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Daß ich es nur gleich sage: dies ist ein männliches, ein Abenteurer-, ein Strolch-, ein Weglagererbuch und keine Reflexion über den Weltkrieg, den modernen Krieg, den kommenden Krieg, über gewesene oder kommende Staaten.
Dem Verfasser, dessen Name hier aus begreiflichen Gründen ungenannt bleibt, ihm, den ich das letztemal in den schwülen Tagen des österreichischen Ultimatums gesehen hatte, bin ich unmittelbar nach Beendigung des Bermontkampfes im Herbst 1919 begegnet. Der elegante Gardekavallerist, den ich einmal gekannt hatte, war er nun nicht mehr. Er war abgerissen, zerlumpt und mittellos, ein abgekämpfter, müder Feldsoldat. Er war »mehr« geworden in diesen fünf Jahren!
Was hatte er in jenen Jahren alles gesehen, und was umspannt somit dieses Buch! Pogrome und Vergewaltigungsorgien betrunkener Soldaten, Schäferstündchen mit dem weiblichen Major des kerenskischen Studentinnenbataillons, den Todeskampf der kaiserlichen, den Todeskampf der ersten Revolutionsarmee! Der Verfasser sieht im Hauptquartier in Mohilew, wie sich der Zar Nicolai II., der zärtlichste aller Väter, von seinem kleinen Sohn tyrannisieren läßt, er liegt später, zum Dienst in der Roten Armee gepreßt, verkommen, voller Ungeziefer im Eisenbahnwagen unter betrunkenen Soldaten, die als Augenzeugen von der Ermordung der kaiserlichen Familie erzählen. Brillantringe funkeln an den Skeletthänden chinesischer Henker, und in den feuchten Kellern zusammengeschossener, zu Frontbordellen umgestalteter Häuser zechen Kommissare der Roten Armee mit verprügelten, grauhaarigen Weibern, die sich für drei Zuckerstücke verkaufen. Kerenski hält Propagandareden und wird ausgelacht, 8 kaiserliche Generale werden von ihren meuternden Truppen gezwungen, zu den Klängen der Regimentsmusik ohne Stiefel über die Drahtverhaue der Schützengräben zu springen. Die sozialistische Rote Armee erklärt, daß sie vor allem die Sozialisten hasse, und kämpft, ausgehungert wie sie ist, um Speck und Fleisch und Butter und sitzt abends an Lagerfeuern, über denen der Dunst gebratener Ochsen und der Duft einer homerischen Schmauserei ist. Dies sind nicht Kriegsmemoiren, wie sie der erste beste Offizier geschrieben haben kann, dies ist, um ein der Schlacht bei Arcole gewidmetes Wort des Generals Gourgaud zu gebrauchen, »wie die Ilias«.
Nein, hier handelt es sich nicht um ein Dokument irgendeiner roten, rosafarbenen, weißen oder sonst irgendwie gefärbten politischen Gesinnung! Es ist ein Abenteurer-, ein Strolch-, ein Landsknechtsbuch! Und diese eine Schicksalsfrage taucht auf: Wer wird jene Schlachten der Zukunft schlagen? Wird es jenes kleine Berufsheer sein, von dem Spengler spricht: Berufssoldaten mit rein soldatischem und mithin unpolitischem Denken, mit soldatischen Sitten und in soldatischen Formen? Oder werden es wieder jene riesigen Milizmassen des Weltkrieges sein, beschwert mit dem leichtverlierbaren Gepäck einer Tagesbegeisterung . . . Jene Heere von mobilisierten Eisendrehern, die immer durch »Propaganda«, durch Fronttheater, Frontsängerinnen, Frontorgelspieler und Frontzeitungen bei Begeisterung erhalten werden müssen?
Die Frage spitzt sich hier zu: das kann ich wohl versichern, daß man nicht russischer sein kann als dieser russische Verfasser, daß er, hätte man ihn in der entscheidenden Schicksalstunde des Hauses Romanow auf den entscheidenden Posten gestellt, sich für seinen kaiserlichen Herrn hätte totschlagen lassen wie jene herrlichen Schweizer Ludwigs XVI. Und doch: welch eine Abneigung, welch ein Haß gegen die Massenheere mit ihrem Massenhirn, ihrer Massengesinnung und ihrer Massenroheit! 9
Dies aber ist das Wundervolle, um dessentwillen ich dieses Buch so liebe: daß hinter diesem Ozean von Roheit überall der Mensch steht. Nicht der Mensch der europäischen Zivilisation mit seinem Glauben an den »Fortschritt der Menschheit«, mit Krankenkassen, Radiokonzerten und Aspirintabletten . . . so einer jener unglückseligen Europäer, die nächstens so sozial gesinnt sein werden, daß sie auch für die durch die Hygiene in ihrer Existenz bedrohten Bakterien eine soziale Schutzgesetzgebung erfinden werden. Sondern der russische Mensch, in dem aller Roheit, allen augenblicklichen politischen Wirrnissen zum Trotz doch schon das keimt, was einmal und vielleicht schon bald das Schicksal Europas werden wird: das neue religiöse Erleben!
Man sehe her: ein Dorf wird geplündert, die Frauen vergewaltigt, die Männer erschlagen. »Es war«, beschließt der Verfasser dieses Kapitel, »wie ein Erdbeben, ein unausbleiblicher Ausbruch des Bösen, das in der Welt ist. Ich wenigstens glaube an so etwas absolut Böses. Wenn man aber an so etwas Böses glaubt, so muß man notwendigerweise auch an das Gegenteil, an das absolut Gute und mithin an Gott glauben. Nun also: vielleicht schickt Gott auch wieder einmal einen Sturm des Guten über die Welt.« . . .
Wo in Europa gibt es noch Menschen, die dieser Inbrunst noch fähig wären? Und weiter: ein Bauer sitzt da, hört zu, wie betrunkene Rotgardisten sich von der Ermordung des Zaren unterhalten, gibt zu, daß er allenfalls an die Ermordung der Kaiserin glauben könne, »da sie ja eine Fremde gewesen sei«. Unmöglich aber, daran zu glauben, daß man sich vergriffen haben könne an dem großrussischen Kaiser! »Dies kann ja auch nicht sein!«
Bildet sich Europa wirklich ein, auf Hirne wie auf diese, auf ein chaotisch-junges Volk könne dauernd ein armseliges mechanistisches und so ganz und gar westliches System 10 gepfropft werden, bei dem die Wirtschaft alles und der Gottesbegriff – der Urkeim aller Staatsform – nichts ist?
Rußland, soweit es einem Europäer überhaupt verständlich werden kann, ist nicht in jenen Kakophonien dekadenter russischer Musiker, an denen heute Berlin sich berauscht. Es war nicht bei jener untergegangenen russischen Oberschicht, »die nicht wußte, ob sie in Moskau oder in Paris zu Hause war«, es war nicht bei den Liberalen Kerenskis, es ist nicht dort, wo es heute von den europäischen, nach Moskau oder Petersburg gesandten Journalisten gesucht wird. Es ist bei den vielstimmigen Hymnen seiner Soldaten, bei den zechenden Kriegern, die heute in einem Meere von Roheit versinken und morgen schon eines blitzartig die Nacht erhellenden Wortes fähig sind, in dem eine neue Gotteswelt sich erschließt. Rußland war weder die heutige noch die gestrige »Gesellschaft«, es war weder beim Hause Romanow, noch war es bei Kerenski, noch ist es bei Sinowjew. Es wird bei dem Hause Dschingiskhan sein. Es ist heute hinter den Kulissen des Bolschewismus noch das Chaos, das um die Form ringt. Findet es aber einmal jene Form, findet es erst den Führer, der wirklich ein Symbol der russischen Gottessehnsucht, der russischen Freude und der russischen Trauer ist, dann dreimal wehe Europa! Dann erst wird jenes auf St. Helena gesprochene und durch ein ganzes Jahrhundert vergessene Wort Napoleons seine Bedeutung wiedergewinnen: »In hundert Jahren wird Europa kosakisch oder englisch sein.«
Man sehe die bunten, grellen Bilder dieses Buches, das Widerspruchsvolle, diesen Wechsel von bestialischer Roheit und Güte, von Obszönem und Zartem: bei ihnen, bei den einfachen Menschen dieses Buches mit ihren Urtrieben . . . bei ihnen ist Rußland.
Schloß Schnaittach, im Juli 1924
Dr. Reck-Malleczewen. 11