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Ein guter Mensch

I

Wien war wieder beisammen. Wir wollen damit nicht sagen, dass es seins fünf Sinne wieder beisammen hatte, denn Wien ist in dieser Beziehung immer beisammen, einige neckische Fälle ausgenommen, wenn etwa einem einfüßigen Tänzer die Pferde ausgespannt werden und der Linienenthusiasmus seine nicht unter Protektion der Tierschutzvereine stehenden Lehrjungen an die Deichsel entsendet; aber auch ein solcher Fall darf als ein durch die schwächere Hälfte vorwiegend hervorgerufener, gelinder Gehirnentzündungsfall mit Nachsicht beurteilt werden, da er aus einer starken Dosis Mitleid entstanden ist.

Wien war also wieder beisammen, das heißt, der Herbst war da, die Luft- und Wassertrinker aus Berg- und Badegegenden waren zurückgekehrt, die Herrschafts- und Bankierwohnungen hoben ihre gesenkten Augenlider, die Fenstervorhänge, wieder, und wenn auch mancher schöne Tag noch schüchterne Versuche zu Landpartien hervorrief, so durfte man doch sicher sein, dass die kühn ins Ferne Schweifenden zur Zeit der Dämmerung wieder zurück waren, um lieber unter dem schützenden Privilegium schimmernder Gaslichter in den Straßen Wiens zu promenieren als im natürlichen Dunkel ländlicher Ortschaften, wo mit den Hühnern alles schlafen geht.

An einem solchen Herbstabend war es – ein leichter Nebel umschleierte die zahllosen Lichter und gab dem Gewoge der Straßen etwas Traut-Geheimnisvolles – als ich nach längerer Wanderung durch Straßen und über Plätze aus dem dichtesten Menschenstrom schied und in einer weniger belebten Straße vor einem schön beleuchteten Schaufenster stehen blieb.

Was ich gerade in diesem Schaufenster zu suchen hatte, mag so manchem aufgefallen sein, da nur Damenkleiderstoffe, Spitzen und dergleichen in malerischer Ordnung aufgeschichtet waren; auch gewahrte ich wohl die verwunderten Blicke schau- und kauflustiger Damen, die nicht begreifen konnte, wie ein Mann dazu komme, ihren geschmackskundigen Schwestern den Platz zu verstellen, es sei denn, er habe die zartsinnige Absicht, für eine unbekannte Schwester einige kostbare Stoffe zu erkiesen und gleich bar zu bezahlen.

Aber auf welcher falschen Fährte irrten diese schnell zugreifenden Gedanken! Ich blickte in den Raum dieses Schaufensters nur, um nicht zu sehen, was darin sich befand: ich suchte im Rahmen des Fensters statt neuer Kleiderstoffe ein Stück halbvergangenen Lebens, welches in diesem Augenblick wieder frische Farbe annahm und in heiterem Glanze erschien.

In dieser Fensternische hatte ich früher, als das Lokal noch Kaffeehaus war, oft gesessen und in Gesellschaft oder allein so manche angenehme Stunde verlebt. Weshalb mir heute von all den muntern Erlebnissen eins gerade frisch vor Augen trat, weshalb von all den Charakterköpfen, die im Laufe der Jahre mein Gegenüber gebildet, gerade der eine Zug für Zug vor meiner Erinnerung stand, das war wohl, wie in so vielen Fällen, das Geheimnis augenblicklicher Stimmung oder Eingebung.

Wie sah ich dich wieder, wackerer Siegert, dich, den milden, guten, trefflichen Genossen, der immer so viel auf dem Herzen hatte und es immer so gern in traulicher Stunde los werden wollte!

Da, gleich rechts in der Fensternische, meine Melange vor mir, saß ich, und da drüben, links in der Nische, deine Melange vor dir, saßest du. Und in dem wir so saßen, bald ich von meiner, bald du von deiner Melange nippend, was kam da nicht alles, Gutes und Schlimmes, Kluges und logisch Verwegenes zur Sprache!

Ich musste von dem Schaufenster weg, um keine Rührung merken zu lassen, denn die Welt will nicht gerührt werden heutzutage, sie will nur unterhalten und nebenbei reich werden.

Indem ich also an jenem Abend von dem Schaufenster weg die Straße weiter wandelte, gedachte ich des Tages, an dem ich meinen Siegert – Melchior hieß er nebenbei – in jener Nische kennen lernte und wegen seines aus allen Mienen strahlenden Glücks alsbald lieb gewann. Wir hatten kaum die Präliminarien unserer Bekanntschaft ins Reine gebracht, als er schon mit anerkennenswerter Offenheit den innersten Born seines Herzens öffnete und die Mitteilung machte, das er leibe, dass er wieder geliebt sei und so gut als verlobt betrachtet werden dürfe.

Ich konnte natürlich nur gratulieren und wünschen, dass Verlobung und Heirat sich auf dem Fuße folgen möchten, denn die glücklich Liebenden können sich nicht schnell genug haben. Freund Siegert, so darf ich ihn wohl fortan nennen, war sehr dankbar für diese Teilnahme, und obwohl ich es gar nicht verlangte, ließ er sich's doch nicht nehmen, meine Kenntnis seines Glücks auf dem Laufenden zu erhalten und täglich gewissenhaft zu rapportieren.

Diese Glücksrapporte hätten möglicherweise für die Dauer an Interesse verlieren können, wenn nicht das Schicksal, sei es zum eigenen Genügen oder, um meinen Freund nicht übermütig werden zu lassen, für Abwechslung, respektive Überraschung gesorgt hätte.

Eines Tages – dies darf wörtlich genommen werden, da es nicht bei Nacht war – saß ich wieder in meiner Fensternische und harrte meines treuen Siegert, als er später als gewöhnlich erschien und auch etwas nicht mitbrachte, was er stets mit sich zu führen pflegte. Sein schönes Glück, seine ungetrübte Munterkeit.

Mit unruhigen, forschenden Blicken schien er, kaum in der Nische sitzend, zu fragen, ob ich denn nichts an ihm verändert finde, nicht begierig sei, den Grund seiner auffallenden Erscheinung zu erfragen.

Ich wollte sein Bedürfnis, den Inhalt seines Trübsinns um jeden Preis los zu werden, nicht länger auf die Probe stellen und zeigte mich begierig, des Rätsels Lösung zu erfahren.

Mit einer Behändigkeit, die nur der Leidenschaftlichkeit des Schmerzes entspringen darf, um noch innerhalb der Grenze der Würde zu liegen, gestand mein Freund, dass sich Hindernisse eingestellt hätten, Verwicklungen, Feinde gegen das friedliche Arrangement seiner Verlobung und Heirat.

»Himmel! Auch hier will das Schicksal mit unerbittlicher Tücke das Saatfeld der Liebe verheeren?« rief ich. »Was ist geschehen?«

Mein Vortrag vollendete das Pathos meiner Worte.

Diese Teilnahme sollte nicht unbelohnt bleiben. Mit einer Ausführlichkeit, die, ich will nicht sagen, einer bessern, wohl aber möchte ich sagen, einer erhabeneren Sache würdig gewesen wäre, erzählte nun mein Freund eine komplizierte, schwer zu behaltende und teilweise dunkle Familiengeschichte, aus der mir nur zwei fassbare Punkte entgegentraten, erstens, dass ein böser, bisher im Hintergrund sich haltender Onkel, von dem aber, weil er reich und die Familie arm war, das äußere Glück der Letzteren abhing, mit rauer Vehemenz hervor- und zwischen den Frieden der Liebenden getreten war; und zweitens, dass Mathilde, so hieß die holde Sie meines Freundes, jetzt die Aufgabe einer Vermittlung oder Transaktion, offen gesagt, Trennung zu vollziehen hatte.

So wenigsten musste ich die Sache auffassen nach der Mitteilung des Freundes. Denn die Geliebte hatte ihm gesagt, sie zwar wolle ihm treu bleiben im Leben und im Tode, allein wenn auch er nicht von ihr lasse, sie dennoch erringen wolle, so werde der reiche Onkel von der hilflosen Familie sich zurückziehen und sie ihrem Schicksal überlassen.

»Was werden Sie tun, lieber Freund?« fragte ich gespannt.

»Ich«, sagte er blass und in seinen Grundfesten bebend, »ich habe ausgekämpft und ausgerungen, ich resigniere wie ein Mann. Ich opfere das Glück meines Herzens für das äußere Wohl einer ganzen Familie.«

»Ihr Entschluss ist edel«, sagte ich. »Wenn Sie's dabei aushalten können, so ist's sehr erfreulich.«

Leider trat die so gut als beendete Sache am nächsten Tage noch einmal in eine neue Phase, in einen hitzigen Nachsommer und, wie mir vorkam, sehr unnötiger Weise.

Denn als mein armer Freund der Geliebte die Nachricht seiner Resignation brachte, überfiel sie ihn mit der jammervollen Nachricht, dass der reiche Onkel nicht nur ihre beiderseitige ewige Trennung wolle, sondern der Geliebten sogar einen künftigen Gatten ausersehen habe.

Nun wäre es nach dem »ohnehinnigen« Austritt meines Freundes aus der Aktion eine innere Frage der Geliebten gewesen, den Eleven ihrer Ehe sich aufzwingen zu lassen oder nicht.

Aber die Geliebte schien das Bedürfnis zu haben, nicht allein zu leiden. Sie kannte das Herz ihre »Frühern« zu wohl, ach, und Mitleid tut so gut! Mathilde sagte also meinem Freunde, sie werde den Aufgedrungenen nicht nehmen, durchaus nicht, nein, und jetzt gerade nicht. Nur wenn ihr »Früherer« selbst der Ansicht sei, dass das Leben dem Tode vorzuziehen, dass das traurige Los der Familie in Betracht zu ziehen sei, nur dann, aber dann auch ganz gewiss, werde sie den Schleier nehmen und den andern jungen Mann dazu.

Für meinen bedrängten Freund lag also die Sache so: er hatte resigniert, sie nicht. Er sollte jetzt alle Mittel in Bewegung setzen, um die Geliebte auch zur Resignation zu bekehren, damit der andere nicht zu resignieren brauche und die Heirat zwischen ihm und der Geliebten richtig zu Stande komme.

»Was werden Sie tun?« sagte ich sehr gespannt.

»Ich werde die Familie nicht unglücklich machen«, sagte mein Freund mit tonloser Stimme. »Eben war ich bei ihr; sie ist bereit, ihn zu nehmen. Dann war ich bei ihm, damit er das Opfer würdigen lerne, das sie ihm bringt. Es ist mir gelungen. Der längere Kampf Mathildens hätte mich getötet. Gott sei Dank, ich habe sie endlich überzeugt, wie unumgänglich es sei, auf mich zu verzichten.«

II.

Wochen, Monate vergingen. Mein Freund schien doch sehr stark an den Nachwehen seines Herzens zu leiden. Denn er kam weder in die gewohnte Fensternische, noch ließ er die geringste Kunde zu mir dringen. Schon gab ich mich der stillen Besorgnis hin, dass er von der starken Hand seines Schmerzes auf das Krankenlager geworfen oder aus einem Fenster des dritten Stockes gestoßen worden sei, als ich eines Tages durch das Fenster meiner Kaffeehausnische blicke und – alle Wetter! – meinen Siegert, eine muntere Schwarzbraune mit obligatem Tituskopf am Arme, vorüberspazieren und recht gewandt und artig der Schönen den Hof machen sehe. Das war ein an die grüne Seite ziehen, ein unter den Hut Gucken, ein vertrauliches Getue und Geflüster und glückliches von dannen Eilen, dass ich mit einiger Aufregung dachte:

»Hat man jemals so etwas gesehen?«

Allein ich fiel mir selbst in die Gedanken und sagte:

»Nun, wenn ich's recht bedenke, es ist auch weiter nichts. Mein Freund hat sich statt ins Wasser in eine neue Liebe gestürzt; Zeit hat er dazu ein Vierteljahr gehabt, ein anderer hätte das sogar in kürzerer Zeit vollbracht.«

Noch voll von solchen Betrachtungen sehe ich meinen Freund den Weg, den er gegangen, zurückkommen, am Kaffeehaus flüchtig nach dem Nischenfenster spähen, dann der Eingangstür zustürmen und hereintreten.

»Siegert! – Josef im Schnee! – Teurer Freund! – Langvermisster Genosse!« so grüßten und umarmten wir uns im nächsten Moment.

»Dass ich Sie wieder sehe!« fuhr ich fort, als er, seine Melange vor sich, mir gegenüber saß.

»Da bin ich wieder«, erwiderte er, munter wie ein Ringelspatz und mir über die Melange weg die Hand noch einmal reichend.

Ich sah es seinen Blicken wohl an, dass sie mich zum Fragen und Erkundigen herausforderten. Ich ging also gleich ans regelrechte Erforschen seines jüngsten Schicksals und hatte das Vergnügen, bald die mündlichen Akten unverkürzt auf den polierten Steintisch niedergelegt zu sehen.

Zwar der Anfang – das ließ sich auch erwarten – der Anfang lautete trübe, sehr trübe. Mein Freund hatte wirklich noch einmal auskämpfen und ausringen müssen. Dann aber taten einige Ausflüge, eine kleine Reise und der Besuch der Sputzentheater ihr Werk. In einem dieser Theater, wo eines Abends sehr viel gelacht wurde, wo auch mein Freund mitlachte und wo ihm besonders das engelhafte Gelächter rechts an seiner Seite, herrührend von einem himmlischen Tituskopfe, unsägliches Vergnügen machte, n einem dieser Theater, sagen wir, wer es, wo er, nicht wachsam genug, sich die Liebe ins Herz geraten ließ, wie einem manchmal bei zu geringer Vorsicht, während man nach der Sonne sieht und die Lippen öffnet, eine Mücke zwischen die Zähne gerät.

Ist die Liebe nur einmal im Herzen, so ist es schwer, sie wieder herauszubringen, und in den meisten Fällen hat das Herz gegen die neue Einquartierung auch nichts einzuwenden.

Auch Siegert dachte: besser mit neuer Liebe leben als mit alter vergehen, und errichtete dem Tituskopf seinen Altar der Verehrung. Wie, wann und wo er nun sein Verhältnis einfädelte, weiterspann, als Netz ausstrickte und für die Ewigkeit zu verknödeln suchte, das zu erzählen würde hier zu weit führen, wir begnügen uns zu erfahren, was er mir sagte, dass er neuerdings liebe, neuerdings geliebt werde und neuerdings Hoffnung habe, verlobt zu werden, eventuell zu heiraten.

»Dann habe ich nur eine Bemerkung zu machen, Freund. Trachten Sie, dass Sie ins Reine kommen«, sagte ich.

»Ganz gewiss«, sagte er freudig glühend. »In acht Tagen kommt der Vater Irenens, der viel auf Reisen ist, zurück, ihm wird gleich alles eingestanden, und da ich die Mittel habe, eine Familie anständig zu erhalten, so ist seine Einwilligung so gut als gewiss.«

»Das soll mich freuen«, bemerkte ich voll aufrichtiger Teilnahme und reichte ihm die Hand in dem Momente, als er gerade die Tasse zum Munde führen wollte.

Die folgenden acht Tage nahmen wieder ganz den Charakter der glücklichen Vorperiode an, nur dass der Name Irene statt Mathilde auserkoren war, unsere Unterhaltung zu beleben.

Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, sagt das Sprichwort, und wirklich vergingen Stunden und Tage meinem Freunde wie im Flug, und die Rückkehr seines Schwiegervaters in spe erfolgte.

Mit großer Spannung eilte ich an dem Tage, an welchem alles entschieden werden sollte, meiner Fensternische zu und wartete mit Ungeduld der Dinge, die da kommen sollten.

Ich sah wohl Menschen genug die Straße auf und ab wandeln, sah die Kaffeehausgäste wechseln, sah manche Billardpartie zu Ende spielen, wer aber nicht kam, das waren die Dinge, die da kommen sollten, und zu diesen gehörte auch mein Freund Melchior Siegert.

Ich dachte hin und her, was meinen Freund verhindern könne zu kommen, mich machte das vorherige Erlebnis mit Mathilden etwas unruhig, aber was half das alles, Siegert kam nicht. Er schien auch an dem nächsten Tage nicht, am dritten gleichfalls nicht, kurz, das ich nur die ganze Wahrheit ohne Umschweif sage: mein Freund blieb weg und ließ sich achtzehn volle Wochen nicht mehr sehen, auch nichts mehr von sich hören.

Tod, wo ist dein Stachel? Was war geschehen?

Anfangs konnte ich mich noch mit dem Gedanken trösten, dass wohl möglicherweise das Glück meinen Freund wie manchen Liebenden vorübergehend um den Verstand gebracht habe und er vorerst nur zu den Füßen Irenens oder streifend in den Gefilden des Prater seine namenlose Seligkeit ausrasen müsse; aber endlich, da doch allem Übermaß einmal sein Ende werden muss, gab ich mich der zweiten Lesart hin, dass die Hoffnung und Liebe meines Freundes abermals ein Bein gebrochen und ihn auf ein frisches Schmerzenslager geworfen habe.

Wie recht ich leider hatte, ersah ich später nur zu sehr an der Hinfälligkeit meines Siegert, als er nach Verfluss eines halben Jahres wieder in die Nische kam, um mich zu seheh.

Gott, du Gerechter, war das ein Wiedersehen!

»Siegert! – Josef im Schnee! – Teurer Freund! – Langvermisster Genosse!« Also grüßten und umarmten wir uns wieder, aber mit welchem Ton, welchen Trauermienen!

Ich dachte schon, jede Frage nach seinem Schicksal würde den Freund auf und davon treiben, da sein Weh von Neuem erwachen müsste; allen aus Siegerts unruhigen, fragenden Blicken ersah ich bald deutlich, dass er zu reden wünsche, dass er wieder ein Herz zum Überlaufen voll habe.

Also fragte ich denn.

Das Schicksal hat doch sehr viel vor dem Verfasser einer Lebensgeschichte voraus. Ohne Gewissensskrupel wiederholt es zur eigenen Unterhaltung ein und dieselbe Geschichte hinter einander, während ein Autor sich hüten muss, zweimal in ein und dasselbe Fahrwasser zu geraten.

Wir begnügen uns also zu sagen, dass mein Freund bei Irenen das nämliche Schicksal hatte wie bei Mathilden und dass nur einige Umstände veränderte Namen hatten. Statt des bösen Onkels setzen wir einen grimmigen Vater, der längst im Stillen seinen Schwiegersohn in petto hatte und ihn umso fester proklamierte, als er recht von Grund aus in seine Geschäfte passte. Kurz, Irene stellte meinem Freunde anheim, sich so oder so zu entschließen. Resigniere er, so resigniere auch sie; resigniere er nicht, so resignier auch sie nicht. Aber sie gebe ihm die Folgen zu bedenken, wenn er und sie nicht resignierten. Nicht nur zwischen ihr und dem Vater, sonder auch zwischen Vater und Mutter und Bruder und Schwester werde sich ein heilloser Krieg entspinnen, in welchen sich die fremden Mächte, Vettern und Tanten, mit allem Nachdruck mischen würden.

»Nun, mein Freund«, fragte ich nach Anhörung dieses merkwürdigen Falles wieder, »was haben Sie getan?«

»Sollt ich«, sagt er mit gebrochener Stimme, »über Irenens Familie ein Schicksal heraufbeschwören, welches ich von Mathildes Familie abgewehrt habe? Ich resignierte und beschwor auch Irene, wie schwer es ihr auch falle, zu resignieren. Und so hat sie mir zu Liebe endlich eingewilligt und den andern wirklich genommen.«

III.

Nach also feststehenden Tatsachen konnte meine Aufgabe nur noch sein, das Gemüt des Freundes auf jede gute Art wieder zu Kräften zu bringen und zu zerstreuen. Ich wechselte den Ort unserer Zusammenkunft, ich zog einige muntere Bekannte in unsern Kreis und suchte den Geist des Freundes mit Gegenständen zu beschäftigen, die tüchtig zu denken gaben und vielseitig anregten.

Eines schönen Sommerabends schlug ich vor, einen Garten zu besuchen und dort bei guter Musik zu soupieren.

Der Vorschlag wurde angenommen, und wir befanden uns eine Weile ganz wohl daselbst.

Allein plötzlich erblasste mein Freund, sah starr nach einer Richtung des Gartens und sagte leise: »Ändern wir den Platz.«

»Warum?«

»Dort sitzt Irene mit ihrem Mann.«

Ich wusste die Zartheit seiner Absicht zu würdigen und setzte mich mit ihm weiter weg, wo uns ein kräftiger Baum etwas decke.

»Wenn sie mich sähe, ihre Ruhe wäre dahin«, sagte Siegert hier.

»Und das wäre schade«, sagte ich, »denn sie scheint sich sehr gut zu unterhalten.«

Aber nicht lange, und mein Freund erblasste zu zweiten Male und sagte: »Ändern wir die Stelle.«

»Warum?« fragte ich.

»Dort sitzt Mathilde mit ihrem Mann«, sagte er und zog mit seinem Bier in der Hand sofort nach einem andern Platz.

»Wenn die mich sähe, es wäre um ihre Ruhe ganz geschehen«, sagte er, als wir wieder saßen.

»Sie haben recht«, wiederholte ich, »denn auch sie scheint sich sehr zu unterhalten.«

Wir erhielten nun Geselligkeit von Bekannten und wurden sehr vergnügt bis auf meinen Freund, der von Zeit zu Zeit besorgt bald nach Mathilden, bald nach Irenen Ausguck hielt, ob sie ihn nicht dennoch entdeckten zu ihrem Herzensschaden.

O Gott ja, sie entdeckten ihn wirklich; aber sie entdeckten ihn, ohne dass ich sagen könnte, Mathilde und Irene seien durch den Anblick meines Freundes im Geringsten beunruhigt oder gar schmerzhaft berührt worden. Irene, mit dem schönen, poetischen Namen, tat regelmäßig nach dem Anblick des Freundes einen kräftigen gemütsruhigen Zug aus dem Glase ihres Mannes, während Mathilde, die gerade ein Huhn verlegte, als sie ihren »Frühern« erblickte, ungestört in ihrer säuberlichen Arbeit fortfuhr und später jedenfalls es vorzog, von dem Huhn zu essen und mit ihrem Mann und dessen Bekannten sich zu unterhalten, als nach meinem guten Siegert zu blicken.

*

Als wir an jenem Abend von einander schieden, stand bei mir der Gedanke fest, dass Siegert die beiden Male sein Herz an jene Art von hübschen Kokotten verloren habe, die zwei Ehemannskandidaten einem einzigen entschieden vorziehen.

Ich war nicht ungeneigt anzunehmen, dass sie früher ganz wohl gewusst, wer von Vaters- oder Oheimsseite zu ihrer stärkeren Hälfte bestimmt worden sei, dass sie aber, um eine unbeschäftigte Zeit angenehmer hinzubringen oder auch eines »Künftigen« ganz gewiss zu sein, die Werbung Siegerts vorübergehend angenommen hatten.

Zur Zeit der definitiven Entscheidung von Seiten des Vaters und Onkels gaben Mathilde wie Irene einfach durch gut gespielte Komödie dem weichen Herzen meines Freundes anheim, wie er sich aus dem Dornengestrüpp seiner ehrlichen Liebe wieder schlecht und recht herausarbeiten wolle.

Diese Gedanken fand ich später, da ich Mathilde und Irene näher kennen lernte, vollkommen bestätigt. Ich hütete mich aber, meinem Freunde so etwas mitzuteilen. Seinen Schmerz hatte er zumeist überstanden, und meine Mitteilung hätte ihm den frischen Schmerz einer Kränkung erzeugt.

Jetzt freilich, wo Siegert anderwärts behäbiger Vater von sieben Kindern ist, darf er diese Zeilen wohl zu Gesicht bekommen, sie dienen ihm vielleicht als gute Lehre für seinen hoffnungsvollen Sohn, der eben angefangen hat, Zigarren zu rauchen und also nächstens wie jeder Erdensohn das Gebiet der Liebe betreten dürfte.

 

*

 


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