Fritz Reck-Malleczewen
Frau Übersee
Fritz Reck-Malleczewen

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Es ließe sich eine lange Geschichte erzählen nur von der unbekannten Stadt Guayaquil, die so weltenweit von Europa, beinahe genau unter der Linie liegt. Von dieser unheimlichen Stadt mit ihren ewigen Putschen und Hinrichtungen und politischen Morden und Pestepidemien, von dieser heißen fremden Stadt, in deren feuchter Friedhofserde alljährlich so viele Europäer sich zur Ruhe begeben . . .

Und von dem Guayasstrom ließe sich erzählen, der an ihr vorüberjagt, von dem meilenbreiten Guayas, der solche Eile hat, das Meer zu erreichen. Der Guayas, der mit Schnellzugsgeschwindigkeit dem schläfrigen Pacific zurast und dabei doch seine Richtung alle sechs Stunden wechselt und einfach landeinwärts läuft, wenn draußen auf See die Flut steigt, daß die Ankerketten der Europadampfer sich zum Bersten spannen und die 8 Achttausendtonner sich im Kreisel dieses rasenden Stromes drehen, der eine ganze Welt von Wasser nach der See entführt aus den Gletschern oben bei Quito und Riobamba.

Und von den treibenden Krokodilinseln dieses merkwürdigen und in Europa so ziemlich unbekannten Stromes ließe sich erzählen und von seinen Mongroveufern und dem ekelhaften Gewürm unter den Luftwurzeln und den riesigen fleischfressenden Pflanzen und den bunten Wiesen ringsum, wo doch unter jeder Orchidee der schnappende Kopf irgend eines Giftreptils lauert . . .

Es ist ein wunderliches Land und ganz anders als alles uns irgendwie Vertraute, und man kann wohl sagen, daß es fiebert von dunklen und nicht immer freundlichen Geheimnissen. Aber gerade darum ist sie unerschöpflich und unerfaßbar, diese Welt, und alles, was man von ihr selbst berichtete, würde bestenfalls ein guter Zeitungsartikel werden. Oder nicht viel mehr.

Und so soll denn hier nur die lehrreiche Geschichte von dem kleinen Herrn Fred erzählt werden, der die Unklugheit besaß, sich ganz allein dieser fremden Welt entgegenzustemmen. Dieser fremden Welt, die man doch entweder meidet oder eben anerkennt, wenn man schon das zweifelhafte 9 Glück hat, in ihr leben zu müssen. Er war aber wohl ein Kind im Grunde und steckte die Finger allzutief in das Getriebe einer unbekannten Maschinerie und wurde hineingezogen in ihr Räderwerk. –

Ueber die Person dieses kleinen Herrn Fred ist wenig zu sagen. Und ich möchte jetzt, wo man Menschen allzusehr nach ihrer Nationalität beurteilt, nicht einmal sein Vaterland nennen. Er hätte eben jeder handeltreibenden Nation angehören können am Ende. Das Wesentliche in diesem Zusammenhang war nicht seine Staatsangehörigkeit, sondern sein Beruf, oder wie man das nennen will.

Dieser Fred – es gibt immerhin noch viele in Guayaquil, die sich seiner erinnern, obwohl das nun schon eine ganze Reihe von Jahren her ist –, dieser kleine Herr Fred war einfach ein Volontär in einem der großen europäischen Kontore. Ein Volontär, gewiß: durchaus ein Freiwilliger. Niemand geht sonst ohne zwingenden Grund nach Guayaquil, wo neunzig Prozent aller Europäer am Gelbfieber sterben und weiße Frauen des Höllenklimas wegen ihre Kinder nicht lebend zur Welt bringen können. Volontäre aber kommen dorthin, um die Exotik in ihrem heißesten 10 Hexenkessel kennenzulernen. Volontäre kommen irgend woher aus den großen handeltreibenden Reichen rings um die Nordsee; von den jagdreichen Landsitzen ihrer geldmächtigen Väter kommen sie und geben eines Tages beim Direktor der väterlichen Filiale in Guayaquil einen Empfehlungsbrief ab: »Da bin ich.«

Und da sind sie denn in der Tat. Mit einer nagelneuen Repetierbüchse und tausend Explosivgeschossen für Pantherjagden und einem vierjährigen Halbblutwallach, den sie vor der Reise in Mecklenburg oder in Wales gekauft haben. Und mit einem königlichen Kreditbrief, versteht sich. Denn sie wollen Frau Uebersees Reich gründlich kennenlernen. Sie wollen im Klub nicht die letzten sein, sie wollen die großen Ströme tagelang hinausfahren bis zu den Sonnenplätzen der Kaimans, sie wollen eine Expedition von zehn Maultieren und 20 Trägern ausrüsten und die riesigen Moränen der Vulkane um Riobamba hinanklettern. Sie wollen bei Cusco oben in den Inkaruinen graben und alte Keramiken und Steinäxte suchen, die dann in ihrem Rauchzimmer in Christiania oder Hamburg oder London später von jenen Tagen erzählen, in denen es ihnen 11 noch höchst gleichgültig war, wie Ohio und Baltimore notierten . . .

Solange es nun nicht regnet in Guayaquil, solange nicht zur Höllenhitze die giftigen Sumpfnebel gekommen sind, an denen die Europäer sterben, so von Mai bis Dezember, bleiben die jungen Herren. Mit dem ersten Gelbfieberfall (Gelbfieber ist tödlicher als Beulenpest, muß man wissen), mit der ersten Regenwolke verschwinden die Volontäre. Ein großer Europäerdampfer liegt im Strom und seine Wintschen rasseln den Halbblutvierjährigen und die Tropenbüchse und die Lederkoffer mit Tropenanzügen und Fräcken und Steinäxten und Inkamumien wieder an Bord.

Und nach ein paar Tagen ist man erlöst von der Backofenglut und fährt vorbei an den Gletschern der Magelhaensstraße nach Bergen oder Hamburg oder nach London und kümmert sich nicht im geringsten mehr um die Clearks in Guayaquil, die alle seit soundso viel Jahren nur noch eine Sehnsucht haben: einmal, in Gottes Namen für ein paar Stunden nur, eine Luft zu atmen, die kühler ist als 45 Celsiusgrade.

So kommen und gehen Volontäre wie die Jahreszeiten kommen und gehen, und man vergißt ihre Namen, kaum daß sie fort sind. Dieser 12 aber, von dem ich erzählen will, erlaubte sich eine unerhörte Ausnahme: er wollte aus sehr merkwürdigen Gründen den letzten Europadampfer nicht nehmen, den letzten vor Eintritt der Fieberzeit. Er setzte sich auf die Hinterbeine und war überhaupt anders als die namenlosen anderen vor und hinter ihm. Daher denn auch seine Geschichte nicht vergessen ist an Ort und Stelle. –

Nachweislich begann diese Geschichte (auf die eigentlichen Zusammenhänge kam man dann natürlich erst viel später) im Oktober bei den Ringkämpfen, die man alljährlich in der großen Arena an der Calle Naranchito veranstaltet. Eigentlich sollen es Stiergefechte sein, nun ja, aber die Stierkämpfe sind degeneriert an der südamerikanischen Westküste. Man hat keine ordentlichen Kampfstiere oder keine Fechter . . . weiß der Teufel, woran es letzten Endes liegt; man behilft sich auch hier damit, ein paar Menschen mit unwahrscheinlichen Muskelgebirgen auf den Armen aneinander zu hetzen und zu sehen, daß der eine den anderen zu einem blutigen Fleischklumpen verarbeitet. Nach jener bekannten Boxermanier, die die Nordamerikaner eben überall einschleppen.

Dieses Mal aber war da etwas Neues aufgetaucht, etwas ganz und gar Unerhörtes. Es 13 war der von allen Eingeborenen zunächst wie eine nationale Katastrophe empfundene Tag, an dem der Japaner Amira, dieser elende schwächliche Knirps, die einheimischen Boxerchampions von Guayaquil geworfen hatte. Ein Knirps, jawohl, man hatte zuerst gelacht, als man ihn sah mit seinem korrekten Kellnerscheitel im schwarzen Haar und seinen langen, dünnen Kinderarmen. Und Ruben Gomez, der Unbesiegte, und Christophoro Azucar, der bislang nur ein einziges Mal, und da von dem Neger Johnson, geworfen worden war . . . sie hatten die Herausforderung des Gelben für einen schlechten Witz genommen und mit dem kleinen bescheidenen Mann einfach gespielt, zunächst. Das Publikum, die eingeborene Gesellschaft der Stadt und die europäische Kolonie und in den oberen Reihen der höllische Pöbel aus den Vierteln am Guayas, hatte gewiehert und gepfiffen, als dann Ruben Gomez, der zwei Meter große Sackträger, den Japaner wie einen Fußball in die Ecke getrieben hatte, blitzschnell, und man dachte dabei unwillkürlich an einen wütenden Terrier, der auf eine armselige Ratte losgelassen wird. »He hop oleh, ich liebe dich . . .« schrien die Instrumente der Musikbande, einen Gassenhauer, der 14 damals von einer Million von Grammophonen durch die ganze Exotik getragen wurde.

Und in der Ehrenloge die Herzogin von Lota, von der noch viel zu erzählen sein wird und die als glänzendste und tonangebende Dame der eingeborenen Gesellschaft (eine noch von den Stiergefechten übernommene Sitte) das Zeichen zum Kampfbeginn gegeben hatte – die Herzogin von Lota blinzelte nach den baumstarken Armen des Preisboxers Ruben Gomez hinüber. Mit der trägen Sinnlichkeit, mit der diese exotischen Weiber immer auf die Entscheidung im Kampf zweier Männer warten . . .

»He hop oleh . . .« die Synkopen drängten sich in die sonnenhelle glühendheiße Arena. Und Ruhen Gomez mußte wohl einen Augenblick unaufmerksam geworden sein, weiß der Teufel, wodurch: gerade in dieser Sekunde hatte der Japaner eine ganz harmlos aussehende Handbewegung gemacht, und im nächsten Augenblick, eben als das Kinderärmchen Amiras nach ihm griff, da hatte der Riese aufgeschrien in wütendem Schmerz und jähem Entsetzen. Und dann stand er da, zitternd und mit graubleichem Gesicht, ein besiegter Gott, den Arm wehrlos und noch immer schreiend von sich streckend. Und als man dann 15 näher zusah, da stellte es sich heraus, daß der Gelbe eben diesen Arm ihm gebrochen hatte. Nicht durch rohe Gewalt natürlich, sondern durch irgend ein verteufeltes Manöver seiner verteufelten asiatischen Ringkunst, die in Guayaquil damals noch kein Mensch kannte.

Und Ruben Gomez verließ die Arena unter dem entsetzten Schweigen von zehntausend völlig überraschten Zuschauern und Amira stand wieder in der Arena, ein gerade gescheitelter höflich lächelnder Asiat, und wartete auf den Nächsten.

Dieser Nächste – Juan Christophoro Azucar – ein Kerl mit der Kinnlade eines Zuchthäuslers und einer Physiognomie zum Träumen – Christophoro Azucar begann die Sache von vornherein falsch: Er ließ sich einfach übermannen von der Wut auf diesen unscheinbaren tückischen Zwerg und stürzte sich mit wütendem Prügeln, nur schlagend, um überhaupt zu schlagen, auf den Gegner.

Dann war das wieder dieselbe Geschichte: man hörte wohl die Hiebe klatschen und sah Amira den dicken Katzenkopf tief hineinziehen zwischen die Schultern, und das Publikum heulte schon in seiner Rachefreude. Ja, und dann berührte der Japaner wieder mit einer ganz leichten 16 Handbewegung die Seite des anderen, und da lag Juan Christophoro Azucar plötzlich aschgrau und ohne ein Glied zu rühren auf dem Sand, und es hieß, er habe eine innere Verletzung, eine Milzruptur oder so etwas, und es war jedenfalls sicher, daß er nie mehr würde ringen können.

Das war einfach eine nationale Katastrophe, und es ist glaubhaft, daß seinerzeit die Nachricht von der Schlacht bei Cannae auf die Römer nicht weniger niederschmetternd gewirkt hat. Die Musik war jäh verstummt: es war ganz still eine Weile. Man kannte eben die Geheimnisse des Dsiu-Dsitsu nicht, diese elegante und beinahe sanft zu nennende Ringkunst Ostasiens, die den Gegner durch einen einzigen unbedeutenden Griff wehrlos macht. Man war selbst so still und blaß wie die Ueberwundenen, und nur aus den oberen Reihen fing irgend ein hysterisches Frauenzimmer plötzlich zu kreischen an.

Aber dann begann ein höllischer allgemeiner Lärm, das Gebrüll einer ganzen tödlich beleidigten Nation, und von oben flogen Bananenschalen und Apfelsinen und wenig appetitliche Lumpen nach dem Kleinen, der da in vollkommener Höflichkeit und Haltung in der Mitte stand und sich nur lächelnd verneigte.

17 Inzwischen weigerten sich alle anderen, die noch irgendwie als seine Gegner in Betracht kamen, mit ihm anzutreten, und der Pöbel brüllte immer lauter und der Inhalt eines ganzen Amphitheaters drohte schließlich auf die Arena niederzufluten und den Gelben nicht zu verhauen, o nein: Glied für Glied zu zerreißen, das Gesicht mit Stiefelabsätzen zu zertreten, eine unerhört grausame, höchst südamerikanische Rache zu nehmen . . .

Und dann winkte in ihrer Loge die Herzogin von Lota und schwarze Polizisten fuhren oben mit klatschenden Gummiknüppeln drein, daß es wenigstens einigermaßen ruhig wurde. Und da, als Amira zum letzten Male um weitere Gegner bitten ließ (er verschmähte es als Repräsentant eines anderen Erdteiles durchaus, sich selbst der spanischen Sprache zu bedienen) und als es wirklich schon so schien, als sei Guayaquil geschlagen und geschändet von einem übelriechenden Gelben – da gab es mit einem Male in der Loge, in der höchst unnahbar und blasiert die europäische Kolonie thronte, einen kurzen Wortwechsel. Dann kamen aus dieser Loge leichte, rasche Schritte und fünfhundert elegante Kreolinnen zielten mit den Gläsern dorthin, und die Herzogin von Lota blähte die Nasenflügel wie eine heißblütige, witternde 18 Stute . . . Da stand mit einem Male, wie ein himmlisches Phänomen, ein blondes Menschenkind in weißen Lederbreaches und weißem Seidenhemd vor ihr und neigte sich und bat sie mit einer für einen Europäer höchst bemerkenswerten Ritterlichkeit um die Erlaubnis zum Kampf, und stand dann doch ein wenig verlegen, wie ein junger weichhaariger Bernhardiner, von der schönen lächelnden Frau. Ja, und das war kein anderer als der kleine Herr Fred, dieser neue Fechter.

Zum Teufel, das war einfach unglaublich, und die behäbigen Herren der eingeborenen Gesellschaft hielten den Burschen zunächst für eine Luftspiegelung. Ein schlanker, weichhäutiger Junge, ein Kind, an dessen Sieg kein Mensch glaubte! Und außerdem und vor allem: ein Europäer – kein Cleark, sondern ein höchst distinguierter Junge, der wie das Mitglied einer der Gesandtschaften in Quito ausschaute. Ein Kavalier mit einem Wort, der für das besiegte Guayaquil mit einem japanischen Schiffskoch antrat – unmöglich, einfach unmöglich. Man schaute erwartungsvoll nach der Loge hinauf, wo die Europäer saßen: richtig, da machte schon Braxton, der Präsident ihres Klubs, Miene, einzuschreiten im letzten Augenblick gegen den Jungen 19 da, der sein Europäertum einfach beiseite warf. Aber da jubelte dem kleinen Herrn Fred auch schon der Beifall von zehntausend erregten Menschen zu. Tücher winkten und man kletterte dem Nachbarn einfach auf die Schulter, wenn man ihn nicht sehen konnte, und die Musik spielte wieder und der kleine Herr Fred hätte jetzt gar nicht mehr zurücktreten können, selbst wenn er es gewollt hätte. Aber er dachte ja auch nicht einmal daran, sondern stellte sich Amira gegenüber und wurde plötzlich rot vor verhaltener Wut über den Gelben mit seinem unausstehlich verbindlichen Grinsen in dem dicken Mongolenschädel. Und dann fingen sie an.

Auch das war unerhört, wie alles an diesem Tage. Man hatte hier Ringkämpfe gesehen, ganz unglaubliche Metzgerorgien, bei denen zwei Riesen eine Stunde aufeinander losgeschlagen hatten und die Arena einfach ein Schlachthof gewesen war, dessen Sand große Blutlachen aufsog. Man war gewöhnt, massive Hiebe zu sehen und zu hören, Hiebe, die ganz ähnlich klangen wie das stumpfe Ende eines Metzgerbeiles auf dem Schädel eines zu betäubenden Stieres, Hiebe, die gewöhnliche Knochen einfach zermalmen mußten. Und nun sah man zwei geschmeidige Menschen, 20 die irgend ein höfliches Gesellschaftsspiel zu spielen schienen, die sich ganz leicht auf die Schulter klopften und sich ab und zu blitzschnell umeinander drehten, daß es für Sekunden so aussah, als seien sie überhaupt gar nicht vorhanden. Und kein Stöhnen schwitzender Gladiatoren war zu hören und keine Kolossalbeine stampften, sondern irgend welche Tänzer schienen zu springen, und es war mit einem Male klar, daß diese beiden Menschen irgend eine neue Ringkunst beherrschten, ein Wunder einfach, das wie ein Kinderspiel aussah und am Ende doch nichts anderes war als tödlicher Ernst. Daß der Japaner sie kannte – Japaner sind an sich Teufel und verstehen solche Teufeleien. Der Europäer aber . . . ?

Da war mit einem Male das zierliche Spiel da unten bei der Entscheidung angelangt. Die Sache war die, daß sie sich beide an den Händen gefaßt hielten und ganz unbeweglich standen und nur leise zitterten. Es sah an sich auch jetzt ganz ungefährlich aus. Aber wie sie so bebten und ihre Handgelenke zitterten und wie sie sich anstarrten . . . zwei Welten . . . Europa und Asien . . . da wußte doch jeder ringsum, daß es zu Ende ging mit einem von den beiden und daß das Versagen irgend eines Fingermuskels nur, der sonst vielleicht 21 nicht mehr als eine Violinsaite bewegt, daß das Unaufmerksamwerden irgend einer winzigen Hirnpartie die Entscheidung bringen mußte.

Der Japaner war ganz bei der Sache, und man merkte ihm an, daß er hier gewissermaßen nur ein mathematisches Rechenexempel löste, das, wie überall auf der Welt, eben mit dem Siege Japans enden mußte, natürlich. Der kleine Herr Fred aber beging den Fehler, daß er einen Augenblick nur an dem dicken Schädel des anderen vorübersah auf die Arena mit den Tausenden, die für seinen Sieg zitterten, auf die Mündungen blitzender Blechtuben mit brüllenden Akkorden . . . ein goldgelbes Seidenkleid in einer Loge . . . ein dunkles Frauenhaupt darüber und große Augen, die ihn suchten, ihn allein . . . »He hop oleh . . . ich liebe dich, ich . . . ich küsse dich zu Tode . . .«

Der kleine Herr Fred fühlte plötzlich einen wütenden Schmerz in der Brust und hob die Arme und sank nach vorn in die Knie. Das volle Haar fiel ihm über die Arme und das Haupt neigte sich mit einem unbeschreiblichen Schmerzenszug um die Mundwinkel vornüber, und alle, alle, die Fleteros und die Dirnen und die Damen in schwarzseidener Mantille, alle sahen sie 22 in diesem Augenblick, wie schön er war, schön wie sterbende Fechter und Halbgötter immer sind . . .

Aber das war nur ein Augenblick so. Denn eben als Amira zum letzten, erledigenden Hieb ansetzen wollte – da war der Europäer mit einem Male (man konnte die Einzelheiten unmöglich übersehen) aufgesprungen und lief blitzschnell den Japaner an. Ob er ihn nun am Arm herumriß oder sonst irgendwie warf – kein Mensch war imstande, da irgend etwas Näheres zu sehen; und daß Amira hinterher erklärte, der Europäer habe ihm ein Bein unter dem Leib fortgezogen, ist am Ende völlig gleichgültig, weil alle diese Manipulationen beim Dsiu-Dsitsu ja erlaubt sind. Jedenfalls lag Amira am Boden und in jedem Falle war es der kleine Herr Fred, der auf ihm kniete. Er war ja selbst noch halb betäubt von dem Hieb vorhin, gewiß, aber an absoluter Muskelkraft war er nun einmal stärker als der andere. Und wenn es auch langsam ging, es ging eben doch, und Ruck für Ruck bog er die Schulter des anderen zur Erde, noch einmal und noch einmal – und der Pöbel heulte bei jedem Stoß vor Siegerfreude – bis er ihn ganz auf dem Sande hatte. Und da war es denn zu Ende, und Guayaquil war gerächt.

23 Und mit einem Male – dem Kleinen tanzten noch immer die Feuerfunken vor den Augen –, mit einem Male schrie und tobte und drängte es in die Arena, und mit einem Male saß er wie ein junger König auf den Schultern eines riesigen Kreolen, und Rosen flogen und Orchideen und schwarze Seidenschals winkten und Frauen schluchzten, wie Frauen immer schluchzen, wenn irgend eine bange Entscheidung sich so gewendet hat, wie sie es ersehnt haben. Und die Tuben schrien wieder einen ganz unglaublichen und beinahe schon obszönen Walzer, und auf dieser Wolke von Beifall und Jauchzen und Tönen schwebte der erschöpfte kleine Sieger nach altem Brauch vor die Loge der Ehrendame, die in diesem Falle die Herzogin von Lota war.

Seltsamerweise sah und hörte er das andere alles nicht und sah nur ein dunkles Haupt auf einem ganz schlanken braunen Hals und Augen darin, unendlich große, schwarze Augen, die ganz weit auseinanderlagen. Wild war dieses Weib in seiner Amazonenschönheit und wie er es sah, da war es ihm, als sauste um ihn die ganze bunte Exotik in einem ungeheuren Farbenwirbel, und er glaubte einen Duft zu spüren, so wie die überseeischen Länder alle riechen und die weiten 24 Steppen mit weidenden Wildpferden und einer schönen Frau am Lagerfeuer. Der kleine Herr Fred, halb von Sinnen von dem Kampf, atmete den Duft und sah wieder nur das Weib, dem man ihn zugetragen hatte, und ein Name kam ihm für seine tolle Jugendsehnsucht, ein närrischer Name, den er doch beinahe geschrien hätte vor Wonne . . . Frau Uebersee . . . Frau Uebersee, Königin über die Sonnenländer, in denen es kein Entbehren gibt . . . Königin über Orchisblumen und Paradiesvögel und Steppen und Purpurmeere . . . Frau Uebersee . . . da hatte man ihn ihr zugetragen, ganz nah, und er sah noch, daß sie lächelte und daß ihre Augen ihn suchten, den weißen Mann, der aus dem Norden gekommen war, für sie zu siegen und nur für sie.

Aber als die Herzogin von Lota, wie es Landesbrauch ist, ihm die Hand zum Kuß hinstreckte, da geschah es denn doch, daß der seltsame Gladiator da auf den Schultern wankte und totenblaß wurde und leblos zu ihren Füßen niedergelegt wurde. –

Es war nicht schlimm, durchaus nicht: eine Ohnmacht von Amiras Bruststoß her und nichts weiter. Aber eine ganze Weile dauerte es dann doch, bis der kleine Herr Fred wußte, wo er eigentlich 25 war. Eine Weile, während der Pöbel den Atem anhielt, als läge ein Monarch im Sterben. Eine Weile, während die Herzogin von Lota sich zu dem Liegenden beugte und ihm die Stirn küßte, mit aller Hingebung, deren in solchen Fällen die Weiber fähig sind. Eine Weile, während Braxton, der große Braxton, in der Europäerloge sich eine neue Pfeife stopfte und mißbilligend ungeheuere Dampfwolken ausstieß in irgend einem schweigenden Protest gegen den Europäer, der sich von den Niggern (alle Farbigen, ob schwarz oder rot oder braun oder nur mit Uebergangsfarben gefärbt, sind Nigger), ja, der sich von den Niggern pflegen ließ.

Und dann gab es Demonstrationen für den kleinen Herrn Fred in der Arena, und dann gab es Demonstrationen bis in die Nacht hinein auf der Straße. Und dann war er noch eine ganze Weile ein populärer Mann in Guayaquil, soweit man eben in Guayaquil als Europäer überhaupt ein populärer Mann sein kann.

Dann sprach man noch eine Weile in der Gesellschaft der eingeborenen reichen Cacaohändler darüber, und dann wurde doch in Monaten die Geschichte allmählich vergessen, wie eben einmal alle Geschichten vergessen werden. Und wenn man 26 in den nächsten Monaten überhaupt noch davon sprach, so geschah das im Europäischen Klub an der Plazza, wo der kleine Herr Fred sich, nebenbei gesagt, sehr selten blicken ließ.

Dieser Klub . . . damals war die Europäerkolonie noch nicht so groß in Ecuador, wie heutzutage, und die Zeiten waren der vielen Revolutionen wegen unsicher. So schlossen sich denn Deutsche und Engländer und Belgier und Franzosen, und was weiß ich noch, enger zusammen und besaßen ein einziges gemeinsames Klubhaus an der Ecke der Calle amarilla, wo jetzt das nordamerikanische Konsulat ist. Es war auch noch kein Palast, wie man ihn heute für diese Zwecke draußen baut, mit Pferdeställen und Autogaragen und eigenen Motorbarkassen am Kai.

Man fühlte sich damals nie so recht sicher in Guayaquil und legte den Browning nicht weg, auch wenn man beim Whisky saß. Und daß man sich Eisbarren zum Kühlen der Bäder holen ließ aus der Brauerei nebenan, die irgend ein ewig betrunkener Schwede betrieb, das war denn der einzige Luxus, den man sich damals leistete.


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