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Das Testament.

Im Winter wird es spät Tag. Herr Jakob Meier war sonst gewöhnlich schon vor 9 Uhr auf dem Kontor, aber er benutzte diesmal die Gelegenheit, daß das Kontor wegen des Todesfalles im Hause geschlossen bleiben sollte, und als der Hofbankier, der nach dem Beispiel der vornehmen Herren seiner Bekanntschaft spät aufzustehen pflegte, ihm durch den Diener sagen ließ, er solle sich um 9 Uhr bei dem Fremden im Gasthof zu den drei Mohren einfinden, zuvor aber noch zu ihm kommen ins Schlafzimmer, – machte er sich eilig auf den Weg, ohne dem letzteren Befehl Folge zu leisten.

Er hätte gern noch vorher die Friederike gesprochen, aber es gelang ihm nicht, denn als er nach ihrer Kammer schlich und die unverschlossene Tür öffnete, war sie nicht mehr dort, nur ihr kleiner Koffer stand verschlossen mitten in der Stube, und ein Päckchen darauf – in die Zimmer des ersten Stocks aber, wo sie um diese Zeit zu tun hatte, mochte er sich nicht wagen, um nicht doch noch seinem Chef in die Hände zu laufen.

So trollte er sich denn die Straße hinab nach dem Marktplatz, wo der Gasthof zu den drei Mohren liegt, und »fragte nach dem Doktor Straußthal.

Der Portier wies ihn nach dem ersten Stock, wo der Gesuchte die beiden besten Zimmer inne hatte. Der Herr Doktor Straußtal mußte ein sehr reicher Mann oder ein sehr gerissener Reisender sein, denn er schien durch sein Auftreten der ganzen Dienerschaft des Hotels bereits eine hohe Meinung von sich eingeflößt zu haben, so daß der Oberkellner den kleinen, obschon in der Stadt wohlbekannten Buchhalter des Hauses I. M. Cahn u. Comp. nicht so ohne weiteres eintreten ließ, sondern ihn erst anmeldete.

Er kam übrigens sogleich zurück mit der Meldung, daß Herr Jacob Meier willkommen sei.

Der Kleine trat nicht ohne Herzklopfen ein.

Der Londoner Spekulant saß halbliegend im Sofa, hatte noch das Kaffeeservice vor sich und rauchte eine feine Zigarre.

»Ah – Herr Jacob Meier? erster Buchhalter und Disponent im Hause Cahn?«

»Ich habe die Ehre! – Der Herr Doktor haben befohlen!«

»Nur gebeten, Herr Meier, – nur gebeten! – Herr Nathan Schlesinger hat Sie mir empfohlen und mir ein Memoir von Ihnen anvertraut, wegen dessen ich gern mit ihnen sprechen möchte. Aber bitte – nehmen Sie den Fauteuil dort, – und hier sind Zigarren. Bedienen Sie sich!«

Der Doktor ließ die Glocke klingen. »Eine Flasche Pale-Sherry,« befahl er dem eintretenden Kellner. »Zwei Gläser, aber ich bitte, ein wenig schnell!«

Der Garton sprang davon. Der Bucklige verbeugte sich sehr geschmeichelt und hockte sich auf den Fauteuil. Für die nochmals angebotenen Zigarren dankte er, – er rauche nicht.

»Sie sind schon lange bei Herrn Cahn im Geschäft?«

»Sechsundzwanzig Jahre!«

»Eine schöne Zeit – so lange und treue Dienste muß ein Haus gewiß auf das Beste anerkennen.«

Herr Meier begnügte sich, die Achseln zu zucken.

»Sie haben sich da,« fuhr der Doktor fort, »mit einem sonst ganz gescheuten Mann in eine verkehrt angefangene Spekulation eingelassen?«

Der Kleine war sehr trübselig. »Fünftausend Taler!« stöhnte er jammervoll.

»Trösten Sie sich, Herr Schlesinger verliert zehn. Merken Sie sich das, man darf in fremden Papieren nie auf Hausse, sondern nur auf die Baisse spekulieren. Ich wünsche den Südamerikanern alles mögliche Glück, aber als Spekulationspapier sind die Nordamerikaner besser.«

»Ich habe das zu spät erkannt!« sagte seufzend der Kleine.

»Und Ihr Memoir darüber ist vortrefflich. Es wäre schade, wenn all' die guten Ratschläge für die nordamerikanische Anleihe verschwendet werden sollten, die sich ohnehin durch die demokratischen Zeitungen Bahn bricht. Das benutzt sich besser für spätere Spekulationen, denn ich gestehe Ihnen, Sie verraten einen sehr praktischen Einblick und große Vertrautheit mit den Verhältnissen und Personalien unserer Börsen. Beiläufig – über wie viel reelles Kapital kommandiert das Haus Cahn aus eigenen Mitteln bei seinen Operationen?«

»Zweimalhundert dreißig,« sagte der Kleine geschmeichelt von dem gezeigten Vertrauen.

»Das ist nicht viel! Aber das Privatvermögen des Herzogs, daß Sie verwalten? Wissen Sie, daß ich geneigt bin, Ihnen jenes Memoir abzukaufen?«

»Sie sind sehr gütig!«

»Natürlich unter der Bedingung, daß seine Fingerzeige und Vorschläge zu meiner Disposition bleiben. Wie viel beträgt doch Ihre Differenz am Ultimo?«

»Nach dem bisherigen Cours fünftausend! Aber er kann sich doch ändern in den Tagen.«

»Unsinn – nicht ein Viertel Prozent wird er in die Höhe gehen. Schlesinger verliert zehn- – Sie fünftausend. Ich bin bereit, den Betrag auf meinen Bankier zu übernehmen, natürlich auf meine Bedingungen.«

»Herr Doktor, Sie nehmen mir vom Herzen einen Stein. Ich weiß zwar, daß ich decken kann den Ultimo« – das Testament vom seligen Itzig Cahn, das heute publiziert, wird mich nicht lassen im Stich. Aber es ist doch hart, zu erleiden solchen Verlust.«

»Das sollen sie nicht. Auf mein Wort. Wie hoch berechnen Sie das Privatvermögen Seiner Hoheit des Herzogs?«

»Das kann ich Ihnen sagen ganz genau. Im Grundbesitz zwei Millionen und siebenmalhunderttausend Taler, und in den flüssigen Fonds nicht mehr als fünfmalhunderttausend!«

»Das gibt für das Vierfache Kredit. Also ist es abgemacht, ich betrachte das Memoir als mein Eigentum, und Sie sind von heute ab in meinem Dienst.«

Der Kleine wußte wahrhaftig nicht, ob er erschrocken oder vergnügt lächeln sollte. »Aber das Haus I. M. Cahn und Comp.? – Bedenken Sie, geehrter Herr!«

»Überlassen Sie das mir. Ich denke nicht daran, Sie Ihren bisherigen Geschäften zu entziehen, aber Sie haben von diesem Augenblick an tausend Taler Gehalt von mir, die Sie quartaliter durch Herrn Schlesinger beziehen können, ohne seinen Schwager zu verlassen. Wenn ich Sie ganz brauche, werd' ich mich schon melden. Einverstanden?«

Der kleine Buchhalter legte erregt die magere Hand in die seines neuen Prinzipals. »Der Herr Doktor haben über mich zu befehlen,« sagte er.

»Sagen Sie mir beiläufig.« fuhr dieser harmlos fort, »wie verhält es sich mit den Erbschaftsaussichten der Familie Schlesinger?«

Nach dem Vorhergegangenen hatte der Kleine alle sonst gewohnte Vorsicht vergessen. »Ich fürchte, es wird geben heut bei der Eröffnung des Testaments einen kleinen Skandal. Der verstorbene Itzig Cahn ist gewesen in seinem Eigensinn unberechenbar.«

»Und der Herzog? Ihr Chef muß doch kennen seine kleinen Schwächen. Ich hörte von einer gewissen Bouillinska?«

»Was tu ich mit der Bouillinska?« rief der Kleine giftig. »Sie hat uns doch gekostet genug Geld! Main – was tu ich mit dem Engagement, wo doch blos ist Körper und keine Kunst. Seine Hoheit der Herzog von Braunschweig liebt wenigstens Kunst und Natur zugleich! Wir wollen nicht mehr seh'n die Bouillinska und sie ist gegangen nach Berlin, wo sie logiert im Hotel du Nord.«

»Aber welchen Weg, wenn nicht durch die Frauen, würden Sie vorschlagen, um Einfluß bei Hofe zu gewinnen? Die Politik?«

Der Bucklige bemerkte den scharfen spähenden Blick nicht, den der andere bei der Frage auf ihn richtete. Er nickte heftig mit dem Kopf und sagte: »Das ist's! Die Politik ist das Steckenpferd höchsten Orts. Großdeutsch, nur großdeutsch!«

»Aber wohin neigt man sich? Zu Österreich oder zu Preußen?«

Wieder zuckte der Kleine die Achseln und wiederholte: »Großdeutsch! Nationalverein – was weiß ich?«

»Der Erbprinz von Augustenburg befindet sich häufig bei seiner Hoheit, wie ich gehört habe?«

»Die hohen Herren sind doch sehr befreundet, er ist doch oft hier zur Jagd. Unser Haus besorgt doch seine Geldgeschäfte.«

»Hören Sie, Herr Meier,« sagte der Doktor, »Sie mögen vielleicht kein Vergnügen an der Politik haben, das ist aber nicht bei allen Leuten der Fall. Ich beschäftige mich sehr viel mit Politik, bin selbst eine Art Journalist, und es ist mir für meine künftige Operationen notwendig, im voraus zu wissen, wie die Verhältnisse in Deutschland liegen, schon um den rechten Zeitpunkt zu bestimmen, wann ich nach Berlin übersiedeln kann. Sie werden also die Güte haben, von allen Finanzoperationen mit dem Privatvermögen seiner Hoheit, namentlich aber wenn Herr Cahn von der Familie Augustenburg oder von Berlin Aufträge erhält, mir davon ohne Zögern im stillen Nachricht zu geben.«

Der kleine Buchhalter wurde etwas rot, er begriff, in welche Falle er gegangen, aber es war zu spät, sich zu widersetzen, auch hatte er den gebotenen Vorteilen gegenüber wenig Lust dazu.

Er verneigte sich also sehr gehorsam vor dem festen Blick seines geheimen Prinzipals und begnügte sich, zu fragen, ob er ihm die Nachrichten durch Herrn Nathan Schlesinger zugehen lassen solle?

Der Doktor lachte. »Nein, nein, das wäre sehr verkehrt. Herr Schlesinger ist ein sehr brauchbarer Mensch für gewisse Dinge und hat allerlei Verbindungen in der Berliner Presse, – aber hiervon braucht er nichts zu wissen, so wenig wie überhaupt von unserem Engagement. Hier« – er nahm eine Karte aus seinem Portefeuille – »haben Sie meine Adresse in London, unter der Sie mir schreiben können. Was die Differenz Ihrer Südamerikaner am Ultimo betrifft, so werden sie einfach durch Herrn Schlesinger den Posten auf mich übertragen lassen, und ich trete in ihre Verbindlichkeit. Dafür behalte ich das Memoir mit der Bedingung, daß ich seinerzeit dasselbe für die Verbreitung anderer Papiere benutzen kann, statt es setzt an die Nordamerikaner zu verschwenden.«

Der Buchhalter erklärte sein bestes Einverständnis.

»Und nun sagen Sie mir, um wie viel Uhr die Testamentseröffnung bei Herrn Cahn stattfinden soll.«

»Um elf Uhr!«

»Dann haben wir noch eine Stunde Zeit. Darf ich eine andere Flasche kommen lassen?«

Herr Jacob Meier dankte tausendmal und war im Begriff, sich unter sehr tiefen Bücklingen rückwärts zu entfernen, als ihn – schon an der Tür, – der Doktor noch einmal aufhielt.

»Apropos – einen Augenblick noch, mein Lieber – es fällt mir da etwas ein. Erwähnten Sie nicht vorhin, daß Ihr Haus die Geldgeschäfte der Familie Augustenburg besorgt?«

»Größtenteils, Herr Doktor.«

Dieser blätterte in einem Notizbuch. »Wie heißt Ihr Bankier in Hamburg?«

»Salomon Meier und Sohn.«

»Und durch diesen werden gewisse Apanagen in Kiel und Altona eingezahlt?«

Der Kleine sah ihn erstaunt an.

»Wissen Sie mir die Namen zu nennen?«

»Ich muß sie in meinen Notizen haben.« Der Buchhalter war wieder eingetreten, hatte eine große, aber sehr schmutzige Brieftasche hervorgezogen und blätterte eifrig darin.

»Die Herren F. – L. – v. B.«

»Hm! Das Geld ist wenigstens gut angewendet. Aber wie werden die Zahlungen nach Kopenhagen vermittelt?«

Diesmal war Herr Jacob Meier wirklich in großem Erstaunen. Das war ein Geschäftsgeheimnis, das nur ihm und dem Chef des Hauses bekannt sein konnte.

»Wie, Herr Doktor – Sie wissen …«

»Mein lieber Freund, ein geschickter Mann erfährt alles, wenn er zur rechten Zeit und am rechten Ort den rechten Schlüssel zu brauchen weiß. Reellen Vorteilen widersteht heutzutage keine Partei, das werden Sie bald lernen, wenn Sie es noch nicht an sich wissen. Also heraus mit der Sprache. Welche Vermittelung und welche Personen?«

Der Kleine sprach einige Worte und nannte einige Namen.

Der Doktor schlug ein lautes Gelächter auf. »Bei den drei Erzvätern – das ist stark, aber ich hätte es mir denken können. Man operiert immer am sichersten auf dem Terrain der Gegner, das ist eine andere Lehre, die sich die preußische Taktik einmal merken kann. Die Sache erinnert mich an einen Umstand aus der Wiener Rebellion von achtundvierzig. Erinnern Sie sich derselben und der damaligen Erschießung des Parlaments-Mitgliedes Robert Blum?«

»Gewiß! ich war damals zweiter Kommis im Hause I. M. Cahn und Comp.«

Die Rettung Blums sollte durch Flucht aus dem Gefängnis erfolgen – es wurden für deren Begünstigung 6000 Gulden gefordert, eine Lumperei, aber die Demokratie des Frankfurter Parlaments vermochte nur 2000 aufzubringen. Doch auch damit hoffte man die Schließer bestechen zu können. Es galt nur, das Geld rasch nach Wien zu schaffen, das damals unter strengstem Militärkommando stand. Man wandte sich zu dem Zweck an Rothschild, aber der Millionenfreiherr wollte nichts mit der Sache zu tun haben. Er wollte sich nicht kompromittieren. Endlich ließ er sich herbei, den Unterhändlern einen Rat zu geben und eine Person in Wien als den einzig möglichen Vermittler zu bezeichnen. Und wer meinen Sie wohl, daß diese Person war? – Niemand anders, als der Prior des Redemptoristen-Klosters! – Sehen Sie, die Familie Augustenburg hat das Genie des Herrn von Rothschild und macht es ebenso in Kopenhagen.«

Der Kleine begriff zwar – etwas passiv inbetreff der dänischen Politik und der Verhältnisse am Kopenhagener Hofe – nicht ganz die Anspielung, aber er war doch neugierig genug, um sich zu erkundigen, warum alsdann dennoch der Parlamentsdeputierte Blum in Wien erschossen worden sei?

»Das Geld,« sagte der Doktor, einen frischen Zug aus seiner Zigarre tuend, »kam um einen Tag zu spät. Der Fürst Windischgrätz hatte einen Wink erhalten und den armen Mann, der wirklich ein ehrlicher Phantast war, vierundzwanzig Stunden vorher erschießen lassen. Ich erwähnte die Sache nur, weil sie mir gerade bei dieser Gelegenheit einfiel, und soviel ich weiß, ziemlich unbekannt ist. Aber nun glaube ich, lieber Freund, daß es Zeit ist, daß Sie sich zu Herrn Cahn begeben, bei dem über unsere kleine Unterhaltung sich auszuweisen ich Ihnen überlassen muß. In einer halben Stunde bin ich dort.«

Der Buchhalter empfahl sich, hielt es aber draußen noch nicht für geeignet, dem Rate des Herrn Doktor Straußtal Folge zu geben, denn er spazierte in sehr nichtigen Gedanken durch die Straßen und zwar in der Nähe der Wohnung des Rechtsanwalts und Notars Dr. Bamberger umher und erst als er diesen sein Haus verlassen und sich mit seinem Aktenstück nach der Wohnung des Hofbankiers begeben sah, folgte er ihm in einiger Entfernung nach, um so jeder vorläufigen Erörterung enthoben zu bleiben.

Doktor Straußthal aber nahm, als kaum der Kleine das Zimmer verlassen hatte, sofort seine Schreibtafel zur Hand und notierte sehr eifrig einige Namen und Sätze. »Ich hoffe,« murmelte er, »man wird in London mit meinen Nachrichten zufrieden sein, und die Südamerikaner werden sich bei der ersten Niederlage der Union verwerten lassen. – – – – – – – – – – – –


Als Herr Jacob Meier in das Haus seines Prinzipals trat, sagte ihm der Bediente, daß dieser schon wiederholt nach ihm gefragt habe, aber jetzt mit den Familien-Mitgliedern sich bereits im Salon befinde, wo der Buchhalter sich sogleich einfinden solle, wenn er nicht etwa erst mit dem fremden Herrn zurückkäme. Meier nickte zustimmend und ging nach seiner Stube. Unterwegs begegnete ihm Friederike, das Hausmädchen.

Der kleine Bucklige schrack unwillkürlich zusammen vor ihrem Aussehen. Die gewöhnliche zarte Blässe des Mädchens hatte sich zu einer wahren Totenfarbe verwandelt, die Augen lagen hohl in dunklen Tiefen und starrten wie geistesabwesend geradeaus. Auf der Stirn bemerkte er eine große blutrünstige Bursche wie von einem schweren Stoß oder Fall.

Das Mädchen wäre an ihm vorüber gegangen, ohne ihn zu sehen, wenn er sie nicht gegrüßt hätte. Ohne den Gruß zu erwidern wandte sie den starren Blick auf ihn und blieb stehen.

»Wann geht der nächste Eisenbahnzug nach Berlin, Herr Meier?« frug sie tonlos.

»Um 2 Uhr, liebe Friederike! Aber sind Sie krank?«

»Zu spät! zu spät!« hörte er sie murmeln, während sie ohne auf seine eigene Frage zu antworten weiter ging.

Es fuhr ihm unheimlich über den Rücken er wünschte, die Szene der Nacht wäre eine andere gewesen. Aber das Geschehene war nicht zu ändern und so ging er nach seinem Zimmer, schloß sorgfältig seinen Schreibtisch auf, nahm aus diesem ein Kästchen, das er mit dem Schlüssel, den er an der Uhrkette trug, öffnete und holte ein vielfach versiegeltes dickes Kuvert heraus, das er in seine Brusttasche steckte.

Dann strich er sich mit dem nassen Handtuch über das vom reichlichen Frühstück etwas erhitzte Gesicht, rückte sich vor dem Spiegel Haar und Kravatte in Ordnung und verließ mit einem tiefem Atemzug das Zimmer, um sich nach dem Salon zu begeben.

Johann stand an der Tür, er hatte sie soeben dem Doktor Straußthal geöffnet, und der kleine Buchhalter benutzte die Gelegenheit, um möglichst unbemerkt in den Salon zu schlüpfen.

Der Salon des Herrn Hofbankier Cahn war ein ziemlich großes dreifenstriges Zimmer mit blauen Sammettapeten und verschiedenen Ölgemälden, die teils der alte Itzig für ein Hundegeld den Künstlern oder Besitzern in früheren Zeiten abgepreßt oder die der jüngere Chef der Firma als Mäcen der schönen Künste und um der ästhetischen Richtung seiner Gemahlin Rechnung zu tragen, für schweres Geld gekauft hatte. In den beiden Fensterecken standen auf zwei grauen Marmorsäulen die Alabaster-Statuetten der medicäischen Venus, die so bescheiden einfach ihre Reize verdeckt, und der belvederische Apoll; an der breiten Rückwand des Salons aber befanden sich zwei prächtige Marmorkamine unter großen Trümeaux, auf deren breiten Konsols neben den goldenen Pendülen ein wahrer Jahrmarkt von Kunst- und Nippsachen aufgestellt war. Die Mitte zwischen den beiden Kaminen nahm ein großer antiker Bücherschrank ein von geschnitztem Eichenholz mit prächtigen Einbänden gefüllt, da Frau Elfriede Cahn, geborene Lessing, den Salon zugleich zur Bibliothek erklärt hatte und dort ihre dramatisch-literarischen Teegesellschaften gab, in denen Shakespeare und Schiller mit Verteilung der Rollen während der Wintersaison vorgelesen wurde.

Jetzt jedoch hatte der Salon keineswegs ein literarisches, sondern ein feierliches geschäftsmäßiges Aussehen. Um den ovalen Eichentisch waren mehrere Sessel gereiht, und auf einem derselben saß der Advokat und Notar Dr. Bamberger, verschiedene Papiere, Tinte und Feder und eine große Papierscheere vor sich, und sich mit Frau Marianne Schlesinger unterhaltend, die ihm gerade gegenüber Platz genommen und sehr ungeduldig auf dem gelben Seidenpolster ihres Sessels hin und her rückte.

Der Advokat war ein Mann von einigen dreißig Jahren, mit scharfgebogener schmaler Nase, braunen listigen Augen und sehr schmutziger Wäsche. Er affektierte mit seinem Auftreten eine gewisse Derbheit, wo nicht Grobheit, die ihm das Vertrauen weniger des städtischen Publikums als der ländlichen Bevölkerung erwarb, obschon der Bauer sonst nicht gern mit den Leuten seiner Nationalität zu tun hat. Die Hauptgeschäfte des Advokaten bestanden daher auch in ländlichen Besitzstreitigkeiten, Hypothekenklagen und Subhastationen, und es war bekannt, daß er zur Mobilisierung des Grundeigentums im Fürstentum sehr viel beigetragen und so die Tendenzen der neuen Ära eifrig unterstützt hatte.

Der alte Itzig Cahn mußte in dem Doktor Bamberger manche für ihn sehr schätzenswerte und nutzbare Eigenschaften entdeckt haben, denn er hatte sich stets sehr vergnügt bei seinen Grobheiten die Hände gerieben und ihn sehr viel beschäftigt. Der verstorbene Herr Itzig Cahn war ein arger Menschenkenner, das hatte er wiederholt in der Beurteilung seiner Kinder bewiesen.

Der Hofbankier war nebst seinem sehr diensteifrigen und aalglatten Schwager noch mit der Begrüßung des englischen Agenten beschäftigt, als der Advokat seinen goldenen Chronometer zog und barsch sagte: »Zehn Minuten über Eilf. Ich muß bitten die Herrschaften zum Geschäft zu kommen, denn meine Zeit ist gemessen!«

Der Hofbankier hatte eben den Buchhalter gesehen und beehrte ihn mit einem sehr mißbilligenden Blick. »Wo haben Sie doch gesteckt die ganze Zeit?« sagte er eifrig, »ich habe doch schon geschickt drei Mal nach Ihnen und nie sind Sie zu finden. Wir werden nachher davon sprechen.«

»Herr Meier ist leider durch mich aufgehalten worden,« entschuldigte ihn der Fremde; der Hofbankier aber wandte sich zu dem Advokaten: »Sie sollen gleich zufrieden gestellt werden, lieber Freund, ich geh' holen die alte Frau, meine Mutter.«

Er verschwand durch die eine Tür, während der Doktor Straußthal durch den Börsenmakler der Dame des Hauses vorgestellt wurde, die ihn neben sich Platz zu nehmen einlud und ihn frug, ob er Currer-Bell und Boz-Dickens persönlich kenne. Bald darauf öffnete sich die Tür wieder und Herr Moritz Cahn führte seine Mutter herein.

Die ganze Gesellschaft am Tisch erhob sich, sie zu empfangen.

Der Schritt der alten Frau war schwankend und ihre Gestalt sichtlich gebrochen. Auf ihrem faltenreichen Gesicht lag ein tiefer Schmerz, es schien seit dem vorigen Tage noch um zehn Jahre gealtert, aber dieser Schmerz hatte etwas so Mildes, Ehrwürdiges, daß er selbst in dem Herzen des mit ganz anderen Dingen als mit einer Teilnahme für die Familienverhältnisse des Hauses beschäftigten Fremden ein achtungsvolles Interesse erweckte. Er verbeugte sich fast ehrerbietig vor der alten wie am vorigen Tage in einen schwarzen Oberrock und weiße Spitzenhaube gekleidete Frau und versuchte einige Worte des Trostes an sie zu richten.

»Herr Doktor Straußthal, ein Freund des Hauses I. M. Cahn und Compagnie,« sagte vorstellend der Hofbankier. »Er will uns die Ehre erweisen, als Zeuge der Eröffnung des Testamentes unseres verstorbenen Vaters beizuwohnen, und da der Herr aus London ist und morgen wieder dahin zurückkehrt, ist keine Besorgnis, daß die Kenntnis vom Testament kann schaden unserem Interesse. Herr Doktor, haben Sie bewundert meine Gemäldegalerie? Ein echter Salvato Rossa und der Niederländer Mierus ist zweimal vertreten darin.«

»Wo ist das Testament?« unterbrach ihn barsch der Advokat.

Der Hofbankier sah sich nach dem Buchhalter um. »Holen Sie sich dort das Tambouret, Meier,« befahl er, »und setzen sie sich neben den Schlesinger. Sie gehören gleichsam mit zur Familie und ich hoffe, daß wird abfallen auch etwas Gutes für Sie. Sie müssen wissen, Herr Doktor, daß mein Vater manchmal gehabt hat seine Launen. So hat er gegeben eine Abschrift von seinem Testament in Verwahr dem hier anwesenden Jacob Meier, Buchhalter des Hauses I. M. Cahn und Kompagnie, statt mir dem Sohn.«

»Ich habe den geehrten Anwesenden folgendes vorzutragen,« sagte in trockenem Geschäftston der Advokat. »Hier ist ein Protokoll von mir, herzoglichen Rechtsanwalt und Notar, aufgenommen am 6. Januar 1854 in meiner Amtsstube Hierselbst, woraus klar und bündig hervorgeht, daß der Bankier Herr Itzig Cahn zu jener Zeit über sein Vermögen testiert und das von ihm in aller Form niedergeschriebene Testament bei dem herzoglichen Kreisamt nach den gesetzlichen Vorschriften niedergelegt hat, sowie daß besagter Herr Cahn eine von ihm selbst gefertigte und wohlverschlossene Kopie dieses Testaments, nachdem ich zu dem privaten Verschluß mein Amtssiegel gefügt, in meiner Amtsstube dem hier anwesenden Buchhalter Herrn Jacob Meier zur Verwahrung anvertraut hat, damit diese Abschrift am Tage nach seinem Tode in Gegenwart der Familienmitglieder geöffnet und verlesen werde, weil in diesem seinem letzten Willen auch verschiedene Bestimmungen über die Beisetzung seiner Leiche enthalten sind, die bei der amtlichen Eröffnung des zu Gericht deponierten Exemplars zu spät kommen möchten. Verlangt einer der geehrten Anwesenden das Protokoll des Näheren einzusehen?«

Alle machten das Zeichen der Verneinung.

»Der Herr Buchhalter Jacob Meier,« fuhr der Advokat fort, »hat in diesem Protokoll über den Empfang der siebenfach versiegelten Testamentsabschrift quittiert. Haben Sie?«

»Zu dienen, Herr Notar!«

»So fordere ich Sie auf, mir dies Dokument behufs der Eröffnung im Familienkreise zurückzugeben.«

Der Kleine zog aus seiner Tasche ein eingeschlagenes Päckchen, löste die Emballage und übergab ein starkes siebenfach versiegeltes Couvert.

»Hier,« sagte der Advokat, »ist die Aufschrift: Abschrift meines Testaments vom 6. Januar 1854, zu eröffnen am Tage nach meinem Tode, gezeichnet Itzig Cahn. Die fünf Privatsiegel des Verstorbenen sind wohl erhalten und hier die beiden Notariatssiegel unverletzt. Wünschen die Anwesenden sich davon zu überzeugen?«

»Geben Sie her!« schrie Frau Nathan Schlesinger.

Der Notar zog es jedoch vor, das Dokument zunächst der Witwe zu überreichen.

Die alte Dame begnügte sich, die Aufschrift anzusehen, an ihre Lippen zu führen und zu küssen, wobei eine Träne sich über ihre Wangen stahl.

Desto genauer untersuchten die beiden Geschwister das Couvert, drehten es von allen Seiten und prüften die Siegel.

»Öffnen Sie, damit wir endlich was erfahren,« sagte keuchend die Tochter.

»Geduld! Hier geht alles nach Recht und Form, Madame!«

Der Notar nahm die große Papierschere, schnitt die eine Seite des Couverts auf und zog die zusammengefalteten Bogen hervor.

»Geben Sie das Couvert her,« rief wieder Frau Schlesinger, deren Luchsaugen jeder Bewegung gefolgt waren. »Da steht etwas eingeschrieben.«

»Daß ich nicht wüßte!« fuhr sie der Notar an errötete aber im nächsten Augenblick über dies unvorsichtige Zugeständnis von seiner Kenntnis des Inhalts. »Übrigens fordert es meine Pflicht, im Interesse der Miterben jede Inschrift zuerst zu lesen, wenn eine solche wirklich vorhanden sein sollte. – In der Tat – hier finden sich unter dem Deckel einige Worte.« Er öffnete vorsichtig das Couvert auch auf der Nebenseite und las: »Kodizill Vorbehalten. Itzig Cahn.«

»Aha!«

Über das wohlgenährte Gesicht des Hofbankiers hatte ein kurzer Blitz der Verlegenheit gezuckt, doch faßte er sich sogleich wieder, als er sah, daß die Blicke seiner lieben Schwester mit großer Schärfe auf ihn gerichtet waren.

»Es ist dies ein gerechter und notwendiger Vorbehalt. Aber es hat sich bis jetzt gefunden kein solches Kodizill. Oder ist Ihnen von einem solchen bekannt, Herr Doktor?«

»Daß ich nicht wüßte! ich muß vielmehr die Erben auffordern, wenn sich ein solches in den Papieren des Herrn Itzig Cahn vorfindet, es zur Stelle zu bringen.«

»Wir werden sehen! wir werden sehen!« sagte die Frau, ihre breiten Hände in fieberischer Unruhe auf den Tisch pflanzend.

»Gott, wie ungenteel!« flüsterte die schöne Elfriede ihrem Nachbar zu. »Wie kann man sich so haben um das bißchen Geld!«

»Ich habe Kinder, so gut wie Sie, Frau Schwägerin,« sagte spitzig die Tochter des Hauses, deren scharfes Ohr die Worte vernommen, »und bin immer hier gekommen zu kurz. Ich werde wahren mein Recht, wenn es nicht tut die Schlafmütze oder der falsche Mensch, mein Mann!«

»Geliebte Marianne …«

»Still!« herrschte die barsche Stimme des Notars. »Ich muß mir jede Unterbrechung ernstlich verbitten. Nachher zanken Sie sich, soviel Sie wollen. Soll ich das Verlesen beginnen?«

»Ja!«

Der Advokat entfaltete das Papier, wies nach, daß es ein Stempelbogen sei und begann die Verlesung mit den üblichen Eingangsformeln:

An Geist und Körper noch ungeschwächt mich fühlend usw.

Dann kam die Erbeinsetzung und ein Paragraph, dem alle mit gespannter Aufmerksamkeit lauschten:

»Nach dem mit meinem Sohn Moritz am 15. Juni 1852 geschlossenen Kontrakt habe ich demselben mein damaliges ganzes Vermögen, Mobilien und Immobilien ohne Ausnahme, für die Summe von fünfundzwanzigtausend Taler und einige andere Gegenleistungen nebst der Firma und den Geschäften des Hauses I. M. Cahn u. Comp. überlassen und abgetreten. Mein gegenwärtiges Vermögen besteht daher außer den erwähnten Gegenleistungen nur in den gedachten 25 000 Talern, die ich in dem auf meinen Sohn übergegangenen Bankiergeschäft I. M. Cahn und Comp. zu stehen habe.«

Wie ein Gewitterzucken war es bei dem Anhören dieses Paragraphen über das dunkel gerötete Gesicht der Tochter gepflogen und jeder erwartete einen Ausbruch ihrer bekannten Heftigkeit. Aber sie bezwang sich gewaltsam, stemmte halb erhoben, die fleischigen Hände auf den Tisch, wendete die dunklen Augen auf ihren Bruder Moritz, und nur die Worte: »Fünfundzwanzigtausend Taler? – Na – weiter! weiter!« zischten zwischen ihren Zähnen hervor.

Der Börsen-Agent neigte den Mund an das Ohr des Doktor Straußthal und flüsterte: »Bemerken Sie wohl, der Verkauf ist gewesen zur Zeit der großen englischen Krisis!«

Der Notar begnügte sich, der Frau Schlesinger einen warnenden Blick zuzuwerfen und fuhr dann fort:

»§ 4. Meine Tochter und Erbin Marianne, verehelichte Schlesinger, hat bereits bei ihrer ersten Verheiratung ein bares Kapital von fünftausend Talern und eine standesgemäße Ausstattung im Werte von fünfzehnhundert Talern erhalten. Außerdem habe ich ihrem ersten Mann Adolph Lion Wechsel diskontiert im Betrage von 4500 Talern, die ich bei seinem Bankerott verloren habe, da er nur 10 Prozent im Akkord bezahlt hat, ohne daß ich auch diesen Betrag erhalten habe; – und ferner bei dem Bankerott ihres zweiten Mannes, Emil Goldschmidt, verloren wiederum 7800 Taler, was mit den Zinsen und den kleineren Anleihen, die meine Tochter bei mir fortwährend gemacht, nahezu dreißigtausend Taler beträgt …«

»Falsch! Falsch!« kreischte die Frau.

»Ich verordne und bestimme also demnach, daß besagte Vorschüsse, doch nur in der Höhe von achtzehntausend achthundert Talern als das Erbteil meiner Tochter auf die oben erwähnten 25 000 Taler in Anrechnung zu bringen sind, doch ohne daß sie den Überschuß zu verzinsen oder herauszuzahlen hat. Es soll vielmehr mein Sohn Moritz gehalten sein, meiner Tochter Marianne während ihrer Lebzeit alljährlich eine Rente von zweihundert Talern auszuzahlen, die er nach seinem Willen mit viertausend Taler Kapital ablösen kann, wodurch alle weiteren Ansprüche meiner Tochter Marianne an mein Erbe getilgt sind. Sollte meine besagte Tochter jedoch sich einfallen lassen, diesen meinen letzten Willen anzufechten, so soll diese Rente wegfallen und sie vielmehr noch gehalten sein, das Haus J. M. Cahn u. Comp. mit den ihm zustehenden zehn Prozent an dem Bankerott ihres ersten Mannes Adolph Lion nebst Zinsen zu befriedigen.«

Das Gekreisch einer wilden Katze ist melodisch gegen das Gezeter, das die getäuschte Erbin erhob. Die bittersten Verwünschungen sprudelten von ihren Lippen, auf den Verstorbenen, auf ihren Bruder, auf ihren Mann, der ruhig dabei sitze, während sie betrogen würde! und einige Minuten lang mußte die weitere Verlesung des Testaments unterbrochen werden, bis schließlich der Notar mit der Hand auf den Tisch schlug und sehr grob und energisch erklärte, er werde sofort den Salon und das Haus verlassen, wenn nicht augenblicklich Ruhe einträte.

Die Begierde, zu erfahren, was noch kommen werde, vermochte endlich Madame Schlesinger einstweilen zur Ruhe zu bewegen, und sie begnügte sich unterdes mit den heißen Tränen der gekränkten Unschuld.

Die weiteren Paragraphen des Testaments enthielten nur unwesentliche Bestimmungen in betreff des von dem Haupterben zu leistenden Unterhalt der Witwe, derer mit auffallend liebevollen und ehrenden Worten gedacht war, und über die Bestattung seiner Leiche. Nur einer der Paragraphen erregte noch die Aufmerksamkeit aller und wandte die Blicke auf die betreffende Person.

Der Paragraph lautete:

»In Betracht der langjährigen und getreuen Dienste, welche mir mein Buchhalter Jakob Meier geleistet hat, und des guten Vernehmens, in welchem derselbe mit meinem ganzen Hause gelebt hat, sowie in der Hoffnung, daß derselbe nach meinem Tode auch fernerhin mit der gleichen treuen und uneigennützigen Gesinnung meinem Hause seine schätzbaren Dienste widmen wird, empfehle ich seine weitere Existenz meinem Sohne Moritz, überzeugt, daß es dieser Empfehlung nicht erst weiter bedarf!«

Der Hofbankier nickte sehr wohlwollend und vornehm dem mit dieser Empfehlung bedachten Buchhalter zu, Frau Schlesinger aber schlug ein hysterisches Lachen auf. »Sind Sie zufrieden, Meierchen, sind Sie zufrieden mit den Sechsundzwanzigtausend?«

Der kleine Mann wandte verstört bei dem unerwarteten Schlag gegen alle seine Hoffnungen die Augen von einem zum andern, bis sie dem fest und bedeutsam auf ihm haftenden Blick des Fremden begegneten. Die Farbe wechselte mehrmals auf seinem Gesicht und er preßte die Hände krampfhaft zusammen, aber er sagte kein Wort.

Die Verlesung war geschlossen, der Notar faltete das Papier zusammen und legte es vor sich nieder, den strengen Blick auf die Frau Nathan richtend, deren Gesicht puterrot vor Aufregung war.

»Ansprüche und Reklamationen,« sagte er laut, »können natürlich erst nach der Eröffnung des gerichtlich deponierten Originals erhoben werden und ich verweise darauf. Mein Geschäft hier ist zu Ende.«

Aber der Mann des Rechts hatte seinen ebenbürtigen Gegner in der in ihrem Heiligsten – dem Geldbeutel – schwer gekränkten Frau gefunden.

»Nein, bleiben Sie – wir sind noch lange nicht zu Ende!« kreischte sie. »So kommen Sie nicht weg, Sie haben ebensogut gewußt um das Testament, wie der da, der Schuft, der Betrüger, der sich nicht schämt, zu berauben seine einzige Schwester, daß es eine Schande ist vor Gott und der Welt! Sie haben gemacht den niederträchtigen Kontrakt über den Verkauf. Viertausend Taler? Ich soll nehmen viertausend Taler für mein Recht? Ich stoße das Testament um, ich werde schreien auf der Gasse, in der Zeitung über den Betrug! Es muß sein ein Kodizill! Schaffen Sie das Kodizill! ich will kehren das Haus von oberst zu unterst, der alte Mann kann nicht gestorben sein mit solcher Ungerechtigkeit, oder er hätte betrogen sein eigen Blut. Aber ich habe gehört mit meinen eigenen Ohren, wie er hat gedroht auf seinem Sterbelager, er wolle noch weiter ändern das Testament! Wo ist die erste Änderung? Das muß sein das Kodizill! Mein Bruder Moritz hat gestohlen das Kodizill!«

»Marianne!«

»Liebe Frau …«

»Halt's Maul!« schnob die erbitterte Frau den Börsenmakler an. »Hat er dich nicht auch betrogen, so gut wie mich? Hast du Kinder oder nicht, wenn sie auch nicht sind alle von dir? Willst du dir gefallen lassen das Testament?«

»In der Tat,« sagte Herr Nathan mit etwas langem Gesicht, »ich muß gestehen, wir sind nicht behandelt, wie es sein sollte, da doch meine Frau das gleichberechtigte Kind des Verstorbenen ist, und …« er unterbrach sich, denn er hatte die drohend zusammengezogene Stirn des Hofbankiers gesehen, der ihm einen sehr bösen Blick zuwarf – »indes, ich hoffe, daß die wackere Gesinnung und die brüderliche Liebe des geehrten Herrn Schwagers aus freien Stücken nicht zulassen wird …«

»Der?« schnitt ihm mit Hohn die wütende Frau das Wort ab. »Der was herausgeben von seinem Raub, was er nicht muß? Aber ich will nicht schweigen zu der Schande, ich will meinen Staub schütteln von den Füßen in diesem Haus im Augenblick, auf der Stelle, ich will mir suchen einen Advokaten in Berlin, der macht keine betrügerischen Kaufverträge …«

»Madame!«

Sie hatte mit einem Griff die Testaments-Abschrift vor ihm weggerissen, ballte sie zusammen und steckte sie an den sehr umfangreichen Ort, wo sonst Damen die Ausdrücke zarter Liebe zu verbergen pflegen. »Ich werde schon finden den rechten Advokaten, Juden oder Christ, das ist mir gleich, und den Zeitungsschreiber dazu, für Geld ist in Berlin alles zu haben, ich will Staub werfen auf das Haus I. M. Cahn und Compagnie …«

»Marianne!«

Es war eine leise, klanglose, ernste Stimme, die der ehrwürdigen Frau; ihre Hand legte sich leicht aus den Arm der Erbitterten. »Marianne, du vergißt dich! Dich und mich!«

Ein Tränenstrom, der flutete wie ein Bach über das breite rote Gesicht, machte dem Herzen der Erbitterten in weidlicherer Weise Lust, als durch Schimpfen und Toben.

»Main! Mutter – sagen Sie selbst – bin ich nicht betrogen? sind meine Kinder nicht auch Ihr Blut? Haben Sie es leiden können, daß mir solch Unrecht geschehen?«

»Ich habe nichts gewußt von diesem Testament, Tochter, so wahr mir Gott helfe in meiner Todesstunde,« sagte traurig die alte Frau. »Aber dein Vater hat das Vermögen erworben und war der Herr und wir dürfen sein Andenken nicht verunehren durch Ungehorsam und öffentlichen Streit.«

»Aber bedenken Sie doch, Mutter – das Geschäft? es ist das Zwanzigfache wert – Sie müssen es bezeugen, Sie und der Meier. Er wird sagen die Wahrheit, denn ihm ist mitgespielt so schlecht wie uns. Was tut er mit dem bloßen Lob, wenn er kriegt kein Geld? – Jakob Meier – – wo ist der Meier?«

Alles sah nach dem Platz des kleinen Buchhalters, – aber Herr Meier war verschwunden, schon mit den letzten Worten der Verlesung.

In diesem Augenblick erschien er wieder. Sein Gesicht war etwas gerötet, seine schmalen Lippen waren zusammengepreßt und er ging schweigend zu einem der Kamine und lehnte sich mit dem Rücken daran.

Hinter ihm drein kam das Hausmädchen Friederike, mechanisch, totenbleich, wie er sie vorhin getroffen. Sie trug, wie es von den Dienern vornehmer Häuser geschieht, einen Brief auf einem silbernen Teller.

Der kleine Buchhalter wies ohne ein Wort zu sagen mit dem Finger auf die Matrone. Ebenso stumm – als handle sie ohne Bewußtsein, ohne Gefühl, – ging die Dienerin um den Tisch und reichte den Brief der alten Frau.

»Für mich?«

»Ich fand ihn!«

»Wo?«

»Im – im Schlafzimmer des gnädigen Herrn!«

Eine leichte – flüchtige Röte zog über ihre Stirn, verschwand aber eben so rasch. Sie wendete sich um und schritt ebenso mechanisch, gespensterhaft wieder aus dem Zimmer, wie sie gekommen.

Die alte Frau hatte mit Erstaunen den Brief von dem Teller genommen, und indem sie ihre Brille aufsetzte, besah sie ihn von vorn und hinten und las dann die Aufschrift.

»Wirklich an mich – von der Hand des Vaters!«

Eine tiefe Aufmerksamkeit hatte sich der ganzen Gesellschaft bemächtigt – wer den Hofbankier setzt zufällig angesehen hätte, statt der alten Frau, würde bemerkt haben, daß seine Farbe sich ins Fahle veränderte und seine dicken Lippen zitterten.

»Erlauben Sie, Mama, – ich will …«

Eine gebietende Bewegung der Hand wies ihn zurück. »Er ist an mich« – Sie öffnete das Papier. »Wie, ein leeres Couvert – nur leicht zugeklebt! Was soll das heißen? Aber – hier inwendig stehen auch einige Worte …«

Die alte Frau hatte sich von dem Sofa erhoben und war zu dem Fenster getreten. Noch einmal wollte Herr Moritz Cahn ihr nach, aber der Fremde legte auf einen Augenwink des kleinen Buchhalters die Hand auf seinen Arm.

»Ich glaube,« sagte der Doktor, »Sie werden am besten tun, der alten Dame ihren Willen zu lassen.«

Die Matrone hatte der Versammlung am Tisch, während sie am Fenster stand und las, den Rücken zugewendet. Die Worte, die sie las, schienen sie tief zu erschüttern, ihr ganzer Körper zitterte, und sie drückte einige Augenblicke die Hände vor das Gesicht. Plötzlich, als hätte sie volle Kraft und Fassung gewonnen, richtete sie sich auf und wendete sich um.

»Mutter, um Himmelswillen, was ist Ihnen?« Eine energische Bewegung wies die Tochter zurück. Das Gesicht der alten gebrochenen Frau hatte einen Ausdruck von Ernst und Strenge angenommen, den die Familienmitglieder bisher nie an ihr bemerkt.

»Moritz Cahn!«

»Was wünschen Sie, Mama?«

»Ich habe mit dir allein zu sprechen! – Geh' voran!«

»Wohin, Mama?« Der Hofbankier wechselte fortwährend die Farbe – eine innere Unruhe schien alle seine Glieder zu bewegen.

»Wohin sonst, als zu deinem Vater. Komm!«

Der Notar hatte gleichfalls nicht ohne eine gewisse Teilnahme der eigentümlichen Scene beigewohnt und von einem auf den anderen geblickt. Jetzt nahm er seine Papiere zusammen und sagte: »Dann erlauben Sie wohl, Madame, daß ich zuvor mich Ihnen empfehle. Mein Geschäft hier ist zu Ende.«

»Ich hoffe, noch nicht, Herr,« sagte die alte Frau mit fester Stimme. »Ich bitte Sie und die Anwesenden, hier unsere Rückkehr wieder erwarten zu wollen.« – Ein gebieterischer Wink hieß den Sohn vorangehen.

Der Hofbankier wagte nicht zu widerstreben – er öffnete die Tür und ging seiner Mutter voran. – –

In dem Korridor hatte Herr Moritz Cahn zweimal vergeblich versucht, die alte Frau anzusprechen, ein stummer Wink bedeutete ihn nur, weiterzugehen.

So kamen sie bis zu dem Zimmer, wo die Leiche des alten Mannes setzt allein auf einer Bettstelle lag, des Sarges harrend, und nur von einem Laken bedeckt.

Der Hofbankier öffnete nur zögernd die Tür und ließ die Matrone an sich vorübergehen.

»Schließe die Tür!«

Er tat, wie sie befohlen.

Sie stand neben dem Toten. Die kleine gebrechliche alte Frau schien zu wachsen bei dem Richteramt, das sie jetzt übte.

Mit fester Hand hob sie das Tuch von dem Antlitz des Toten.

»Moritz Cahn – blicke hierher. – Dieser Brief,« sie hob das Kuvert in die Höhe, »ist von der Hand deines Vaters geschrieben an mich. Wo ist sein Inhalt?«

Der Hofbankier, der künftige Reichsbaron, hatte alle seine Kraft zusammengerafft. »Was soll das heißen?« zankte er. »Was wollen Sie von mir? Wie soll ich wissen den Inhalt von jedem alten Couvert, das sich umhertreibt im Kehricht vom Haus und das die dumme Gans, die Friederike, hat gefunden und macht ein Wesens daraus!«

»Du lügst! Das Couvert ist in deinem Schlafzimmer gefunden – es ist geöffnet, und du bist der Täter. Wo ist das Kodizill?«

Die Zähne des Hofbankiers klapperten hörbar zusammen. »Was soll ich wissen von einem Kodizill? Wo soll sein das Kodizill? ich hab' keins gesehen, es hat keins existiert oder es müßte sein zu finden. Ich will's verschwören, wenn ich …«

» Schurke

Der Chef des Hauses I. M. Cahn u. Comp. schrak trotz aller Frechheit unwillkürlich zusammen bei dem verurteilenden Wort aus dem Munde der sonst so milden, stillen Frau. Er heftete die Augen auf den Boden und wagte kein Wort zu erwidern.

»Hier,« sagte die Matrone und öffnete das Kuvert – »steht geschrieben: ›Ein Kodizill zu meinem Testament, zur Nachahmung für meine Erben!‹«

Er machte einen halben Versuch, sich des Kuverts zu bemächtigen, aber ein Blick der alten Frau genügte, seine Arme herabfallen zu machen.

»Wo ist das Codicill?«

»Verbrannt!« stammelte er.

»Und sein Inhalt?«

»Ich kenne ihn nicht!«

»Lügner!«

Beim Gott Abrahams – bei dem Toten vor uns, ich habe ihn verbrannt, Mutter!«

»Gut – ich will dir glauben – sein und mein Fluch würde auf dir ruhen, wenn du die Unwahrheit sprächst. Und was denkst du zu tun?«

Die Augen des Hofbankiers fuhren unstät umher, ohne dem Blick seiner Mutter begegnen zu können.

»Dein Vater,« sagte die alte Frau, »hat offenbar das Unrecht gefühlt, das er begangen, und es wieder gut zu machen gesucht. Für welchen anderen Zweck hätte er sonst ein Kodizill gemacht? – Ich will die Marianne nicht verteidigen, sie ist ein törichtes und heftiges Weib, aber sie ist sein Kind so gut wie du und hat gleiches Recht mit dir, und wenn sie sagt, daß der Verkauf des Geschäfts ist ein Betrug an ihr, so hat sie recht!«

»Ich versichere Sie, Mutter, Sie täuschen sich über den Wert …«

Die alte Frau machte ein ungeduldige Bewegung. »Ihr werdet gut machen das Unrecht, das ihr getan ist, er und du, noch ehe diese Hand voll Staub vom Staube gedeckt wird. Doktor Bamberger ist noch anwesend, die Verhandlung soll sofort in meiner Gegenwart aufgenommen werden. Ich will dich nicht hindern,« fuhr sie mit einem Zuge ernsten Spottes fort, »dabei den Großmütigen zu spielen, um deine Ehre zu retten. Was mich anbetrifft, so bin ich für die wenigen Tage, die Gott mir noch gewährt, mit den Bestimmungen einverstanden. Aber das Unrecht an dem armen Meier muß gleichfalls gesühnt werden.«

»Er ist ein falscher Verräter,« schnob giftig der Bankier. »Er hat gespielt den Streich, daß gekommen das Papier da in Ihre Hände. Er soll sofort aus dem Haus!«

»Ich denke, du wirst dir dies noch überlegen,« meinte ruhig die Matrone, »du würdest größeren Schaden haben davon als er; – und wenn die Marianne damals nicht so töricht gewesen wäre und ihn vor zwanzig Jahren zum Mann genommen hätte, statt mit dem christlichen Leutnant davon zu laufen, – es wäre besser gewesen für alle. – Und jetzt kennst du meinen Willen und wirst ihn befolgen, damit der da friedlich in seinem Grabe ruhen mag – wenigstens mit diesem Unrecht nicht belastet. Ich wünschte, ich könnte alles andere auch ebenso von seinem Gedächtnis nehmen.«

Sie deckte die Leinwand wieder über den Toten und verließ das Zimmer. Hinter ihr, wie ein Hund mit hängenden Ohren, dem der Knochen eben entrissen ist, giftig und furchtsam zugleich, folgte der Hofbankier, indem er sich im stillen schwor, wenigstens an der unschuldigen Ursache seiner Niederlage, dem unglücklichen Hausmädchen, eine eklatante Rache zu nehmen, denn an den kleinen Meier wagte er sich nicht. Der Buchhalter kannte zu viel von den Geheimnissen des Geschäfts. – –

In dem Salon hatte während dieser kurzen Szene die zurückgebliebene Gesellschaft sich in Gruppen aufgelöst: Frau Schlesinger machte ihrem Mann Vorwürfe, der Doktor führte ein schöngeistiges Gespräch mit der sensiblen Elfriede, welche die Gelegenheit wahrnahm, ihm aus dem großen Bücherschrank ein schön gebundenes Exemplar ihrer Dichtungen zu verehren, und der Notar hatte den kleinen Buchhalter in der Scheere, ohne doch von diesem mehr erfahren zu können, als er gerade sagen wollte.

So trafen sie die beiden, von allen mit gespannten Blicken erwarteten Zurückkehrenden.

Die Matrone nahm ihren Patz auf dem Sofa wieder ein, ihre Hand spielte noch immer mit dem jetzt zusammen gefalteten Kuvert.

Herr Moritz Cahn winkte den Zeugen der Testamentseröffnung, wieder Platz zu nehmen – er hatte jetzt überwunden und beschlossen, die fatale Klemme wenigstens möglichst zu seinem Vorteil zu wenden.

»Nach einer Beratung mit unserer hochverehrten Mutter,« begann er – »und da ich fürchte, liebe Schwester und lieber Schwager, daß unser lieber Vater, dem der Gott unserer Väter eine Urstätt' schenke, doch etwas zu parteiisch gewesen ist gegen mich, auch das Geschäft J. M. Cahn u. Comp. sich sehr gehoben hat im Umfang und Wert seit dem Kauf, – habe ich mich entschlossen, das Legat unseres Vaters angemessen zu erhöhen, natürlich unter der Voraussetzung, daß alsdann kein Widerspruch mehr erfolgt gegen das Testament.«

»Wieviel?« gellte die Stimme der Frau Schlesinger. »Herr Doktor Bamberger,« fuhr der Hofbankier fort, ohne sich durch die brüske Frage seiner Miterbin stören zu lassen, »ich hoffe, Sie haben Stempelpapiere bei sich, damit wir die Sache festmachen können auf der Stelle, wie sich's für Leute von's Geschäft gehört.«

»Das versteht sich von selbst,« sagte der Advokat rauh. »Ich werde doch mein Handwerkszeug bei mir haben. Was soll ich aufnehmen?«

»Einen Vertrag, wenn's Ihnen beliebt. Ich bitte also, schreiben Sie: ›Moritz Cahn, in Firma J. M. Cahn und Comp., verpflichtet sich seiner Schwester Marianne Schlesinger, geborene Cahn, statt der in dem Testament ihres Vaters ihr ausgesetzten lebenslänglichen Rente eine solche von – von …‹«

»Zweitausend Talern,« klang die feste Stimme der alten Frau.

Der Hofbankier schnitt ein Gesicht, wie ein Mensch, der Essig verschluckt, wagte aber nicht zu widersprechen und fuhr würgend fort: – – »von zweitausend Talern zu zahlen, dergestalt, daß der Betrag halbjährlich post …«

»Pränumerando,« sagte entschieden die beleidigte Dame.

»Pränumerando zu Berlin an sie gegen Quittung von ihr und ihrem Manne gezahlt wird.«

»Sollte Frau Schlesinger, geborene Cahn,« fügte der Börsenagent hinzu, »unglücklicherweise vor ihrem Mann mit Tode abgehen, so soll diese Rente für seine Lebzeit auf besagten Mann übertragen werden, resp. nach seinem Ableben auf die Kinder besagter Ehe.«

»Was denkst du da an meinen Tod?« rief die Frau zornig, »ich werde noch leben dir viel zu lang. Aber was haben wir für eine Sicherheit für die Rente? Der Moritz kann machen Bankerott oder sterben morgen, so gut wie ein anderer, und ich habe nichts mit meinen Kindern.«

»Moritz,« sagte die alte Frau, »beabsichtigt, dir ein Kapital zu sichern für den Fall seines Todes.«

»Dreißigtausend!«

»Ich will nicht haben dreißigtausend – ich will haben meinen Anteil am Geschäft!«

»Schreiben Sie fünfzigtausend, Herr Notar,« sagte der Hofbankier, sich den Schweiß von der Stirn trocknend – »und verklausulieren Sie es wohl für meine Schwester und deren Kinder.«

Der Notar konzipierte den Paragraph und las ihn vor. Der Hofbankier blickte mit einer gewissen Angst auf seine Mutter, während er fortfuhr: »Von diesen fünfzigtausend kommen in Abzug …«

»In Abzug? was für ein Abzug?«

Der Berliner Börsenagent rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her, als sein Schwager fortfuhr: »In Abzug die 36,570 Taler, die nach letzter Abrechnung Herr Nathan Schlesinger an das Haus J. M. Cahn und Comp. schuldet.«

Die Bombe war geplatzt, der unglückliche Schuldner zuckte die Achseln und ergab sich in sein Schicksal, das auch nicht säumte in Gestalt seiner Gattin.

»Sechsunddreißigtausend Taler? hör' ich recht? Und die hat gemacht Schulden der erbärmliche Mensch hier mit einfältigen Bullen und liederlichen Weibspersonen von der Oper und von's Ballet, ohne zu denken an Frau und Kind! – Aber er mag werden eingesperrt, ich bezahle keinen Pfennig für ihn – ich muß haben die fünfzigtausend Taler ohne Abzug, oder ich fechte an das Testament!«

Der Mäcen der Berliner Künstlerinnen verschwand fast in seiner Kravatte und sandte aus dieser Tiefe einen flehenden Blick auf seine Schwiegermutter.

»Herr Schlesinger,« sagte begütigend der fremde Zeuge der Verhandlung, »hat Unglück gehabt an der Börse. Das Blatt wird sich wenden und er den Verlust doppelt wieder einbringen. Ich bürge dafür.«

»Bürgen hin, bürgen her! Er soll sich unterstehen, und noch einen Fuß setzen auf die Börse oder ins Theater. Was ist er schuldig – Differenz oder Wechsel?«

»Sechsundzwanzigtausend Taler Wechsel, das andere Differenz,« erläuterte der Hofbankier.

»So mögen sie ihn rausschmeißen für die Differenz, die er nicht kann bezahlen von der Börse wie einen Lump,« resümierte sehr philosophisch die Gattin. »Wenn er ist Makler, warum läßt er nicht reinfallen bloß andere, statt sein eigen Geld? Für die Wechsel mögen sie ihn einsperren, bis sie's werden müde – ich bezahle keine Alimente für ihn.«

»Moritz,« sprach die Matrone, »wird die Schuld übernehmen als ein Teil deines Erbes.«

Es wäre schwer zu entscheiden gewesen, wer ärgerlicher zu dieser Bestimmung sah, der Hofbankier, oder die zärtliche Gattin. Nach verschiedenem Hin- und Herreden und nachdem Herr Schlesinger gelobt, nicht mehr auf eigene Rechnung den Bullen zu machen, mußten aber beide zustimmen. Nun bedang sich Madame Schlesinger nochmals aus, daß die fünfzigtausend Taler auf ihre Person geschrieben und die Schuld ihr persönlich zediert werden müßte, ohne daß ihr Eheherr irgendeine Disposition darüber beanspruchen könne.

Herr Moritz Cahn machte Miene, sich zu erheben. »So wären wir denn zu einem glücklichen Einverständnis gelangt,« sagte er – »freilich durch schwere Opfer von meiner Seite. Meine geliebte Schwester wird das zu würdigen wissen und vor dem Herrn Notar erklären, daß sie anerkennt den väterlichen Willen und sich begibt jedes Einspruchs.«

Eine Art bissiges Knurren antwortete ihm. Weiteres konnte Madame nicht über sich gewinnen, selbst unter dem ernsten Auge der Mutter. Herr Schlesinger aber, sehr erfreut, so leichten Kaufs fortzukommen, beteuerte mit Hand und Mund, daß er seine eheherrliche Zustimmung gebe und daß das Haus J. M. Cahn und Comp. in jeder Lage auf ihn rechnen könne, eine Versicherung, die dem Hofbankier für den Preis von sechsunddreißigtausend Talern etwas teuer erkauft zu sein schien. Er wollte deshalb eiligst die Verhandlung schließen, als Frau Schlesinger, die jetzt nichts mehr zu gewinnen oder vielmehr zu verlieren hatte, seinen Arm faßte. »Einen Augenblick noch, Bruder Moritz,« sagte sie zärtlich, »wie ist es mit dem Meier? Das Meierchen kann doch ausgeh'n nicht ganz leer!«

»Ich behalt' ihn in meinem Geschäft und geb' ihm die Prokura!«

»Die hat er schon längst, wie hätt' er sonst spielen können mit meinem Mann, dem leichtsinnigen Menschen an der Börse, und verlieren fünftausend in Südamerikanern.«

Frau Schlesinger mußte das Gardinenrecht in vergangener Nacht sehr gut benutzt haben, daß sie so vertraut war mit dem Stand der Dinge.

»Meinetwegen,« grollte der Hofbankier. »Ich werde übernehmen für ihn die Differenz.«

»Es tut mir leid, Herr Cahn,« bemerkte der Doktor, »daß ich Ihrer Generosität schon zuvorgekommen bin. Ich habe die Sache bereits ausgeglichen für dies treffliche Memoire, das ich unserm kleinen Freunde dafür abgekauft.«

»Gut – so werd' ich ihm geben …«

»Der Meier,« fiel die uneigennützige Schwester rasch ein, die an die versprochene Erbschaft dachte, »ist gewesen sechsundzwanzig Jahr in unserem Haus und hat ihm treu gedient. Der Vater würd' ihm gewiß ausgesetzt haben tausend Taler Gratifikation für jedes Jahr, wenn er gedacht hätte, daß der Meier sich wünscht ein eigenes Vermögen.«

»Aber er wünscht es nicht, er ist zufrieden mit seiner Lage,« schrie äußerst zornig der Hofbankier. »Was mengst du dich darein in Dinge, die dir nischt angehn!«

»Ich vertrete so gut die Ehre des Hauses wie du,« sagte diesmal sehr ruhig die Schwester. »Frage ihn selbst, ob er wünscht oder nicht, und frage die Mutter, die dem Vater gewinnen geholfen das Vermögen.« Sie appellierte sehr schlau an diese, weil sie bemerkt hatte, daß die alte Frau auf eine ihr noch unklare Weise einen bedeutenden Einfluß auf die Willfährigkeit ihres Sohnes übte.

Der Hofbankier wandte einen sehr kläglichen Blick auf die Mutter, und dieser wurde noch unwirscher, als die alte Frau das Papier in ihren Fingern wie zufällig erhob und dazu nickte. Seine letzte Hoffnung war auf den neuen Erben selbst beschränkt. »Ist es wahr, Meier, daß Sie verlangen bares Geld?«

Der kleine Buchhalter krümmte sich wie ein Wurm unter dem drohenden Auge des Prinzipals. »Wenn es auch nicht ist bares Geld,« sagte er, »ich werde Staatspapiere nehmen zum Tagescours, wenn der Herr Hofbankier belohnen wollen meine kleine Verdienste.«

Herr Moritz Cahn schlug mit der kurzen fleischigen Hand auf den Tisch, daß das Tintenfaß klirrte. »Schreiben Sie sechsundzwanzigtausend für Jakob Meier,« herrschte er dem Notar zu.

»Gott, meine armen Kinder!« stöhnte die schöne Elvire. »Wie kannst du mich erschrecken so ungenteel!«

Aber Herr Cahn war diesmal nicht in der Laune, der Dichterin die gebührende Verehrung zu beweisen, sondern schnauzte sie an. »Halt den Mund! Was schwatzt du von ungenteel? ich denke, ich habe mich benommen in dieser Affäre wie ein Gentleman, der ich bin. Oder nicht?«

Er blickte stolz um sich – die anwesenden vier Herren beeilten sich ihm zu erklären, daß er es in jeder Beziehung getan.

Das stolze Bewußtsein, das um hundert Prozent stieg, als die Matrone das zusammengefaltete Couvert wie zufällig fallen ließ und er es hastig aufgehoben und in die Hosentasche geschoben hatte, war auch das einzige, was ihn belohnte, als er mit kräftigem Federzug jetzt die kostspielige Verhandlung unterschrieb und die Feder weiter reichte zur Unterzeichnung der Zeugen.

Aber der Becher, der ihm heute beschieden, war noch nicht ganz geleert.

Schon während des Schlusses der Verhandlung, die Dr. Straußthal als Zeuge unterschrieb, hatte sich draußen in den Gängen eine gewisse Unruhe, ein Hin- und Herlaufen bemerklich gemacht. Jetzt öffnete Johann, der Diener, die Türe und trat mit verstörtem Gesicht ein.

»Das Dejeuner ist serviert, gnädige Frau, aber …«

»Was gibt's?«

»Die Friederike, die arme Person …«

»Was ist's mit ihr?« frug die Stimme der Hausfrau unwillig. »Sie kann dir noch aufwarten helfen bei Tisch, ehe sie geht.«

»Sie liegt seit einer Viertelstunde in Krämpfen, seit der Soldat gekommen. Es wäre wohl am besten, einen Doktor zu holen.«

»Was soll das heißen von so einer Person,« rief die sentimentale Hausfrau mit scharfem Ton. »Wie kann sie krank werden, nachdem sie gekündigt hat den Dienst und fort will Knall und Fall. Wer ist der Soldat?«

Die Antwort wurde dem Diener erspart. Die Matrone, die einzige, die ein teilnehmendes Herz und Besorgnis für das erkrankte Mädchen besaß, vielleicht mit Ausnahme des kleinen Meier, hatte sich bereits erhoben und war nach der Tür gegangen, um selbst nachzusehen. Aber bevor sie noch dieselbe erreichte, wurde sie geöffnet und – gewiß eine seltene Erscheinung in diesem Salon – ein großer stattlicher Mann in der Uniform eines Unteroffiziers der Preußischen Garden trat ein.

Der Soldat, der an der Tür stehen blieb und militärisch grüßte, hatte ein ehrliches ernstes, jetzt von dem Ausdruck der Sorge und des Schmerzes getrübtes Gesicht, seine Haltung war stramm und straff, er war ganz das Musterbild eines festen Soldaten.

»Verzeihen Sie, meine Herrschaften, wenn ich störe,« sagte er mit leicht vibrierender Stimme, »aber Not kennt kein Gebot. Wo finde ich den Herrn oder die Frau des Hauses?«

Die Farbe des Hofbankiers war womöglich noch fahler geworden, als vorhin, da seine Mutter ihm den Beweis seines Diebstahls am Totenlager seines Erzeugers wies. Galt es doch damals höchstens einen Angriff auf sein Geld, – hier fürchtete er Schlimmeres. Er ahnte, wer der Fremde sei und hatte sich hinter einen der Lehnsessel retiriert.

Die schöne Elvire war vorgetreten. »Wer sind Sie? was wünschen Sie? ich bin die Frau vom Hause.«

»Madame,« sagte der Soldat – »ich bin der Unteroffizier Krause, der Bruder des Mädchens, das seit zwei Jahren in Ihren Diensten steht. Ich bin vor einer halben Stunde mit der Eisenbahn von Berlin angekommen, um meine Schwester auf einen schweren Schlag vorzubereiten, der uns beide betroffen, und sie nach Berlin zu holen. Aber es hat die Ärmste so angegriffen, daß sie von einer Ohnmacht in die andere fällt. Ich bitte um die Erlaubnis, einen Arzt holen lassen zu dürfen und bedauere die Unruhe, die wir Ihnen machen um so mehr, als, wie ich höre, Sie das gleiche Unglück betroffen hat.«

»Das gleiche Unglück – uns?« meinte hochmütig Frau Elvire.

»Den Vater zu verlieren, nur daß wir zugleich vater- und mutterlos geworden sind.«

»Bedauere recht sehr, Herr Unteroffizier,« sagte die Dame des Hauses. »Sobald Ihre Schwester sich erholt hat, können Sie dieselbe mit sich nehmen, sie hatte bereits ihre Entlassung und wollte zurück nach Berlin.«

Sie nickte vornehm zum Zeichen des Abschieds.

»Lieber Himmel,« fügte Madame Schlesinger bei – »Sie haben mich gemacht besorgt, Herr Unteroffizier. Ist denn etwa ausgebrochen eine ansteckende Krankheit in Berlin, daß Ihr Vater und Ihre Mutter gestorben sind alle zwei?«

»Es ist ein Unglück geschehen, Madame. Man fand die beiden alten Leute gestern morgen tot in ihrem Bett – an Kohlendunst. Sie haben unvorsichtig wahrscheinlich zu früh am Abend den Ofen geschlossen. – Ich will Sie nicht länger stören!«

Die Matrone hatte den Salon bereits verlassen, um hinunter zu gehen zu der Kranken.

Auch der kleine Meier war verschwunden. Er war anfangs gleichfalls sehr erschrocken gewesen über die Ankunft des großen Soldaten, aber jetzt eilig fortgelaufen, um selbst einen Arzt zu holen.

Frau Elfriede Cahn fand das Unglück sehr bedauerlich, aber erklärlich, weil die Leute mit Kohlen heizten statt mit Holz; – dem Herrn Hofbankier war ein großer Stein vom Herzen gefallen und er empfahl seiner Gattin, als die Gesellschaft jetzt zum Dejeuner in den Speisesaal ging, für den königlich preußischen Herrn Unteroffizier ein Glas Wein und ein belegtes Butterbrot hinunter in die Küche zu schicken.



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