gekränkten und verdienstvollen Liebe lohnen wolle!
Gotthard hatte bald erkannt, in welche Verwicklung und Verwirrung die Dinge nach und nach geraten würden, er hatte daher sein unbestimmtes Wohlwollen in verstimmte Mienen und mild ablehnende Andeutungen verwandelt – aber als er sah, dass endlich eine Entscheidung unumgänglich sei, sagte er eine geheime Zusammenkunft mit ernster Stirne zu.
Diese sollte an einem Mittwoch zwischen zehn und elf Uhr des Abends am Rand des güsshübler Bergwäldchens stattfinden.
Je wonniger und bewegter Agathens Herz dieser großen Stunde entgegenschlug, desto herber und düsterer lehnten sich Gotthards Empfindungen gegen dies Versuchung auf, die ihm sehr gefährlich werden und einen tiefen Schatten über seine ganze Zukunft werfen konnte.
Diesen keineswegs beneidenswerten Zustand Gotthards verschlimmerte noch der Umstand, dass trotz seiner bestimmten Zusage und trotz der bekannten Stunde und Stelle der Zusammenkunft Agathe doch das geheime Zettelchen- und Botensenden nicht unterließ und seine Ungeduld, Verstimmung und Sorge manchmal in aufschäumenden Zorn verwandelte, besonders heute, wo die ganze Botschaft wahrscheinlich nichts enthielt als:
»Komm, Geliebter! Komme ja gewiss!«
»Nun gut, ich komme«, dachte Gotthard herb und düster, »es ist Zeit, dass entschieden werde, was und wie?«
In dieser Stimmung half er einem Knechte den Wagen unter Dach schieben, bedeutete dem Knechte dann, dass er ihn nicht mehr nötig habe, zog den Zettel aus der Tasche und zerriss ihn ungelesen und heftig in kleine Stücke.
Indem er diese nach einem Winkel war, wo sie zerflatternd von niemand gesammelt und gelesen werden sollten, regte sich unerwartet eine Gestalt im Stroh, und Gotthard rief betroffen über die Gegenwart eines Zeugen:
»Wer da?«
Vielleicht hätte ihn eine wildfremde Gestalt weit weniger überrascht als gerade die wohlbekannte Erscheinung – seines zweitältesten Bruders Victor, der sich jetzt aus der Strohumhüllung etwas aufrichtete und mit schlecht verhehlter Zerknirschung sagte:
»Ich!«
Gotthard erkannte den Bruder in dem Halbdunkel des Raumes mehr der Stimmen als der Gestalt nach, trat lebhaft näher und sagte strenge:
»Was soll das, Bruder? Kommt man so zurück? Seit wann steckst Du da im Stroh?«
»Seit gestern Abend.«
Eine Pause entstand.
Unwillkürliches, tiefes Mitleid macht Gotthard einen Augenblick stumm, dann sagte er:
»Seit gestern Abend – und ohne gegessen zu haben, ohne dass Dich jemand entdeckt hat?«
»Ja, sieh' mich an, und Du wirst gleich sehen, warum«, sagte Victor, etwas vortretend, um von einem Streifen Dämmerlicht heller beleuchtet zu werden.
Der ganze Aufzug war denn wirklich eine ausführliche Erklärung ohne Worte.
Von der ursprünglichen Ausstattung, mit welcher Victor einst so schwungvoll trotzig von dannen gewandert, hatten sich nur flatternde oder zur Not geheftete Trümmer erhalten, und der Hut, in seiner Jugend ein gar prangendes Modestück, hatte jetzt allen irdischen Eitelkeiten abgeschworen und neigte sich Buße tuend in vielen seltsamen Beugungen nieder.
»Und warum kommst Du zurück? Was willst Du hier?« fragte Gotthard nach einer Pause.
»Ich will's wieder daheim versuchen – die Welt ist gar zu hart und schadenfroh – nimm mich in Dein Haus auf, Bruder!«
»So nicht«, sagte Gotthard kurz und hart, »Du musst wieder fort, sogleich und ungesehen – steck' Dich noch einmal dort ins Stroh, bis ich wieder komme, das Weitere wirst Du hören!«
In Victor schien ein Nachsommer von Muttersöhnchenstolz lebendig zu werden, er stellte sich gerade auf und gab dem eingefallenen Hut einen Ruck gegen ein Ohr, allein Gotthard hatte diesen Stolz in seinen schönsten Tagen zu brechen verstanden, er wiederholte jetzt nur schärfer: »In den Winkel dort!« und Victors Füße rauschten zögernd folgsam wieder in den Halmen, die er eben kummervoll verlassen. Sein Widerstand beschränkte sich nur noch auf ein innerliches Knurren, das den Lauten des leeren Magens ebenso zugeschrieben werden konnte als dem grollenden Verdrusse: von einem brüderlichen, der Geburt nach jüngeren Emporkömmling so unmitleidig empfangen zu werden!
»Wäre er wie ich, so erbarmungswürdig nach Hause gekommen«, sagte er, »ich hätte gewiss bittere Tränen über mich, will sagen, über ihn geweint, ich kann's vor Gott und der Welt versichern; er aber sieht mich nur an, um mir desto geschwinder wieder die Wege zu weisen! O, o, o! Mutter, schwanst Du denn gar nicht, dass Dein lieber Victor wieder hier ist, dass er zehn volle Stunden, Gram und Hungertuch nagend, hier im Winkelstroh liegt? O Menschen, Menschen, was hat man euch nachzusehen, was hat man alles geduldig hinzunehmen!«
Welchen Verlauf diese Selbstunterhaltung weiter genommen haben würde, lässt sich aus diesem Wenigen leicht erraten; glücklicher Weise unterbrach sie noch im rechten Augenblicke die Ankunft Gotthards, der, in den Wagenschuppen tretend, sagte:
»Komm hervor!«
»Du führst ein gutes Kommando«, sagte Victor, brummend und langsam aufstehend: »Dort leg' Dich hin – jetzt komm' hervor – und nun wahrscheinlich – mach' Dich auf und marsch von dannen!«
Gotthard ließ sich auf keine weiteren Erklärungen ein, übergab ihm einen Leinwandpack und sagte:
»Da hast Du Brot und daneben etwas Kleidung. Hier zur Not auch Geld. Und nun höre mich. Wie man aus der Welt nach Hause kommt, so viel bedeutet man, so bleibt man den Leuten im Gedächtnis. Ich tu' es Dir und der Hausehre zu lieb, dass ich Dich ungesehen wieder fortschicke, damit Du ordentlicher wieder kommen kannst. Mach' Dich auf, geh' die halbe, ja die ganze Nacht, bis Du an einer Stelle bist, wo Du Dich säubern, besser kleiden und durch Essen ordentlich stärken kannst. Dann komme wieder – nicht am hellen Tag, sondern abends noch dem Schlafengehen. Mir klopfst Du am Kammerfenster, ich will Dir öffnen, Du ruhst bis zum andern Morgen, und wenn Du aufstehst, wissen Schwester und Eltern von Deiner Heimkehr. Weder Gesinde noch sonst wer darf erfahren, was und welch Gepäck Du mitgebracht; Du gehst dann einige Tage so herum, als wolltest Du jede Stunde wieder in Fremde, um Dein weiteres Glück zu machen, bleibst aber nach und nach, ich selbst will in Dich dringen da zu bleiben. So leiten wir Schande und Spott von Deinem Namen ab, und Du kannst, wenn Du anders Lust hast, im Elternhause bleiben und Leid und Freuden mit mir teilen. Jetzt auf und fort! Leb wohl!«
»Soll ich kein Wörtlein mit der Mutter reden?«
»In diesem Aufzug? Soll ihr ein Messer durch das Herz fahren?«
»Ich habe Heimweh nach der Mutter …«
»Dann mach, dass Du bald in besserem Aufzug wieder da bist – fort! mach' fort!«
Victor drückte sich zu einem Hinterpförtchen hinaus und verschwand im Dunkel des vorgerückten Abends. Gotthard aber trat in den Hofraum und ging dann ruhig, als wäre nichts vorgefallen, nach der großen Stube, wo sich Schwester und Gesinde bereits um den Tisch versammelt hatten.
Im Ganzen sah jetzt Gotthard freier und heiterer aus als den ganzen Tag über, das kleine Treffen mit dem Bruder hatte ihm die Brust erleichtert; daher glaubte auch die Schwester an die volle Beruhigung des Bruders, wurde fröhlich und gesprächig wie selten einmal und wagte nach dem Essen sogar einen Wunsch auszusprechen, den sie lange her mit sich herumgetragen.
Der Jahrmarkt zu Hohengant war nahe, und mit Gotthards Heirat schien es auch nicht mehr lange anzustehen: Beate rückte daher mit dem Wunsche heraus, das Mangelnde in ihrer Gewandung anschaffen zu dürfen.
Gotthard nahm diesen Wunsch mit liebenswürdiger Zustimmung auf.
»Du hast mehr als das von mir zu fordern, Schwester, zum Glück kann ich's auch leisten«, sagte er; lächelnd fügte er dann hinzu: »Bei dieser Gelegenheit kannst Du auch etwas mehr für Dich besorgen – den der Nachbar Trabert scheint es wirklich aufrichtig mit Dir zu meinen.«
Ein glühendes Rot überflog Beatens Gesicht, sie erhob sich erschrocken und erstaunt über die Allwissenheit des Bruders, der hier auf einer Spur war, wo sie selbst noch wenig mehr als leise Andeutungen erhalten hatte. Eine Erwiderung fang sie in ihrer Verwirrung nicht, sie machte sich nur hier und dort in der Stube noch zu schaffen, sagte dann »Gute Nacht, Gotthard« und verschwand hinter der Türe der Kammer.
»Gute Nacht«, erwiderte Gotthard milde und blieb noch an dem Ecktisch sitzen, über die Ähnlichkeit nachdenkend, welche seine und der Schwester Liebe erfahren; denn beide hatten, wenn auch aus verschiedenen Gründen, auf den Gegenstand ihrer ersten Herzenswahl verzichten müssen.
Als es völlig Nacht und im Hause lautlos stille geworden war, erhob sich Gotthard, holte geräuschlos seinen Rock aus dem Schranke, kam in die Stube zurück und verließ dann sachte das Haus.
Nach mehreren Richtungen standen Wetterwolken am Himmel, die sich, ruhig haltend, in zuckendem Wetterleuchten entluden; zwischen den zerrissenen Rändern blinkten einzelne Sterne hervor.
Gotthards Gemüt stellte etwas Ähnliches dar wie der Zustand des Firmamentes. Die drohenden Wetter des Tages hatten Halt gemacht und ließen höhere Gedanken und Entschlüsse durchzucken, die mäßigten und beruhigten, wenn dann und wann ein neuer Aufruhr der Leidenschaft seine Sinne verwirren wollte.
Gotthard umging das Dorf, um wo möglich von niemand bemerkt oder gar erkannt zu werden. Beim Stephenhofe blieb er einige Augenblicke hinter einem Baume stehen, bis der Nachtwächter vorüber war, der zum ersten Male zehn Uhr ausrief. Dann wurde der weitere Weg zum Güsshübner Bergwäldchen ohne Unterbrechen zurückgelegt.
Es schien, als habe sich die ganze Gegend das Wort gegeben, die Nacht geräuschlos anzutreten, denn überall waren die Lichter ausgetan, und selbst die Dorfburschen sangen heute nicht im Freien.
Das erste menschliche Wesen trag Gotthard am Fuße des Wäldchens selbst; eine weibliche Gestalt erwartete ihn hier und trat jetzt, leise grüßend, hinter einem Brunnenhäuschen hervor. Es war Agathens Magd, die als Posten ausgestellt, vor Überfall bewahren sollte.
»Sie sind schon droben, eine gute Weile, Herr Gotthard«, sagte die weibliche Schildwache, und es lag in ihrem Tone viel Zufriedenheit, dass sich alles so gut und ungefährlich mache.
Gotthard fuhr heftig auf über das Hereinziehen einer Dienstmagd in das Geheimnis seines Stelldicheins, doch hielt er, da der Fehler einmal gemacht war, an sich und überlegte wohl, dass ein Tadel oder Zorneswort das Frauenzimmer am ersten zum Verrat verleiten würde.
Er sagte daher nur: »Es ist gut, geh' Du jetzt mit mir und höre selbst, was hier gesprochen wird.«
Nur zögernd folgte ihm die Magd den Hügel aufwärts, bis sie vor einem einzeln stehenden Baume ankamen, und Brigitte sitzend trafen.
»Wo ist Agathe?« fragt Gotthard.
»Nicht weit von hier, sie hat keine Ruhe und geht immer hin und wieder!« erwiderte Brigitte, über Gotthards herben Ton betroffen.
»Geh' und hol' sie«, sagte Gotthard noch auffallend herber.
Aber der Befehl brauchte nicht ausgeführt zu werden, leise Schritte hatten sich genähert, ein Schluchzen erhob sich, und eine weibliche Gestalt sank plötzlich zu Gotthards Füßen.
»Verzeih', Gotthard, o verzeih', dass ich Dich da her bemüht; ich kann nicht mehr leben wie bisher, ich muss zu Grunde gehen oder mit Dir sein, mit Dir leben!«
»Vor allem steh' auf und nehme Dich besser zusammen, Agathe, dann werden wir leichter eines Sinnes werden!« sagte Gotthard ernst, aber milde.
Er reichte ihr die Hand und half ihr aufstehen, dann frug er mit unverkennbarer Teilnahme, was ihr am Leben so zum Widerwillen sei, und forderte sie auf, ihm ausführlich alles zu sagen, ganz nach er klugen Regel: Wer sich nur den Grund des Herzens einmal recht ausspricht, empfängt auch hieraus schon den Balsam der Erleichterung.
Agathe bat ihn, auf der terrassenförmigen Stelle mit ihr hin und her zu gehen, weil sie so viel besser als ruhig stehend sprechen könne.
Gotthard willfahrte ihr, und nun wurde eine Generalbeichte über Haus- und Seelenleiden abgelegt, die wirklich voll tiefer Schatten und bedauernswerter Makel war. Besonders wurde eben hervorgehoben, das an der Seite eines im Seelenschmutz dahinlebenden, unter gemeine Verkürzungen des armen Nebenmenschen grau gewordenen Mannes kein Heil, kein Friede, kein Segen, keine Freudigkeit aufkommen könne. Jeder dem Nächsten zugefügte Schade gehe ihr wie ein Gespenst im Hause herum, störe ihr den Schlaf und die Ruhe, verderbe ihr den Appetit an jeder Mahlzeit, da sie ja vom Mark und Blut der Nebenmenschen zu essen meine.
Dies und die lange Reihe von anderen Beschwerden hörte Gotthard ohne Unterbrechung an, uns als sich Agathe nun an sein Gemüt besonders zu wenden begann und schluchzend bat, sie nicht von seinem Umgang, nicht von seinem Herzen zu verstoßen – ihrer früheren, noch immer treuen Liebe zu gedenken und die Hilfe nicht zu vergessen, die sie ihm vor Kurzem noch gewährt, da blieb Gotthard stehen, hob einmal tiefen Atem aus der Brust, nahm Agathen an der Hand und sagte:
»Agathe! Gewährt Dir's Trost, so wisse: Deine Wünsche sind auch die Meinigen; was Dein Glück wäre, wäre auch das Meine. Soweit denk' und fühl' ich ganz wie Du, soweit bin ich glücklich und unglücklich ganz wie Du. Aber der Mensch steht nicht allein und nicht zu Zweien in der Welt, und das macht gar vieles anders, verkehrt oft Recht in Unrecht, wandelt Nutzen in Schaden und Tugend in Laster. Was gestern noch vor Gott und Menschen recht und erlaubt war, ist heute vor Gott und Menschen durch Umstände Unrecht oder Laster. Als wir beide noch Kinder waren, fröhlich neben einander aufwuchsen, uns lieb gewannen und liebten, da war unsere Neigung hold und gut, es hatte niemand über sie zu richten, und der Himmel hatte an der reinen Liebe seine Freude. Wir haben uns getrennt, sind jedes seine Wege gegangen – Agathe, soll ich Dir noch einmal sagen und erklären, wie es kam? Weil ich den Untergang des Vaterhauses kommen sah, hatte ich Furcht vor meiner Liebe, und weil ich Dich so sehr geliebt habe, durfte ich Dich nicht ins Elend mit mir ziehen! Ich habe gelitten wie Du, ich habe es lange nicht verschmerzt, wie Du … Jetzt Agathe, sind wir so viel älter, sind wir nicht mehr frei in unserem Tun und Lassen, was unsere Herzen wünschen, muss erst sein Urteil hören vor dem Richterstuhle Gottes und der Menschen … Agathe! … Weil ich Dich so lieb gehabt, wünsche ich, dass Du mir im Angedenken rein erhalten bleibst, weil ich Dich so lieb gehabt, darf ich nicht helfen, Dich in Deinem Gewissen selbst zu zerstören. Verwehr' ich Dir, liebevoll an mich zu denken, sooft und wie Du willst? Verwehr' ich meinem Herzen, Dir in reiner Neigung immer nah zu sein? Das alles dürfen wir gewähren. Aber, Agathe, hart hinter unbewachten Herzen gähnt ein Abgrund der Gefahr, des Fehltrittes und des Lasters, das Verderben für dieses und jenes Leben. Weil ich das Herz ein wenig kenne, weil ich meine eigene Neigung kenne, weil in der Liebe ein Schritt vorwärts oft tausend Fehltritte in der Tugend sind, seh' ich jenen Abgrund auch vor unseren Füßen, und ich muss Dich bitten und beschwören, lass' uns fest sein, dulden, überwinden! … Sieh', es gibt eine Sage, die berichtet, Gott nehme nur darum manches Kindlein schon in früher Blüte von der Erden, um en Musterengelchen daraus zu machen für seinen Augentrost und zum Muster für die älteren Seelen seines Himmelreiches. Nun, Teure, gemahnt es nicht, dass das Leben manche Herzen auch nur trenne, um ihre reine, schöne Liebe dauerhaft zu machen, sie nicht durch sinnlichen Verein ermüden und erblassen zu lassen. Agathe – so wünsche auch ich, dass wir ein für alle Male, da wir uns im Bund der Ehe nicht finden konnten, unsere Liebe als das Musterbild für alle Tage rein erhalten und im Herzen unseres Herzens hegen, warten, uns an ihr erfreuen. Jeder Schritt weiter ist ein Bruch der Reche Deines Mannes, ein Bruch Deines Schwurs vor dem Altare, eine Sünde wider den heiligen Geist unserer Liebe, und wir stürzen, indem wir Liebesfreuden suchen, die Ehre und Würde unserer Liebe, endlich unsere Liebe selbst in einen endlosen Abgrund!«
Hier hielt Gotthard inne und zeigte nach dem düster-geheimnisvollen Firmamente, das fortfuhr von fernen Blitzen zu zucken und nur spärlichen Sternenschimmer niederzusenden.
»Sieh' da hinauf, Agathe«, sagte Gotthard nach einer Pause weiter: »Steht es mit diesem Spätgewitter nicht wie mit unseren Herzen? Wolke der Schwermut haben sich gesammelt, die Leidenschaften zucken auf, und nur wenige Sternlein Trostes flimmern durch das Dunkel. Aber ein Spätgewitter sei und bleibe es; die kühlere Nacht der Überlegung wird die Gefahr aus den Wolken ziehen, und wie ich morgen einen heiteren Herbsttag kommen sehe, wird es auch in uns wieder hell und leuchtend werden. Auf unser tapferes Herz kommt's an. Es muss in der Welt Entsagen, Kämpfe, Schmerzen aller Art geben; wäre die Erde nur ein Haus der Freude, die Menschen wären längst zu Weichlingen herabgesunken; die Prüfungen stärken, und jede überwundene Prüfung ist eine neue starke Stütze für Geist und Herz. was der feste Knochenbau im Leibe, das nützt ein jeder herbe, überwundene Schmerz im Geiste, er bildet seinen Halt und seine Kraft … Drum sei stark, bleibe gut, kämpfe wacker, Agathe! Der duftige Kern innerer Freude, der sich bilden wird hinter der bitteren Schale dieser Entsagung, er wird alles überbieten, was hold und süß, was selig heißt … Nun, was weinst Du? Weine nicht! Sei stark, sei stark!«
Agathe sank schluchzend auf die Knie und sagte:
»Ich werde stark sein! Habe Geduld mit mir!«
Gotthard hob sie auf, rief Brigitten auch herbei, und so führten sie die bewegt, zerknirschte junge Frau den Wendelweg herab. Agathe zuckte zwar noch oft zusammen und musste manchmal bitten, stille zu stehen, um sie tiefer atmen zu lassen, doch fing es licht zu werden an in ihrem Innern, der Entschluss zu überwinden begann bereits die Frucht des künftigen Sieges, den süßen Frieden mit sich selber, kosten zu lassen …