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Herr Oberst,
vier Jahre habe ich in der Not meines Herzens mir den Augenblick vorgestellt, wenn alle Hoffnungen meines Volkes, alles nationalistische Selbstbewußtsein, ja selbst der Glaube an die Gerechtigkeit seiner Sache zusammenbrechen würde. Ich habe geglaubt, das Leben würde stillstehen, die Menschen würden aus Verzweiflung in den Straßen niedersinken.
Nichts ist geschehen. Das Leben ging weiter, die Menschen waren wie Kinder, die an offenen Gräbern spielen.
Warum sage ich Ihnen das?
Weil man von der Schuld des deutschen Volkes spricht. Das Volk ist in den Krieg gegangen, weil man ihm gesagt hat: es muß sein. Es hat sich töten lassen, es hat getötet und zerstört, weil man ihm gesagt hat: es muß sein. Jetzt, da es vor seinem Untergange steht, öffnet es zum erstenmal seine erstaunten Augen und fragt: Muß es sein?
Vor Jahrhunderten haben die großen Völker des Westens das Erwachen erlebt durch den Weckruf der Revolution. Wir haben bis gestern keine deutsche Revolution gekannt, denn 1848 war ein gutmütiger Putsch der Bürger. Wenn es eine deutsche Schuld gibt, so ist dies die einzige.
Schuldige Menschen gibt es. Außer den wenigen, die aus Machtwahn den Krieg gewollt haben, sind wir es. Wir, die Zehn oder Hunderte, die den Krieg kommen sahen, die vom ersten Tage seinen Wahnsinn und seine Hoffnungslosigkeit wußten, die Gewalttaten verurteilten, den Unterseekrieg und die Feindschaft Amerikas als Beginn der Katastrophe erkannten.
Unsere Schuld ist, daß wir heute noch leben. Abwenden konnten wir nichts.
In meinen Schriften habe ich vor dem Kriege gewarnt. Als er kam, habe ich die Rohstoffwirtschaft organisiert, um den sofortigen Zusammenbruch zu verhindern; dann habe ich alle meine Arbeit darangesetzt, um Frieden, Versöhnung, Abkehr von Gewaltpolitik und Annerionismus zu vertreten. Im Juli 1917 sah ich zum letztenmal Ludendorff im Hauptquartier. Ich sagte ihm: Wenn Sie Ihre maßlosen Forderungen verwirklichen wollen, müssen Sie London, Paris und New York besetzen; ich wies ihm die falschen Zahlen und Berechnungen der Marine nach und die Aussichtslosigkeit des Unterseekrieges. Er setzte mir entgegen, was er sein Gefühl nannte und was seine schrankenlose Gewalt war. Einmal freilich habe ich zum Widerstand geraten: als derselbe Ludendorff die Regierung zwang, statt der Liquidation den Bankerott anzumelden.
Warum sage ich Ihnen das?
Um zu zeigen, daß gegen den alten Militärstaat, der durch seine Macht jeden Willen und durch seine Information jeden Geist knebelte, jeder Widerstand vergeblich war.
Deutschland ist schuldlos. Der deutsche Wille war trotz aller Parlamente gebunden durch die furchtbarste Militärmacht. Durch die Revolution ist zum erstenmal der deutsche Wille frei, und dieser Wille ist der Frieden.
Deutschland war stets ein gefährdetes Land. Auf einem Boden, der dreißig Millionen ernähren kann, sind siebzig erwachsen. Sie haben von der Lohnarbeit für andere Völker gelebt und Zeit gefunden, der Welt manch schönes Gut des Geistes zu schenken.
Unser Außenhandel ist erschüttert. Wir verlieren Elsaß mit seinem Erdöl und Kali und Lothringen mit seinen Erzen. Unsere Kolonien sind gefährdet. Es bleibt uns kein bedeutender Rohstoff außer Kohlen. Der Reichsverband droht zu zerreißen. Seit drei Jahren hungert das Volk, schwindet der Nachwuchs. Wir sind tief verschuldet und haben kein Arbeitsmaterial, über uns schwebt die Gefahr einer gewaltigen Kriegsentschädigung. Die Militärmacht ist entwaffnet, wir sind wehrlos.
Warum sage ich Ihnen das, da Sie es wissen?
Nicht um Mitleid und Erbarmen zu erbitten, sondern um von einer Verantwortung zu reden, die auf Erden nicht war, solange es einen menschlichen Geist gibt, und nicht wieder sein wird.
Herr Oberst, unsere Bekanntschaft war nicht lang. Doch haben Sie mir einiges Vertrauen erwiesen, weil ich vertrauensvoll und wahrhaft Ihnen die Lage meines Landes darlegte und Ihnen sagte, daß nur Amerika den Frieden bringen könne. Mein menschliches Vertrauen zu Ihnen und zu Ihrem Freunde und Präsidenten ist unverbrüchlich, so wie ich nie im Kriege aufgehört habe, an die großen Traditionen Amerikas, Frankreichs und Englands zu glauben. Ihr Botschafter wird Ihnen gesagt haben, daß ich bis zum letzten Augenblick für die Freundschaft mit Amerika eingetreten bin und Ihr Vertrauen nicht getäuscht habe. Kann es Sie als freien Vertreter eines freien Staates kompromittieren, wenn ich als Deutscher und als Mensch zu Ihnen rede? Dann lehnen Sie mich ab und sagen Sie: Ich kenne Sie nicht.
Niemals ist, solange es Weltgeschichte gibt, drei Staaten und ihren politischen Häuptern, Wilson, Clemenceau und Lloyd George eine solche Macht verliehen worden.
Niemals, solange es Weltgeschichte gibt, ist das Sein und Nichtsein eines ungebrochenen, gesunden, begabten, arbeitsfrohen Volkes und Staates von einem einzigen Entschluß verantwortlicher Männer abhängig gewesen.
Wenn in Jahrzehnten und Jahrhunderten die blühenden deutschen Städte verödet und verkommen, das Erwerbsleben vernichtender deutsche Geist in Wissenschaft und Kunst verebbt, die deutschen Menschen zu Millionen von ihrer heimatlichen Erde losgerissen und vertrieben sind: wird dann vor dem Tribunal der Geschichte und vor dem Richterstuhl Gottes das Wort Geltung haben: Diesem Volk ist recht geschehen, und drei Männer haben dieses Recht vollzogen?
Wird diese Gewalttat eine Segenszeit der Völker einleiten?
Herr Oberst, mein Leben ist vollbracht; für mich erhoffe und fürchte ich nichts mehr, mein Land bedarf meiner nicht, ich denke seinen Untergang nicht lange zu überleben. Als ein schwaches Glied eines ins Herz getroffenen Volkes, das gleichzeitig um seine späte Freiheit und den Rest seines Lebens ringt, rede ich zu Ihnen, dem Vertreter der aufstrebendsten aller Nationen.
Noch vor vier Jahren waren wir scheinbar Ihresgleichen. Scheinbar, denn uns fehlte, was den Staaten die Festigkeit des Daseins gibt: die innere Freiheit. Heute stehen wir am Rande der Vernichtung, die unabwendbar ist, wenn Deutschland nach dem Rate derer verstümmelt wird, die es hassen.
Denn dies muß ausgesprochen werden, klar und eindringlich, so daß jeder das Furchtbare versteht, alle Völker und Geschlechter, die jetzigen und die kommenden:
Was uns angedroht wird, was der Haß uns anzutun vorschlägt, ist die Vernichtung. Die Vernichtung des deutschen Lebens jetzt und in alle Zukunft.
Nicht an Ihr Mitleid wende ich mich, sondern an das Gefühl der menschlichen Solidarität. Ich weiß, niemand empfindet es tiefer als Sie und Wilson, kein Volk versteht es klarer als die große, an Freiheit und Selbstverantwortlichkeit gewöhnte amerikanische Nation:
Die Menschheit trägt eine gemeinsame Verantwortung. Jeder Mensch ist für das Schicksal jedes Menschen verantwortlich, auf das er Einfluß hat, jede Nation ist verantwortlich für das Schicksal jeder Nation.
In diesen Tagen werden Beschlüsse gefaßt, die auf Jahrhunderte das Geschick der Menschheit bestimmen. Wilson hat ausgesprochen, was nie zuvor irdische Gewalt zu verwirklichen wagte: Friede, Versöhnung, Recht und Freiheit für alle. Gott gebe, daß seine Worte Wahrheit werden.
Werden sie es nicht, so trifft das alte sibyllinische Wort ein, das Plutarch uns überliefert: Auch für den Sieger wird der Sieg verderblich. Werden sie Wahrheit, so ist der Welt ein neues Zeitalter geschenkt und die unsäglichen Opfer des Krieges waren nicht vergeblich.
Ich grüße Sie in menschlichem Vertrauen
Rathenau
Veröffentlicht in der Presse des neutralen Auslandes, Dez. 1918.