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Achtes Kapitel.
Traum und Erwachen

 

Der Mond der scheint,
Das Kindlein weint,
Die Glock' schlägt zwölf,
Dass Gott doch allen Kranken helf!

» Ammenuhr«

 

Bei Wälser wurde an die Haustüre geklopft.

Eine weibliche Stimme bat um Einlass; es geschah so wehvoll, dass der Nachwächter, welcher in einiger Entfernung vorüberging, unwillkürlich stehen blieb und horchte.

Zum Pochen und Flehen der weiblichen Gestalt gesellte sich jetzt das Weinen eines kleinen Kindes.

Nach einer Weile ging der Flügel eines Fensters auf, und Wälser steckte den Kopf heraus.

»Was gibt's? Wer da?« fragte er schlaftrunken und barsch.

Es erfolgte nicht sogleich eine Antwort; aber die Bittende schleppte sich ans Fenster, die Angst schien ihr die Stimme zu verschlagen, sie hob die Hände gefaltet empor, und ein bitterliches Schluchzen ließ sich vernehmen; erst als der Wälser wiederholte: »Nun? Was gibt's da, rasch!« erfolgte eine Antwort, aber so verzagt und leise, dass sie der Nachtwächter nicht verstand.

Desto besser schien der Wälser die Antwort verstanden zu haben; er fragte nicht mehr, blieb wie erstarrt im Fenster liegen, trat hierauf, ohne an das Schließen des Fensters zu denken, in die Stube zurück, machte Licht, weckte sein Weib, und als dieses zur Hand war, traten beide in die Flur des Hauses.

Als die Türe aufging und das Laternenlicht auf die junge weibliche Gestalt, ein Bild des Elends mit einem Kindlein in der Schürze, fiel, da weinte die Wälserin und konnte weder reden noch grüßen.

Der Wälser sagte nach einer Pause barschen Tones, der aber seine Bewegung schlecht verbarg:

»Du bist's? ... So kommt man wieder heim? ... Wo hast du deinen Mann?«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und setzte hinzu: »Heiland, Heiland – aber gut; so komm' herein!«

In der Stube angekommen, blies der Wälser das Licht aus, damit niemand aufmerksam werde, was in seinem Hause eben geschehe; dann ging er mit großen Schritten auf und nieder; seine Stimme änderte nur selten den rauen Ton, dazwischen redete die Wälserin beklommen, oder es trat eine Pause ein, von leisem Schluchzen unterbrochen.

Florian konnte um diese Stunde nicht ahnen, dass die einst so heiß geliebte Marianne, eine Anverwandte Wälsers, um die er einst verzweiflungsvoll gelitten, eben heimkehrte ohne ihren Mann, ein Kindlein in der Schürze, ein Bild des Jammers und des Elends ...

Gott alles weiß,
Das Mäuslein beißt,
Die Glock' schlägt ein,
Der Traum spielt auf den Kissen dein.

Florian lag um diese Stunde in tiefem Träumen.

Ihn dünkte, es sei noch der schöne Sonntagnachmittag, er ginge im Freien ohne Ziel und Zweck herum und habe jetzt eine Talebene erreicht, bestehend aus einer einzigen Wiesenfläche von überaus zartem und lachendem Grün und durchschlängelt von weißgelben Sandwegen.

Die Sonne schien klar, wohltuend, aber ohne den blendenden Glanz der Wirklichkeit; man konnte sie ansehen wie die blasse Vollmondscheibe.

Dies bemerkend, sagte Florian mitten im Traume: »So was hab' ich mein Lebtag nicht gesehen; ich muss doch gleich, wenn ich heimkomme, fragen, ob es auch andere sehen!«

Und indem er noch zur Sonne verwundert emporblickte, fiel ihm ein anderer Umstand nicht minder auf.

Das Firmament fing hier und da wie ein zu leicht gespanntes, blaues Leinwanddach zu zittern an, als ginge darüber eine lebhafte Bewegung vor sich. »Merkwürdig«, dachte Florian wieder, »auch das ist mir noch nicht vorgekommen; gewiss gibt's eine Prozession im Himmel und werden Stationen und Kanzeln aufgeschlagen und Blumen gestreut, weil der Herr der Heerscharen feierlich vorüberzieht!«

Dann ging er mit den Armen auf dem Rücken lächelnd weiter; ihm war so leicht, so wohl, so unaussprechlich froh zu Mute, dass er mitten im Traume wieder dachte:

»Wüsst' ich nicht gewiss, dass ich wach bin und dass heute Sonntag Jubilate ist, ich müsste alles das für einen Traum ausgeben.«

Es herrschte eine so lautlose Stille rings umher, dass Florian nichts als seine eigenen Gedanken hörte; nun aber meinte er ein leises Klingen zu vernehmen.

»Das kommt davon, weil alle Himmels-Glocken läuten; es zieht der Herr jetzt über mir vorüber«, dachte er; aber gleich darauf setzte er hinzu: »Es ist die Sonne, die pure, helle Gottessonne klingt und summt dem Herrn zu Ehren; mein Gott, mein Gott, was fangen jetzt für Zeichen und Wunder wieder an!«

Durchschauert, mit dem Lächeln eines Unschuldigen auf den Lippen, kniete Florian auf die Wiese hin und ließ das Antlitz sinken; doch ging bald das überirdische Klingen in die weltlichen Töne eines fernher dringenden Menschenjubels über.

Florian blickte auf und war nicht wenig verwundert, auf den Bergen, welche das Wiesental umgaben, auf einmal Schloss an Schloss von außerordentlicher Größe und Schönheit zu erblicken; von den Balkonen, aus den Fenstern, ja von den Dächern dieser Schlösser blickten und winkten mit bunten Fahnen und Tüchern unzählige Menschen nach der Talwiese herunter, als gäbe es da ein großes, höchst anziehendes Schauspiel zu sehen.

Florian erschrak im Tiefsten; der Schweiß drang ihm aus allen Poren.

»Wenn das kein Traum ist«, dachte er im Traume, »wie werde ich aus dieser Wunderwärtigkeit errettet werden?«

Er blickte zitternd vor Verlegenheit umher, was zum Ergötzen einer solchen Menge Herrschaften auf der Wiese vor sich gehe. Allein er sah und hörte nichts; da fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er selbst am Ende das Ziel unzähliger Augen sei, und wie mit einem Messer gestochen, sprang er auf und suchte die Flucht zu ergreifen.

In südlicher Richtung entdeckte sein erschrockenes Auge am Saum des Waldes eine Felspartie von dichtem Gebüsch umwuchert; dort sollte er hin, sich zu verbergen; – allein bevor er das Gebüsch erreichte, sah er zu seinem Schrecken dort den Grafen von Ahnrode vierspännig um den Felsen biegen und auf die Wiese vorfahren; einige Reiter folgten seinem Wagen.

Florian wendete also um und suchte sein Heil in der entgegen gesetzten Richtung; aber auch hier schien ihm das Glück nicht lächeln zu wollen, denn er war diesem Ziele noch nicht lange zugelaufen, als die beiden Baronessen von Täuler, den jungen Grafen in ihrer Mitte, und gefolgt von einem Trupp Reiter, hoch zu Ross mit fliegendem Schleier aus dem Hohlwege nach der Wiese hervorbrachen.

Durchzuckt von Entsetzen, prüfte Florian mit der Schnelligkeit des Blitzes den dritten noch übrigen Ausweg; – aber siehe da, sein Unstern schien auch hier zu scheinen.

Denn von der dritten Seite sah er Liane Fribert, schön wie einen Engel, feierlich und lächelnd daher schreiten; sie war wie beim Kirchengang in ein Kleid so weiß wie Schnee gekleidet, trug einen wundervollen Blumenkranz im Haar und einen großen Blumenstrauß in ihren Händen; hinter ihr ging ihre Mutter und Schwester, einfach dunkel gekleidet, und diesen folgte eine Gruppe junger Herren, sehr heiter, wie es schien, denn einige hatte Zither und Gitarre umgehangen.

Florian kam sich vor wie ein beim Jagen umstelltes Wild; von allen Seiten schien der drohende Ruf zu tönen: »Wie kommt der Bauer unter uns vornehme Leute?«

In diesem Augenblicke hörte er ein Bächlein rauschen, und der Gedanke, dass auch Busch und Schilfgras nahe sein müssten, gab sich wie von selbst. Richtig fand sich kaum drei Schritte weit das schönste Schilfversteck; und es sehe, sich auf dasselbe stürzen, in demselben verschwinden, war das Werk eines Augenblicks. Ihn kümmerte das Wunder wenig, wie Schilf und Bächlein, die er früher nicht gesehen, auf einmal da sein konnten; er hatte ein Versteck, das war genug. hier wollte er verweilen, bis Liane Fribert mit ihrer Begleitung weiter auf die Wiese vorgegangen; dann wollte er auftauchen und wie besessen ins Gebirge dringen.

Dieser Vorsatz schien indes nicht bald ausführbar. Denn hinter Lianen erschien auf einmal ein vergoldetes Kreuz, dem Ministranten mit Weihrauchfässern folgten, dann sah er den Pfarrer in Chorhemd und Stola kommen, dann sah er die ganze Gemeinde von Maltern folgen, und das schien kein Ende zu wollen.

Still verzweifelnd, legte sich Florian in das Schilf zurück und wollte nichts mehr sehen als das Stücklein blauen Himmel über sich.

»Jetzt können sie über mich fahren, mich überreiten und prozessionsweis zertreten, ich rühr' und reg' mich nicht, ich sag' kein Wort, ich bin nicht da!«

So denkend, fühlte er, dass seine Augen nass von Tränen wurden.

»Ich weiß nicht mehr, was es ist mit dieser Welt«, dachte er weiter, »es ist heute Sonntag Jubilate, ich weiß es gewiss, und doch geht die Fronleichnamsprozession herum, und ich bin nicht dabei, werde im freien Feld wie ein Wilder getroffen!«

Er sollte nicht lange solchen Gedanken nachhängen; Neues, Wunderbares geschah. Florian wischte sich vor seligem Erstaunen die Tränen aus den Augen, denn er sollte nun sehen, warum zuvor das Firmament gezittert hatte, was hinter demselben vorgegangen war.

Wie mit einem Ruck durchrissen, spaltete sich jetzt das Blau des Himmels und fiel, wie ein geteilter Vorhang flatternd, rechts und links neben Florian zur Erde.

Alles Irdische verschwand und verstummte ringsumher; ferne, wundersame, halbverschollene Klänge drangen von oben herab, und einen Schimmer der Verklärung, mit nichts vergleichbar, floss, der Wunder unsagbare beleuchtend, durch die geöffneten Räume des Himmels.

Florian hatte die Augen einige Sekunden zu öffnen gewagt, dann schloss er sie schluchzend wieder, als wolle er festhalten, was er gesehen.

Die Wunderklänge fuhren fort zu tönen, und auf Florians geschlossenen Augenlidern spielte der niederfließende heilig Schimmer, während das Auge seiner Seele die Heerscharen verklärter Gestalten, die es kommend und gehend, schwebend und ruhend übersehen, einzeln zu fassen und zu betrachten sich bemühte.

Wundersam stellten sich bald zwei Empfindungen, so himmlisch als irdisch, bei ihm ein; es war ihm, als ruhten zwei liebevolle Augen von unsäglicher Kraft und Milde auf seinem Angesichte, und eine rührende Stimme, wie die einer Mutter am Bette eines genesenen Kindes, lasse sich hören; inmitten des Traumes bebte der Gedanke durch sein Herz:

»O Mutter! Meine Mutter! Vielleicht vergönnt mir Gott, dich jetzt zu sehen!«

Er öffnete die Augen, nämlich die Augen des Traumes und sah in mäßiger Ferne und Höhe auf einem vergoldeten Stuhle, den eine Wolke trug, eine weißgekleidete, schöne, blasse Frau, die ihre gefalteten Hände im Schoß, mit verweinten Augen und wehmütigem Lächeln auf ihn niederblickte; ein Seraph, dessen halbentfaltete Flügel in unbezeichenbaren Farben spielten, stand hinter ihr, die eine Hand auf des Stuhles Lehne legend und mit der anderen die Stelle zeigend, wo Florian im Schilfe lag.

Bei diesem Anblick durchschütterte diesen ein solches Freudenweh, das er sich gewaltsam aufrang, die Hände nach dem himmlischen Gebilde spannte, laut rief: »Mutter! Mutter!« und – erwachte.

Er fand sich in dem Taubenschlag, halb aufgerichtet im Bette, die Augen stier und tränenschwer aufs Dunkel der Nacht gerichtet.

Betrübt und müde sank er nach einer Weile wieder auf das Kissen hin, um traumlos fortzuschlafen ...

Das Nönnchen läut
Zur Mettezeit,
Die Glock' schlägt zwei,
Sie geh'n ins Chor in einer Reih.

Um diese stunde sanken leise, ungesehen und ungehört, zwei Göttinnen aus Himmelshöhen und hielten, über Maltern schwebend, inne; die eine, schön wie keine Worte es bezeichnen, leerte ein goldenes Füllhorn duftend auf das Dach eines Taubenschlages und zog dann Segen sprechend ungehört und leise wieder von dannen; dies war die Göttin der Glücks und Friedens, die seltene, aber herrliche Belohnerin der Guten und Vielgeprüften dieser Erde, sie war gekommen, um Florian, dem stillen und viel bescheidenen, die Fülle dessen auszuliefern, was ihm bis zur Stunde allzu kärglich zugemessen war.

Die zweite Göttin, hässlich und ergrimmt, bewehrt mit Ketten und Stacheln, suchte sich ein anderes Ziel im Dorf, das spitze, haarlose Haupt des Nachtwächters Strander und dessen verschlossenen, dumpfes Gemüt, denn hier gab es Gedanken zu verwirren und zu fesseln, Gefühle zu stacheln und zu geißeln – und die Göttin der Rache und Vergeltung verstand ihr Schauerwerk, ein innerlich Zerfleischter und ohnmächtig Rasender saß er da vor einem Hause und drückte sein bleiches Angesicht in seine Hände, wehrlos preisgegeben den Stacheln und Rutenhieben der unsichtbaren Rachegöttin –

Und im Weilerhause war um diese Stunde das Gericht versammelt.

Hinter verschlossenen Türen, hinter sorgfältig vorgezogenen Fenstervorhängen saß in der Stube ein langer, blasser Mann mit Adlernase und düster leuchtenden Augen an einem Tische, vor sich mehrere Hefte Akten, gegenüber einen aufmerksamen Schreiber und rechts und links feierlich versammelt: Friedländer, der Pfarrer, der Hallhöfer, der Schulze, der Hagenbacher und der Heuer.

Mit Ernst und etwas heiserer Stimme sagte der lange, blasse Herr:

»So also, meine Freunde, hängt es zusammen, und ist's geschehen. Der Strander lebte als Diener damals im Hause des einen Bruders, des geizigen Bankiers Johann Leander; er wurde von diesem gedungen, dem Bruder Nikolaus Leander sein einziges Kind, ein Knäblein, zu entführen, und er vollzog das umso leichter, als eine Bande Zigeuner gegen ein gutes Handgeld das Knäblein übernahm und so den Kindermord verhütete, den Johann Leander wollte, den aber Strander, damals noch milderen Gemüts, nicht gern vollzog. Auf das hin ist zunächst erfolgt, was der Johann Leander wünschte. Die ohnehin kränkliche Frau seines Bruders starb sogleich vor Weh um ich verlorenes Kind, und Nikolaus, der mit ganzer Seele an Weib und Kind gehangen, folgte seinem Weibe auch nach kurzer Zeit ins Grab. Nun lag's nach Wunsch. Johann Leander erbte das außerordentliche Vermögen seines Bruders Nikolaus; er stand, so kann man sagen, bis an den Scheitel in Gold. Gewiss ist mancher schon mit gleicher Schuld bis an sein Lebensende im Besitz unrechten Gutes geblieben, aber nicht immer duldet es die Langmut des Geschickes. Johann Leander hatte den Strander zu seinem Mörderdolch gemacht, nun wollte der Dolch auch seine goldene Scheide haben. Das lag nun nicht in Leanders Sinne; sein Geiz wollte das Werkzeug um den halben Lohn verkürzen, und weil dies gegen Stranders Anspruch lief, so trennten sich die Verbrecher und traten gegen einander auf, aber nicht offen, nicht sogleich. Strander wusste den Zigeunerhauptmann wieder aufzufinden, wusste ihn ins Vertrauen zu ziehen, ihm verständlich zu machen, dass, wenn Johann Leander – beseitigt werden könnte, sie beide ausgesorgt haben würden für immerdar!

Der Zigeuner fand sich bereit zur Tat, und die Gelegenheit zum Morde sollte nicht auf sich warten lassen.

Eines Tages musst Johann Leander verreisen, um eine Summe Geldes einzukassieren; sein Diener, der Strander, bat, inzwischen das Grab seiner Eltern besuchen zu dürfen, erhielt auch die Erlaubnis, reiste vor dem Herren wirklich ab, kehrte aber in einer Nacht mit Schlüsseln wohl versehen zurück, durchplünderte das wohlbekannte Haus, und nachdem er Geld und Geldeswert zu sich gesteckt, machte er sich vor Tagesanbruch wieder fort – um den Pilger zu dem Grabe seiner Eltern weiter zu spielen.

Inzwischen ward der Zigeuner unterrichtet, auf welchem Wege und zu welcher Stunde Johann Leander mit einer Ladung Geld zurückkehren werde, er fasste mit einigen Spießgesellen oberhalb Maltern unweit des Bergwirtshauses Posto, überfiel den Wagen, erschlug den Postillon und den Bankier dazu, raubte das und entfloh.

Leicht hätte sich von da an alle Spur verlieren können, wenn der Zigeuner weit weg über Berg und Tal entflohen wäre; aber ein wunderbares Geschick, die entartete Natur der Menschen benützend, legte sich hier, wie so oft ins Mittel.

Der Zigeuner, obwohl er eine bedeutende Summe geraubt, gab sich doch damit nicht zufrieden, er hielt den Strander für reichlicher belohnt und wollte, dass geteilt werde. Allein das wollte Strander keineswegs zu Sinn. Oft stritten sie bei Nacht an menschenleeren Orten, wüteten wie Bestien gegeneinander und trennte sich unverrichteter Sache wieder, bis eines Tages der Strander in etwas nachgab, den Spießgesellen mit einer runden Summe zufrieden stellte und ihn bewog, die Gegend für immer zu verlassen. Das geschah, der Zigeuner verließ mit den Seinen die Gegend, und es schien, er werde nimmer wiederkehren. Das Gericht leitete gegen den Strander eine Untersuchung ein, es war ihm nichts zu beweisen, er ward frei gelassen und ließ sich hier im Heimatdorfe nieder, lebte wie ein armer Mann, bat um die Nachtwächterstelle, erhielt sie, schnitzte Holzschuhe und ließ seinen Schatz vorsichtig in der Erde ruhen.

Aber da kam der Mordgeselle, der Zigeuner, nach einigen Jahren wieder.

Sein Geld sei fort, sagte er, die Teilung sei ohnehin zu seinem Nachteile ausgefallen, wenn er nicht zu gerechter Belohnung käme, müsste er – den geraubten Sohn des Nikolaus Leander, der inzwischen aufgewachsen, ins Geheimnis ziehen und ihn als natürlichen Erben freilassen und zu besserer Dankbarkeit verpflichten, als ihm Strander zeige. Das wirkte, und der Strander ward nun abermals ein Teil seines Raubes abgerungen; – da ...«

Der Sprecher hielt inne; denn Strander ging eben draußen vorüber und rief mit heiserer Stimme die zweite Morgenstunde aus.

Eine die ganze Versammlung durchschauernde Pause trat ein, dann fuhr der Sprecher in seiner feierlichen Weise wieder fort:

»Da geschah es, Friedländer, dass Ihr durch eine rühmenswerte Menschlichkeit den geraubten Sohn des Nikolaus Leander aus den Banden der Landstreicher befreitet. Florian wusste Euch nur zu sagen, er müsse in frühester Jugend seinen Eltern entführt worden sein, er entsinne sich eines Mutterangesichts, eines Vaters und eines reich eingerichteten Hauses nur wie im Traume noch, er könne aber weder Namen noch Gegend seiner Familie und Heimat nennen; Ihr wusstet nichts von dem Bestand und Zusammenhange des Verbrechens, Euch schien der Bursche aller Vorsorge wert, und weil er in Eurer Gegend um Küßüben nicht wohl ungestört unterzubringen war, schicktet Ihr ihn Euerm Freude Hallhöfer, wo er dann seit Jahren ein musterhaft fleißiges und bescheidenes Leben führt.

Kaum war Florian der Zigeunerbande entrissen, als diese schleunigst aus der Gegend floh; ein Dunkel wie zuvor blieb über dem Verbrechen.

Da erschien vor einigen Wochen das Weib des Zigeunerhauptmannes vor Gericht, es kam mit einem Kinde zugewandert, sagte, der Mann sei tot, es habe ein Geheimnis auszusagen, wenn man eine Belohnung dafür sicher stellen wolle. Die Belohnung wurde zugesichert, und so teilte die Zigeunerin mit, Florian sei ein Kind des Nikolaus Leander, sei von dem Diener desselben geraubt und gegen gute Belohnung ihrem Manne ausgeliefert worden; sie erzählte nun auch, ihr Mann habe sie ihr Lebelang schauderhaft misshandelt, sie habe nur aus Angst vor seiner Rache ihr Geheimnis nicht früher preisgegeben, sie habe mehrere geheime Zusammenkünfte der Verbrecher belauscht, habe erfahren, dass sie den Johann Leander umgebracht und beraubt, habe gesehen, wie sich beide tödlich hassten und bedrohten – kurz, sie wusste dem Gerichte Spuren und Tatsachen anzugeben, welche die gründliche Aufnahme des Prozesses möglich machten.

Und der Erfolg scheint das Werk auch krönen zu wollen.

Florian, der Erbe eines großen Vermögens ist gefunden, von der Zigeunerin als das geraubte Kind des Nikolaus Leander wieder erkannt – und des Zigeuners Spießgeselle, der Strander, wandelt unter unsern Augen, wir könne ihn fassen, wann wir wolle, auch ist er als dieselbe Person von der Klägerin erkannt. Allein das Gericht hat in Bezug auf diesen noch einige Zweifel, und dienlich scheint es, denselben scheinbar außer Beachtung zu lassen, während wir Florian mit kommendem Morgen aus seinem bescheidenen Dunkel und Lose reißen.«

»Heuer«, wendete er sich zu einem der Männer links, »in euerm kleinen Nebenraume wohnt der Strander; beobachtet ihn genau und teilt ihm nächsten Morgen mit, Florian sei der Sohn eines reichen Mannes, namens Nikolaus Leander, sei in früher Jugend seinen Eltern geraubt, einer Zigeunerbande gegen Lohn übergeben, von dem Friedländer befreit und jetzt zum Erben eines Vermögens von anderthalb Millionen Gulden geworden. Beobachtet, ohne ihm aufzufallen, wie er dabei aussieht, und teilt mir alles wieder mit. Ich habe Anstalt getroffen, dass er augenblicklich, wenn er fliehen will, verhaftet werde.«

»Hagenbacher«, wendete er sich zu diesem, »indem ich auch in meinem und des Gerichtes Namen danke für die schöne und wirksame Art, wie ihr die Geschichten, die ich euch gelehrt, den Leuten mit geteilt, muss ich zugleich bitten, euch noch die eine und andere Geschichte angeben zu dürfen, um sie unter die Leute zu bringen ... Ich selber«, fügte er hinzu, »ich selber bleibe vor der Hand der närrische Lord und – Zwickmühlfahrer!«

Nun wurden dem Schulzen noch einige Aufträge gegeben und zuletzt dem Hallhöfer gesagt:

»Ihr werdet so gut sein und dem Florian Leander morgen mitteilen, was ihm ein gnädiges Geschick so unerwartet verleihe, ihr könnt sagen, eine Amtseröffnung habe euch in Stand gesetzt, der Bote seines Glücks zu werden.«

Die Nacht war dunkel genug, um die Männer aus dem Weilerhause gelangen zu lassen, ohne gesehen zu werden.

Sie trennten sich mit seltsamen Empfindungen.

Der Friedländer begleitete den Hallhöfer noch eine Strecke vertraulich redend, nahm dann Abschied und ging zum Dorfe hinaus.

Als der Heuer an dem Nebenbaue seines Hauses vorüberging und nach dem Fenster der Stube blickte, wo Strander seit Jahren seine stille Herberge hatte, überlief ihn ein kaltes Entsetzen bei dem Gedanken, ein solches Ungeheuer unter seinem Dache zu haben; als der Hallhöfer vor seinem Hause ankam und hinüber blickte auf den alten Nebenbau, wo in einem Taubenschlage ein Bursche schlief, der reinen Herzens durch die Prüfungen des Lebens gegangen und in dem Augenblicke ohne Ahnung war, dass sich die Pforten eines außerordentlichen Glücks für ihn geöffnet, da musste er seinen Schritten Einhalt tun und bewegt sein Auge auf dem Taubenschlage ruhen lassen ...

Der Wind der weht,
Der Hahn der Kräht,
Die Glock' schlägt drei,
Der Fuhrmann hebt sich von der Streu.

Florian erwachte.

Er fuhr empor und tappte mit beiden Händen über das Bett hinaus wie jemand, der etwas, das ihm entfällt, noch schnell erhaschen will.

Er kam erst durch diese Bewegung vollkommen zu sich und – lächelte.

Was ihm mit dem Traume zu entfliehen schien, das hielt auch noch im Wachen bei ihm aus, er wog und schätzte es mit froher Seele: der Friedländer, sein großer Freund, sein Retter, hatte ihn nicht vergessen, hatte ihn sogar aufgesucht, hatte ihn liebevoll angeredet und ihm versprochen, bald wieder zu kommen.

Diese Erinnerung war ihm unschätzbar, wie eine duftende Nelke steckte er sie seinem Gedächtnis hinter das Ohr.

Und heute Nacht hatte er seine Mutter gesehen.

Er saß unbeweglich da, Weh und Seligkeit wechselten in seinem Herzen. Dass ihm die Mutter bloß im Traume erschienen, hatte nichts zu sagen; sie war's, sie musste es sein, er wollte, dass sie es war.

Also besaß er jetzt einen mächtigen Freund im Leben und eine zärtliche Mutter im Himmel und – wie heilig sah sie aus, wie hatte sie ihn durch Tränen lächelnd angeblickt!

Florian war endlich angekleidet, ohne zu wissen wie. Mit neugierigen Augen blickte er durch die Wandöffnung des Taubenschlages, um zu sehen, ob das Zitterfirmament des Traumes, das sich wie ein Vorhang gespalten und in zwei Hälften herab gewallt war, noch zu sehen sei; allein auch das war verschwunden, an dessen Stelle umhüllte graue Dämmernis das weite Firmanent.

Obwohl es noch gute Weile hatte bis zur ersten Arbeitsstunde, so wollte Florian doch sogleich ins Freie, er trat aus seiner Taubenredidenz, schloss die Türe hinter sich zu, kam die Leitertreppe herunter, und in Kurzem lehnte er mit gezogener Lederkappe und, die Augen voll Andacht gegen Osten richtend, am großen Birnbaum jenseits des Baches ...

Der Gaul der scharrt,
Die Stalltür knarrt,
Die Glock' schlägt vier,
Der Kutscher siebt den Haber schier.

Der Hallhöfer trat aus der Haustüre. Er war noch ganz in Kleidern, wie er nachts heimgekommen war.

Vor der Türe blieb er, die Arme überm Rücken, in Gedanken stehen, dann ging er langsam im Hofe auf und nieder und blickte von Zeit zu Zeit zum Taubenschlag, der »eigenhändigen« Residenz Florians empor.

Bald darauf legten sich auch die beide Flügel der Stalltür geräuschlos auseinander; der Oberknecht machte auf den Schwelle unverkennbare Anstalt, sich in der frischen Morgenluft zu recken, unterbrach sich aber und zog sich in das Dunkel des Stalles zurück, als er seinen Meister im Hofe wandeln sah, wo er vor Sonnenaufgang selten gesehen worden.

Auch Florian blickte verwundert hinter dem Birnbaum hervor, sich fragend, was den Hallhöfer zu so früher Stunde heraus gelockt haben möge.

Der Hallhöfer machte jetzt eine Schwenkung gegen den Nebenbau, in welchem sich der Taubenschlag befand; er erreichte das große Brettertor und fing an, es aufzudrücken, aber er trat alsbald wieder zurück und ging durch den Hof dem Wohnhause zu.

Zögernd trat er in das Haus, ging durch die Stube nach der Kammer und von da in das Stüble, wo er zu schlafen pflegte.

Die Hallhöferin war eben auch erwacht, richtete sich verwundert im Bette auf und sagte, ihren Mann von Kopf zu Füßen angekleidet und in seltsamer Bewegung erblickend:

»Mann, Mann! Was gibt es? Wo bleibst du? Wo bist du gewesen die Nacht?«

Der Hallhöfer hatte einen Stuhl ergriffen, stellte ihn langsam in die Mitte des Stübchens und setzte sich, das Gesicht dem Weibe zugekehrt und beide Hände auf den Knien, nieder.

Er machte einen Versuch zu sprechen, vermochte es aber nicht sogleich; endlich hoben und senkten sich die Augenbrauen, und er sagte wie halb für sich:

»Eine und noch eine Million; mehr als zehn Dörfer mit Wald und Feld und Menschen und Hausgerät und Tieren dazu!«

Die Hallhöferin erschrak über diese dunklen Worte und sagte:

»Was ist geschehen? Red', auf dass dich andere auch verstehen!«

Der Hallhöfer ließ die Augenbrauen wieder sinken und sagte dumpf und in Gedanken:

»Steh auf. Mach' Kaffee. Wir können ihn nicht mehr im Nebenbau lassen. Wir schlagen unser Bett da heraus. Er muss herüber. Da muss er herein; da muss er bleiben!«

Die Hallhöferin erschrak noch heftiger, schlug die Hände zusammen und rief:

»Um Gott und Christi willen, Mann! Sag' doch nur, was du meinst! Ich kann nur schauen und schauen! Was, zehn Dörfer? Was, eine und noch eine Million?«

Der Hallhöfer saß noch einen Augenblick da, ohne etwas zu erwidern, dann stand er auf, hob den Stuhl wieder weg und sagte:

»Jetzt muss ich hinüber. Er selbst – Florian weiß noch nichts ... O Weib, o Weib! ... Steh auf, wir haben einen reichen Gast. Der Florian ist nicht mehr der Florian. Er ist ein geraubtes Kind; er ist von steinreichen Eltern. Alles ist entdeckt, und seine Erbschaft ist gefunden – eine und noch eine Million – steh' auf und komm bald nach – er hat noch keinen Sterbensgedanken von all seinem Glück!«

Und ohne eine Erwiderung seines Weibes abzuwarten, ging er schweren Trittes aus dem Stübchen ...

Er traf das Dorf nicht mehr so ruhig als zuvor.

Die Nachricht von dem außerordentlichen Glück Florians war indessen laut geworden und hatte in lärmender Weise um sich gegriffen.

Man klopfte sich an die Fenster, man rief sich auf halbe Dorflänge die Kunde zu, man sammelte sich in lebhaften Gruppen und setzte sich nach und nach in Bewegung – wie viele Bächlein in einen Strom vereint, toste endlich die ganze Bevölkerung dem Hallhofe zu.

Man wollte den Florian, den Liebling eines beispiellosen Glückes sehen; man rief, man fragte, man drang durch das große Tor des Nebenbaues, man wollte Florian im Herzen seines Palastes aufsuche, man stieß die Türe des Taubenschlages ein, man streckte suchend die Köpfe durch das runde Wandloch der Zelle – allein Florian war nicht da, Florian war nicht zu finden!

Er stand noch hinter dem Birnbaum jenseits des Baches und geriet über die unbegreiflichen Dinge rings in einen höchst verwirrten Zustand.

Nicht im Entferntesten ahnend, dass ein so wildes Getümmel des Dorfes durch eine Glücksnachricht hervorgerufen sei, glaubte er vielmehr, sein früherer Unstern setze die Gemüter in Brand, seine Verbindung mit den Landstreichern sei ausgespürt und werde ihn zu Grunde richten.

Er bebte und wankte; und als er jetzt den Hallhöfer durch die Menge gehen und ernst auf sich zukommen sah, da zog er fahlen Gesichtes wie ein zerknirschter Verbrecher vor eine nahenden Gerichtsperson seine Kappe und sah den Meister mit seinen großen, blauen Augen höchst rührend und kindlich an, als wolle er sagen:

»Ich weiß, ich bin verloren, und weiß mich nicht gegen euch zu wehren, aber sagt mir nichts Hartes und beschimpft mich nicht, ich bin arm und allein und verlassen!«

Der Hallhöfer winkte ihm, ohne zu sprechen. Florian folgte ihm gebeugt und zerknirscht, es fiel ihm die Lederkappe aus der Hand, ein Kniebund ging auf, und der Strumpf sank ihm bis an die Knöchel, so von innen und außen ohne Halt, folgte er dem Hallhöfer nach dem Hause, während das Volk zu beiden Seiten stumm auseinander trat; einige nickten, andere grüßten leise, alle schauten ihn sozusagen in Stücke, und als er mit dem Hallhöfer über die Haustürschwelle trat, wollte alles dumpf brausend in das Haus nachdringen – horch! – es war um die Stunde, wo

Die Schwalbe lacht,
Die Sonn' erwacht,
Die Glock' schlägt fünf ...



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