Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vor dem Eisengitter, das gegen den Karussellplatz hin die Tuilerien umzäunt, drängt sich ein neugieriger Menschenhaufen.
Im Kaiserschloß soll ein Hofball stattfinden und die ungebetenen Gäste, die draußen am Gitter Posto gefaßt haben, hatten allerdings genug zu gaffen. Equipage um Equipage kam über den Karussellplatz herangerollt, um ihre mit einer allerhöchsten Einladung beehrten Insassen an Ort und Stelle zu bringen. Links und rechts von dem antiken Triumphbogen, dessen Arkaden direkt in das Mittel- und Hauptportal des Schloßhofes ausmünden, schildert hoch zu Roß und in voller Gala ein Doppelposten der sogenannten Cent-Gardes – jener aus hundert Riesen formierten Schwadron, die mit gutem Recht den Stolz des Kaisers bildete. Den blanken Pallasch in der Faust, regungslos auf ihre mächtigen Rappen hingegossen, glichen in ihren funkelnden Helmen und Brustpanzern die beiden Kolosse ehernen Statuen. Vor dem Wachtlokal, das innen im Schloßhofe das Tor flankierte, war die ganze Mannschaft aufgestellt, um den einpassierenden Würdenträgern die üblichen Honneurs zu erweisen. An diesem Abend hatten die Turkos den Dienst und im Lichtschein der Gaskandelaber gewannen die schwarzen und gelben Gesichter der halbwilden Afrikaner das Aussehen grinsender Teufelsfratzen.
Die Anfahrt der eintreffenden Karossen und Equipagen erfolgte auf der Rampe des Pavillon de l'Horloge, der den Mittelpunkt der langgestreckten Schloßfassade bildete. Durch ein Spalier von Wachtposten, Polizeiagenten und Lakaien erstiegen die Gäste des Kaiserpaares die pompöse, in einen Hain von tropischen Pflanzen umgewandelte Marmortreppe, die zu dem Ballsaal emporführte. Wie ein endloser Strom von blendenden Damentoiletten, von gold- und silbergesteckten Uniformen quoll es durch die Dianagalerie und die weite Flucht der prachtvollen Staatszimmer. Ein Bild von überreicher Farbenfülle – ein wogendes Leben und Weben im Glühen und Sprühen von tausend Lichtflammen! Hier ältere Damen und Herren in animierter Konversation: dort jugendlich graziöse Mädchengestalten in ungeduldiger Erwartung der ersten Musiktöne und umgaukelt von geschniegelten und gebügelten Schmetterlingen in allen möglichen Regimentsfarben, die sich durch Eintragen ihrer Namen auf die zierlichen Tanzkarten einen Reigen mit den auserkorenen Blumen zu sichern suchen …
Nahezu zweitausend Einladungskarten waren vom Hofmarschallamte ausgestellt worden und demzufolge wuchs von Minute zu Minute das festliche Gedränge. Für den tanzenden Teil der Gesellschaft bildete auch der eigentliche Ballsaal den Versammlungsplatz; das diplomatische Korps, die Generalität, die aktiven Staatsminister, die sonstigen Reichswürdenträger und Hofchargen erwarteten im sogenannten Marschallssaal das Erscheinen der Majestäten: für die Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hauses war, wie gewöhnlich, der kleinere Konsulssalon das Rendezvous, von wo aus sie sich dem Cortège anschlossen …
Im Tanzsaal ging es begreiflicherweise am lebendigsten zu. Immer lauter ward hier die Konversation, immer ungebundener das Lachen und Scherzen – – da erklingt mit einem Mal ein wohlbekannter Ton und wie auf einen Zauberschlag verstummt das geräuschvolle Durcheinander, das bisher an die geschäftige Unruhe eines Bienenkorbes erinnern konnte.
Alle Augen hatten sich dem Eingang des Saales zugewandt, wo soeben der Hofmarschall in goldstarrender Uniform und mit feierlicher Grandezza zum zweiten und dritten Mal seinen Amtsstab auf den Parkettboden niederdröhnen ließ. Wie auf ein Kommando rangierte sich die eben noch in chaotischem Getümmel hin- und herwogende Menschenmasse zu einem weiten Halbkreis, mit der Front gegen die Dianagalerie hin. Gleichzeitig debouchierten aus dem Marschallssaale die schon vorbezeichneten Würdenträger mit ihren Damen, um, nach der Rangordnung sich gliedernd, ihre Plätze einzunehmen – links und rechts von den beiden Thronsesseln, die, unter einem Baldachin von purpurrotem, mit den napoleonischen Bienen durchwirkten Samt, von einem Hautpas aus den ganzen Ballsaal dominierten. Kaum hatte sich dieser Aufmarsch vollzogen, als auch schon von der Galerie her ein dumpfes Geräusch das Nahen der Majestäten kündete. Gleich darauf tauchten, gewissermaßen als Vortrab, zwei Hoffouriere in hellblauer, silbergestickter Uniform am Eingang des Saales auf – hinter ihnen nach einer momentanen Pause der Oberhofmarschall und der Oberzeremonienmeister – dann in weiterm Abstand die übrigen Hofchargen – dann der Kaiser und die Kaiserin. Hinter dem souveränen Paar reihten sich die Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hauses. Ein Schwarm von Göttern und Göttinnen minorum gentium schloß das Cortège ab …
Wie wenn ein Windstoß über geschmeidige Schilfstengel hinfährt, so neigten und beugten sich beim Erscheinen des Kaiserpaares die Köpfe und Rücken der geladenen Gäste. Mit gnädigem Dank nahmen die Majestäten den huldigenden Tribut entgegen. Der Kaiser trug an diesem Abend die große Generalsuniform mit dem Stern und dem roten Bande der Ehrenlegion; die Kaiserin hatte eine jener Toiletten gewählt, in deren Zusammenstellung sie all den fürstlichen Frauen Europas als Lehrmeisterin dienen konnte. Auch im Reich der Farben und Formen war Eugenie Kaiserin. – – Sofort nach der allgemeinen Begrüßung seiner Gäste wandte sich Louis Napoleon zu dem diplomatischen Korps – die Kaiserin ihrerseits zu den Fürstinnen und sonstigen Exzellenzen-Damen, um den Cercle zu beginnen. Nach beendigter Tournee nahmen die Majestäten auf ihren Thronsesseln Platz; der Hofmarschall winkte und die in Paradeuniform das Orchester bildende Kapelle der Gardechasseurs intonierte eine rauschende Quadrille. Eine kleine Weile verfolgten die Majestäten die Evolutionen der tanzenden Paare, dann aber lenkten andere und für sie wohl interessantere Beobachtungen ihre Aufmerksamkeit da- und dorthin ab. Der Kaiser schien an diesem Abend in jovialer Laune zu sein; zu der an seiner Seite sitzenden Landesmutter sich hinwendend, deutete er verstohlen nach einer der Fensternischen des Saales: mitten in einer Gruppe von Offizieren und Höflingen, die er fast um Haupteslänge überragte, stand in der Obristenuniform der Garde-Carabiniers ein wahrer Riese Goliath, der in anscheinend erregter Stimmung seinen Zuhörern irgendwelche Mitteilung machte …
»Sieh doch,« lachte der Kaiser: »dort entwickelt, wenn ich mich nicht irre, Beaumont seine vorsündflutliche Theorie über die Heiligkeit der Ehe.«
Ein Blick der Kaiserin streifte den spottlustigen Herrn und Gemahl. »Ein großes Glück, Sire, daß diese Theorie nicht immer eine so praktische Auslegung findet, wie bei dem grimmigen Kommandeur von Euerer Majestät glorreichem Garde-Carabinier-Regiment.
»Wie meinen Sie das, Madame?« scherzte der Kaiser weiter.
» Mon dieu, Sire!« gab seine Gemahlin mit einem nicht minder humoristischen Lächeln zurück: »wenn nach Beaumonts altfränkischer Theorie jeder Ehebrecher sein Vergnügen mit einem durchlöcherten Lungenflügel büßen müßte, so läge die Gefahr nahe, daß schließlich alle Männer moralisch würden.«
Ohne eine weitere Replik ihres etwas verblüfften Eheherrn abzuwarten, richtete die Kaiserin ihr Lorgnon nach einer andern Seite des Saales hin.
Ein galanter Skandal, der sich in allerneuester Zeit abgespielt und in den hocharistokratischen Klubs und Salons dielen Staub aufgewirbelt hatte, erklärt das Gespräch des Kaiserpaares.
Der Graf von Beaumont, Kommandeur des Garde-Carabinier-Regiments und Sprosse eines alten, ruhmreichen Adelsgeschlechtes, war nicht nur ein schneidiger Soldat, sondern nebenbei auch noch einer der famosesten Sportsmänner der damaligen Epoche: verwegener Steeplechase-Reiter, brillanter Schütze, heroischer, nobler Spieler und, alles in allem, ein guter Kamerad. Nach französischem Kavaliersbrauch war er nahezu bis zu seinem vierzigsten Lebensjahre Garçon geblieben und hatte dann ein blutjunges Edelfräulein geheiratet, das er – gleichfalls einem traditionellen Herkommen gemäß – aus dem Klosterpensionat direkt an den Altar führte. Trotz seiner aristokratischen Abstammung verachtete Graf Beaumont den Salon und dessen übertünchte Höflichkeit; überhaupt lag in seinem derbkräftigen Naturell, wie ja auch schon in seinem reckenhaften Körperbau, ungleich mehr von germanischer Rauheit, als von gallischer Glätte. Ihm erschien der Pulverdampf als köstlichstes Parfüm und für sein Ohr gab es keine schönere Musik als das Geschmetter einer Trompete, das Gewieher eines Gaules und das Gebell eines Jagdhundes.
Unter derartigen Umständen ist es begreiflich, daß Beaumont sich kaum zur Rolle eines »Herkules am Spinnrocken« qualifizierte. Und dennoch liebte in seiner Art der rauhborstige Hüne sein reizendes Frauchen zärtlich. Wohlgemerkt: in seiner Art. Nicht minder aber liebte er aber auch seine Pferde und Hunde und auf die Gewohnheiten seines langjährigen Junggesellentums wollte er ebensowenig verzichten. So mußte an das gelangweilte, sich selbst überlassene Weibchen bald die Lockung herantreten, sich auf eigene Faust Zerstreuung und Amüsement zu suchen. Schlimm – – zu Paris aber doppelt schlimm!
Die junge Gräfin hatte eine Kammerzofe, der sie das vollste Vertrauen schenkte; desto peinlicher mußte eines Tages die Entdeckung sein, daß das Mädchen eine ganz gemeine Hausdiebin war. Zuerst wollte die empörte Gebieterin die ungetreue Dienerin dem Gerichte überliefern, dann aber wählte sie einen kürzeren Prozeß: sie fügte dem Dienstzeugnis der Diebin einen dem Sachverhalt entsprechenden Vermerk bei und jagte sie dann Knall und Fall aus dem Hause.
Das Attest in dem polizeilich abgestempelten und paginierten Dienstbuche bedeutete für die unredliche Zofe den Verzicht auf jede weitere Stellung. Wutschnaubend entfernte sie sich. Noch am gleichen Tage erhielt Graf Beaumont durch die Stadtpost einen Brief, der ihm das Blut gegen den Kopf trieb. Das Billett trug die Unterschrift der rachelechzenden Zofe. Er solle – so las er in den wenigen Zeilen – im Boudoir seiner Gemahlin an einem näherbezeichneten Möbelstück, durch einen von der Verräterin ebenso genau detaillierten Mechanismus ein Geheimfach öffnen: der Fund werde ihm alles weitere sagen …
Der Brief der elenden Dirne war für den ahnungslosen Grafen ein betäubender Donnerschlag, denn der bestimmte, sachkundige Ton der Denunziation ließ nicht daran zweifeln, daß es sich hier um irgendeine grausame Enthüllung handle.
Ein Zufall gestattete dem alarmierten Ehemann, sich sofort Gewißheit zu verschaffen. Seine junge Gemahlin war nach dem Theater gefahren; von dort wollte sie bei ihrer Tante, einer verwitweten Marquise von ***, soupieren. Beaumont hatte also vollauf Zeit und Gelegenheit, seine Visitation ungestört vorzunehmen.
Schon nach wenigen Minuten stand er in dem Boudoir und vor dem verhängnisvollen Möbelstück; nach kurzem Suchen entdeckte er auch den von der Zofe genau beschriebenen Mechanismus: ein Druck auf einen kleinen Metallknopf und unter dem Spiel einer Schlagfeder öffnete sich das Geheimfach, das den Rachedurst der Denunziantin befriedigen sollte. Ein ganzes Bündel Briefe und kürzere Billetts fiel dem Grafen entgegen. Schon die Anredeform dieser von zwei verschiedenen Männerhänden geschriebenen Episteln ließ den verblüfften Gatten den weiteren Inhalt verraten. Ein dabei liegendes, von seiner Gemahlin geführtes, kleines Tagebuch ergänzte und erläuterte die verbrecherische Korrespondenz … Eine Träne tropfte dem rauhen Soldaten in den buschigen Schnurrbart, als er die seinen Namen und seine Ehre schändenden Dokumente zusammenraffte und in seine Tasche schob. Dann kehrte er nach seinem eigenen Kabinett zurück, um den unsaubern Fund eingehender zu prüfen und seine Gedanken zu einem Entschluß zu sammeln.
Kurz vor Mitternacht hörte der in fieberhafter Erregung harrende Gatte eine Equipage heranrollen und vor dem Hause Halt machen. Knarrend öffnete sich das Tor und der Kutscher lenkte in das Portal ein.
Die Gräfin war zurückgekehrt.
Von seinem Sessel auffahrend, wollte Beaumont sofort die Sünderin zur Rechenschaft ziehen – aber schon im nächsten Moment bezwang er gewaltsam sein kochendes Blut. Die neu installierte Kammerzofe erwartete jedenfalls ihre Herrin; um die Person nicht zur höchst ungebetenen Horcherin an der Wand zu machen, wollte er seine grimmige Ungeduld so lange zügeln, bis seine Gemahlin entkleidet war und demzufolge das Mädchen sich in ihre Schlafkammer zurückzog, die außer Hörweite lag. Nach einer Weile machte er sich auf den Weg.
Die Gemächer der Gräfin lagen am entgegengesetzten Ende der weitläufigen Wohnung; eine Flucht von Salons und Prunkzimmern bildete zwischen dem Ehepaar gewissermaßen eine neutrale Zone. Die anklagenden Briefe in der krampfhaft geballten Faust, betrat Beaumont das Schlafkabinett seiner Gemahlin. Eine silberne Hängelampe, von rosenroter Glasglocke überschirmt, erhellte mit sanftem Dämmerschein diesen Raum, der in seiner ganzen üppigen Koketterie an eine dem Sinnengenuß geweihte Venusgrotte erinnerte. Der weiche persische Teppich, der den Fußboden bedeckte, ließ den Grafen geräuschlos an das mit sybaritischer Pracht ausgestattete Lager seiner Gemahlin herantreten. Einem Maler hätte sich in diesem Moment das Motiv zu einem reizenden Bilde dargeboten. Unter einer Eiderdunendecke von kirschroter Seide zeichnete sich der Körper der jungen Frau in seiner graziösen und zwanglosen Lage in unbestimmten Umrissen ab; einer der Ärmel ihres Nachtgewandes, bis zum Ellbogen zurückgestreift, ließ einen runden, weißen Arm erblicken, auf dem das schöne, noch halb mädchenhafte Haupt ruhte; unter der Spitzengarnitur des zierlichen Nachthäubchens ringelte sich in schelmischen Löckchen das goldblonde Haar hervor und schmiegte sich an einen Hals, dessen Schwanenweiß kaum von dem Linnen der Kissen abstach. Ohne ihre Lage zu verändern, richtete die junge Frau mit einem gewissen Ausdruck von Gleichgültigkeit ihre großen blauen Augen auf den unerwarteten Besuch. Die Arme über die Brust gekreuzt, stand der titanische Mann vor dem Bette der jugendlichen Sünderin, die er mit einem einzigen Druck seiner eisernen Hand hätte zermalmen können. In seinem düstern Blick glühte ein Zwiespalt von Schmerz und Zorn. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen, als er, sein finsteres Schweigen brechend, dumpf vor sich hinsprach: »Im Gesicht die gleißende Unschuld eines Kindes … Im Herzen aber – – –« Ohne den Satz zu vollenden, trat er noch näher vor das schuldbeladene Weib hin. In seiner ganzen Haltung lag etwas so Wildunheimliches, daß die Gräfin unwillkürlich erbleichend in die Höhe fuhr.
»Was wollen Sie, Tristan?« stieß sie mit zitternder Stimme hervor.
Er warf ihr das Bündel Briefe hin. »Kennen Sie diese parfümierten Schwüre und Küsse, Madame?« fragte er mit schneidendem Hohn zurück. Unter dem zwingenden Bann seines Blickes griff die junge Frau nach den Papieren. Sie erblaßte, aber ihr Mund blieb stumm: die verräterischen Briefe zwischen den Händen zusammenpressend, sank sie in die Kissen ihres Lagers zurück.
»Wohlan, Madame,« brach der empörte Gatte das drückende Schweigen: »was haben Sie zu sagen?«
Mit einem verächtlichen Lächeln zuckte die Sünderin die Achsel, dann entgegnete sie kaltblütig: »Ich wüßte nichts zu sagen, mein Herr, als daß Sie Ihren Beruf verfehlt haben! Statt Soldat, hätten Sie Polizeispitzel werden sollen!«
Verblüfft ob solcher Dreistigkeit, die sich nicht einmal hinter eine erheuchelte Zerknirschung zu verschanzen suchte, wich der Oberst unwillkürlich einen Schritt zurück. Nochmals den Sturm in seiner Brust gewaltsam zügelnd, antwortete er mit einer unnatürlichen Ruhe: »Sie irren sich, Victoire! Ich bin kein Spion gewesen, sondern ich bin zwangsweise zum Mitwisser Ihrer lichtscheuen Geheimnisse gemacht worden. Überzeugen Sie sich selber von der Wahrheit meiner Erklärung.«
Er warf ihr den Brief der diebischen Zofe hin und sprach in wachsender Gemütsbewegung weiter: »Victoire, Sie sind kaum zwanzig Jahre alt, im Besitz einer Madonnen-Physiognomie und einer bewunderungswürdigen Heuchelei, denn noch vor wenigen Stunden hielt ich Sie für das tugendhafteste Geschöpf« …
Sein eben noch wild funkelnder Blick milderte sich zu einem feuchten Schimmer, als er nach einer Pause fortfuhr: »Die Strafe, die mich trifft, ist vielleicht nicht ganz unverdient, denn in meinem Egoismus habe ich Sie, Victoire, sehr oft vernachlässigt und Sie schutzlos den tausend Verführungen preisgegeben, die in Paris, diesem geilen Sodom, auf eine schöne und unerfahrene junge Frau lauern.«
Mit einer ungestümen Handbewegung unterbrach er seinen elegischen Gedankengang. »Das alles aber gehört auf ein anderes Blatt, Madame! Jetzt handelt es sich zunächst um meine Ehre als Mann und Soldat und von diesem zwiefachen Standpunkte aus muß ich nochmals meine Frage wiederholen, was Sie, Madame, zu dieser skandalösen Korrespondenz zu bemerken haben.«
»Gar nichts, mein Herr!« gab sie lakonisch zurück und drehte sich nach der andern Seite um. In gerechter Empörung über diesen Ausdruck gröblichster Mißachtung faßte Beaumont in einer momentanen Aufwallung die trotzige Rebellin bei der Achsel. Durch diese Bewegung verschob sich die Bettdecke und ein Regen von kleinen Papierschnitzeln fiel auf den Fußteppich … Während der Oberst eine reuevolle Beichte erwartet hatte, war die verstockte Sünderin mit kaltblütigster Keckheit darauf bedacht gewesen, die anklägerischen Briefe zu zerstören!
In flammender Wut hob Beaumont seine Faust zum zermalmenden Schlage – zum ersten Male in seinem Leben stand der ritterliche Mann auf dem Punkt, seine Riesenkraft gegen ein Weib zu entfesseln. Schon im nächsten Moment aber ließ er wie beschämt seinen Arm niedersinken: sein Gesicht in den Händen verbergend, warf er sich in einen Fauteuil. Ein leichtes Geräusch erweckte ihn aus seinem dumpfen Brüten und lenkte seinen Blick nach dem eheschänderischen Lager hin. Blitzschnell hatte sich die junge Frau erhoben und ein Kleid über sich geworfen – eben schlüpfte sie mit den nackten Füßen in ihre Pantoffeln …
»Ah, Venus retiriert!« rief Beaumont mit bitterer Ironie.
Ein eisiges Lächeln enthüllte für einen Moment die kleinen Perlenzähne des vermeintlichen Flüchtlings; ohne ein Wort zu erwidern, schob sie einen Sessel gegen den Kamin hin, in welchem noch das von der Zofe kurz zuvor frisch angefachte Feuer knisterte. Und mit der fischblütigen Ruhe einer holländischen Mevrouw nahm sie Platz. Der Blick, mit dem der Oberst diesen stumm ausgespielten Trumpf verfolgte, hätte auf einen unbeteiligten Beobachter einen geradezu komischen Effekt ausüben müssen, denn in diesen hochgezogenen Augenbrauen lag der Gipfel pyramidalen Staunens. Und dennoch ließ das kalte Phlegma des jungen Weibes den wild erregten Mann seine eigene Fassung wiederfinden. Er erhob sich von seinem Sitze.
»Darf ich fragen, Madame, wie Sie sich die Zukunft ausmalen?«
»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr.«
»So will ich mich deutlicher ausdrücken, Madame! Glauben Sie, daß wir beide als Mann und Frau weiter leben können?«
»Sie haben darüber die Entscheidung, Herr Graf!«
»Ah, Madame!« lachte der Oberst höhnisch auf: »Sie würden also in Gnaden geruhen, nach wie vor mit mir aus einer und derselben Schüssel zu speisen?«
»Wenn es Ihnen konveniert – ja, mein Herr!«
»Und wenn es mir nicht konveniert?« spottete der betrogene Gatte, in dessen Adern das kaum beruhigte Blut von neuem zu sieden begann: »Sie haben heute, Madame, eine diebische Magd aus dem Hause gejagt – steht mir weniger das Recht zu, das gleiche Verfahren gegen eine treulose Gattin anzuwenden?«
»Ganz, wie Sie wollen, Herr Graf!« gab sie mit unerschütterlichem Gleichmut zurück, indem sie dabei die Falbeln ihres Gewandes zuknüpfte.
Der Oberst strich sich mit der Hand über seine glühende Stirn, dann fixierte er mit einem fast scheuen Blick das junge dämonische Weib. »Victoire, ich sehe, daß ich Ihnen von jeher gleichgültig war! Was bewog Sie, trotzdem meine Hand und meinen Namen anzunehmen?«
Sie zuckte leicht die Achsel. » Mon Dieu,« entgegnete sie ruhig: »Ich mußte befürchten, daß mich meine Eltern an irgendeinen Junker in der Provinz verheiraten würden und das wäre für mich der Tod gewesen. Um nach Paris zu kommen und in der großen Welt zu leben, zog ich es vor, die Gemahlin des Grafen von Beaumont zu werden, obwohl ich« – sie lächelte boshaft – »meinen Jahren nach eigentlich seine Tochter sein könnte.«
Die unverblümte Anspielung auf ihre gegenseitige Altersdifferenz ließ den Obersten zusammenzucken wie unter einem Wespenstich. Das grausame Wort belehrte ihn ja zum ersten Male, daß eine zwanzigjährige Frau einen vierzigjährigen Mann für etwas mehr als reif halten könne. Er fühlte, daß die beiderseitige Auseinandersetzung zu einem raschen Abschluß gebracht werden mußte. Einen Moment seine Gedanken sammelnd, sagte er mit einer steif zeremoniellen Verbeugung: »Madame, unsre Verhandlungen sind zunächst beendigt – den Rest werde ich mit Ihrem Herrn Vater erledigen. Ich darf wohl von Ihrem natürlichen Takte erwarten, daß Sie morgen in aller Stille Paris verlassen und sich bis auf weiteres nach einem Orte zurückziehen, den ich Ihrer freien Wahl anheimstelle.«
Ruhig heftete sie ihre großen blauen Augen auf den Diktator. »Ich gedenke die Wintersaison hier in Paris zu vollenden.«
Der Oberst machte unwillkürlich eine drohende Bewegung. »Madame, reizen Sie mich nicht zum Äußersten, denn ich bin gesonnen, den Kampf, wenn es sein muß, unter jeder Form mit Ihnen aufzunehmen.«
Geschmeidig wie eine Tigerkatze erhob sich die junge Frau von ihrem Sitze.
»Der Kampf wird für Sie ein langweiliger werden, mein Herr!«
»Er soll mich nicht ermüden, Madame!« trotzte er zurück.
»Sie werden ermüden, Herr Graf!« lächelte sie mit dämonischer Ruhe. – – –
Am folgenden Tage reihte sich an die eheliche Tragödie ein sensationelles Nachspiel. Die vorgefundenen galanten Episteln hatten zwei Kavaliere als Verfasser und Absender kundgegeben. Der eine davon war der Vicomte de Hallez-Claparede. Im Klub suchte und fand der beleidigte Gatte den unberufenen Briefsteller. Die summarische Frage, ob er sich zu seiner Korrespondenz mit der Gräfin bekenne, beantwortete der junge Lebemann mit einem ebenso blanken Ja. »Hier der Kostenersatz für Papier und Porto!« sagte Beaumont und schlug dem Vicomte die Handschuhe ins Gesicht. Das Duell, das am nächsten Morgen im Offizierfechtsaal der Carabinier-Kaserne stattfand, nahm für Claparede einen sehr ernsten Ausgang, denn er erhielt gleich beim ersten Gang einen Fleuretstich in die Lunge, den die Ärzte für kaum heilbar erklärten. Das Prognostikon – um dies nebenbei zu bemerken – bewahrheitete sich nur allzusehr: mit einem qualvollen Siechtum, das jeder Kur spottete, mußte der Vicomte seinen flüchtigen Sinnenrausch büßen …
Der zweite Korrespondent der Gräfin, welcher nun an die Reihe kommen sollte, war Fürst Metternich, der österreichische Botschafter am französischen Hofe.
Auch er machte keinen Versuch, seiner Schuld irgend eine mildere Auslegung zu geben – aber das diplomatische Korps mischte sich in die Affäre, da bei dem Ehrenhandel zugleich die internationale Stellung des Fürsten in Erwägung zu ziehen sei. Einem On dit zufolge war dieser diplomatische Einspruch ein Manöver des Kaisers Napoleon, den die Besorgnis leitete, der österreichische Botschafterposten könne, wenn das Duell schief ausfalle, durch eine Persönlichkeit rempleziert werden, die sich möglicherweise dem Tuilerien-Kabinette minder willfährig zeige als Metternich es war. Indem also der Kaiser dem fatalen Zweikampf einen provisorischen Riegel vorschob, wollte er wohl Beaumonts erste Hitze verrauchen lassen; vielleicht gab sich dann der abgekühlte Oberst mit einem Schein-Duell zufrieden, das, ohne hüben und drüben ein Haar zu krümmen, formell dem Point d'honneur Genüge leisten solle.
Noch erörterte das diplomatische Korps den Kasus, als Metternich unter dem wachsenden Druck der öffentlichen Meinung alle fernern Einwände seiner Kollegen mit der Erklärung abschnitt, was er als Privatmann gesündigt habe, das wolle er auch als solcher verantworten. In diesem Sinne ließ er dem ungeduldig wartenden Grafen eröffnen, daß er zu jeder Stunde bereit sei, die Forderung zum Austrag zu bringen. Beaumont säumte keinen Augenblick. Ungeachtet er der Beleidigte, ihm also nach Brauch und Recht das regulative Programm des Duells anheimgestellt war, bevollmächtigte er nichtsdestoweniger seine beiden Sekundanten – Kavallerie-Major d'Orcet und Graf Gauville – dem Gegner die freie Wahl der Waffe zu überlassen.
Die brillante »Abfuhr« des Vicomte de Claparede, der als routinierter Kämpe bekannt war, hatte die furchtbare Meisterschaft des Obersten als Stoßfechter dargetan; aber auch als Schütze suchte er, wie man allgemein wußte, seinesgleichen. Metternich entschied sich daher für den Säbel, mit dessen Handhabung er am vertrautesten war. Das Duell sollte zu Paris, respektive an einer benachbarten Örtlichkeit stattfinden – schließlich aber ward, Gott weiß aus welchen Gründen und Rücksichten, der Kampfplatz auf eine Rheininsel zwischen Straßburg und Kehl verlegt. Pünktlich trafen sich an dem vereinbarten Tage die beiden Gegner – Metternich in Begleitung des Fürsten von Sagan und des Militärattachés der österreichischen Botschaft Grafen Welsersheimb. Ohne Verzug begann nach einer zeremoniellen beiderseitigen Begrüßung der Kampf.
Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß der Franzose für die Hiebwaffe keine Neigung besitzt und demzufolge diese Fechtart auch wenig kultiviert. Auch Beaumont, der sonst so waffenkundige Mann, teilte diese traditionelle Praxis und Metternich hatte also bei einem Säbelkampfe es mit der verhältnismäßig schwächsten Bravourseite seines Gegners zu tun. Den vorgefundenen Briefen nach zu urteilen, war der Botschafter der bevorzugtere Galan der Gräfin – demzufolge galt auch ihm der größere Grimm des beleidigten Gatten und gerade die Hinausschiebung des Duells hatte den Rachedurst des letztern nur noch mehr gereizt. Mit leidenschaftlichem Ungestüm drang er auf den Missetäter ein, der mit Glück mehrere Stiche parierte, die ihrer Wucht nach den Schädel eines Ochsen hätten spalten können. Ein ripostierender Hieb Metternichs zerschlitzte die Wange Beaumonts und stachelte den Riesen zu einer blinden Berserkerwut. Seinen Säbel jählings wie eine Stoßwaffe handhabend, machte er gegen den Widersacher einen furiosen Ausfall, bevor die Sekundanten diese regelwidrige Kampfweise zu verhindern vermochten. Blutend taumelte Metternich zurück: der Oberst hatte ihm den Oberarm fast ganz und gar durchbohrt. Die Wunde zeigte einen höchst bedenklichen Charakter, denn die Hauptader war zerschnitten. Nach einem ersten Verbande wurde der Fürst in das unweit vom Rheinufer liegende Landhaus der Madame von Bussiéres geschafft und – damit in die wüste Dissonanz auch eine komische Note hineinklinge – seine Gemahlin herbeitelegraphiert, um als Samariterin den treubrüchigen Patienten zu pflegen. Glücklicher als sein Mitsünder Claparede, verlief für Metternich als Rencontre ohne einen bleibenden Leibesschaden; die Stichnarbe an seinem Arm war der einzige Denkzettel, den er davontrug.
Was die Gräfin Beaumont anbelangt, so war sie wirklich gewillt, mit eherner Stirn es auf den Skandalprozeß ankommen zu lassen; nur den vereinten Anstrengungen ihrer schwer kompromittierten Familie gelang es schließlich, die Schwärmerin für die Segnungen der Polyandrie soweit zur Räson zu bringen, daß sie ohne ferneren Widerstand Paris verließ und zunächst in ihr Elternhaus zurückkehrte, um hier das definitive Arrangement abzuwarten.
Dieser kleine Sittenroman war es nun, auf den die Kaiserin ihrem in puncto ehelicher Treue selber nichts weniger wie kapitelfesten Herrn und Gemahl gegenüber boshaft angespielt hatte.
Louis Napoleon schien wieder den tanzenden Paaren seine Aufmerksamkeit zu schenken. Mit einemmal zuckte er leicht zusammen – – ein scharfer Beobachter hätte vielleicht sogar ein flüchtiges Erbleichen wahrgenommen, das wie ein Wolkenschatten über die verdüsterten Gesichtszüge des Napoleoniden hinflog.
Was war die Ursache dieser so plötzlichen Emotion?
Tief im Hintergrund des Saales lehnte an einer der Marmorsäulen, welche die Galerie trugen, die lange, hagere Figur eines Mannes von anscheinend mittlerm Lebensalter. Sein schmuckloser schwarzer Gesellschaftsanzug ließ die Frage nach Rang und Stand unbeantwortet – dennoch aber lagen in der ganzen Haltung und Art des mitten in dem Gewühl einsamen Gastes jene unverkennbaren Merkmale, die in ihrem Zusammenwirken das bilden, was man als eine »distinguierte Persönlichkeit« zu bezeichnen pflegt. Die Arme über die Brust gekreuzt, betrachtete er mit einem eigentümlichen Ausdruck von kalter Ruhe das glänzende Durcheinander, das wie das Farbenspiel eines Kaleidoskops an seinem Blick vorüberwogte. Seine ganze Physiognomie, der gelbliche Teint und der rabenschwarze Zwickelbart verrieten den Südländer. Und dieser stille Gast war es, dessen plötzliche Erscheinung den kaiserlichen Festgeber unwillkürlich hatte erbleichen lassen. Einen Moment maßen sich die Blicke der beiden Männer, dann glitt das unstäte Auge des Kaisers rasch von seinem Zielpunkt ab: als es in verstohlener Umkehr zum zweitenmal nach der Säule hinspähte, war der Schwarze spurlos verschwunden …
In einer Art von verbissenem Grimm zupfte und zerrte Louis Napoleon an den Spitzen seines Schnurrbartes, während sein Gesicht sich mehr und mehr verfinsterte. Wie von einer magnetischen Kraft angezogen, wandte er mit einemmal den Kopf seitwärts: sein Blick ward von zwei Augen aufgefangen, die, wie er instinktiv fühlte, den stummen Austausch zwischen ihm und dem schwarzen Gaste nur allzu gut beobachtet hatten. Der heimliche Zeuge dieser flüchtigen Szene wiegte sich mit nonchalantem Phlegma in einem Fauteuil unweit von der kaiserlichen Estrade. Auch er war einfach in bürgerliches Schwarz gekleidet; nur das Großkreuz der Ehrenlegion, das er trug, wies darauf hin, daß er ein Mann von bedeutender Stellung sein müsse. Mit einem halb unterdrückten sardonischen Lächeln fixierte er den sichtlich verstimmten Monarchen.
Nahezu im gleichen Alter, hatte dieser so wenig respektvolle Hofmann auch in seinen Gesichtszügen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Napoleoniden; nur sprach aus seinem Mienenspiel eine viel größere Energie, als aus den für gewöhnlich schlaffen, müden Charakterlinien des Imperators. Die gegenseitige Ähnlichkeit war übrigens erklärlich genug: hatte ja eine und dieselbe Mutter die beiden geboren! Mit der Vaterschaft verhielt es sich allerdings ein wenig anders, denn nach dieser Seite hin trug jeder der beiden Brüder seinen speziellen Fabrikstempel … Um es kurz zu sagen: der Herr dort, der es wagen durfte, mit bequem übereinandergeschlagenen Beinen und ironischem Lächeln den Kaiser zu fixieren, war der Herzog von Morny – illegitimer Sohn der Exkönigin Hortensia von Holland und des Grafen Flahaut. Ein galanter Fehltritt hatte ihn also zum Halbbruder Louis Napoleons gemacht.
Schon in frühester Jugend waren die Lebenswege der beiden Brüder auseinandergegangen, um sich erst im Mannesalter wieder zu berühren.
Infolge eines Arrangements hatte sich die Gräfin Flahaut dazu bestimmen lassen, den wilden Sprößling ihres Gatten bei sich aufzunehmen und zu erziehen. Dieser Lehrmeisterin verdankte späterhin Morny die weltmännische Glätte und altfranzösische Salonpolitur, die ihn jederzeit von der soldatesken Brutalität »Klein-Afrikas« » La Petite-Afrique« – so benannte man, mehr verächtlich als scherzhaft, in den antinapoleonischen Gesellschaftskreisen die Prätorianer und Sabreurs, die den Troß des Prinz-Präsidenten Louis Napoleon bildeten und zugleich – was damals allerdings noch ein Geheimnis war – den Ring von Verschwörern für den meuchlings geplanten Staatsstreich, der die Republik umstürzen sollte. unterschieden.
In einem von katholischen Priestern geleiteten Lyzeum machte der äußerst talentvolle Jüngling seine höhern Studien. Wie vormals Talleyrand (der ja auch in einer Klosterschule erzogen worden war), verließ auch Morny die jesuitische Drillanstalt als – ungläubiger Thomas. In der heuchlerischen Atmosphäre hatte er die Pilzkeime einer nihilistischen Weltanschauung eingesogen, die ihn mehr und mehr alles verspotten lehrte, was sonst den Menschen heilig und ideal ist.
Aus dieser Pfaffenschule tritt er in die Armee ein und kommt nach Algier; er ist bei der blutigen Erstürmung von Constantine und bei der wildromantischen Expedition nach Mascara: überall brilliert er durch seine Tollkühnheit und burschikose Todesverachtung. Eines Tages bekam er das Militärleben satt; seinen siegreichen Degen an einen Nagel hängend, widmete er sich der Landwirtschaft und der Politik. Bald darauf erschien er als Mandatar eines Wahlkreises in der Deputiertenkammer und es währte nicht lange, so stand er an der Spitze einer Fraktion, die er aus den andern parlamentarischen Parteien zusammenrekrutiert hatte und die er sich auf das Kommando zurechtstutzte wie eine Kompagnie Soldaten.
Die beiden Bastarde – auch Louis Napoleon, wie wir noch hören werden, verdankte ja keineswegs seinem nominellen Vater das Dasein – führte nicht das schwärmerische Gefühl zusammen, die Söhne einer gemeinsamen Mutter zu sein; auch für die Folge erwärmte kaum jemals eine zärtliche Regung den Verkehr dieser beiden schnöden Egoisten, die sich nur verbündeten, weil sie sich brauchten. Am 24. Februar 1848 war unter dem Ansturm der Revolution der französische Königsthron zusammengekracht und Louis Philipp mit seiner Familie nach England geflüchtet. Eine sogenannte provisorische Regierung ergriff das Steuer des meuterischen Staatsschiffes. Am 20. Dezember 1848 proklamierte die konstituierende Versammlung den »Bürger« Carl Ludwig Napoleon Bonaparte zum Präsidenten der französischen Republik und zwar, wie das Patent besagte, »vom heutigen Tage an bis zum zweiten Maisonntag des Jahres 1852«. Man sollte denken, Morny habe sich beeilt, seine verwandtschaftliche Stellung zu dem Präsidenten zur Geltung zu bringen. Das war aber keineswegs der Fall. Vielmehr hielt sich Morny in geradezu demonstrativer Weise von seinem Bruder fern, denn er betrachtete die Republik als eine Seifenblase, die bei erster Gelegenheit wieder Zerplatzen werde. Wie noch viele andere Politiker, glaubte auch Morny an eine baldige Wiedereinsetzung der verjagten Dynastie und in dieser Erwartung spekulierte er auf ein angemessenes Honorar für seine royalistische Treue. Aber die republikanische Staatsform konsolidierte sich von Tag zu Tag immer mehr und mehr, in gleichem Maße gewann der eigennützige Parteigänger die Überzeugung, daß eine Restauration des orleanistischen Thrones in das Reich der Illusionen gehöre und ohne sich länger zu besinnen, ließ jetzt der in seiner Rechnung betrogene Spekulant die Republik hochleben. Sein edelmütiger Bruder pflasterte ihm den Weg nach Damaskus mit blanken Goldstücken. In kürzester Zeit spielte der neubekehrte Paulus im Elysée Das Palais, das Louis Napoleon während seiner Präsidentschaft bewohnte. die erste Geige, nach welcher Klein-Afrika, ob es wolle oder nicht, tanzen mußte. Auch Persigny, der bis jetzt die rechte Hand des Prinz-Präsidenten gewesen war, sah sich durch einen energischen Ruck beiseite geschoben und daher datiert der glühende Haß, der ihn bis zu seinem Tode gegen den stärkeren Konkurrenten beseelte …
Unter den fluchbeladenen Regisseuren des »Staatsstreiches« am 2. Dezember 1851, dieser grausigen Mord-Tragödie, ragt die düstere Figur Mornys empor, wie ein schwarzer bengalischer Tiger zwischen kläffenden Hyänen und Schakalen. Man darf fast mit Gewißheit behaupten, daß ohne Mornys eiserner Energie der Staatsstreich an dem Widerstand der sich ermannenden Bürgerschaft gescheitert wäre.
Für die Maulhelden Klein-Afrikas hatte Morny von jeher eine gründliche Verachtung, denn er wußte am besten, was diese gestiefelten und gespornten Prahlhänse wert waren, sobald es sich um etwas anders handelte als um die Erstürmung einer Flaschenbatterie oder eines Unterrocks. Als die Kunde von dem Barrikadenbau in das Elysée gelangte und hier allgemeine Verblüffung erregte, wandte sich Morny an den jetzt kleinlaut gewordenen Bramarbas und bemerkte mit trockenem Spott: »Nun, mein Lieber, jetzt ist ja Ihr Herzenswunsch erfüllt! Die Eroberung der Barrikaden wird für Sie eine desto angenehmere Aufgabe sein, als, wie ich gehört habe, die ganze Befestigung aus vollen Burgunderfässern und Austerntönnchen besteht, also ein komplettes Frühstück bildet.«
In der Nacht auf den vierten Dezember war die Situation eine solche, daß der Staatsstreich verloren zu sein schien: jede Barrikade der Republikaner war zu einem Granitkeil geworden an dem die Angriffe der Napoleonischen Prätorianer zerschellten. Auch die Polizei, die sich noch am Tage zuvor in der vollsten Glorie ihrer Brutalität gezeigt hatte, begann zurückzuweichen und zu schwanken. Im »Hôtel de Jerusalem« – dem Mittelpunkt des großen Spinnengewebes, das die Polizei über Paris ausgespannt – ging's zu wie in einem umgestülpten Bienenkorb; bleich und atemlos kam ein Scherge um den andern herangestürzt, um das Wachsen der republikanischen Sturmflut zu rapportieren. Maupas, der Polizeipräfekt, wußte nicht mehr, was er tun oder lassen sollte. In seiner Verzweiflung klammerte er sich an Morny, der in dieser Schreckensnacht für den verzagenden Bösewicht des Elysée so recht die Rolle eines Notankers spielte. »Das Männchen hat die Kolik!« sagte er mit einem verächtlichen Achselzucken, als ihm Maupas durch den Telegraphen, der die Polizeipräfektur mit dem Elysée verband, hintereinander ein Dutzend Depeschen zuschickte, die den Stempel der vollständigsten Ratlosigkeit und Konfusion trugen.
»Was soll ich machen?« fragt in seiner qualvollen Klemme Maupas zum dreizehntenmal an, als er auf seine Depeschen keine Antwort erhält.
»Legen Sie sich zu Bett!« blitzt Morny lakonisch zurück.
Nochmals wiederholt Maupas eine dringende Anfrage und – nochmals lautet der bündige Bescheid: »Legen Sie sich zu Bett!« Gleich darauf fliegt schon wieder eine neue Hiobspost von der Präfektur nach dem Elysée, mit dem obligaten Refrain: »Was soll ich machen?« Und Morny, dem die Geduld ausgeht, telegraphiert diesmal zurück: »Gehen Sie zu Bett, Sie Hasenfuß!« …
Im Elysée, dem Generalquartier des meineidigen Usurpators, herrschte übrigens eine kaum minder große Konsternation und auch hier hatte Morny seine ganze unbeugsame Energie nötig, um die Stimmen zu ersticken, die bereits die Frage des Rückzuges erörterten. Von Augenzeugen ist uns seitdem berichtet worden, wie Louis Napoleon jene gespenstige Nacht zugebracht hat. Düster und wortlos saß er in seinem Kabinette am Kaminfeuer. Der Moment der entscheidenden Entschlüsse war gekommen. Was sollte er tun? Er mußte einen großen, einen unerwarteten Schlag führen. Er war in die Alternative versetzt: entweder umkommen, oder sich auf eine fürchterliche Art retten. Er mußte seine Missetat durch eine zweite übertrumpfen. Die Generale Saint-Arnaud und Roguet, nach Morny seine intimsten Vertrauten, leisteten ihm Gesellschaft und beantworteten seine zeitweise hingeworfenen Fragen. Draußen in den Gemächern und Korridoren ein wildes Hin und Her von Offizieren aller Grade und Waffengattungen. Im Hof hielt ein Zug Kürassiere, tiefer im Hintergrund ein Reisewagen mit vier Pferden bespannt. Die Koffer waren hinten aufgeschnallt, ein Pelz lag innen auf dem Sitze, der Kutscher saß auf dem Bock, Peitsche und Zügel in der Hand, auf dem Sattel des linken Vorderpferdes hockte ein Postillon, halb erstarrt von der Kälte der Dezembernacht. Alle Vorsichtsmaßregeln waren für den Fall eines Mißlingens der staatsverbrecherischen Verschwörung getroffen. Nur Morny war siegesgewiß – nur er kaltblütig und spottlustig wie immer. Im Kriegsrat war ein Dekret vereinbart worden, das noch in der Nacht gedruckt und mit Tagesanbruch an die Straßenecken geklebt werden sollte. Der letzte Paragraph dieser Proklamation lautete: »Wer beim Aufwerfen einer Barrikade, beim Ankleben eines oppositionellen Dieses »oppositionell« darf als der Gipfelpunkt naiver Frechheit erscheinen. Es ist die sittliche Entrüstung eines Schinderhannes über einen Reisenden, der sich nicht gutwillig den Hals abschneiden läßt. Aufrufes oder beim Lesen eines solchen ergriffen wird, der wird …« Hier ging die Meinung der deliberierenden Spießgesellen auseinander und so wollte man das Schlußwort dem eigenen Ermessen Louis Napoleons anheimstellen. In diesem Augenblick kam Morny in das Beratungszimmer und hörte, um was es sich handelte. Ruhig trat er an den Tisch hin, auf dem das Manuskript der Proklamation lag; der General Saint-Arnaud, der als Protokollführer fungiert hatte, hielt noch die Feder in der Hand. Über das Papier sich hinbeugend, suchte Mornys Auge die Stelle, wo die Proklamation abbrach mit: »der wird …« Die Feder zwischen den Fingern des Generals herausziehend, füllte Morny mit festem Strich die Lücke aus.
» Erschossen« – las Saint-Arnaud …
Als die vierte Morgenstunde schlug, verließen die Handlanger und Helfershelfer des meineidigen Präsidenten das Elysée; jedem dieser blutigen Komödianten war für den kommenden Tag seine Rolle zugeteilt worden. Gespenstige Stille legte sich auf das eben noch so wild durchlärmte Palais. Nur draußen im Hofe unterbrach zeitweise das Schnauben eines Gaules, oder der halblaute Fluch eines der frierenden Kürassiere das unheimliche Schweigen. Mit einem Male hörten die wachenden Reiter das Heranrollen einer Equipage, die offenbar erwartete Gäste brachte, denn rasch öffnete sich das verrammelte Tor des Palais. Die Kürassiere sahen der Equipage zwei elegant kostümierte Frauengestalten entsteigen und mit ortskundigen Schritten sich einer Seitenpforte zuwenden, in welcher sie verschwanden.
Bei dem allgemeinen Aufbruch der Staatsverschwörer war Morny allein bei Louis Napoleon zurückgeblieben. Dupuis, der Präsident der Nationalversammlung, hatte einmal das Elysée ein Bordell genannt. Der Palast verdiente vollauf diesen Ehrentitel, denn Dirnen aller Kategorien gehörten bei Tag und bei Nacht zu seinen etatmäßigen Stammgästen. Die beiden Nachtfalter, die ein Billett herzitiert hatte, kannten, wie schon bemerkt, Weg und Steg; im Vorzimmer von Morny in Empfang genommen, tänzelten die zwei Metzen mit hochgehaltenen Röcken in das Kabinett ihres erlauchten Protektors. Conneau, der damalige Leibarzt Louis Napoleons, hat diese ganze schmutzige Szene von einem Nebenzimmer aus beobachtet und späterhin indiskreter Weise zum besten gegeben. Wie zwei wilde Tiere warfen sich Louis Napoleon und Morny über die beiden Weibsbilder her. Eine wüste Orgie war die Frühmesse, womit das edle Brüderpaar das schauerliche Tagewerk des vierten Dezembers einleitete – jenes vierten Dezembers, der mit seiner tollwütigen Massenschlächterei nur in dem grausigen Blutbad der Bartholomäusnacht sein würdiges Seitenstück findet.
Es ist bekannt, daß um die dritte Nachmittagsstunde die von Louis Napoleon erkauften Regimenter, statt die Barrikaden anzugreifen, mit einem Male auf den offenen Boulevards gegen das ganz und gar ahnungs- und waffenlose Publikum meuchlings Front machten und ein Gemetzel eröffneten, das bis in die Nacht hinein währte. Drei Kannibalen haben vor dem Richterstuhl der Geschichte dieses Massakre zu verantworten: Saint-Arnaud, der es verübt – Louis Napoleon, der es befohlen – Morny, der es geplant hat.
Der Zweck ward erreicht. Als die zu Banditen degradierten Soldaten ermüdet die Arme sinken ließen, lag, zitternd wie ein zu Tod gehetztes Wild, Paris vor den Füßen des meineidigen Usurpators. Der Staatsstreich hatte gesiegt! …
Nach der Arbeit das Vergnügen. Die Regimenter erhielten stehenden Fußes ihren Schlächterlohn ausbezahlt: auf den gemeinen Soldaten kamen zehn Franks.
Unter dem Vorwand, es könnten »Insurgenten« darin versteckt sein, waren die saubern »Gesellschaftsretter« da und dort in reiche Bürgerhäuser und Bankkontore eingebrochen und hatten gewissenhaft in jede – Kasse hineingeleuchtet. Die Zigarre im Mund, verhöhnten jetzt die Prätorianer die scheu vorüberhuschenden »Beduinen« Der französische Kasernen-Ausdruck für das deutsche »Zivilisten«. und ließen in ihren Hosentaschen das Blutgeld klimpern.
Die Offiziere zerbrachen die ihnen durch den Zahlmeister ausgehändigten Goldrollen wie Schokoladestangen Der wörtliche Ausdruck eines Augenzeugen.. Die Truppen biwakierten auf den Straßen und Plätzen. Tische, Stühle und Bänke waren herbeigeschleppt worden; die entmenschte Soldateska begann zwischen den Leichenhaufen zu zechen, die Flammen der Wachtfeuer beleuchteten das wilde Gelage. Die Champagnerkorke und Staniolkappen schwammen in dem geronnenen Blut, das die Gossen füllte. Die Soldaten der verschiedenen Biwaks riefen sich einander obszöne Witze zu und toasteten auf ihre gegenseitige Gesundheit. Dirnen, für die es keine Ehre und keine Trauer gab, durchstrichen dieses zuchtlose Janitscharenlager und wurden mit viehischer Lust begrüßt. Und während hier Bestien in Menschengestalt eine lärmende Orgie feierten, sah man tiefer im Hintergrund vereinzelte Frauen und Kinder mit Laternen auf und ab schleichen und da und dort Halt machen: den Insulten und den Kolbenstößen trotzend, leuchteten sie zwischen den Leichen umher und bogen sich, von Grauen geschüttelt, über die bleichen, toten Gesichter hin, um entweder den Gatten, oder den Sohn, oder den Vater zu suchen. Und wenn sie ihn fanden, so erbettelten sie bei seinen Mördern die Gnade, den blutigen Kadaver heimschleppen und nach Christenbrauch begraben zu dürfen. Und man sah diese zu Witwen gemachten Frauen dankbar die Hand der Offiziere und Sergeanten küssen, wenn sie mit einem Fluch die Bitte gewährten. Am folgenden Tag paradierten die Regimenter auf dem Boulevard. Ein General zeigte dem verstört zuschauenden Volke seinen blanken Säbel und rief mit höhnischem Lachen: »Das ist die Republik!«
Aus dem Blutbad des vierten Dezembers fischte sich der kleine Neffe die Kaiserkrone des großen Onkels heraus und Europa akzeptierte die vollendete Tatsache. War aber der eine Bruder Kaiser geworden, so konnte billigerweise der andere es nicht unter dem Herzog tun. Der neue Zäsarenhof brauchte lärmende Titel und grell bemalte Wappenschilder – er mußte sich durch einen Schnellprozeß sein »blaues Blut« züchten. Es handelte sich also darum, die abenteuerlichen Paladine des Staatsstreiches möglichst brillant zu verheiraten. Der erste Napoleon hatte es ja mit seinen vom Tambour zum Marschall avanzierten Trabanten gerade ebenso gehalten. Auch Morny sollte durch eine hochfeine Partie den frisch aufpolierten Kaiserthron dekorieren helfen. Aber das war leichter gesagt, wie getan. Das altaristokratische, steiflegitimistische Faubourg Saint-Germain war für die Glücksritter des Empire eine geradezu unnahbare Insel. Vertrauliche Anfragen bei den an seinem Hofe akkreditierten Gesandten belehrten den Kaiser, daß auch im Auslande der hohe Adel vorläufig kaum Lust verspüren dürfte, eine seiner Töchter als »Herzogin von Morny« unter die Haube zu bringen. Hätte es für Morny nur eine reiche Frau gebraucht, so wäre allerdings die Einfahrt in den Hafen der Ehe eine ungleich mühelosere gewesen. Er durfte bloß sein funkelndes Herzogskrönchen zum Fenster hinaushängen und im Handumdrehen zappelte an jeder Zacke ein eitler Goldfisch, der nach der Ehre lechzte, aus der Bürgerpfütze in den Gothaischen Karpfenteich verpflanzt zu werden. Aber, wie schon gesagt: im Interesse des abenteuerlichen Kaiserhofes handelte es sich bei Morny nicht um eine Geldheirat allein, sondern mehr noch um die Allianz mit einem Namen von Klang und Rang.
Ein besonderer Umstand verdoppelte übrigens noch die Schwierigkeit, für den neugebackenen Herzog eine passende Herzogin aufzutreiben. Diesen Stein des Anstoßes bildete sein allbekanntes, seit Jahr und Tag bestehendes Verhältnis mit der verwitweten Gräfin Lehon, welcher er unter Küssen und Schwüren schon hundertmal gelobt hatte, er werde sie bei erster Gelegenheit vor der Welt als seine legitime Gemahlin rehabilitieren. Er verdankte dieser Dame sehr viel; nicht nur ihre Ehre, sondern sogar ihr halbes Vermögen hatte sie ihm geopfert. War aber der schnöde, gewissenlose Egoist schon vorher nicht gesonnen gewesen, sein gegebenes Eheversprechen einzulösen, so dachte er jetzt in seinem stolzen Ikarusflug erst recht nicht daran, die mit der Zeit abgeblühte Gräfin an den Altar zu führen. Der Kaiser, wie nicht anders zu erwarten, billigte den Meineid. Handelte es sich ja auch hier um eine Art von Staatsstreich und hatte ja auch Louis Napoleon selber ganz ebenso seine frühere Maitresse, Miß Howart – von welcher er sich in seiner Flüchtlingszeit zu Londen füttern ließ – mit der Vorspiegelung geködert: sie und keine andere solle einmal seine Frau Kaiserin werden! …
Eines schönen Tages las man im »Moniteur«, der Herzog von Morny sei zum Botschafter am Russischen Hofe ernannt. Der Neuigkeit folgte die Abreise an die Newa fast auf dem Fuße nach. Der Kaiser Alexander hatte kurz zuvor den Thron seiner Väter bestiegen und seitdem eine Politik inauguriert, die wegen der polnischen Frage sich mit Frankreich zu verständigen suchte. Unter diesen Aspekten erwartete im Winterpalaste den Repräsentanten der Tuilerien der schmeichelhafteste Empfang; die eleganten Gesellschaftsformen, in denen Morny sich zu bewegen wußte, sein geistreich humoristisches Geplauder, sein ganzer echt Pariser »Chik« machten ihn übrigens auch bald zum persönlichen Liebling der kaiserlichen Familie und des Hofes … Wiederum eines schönen Tages überraschte eine zweite Neuigkeit die französischen Zeitungsleser: der Botschafter hatte sich mit einer reizenden und dabei millionenreichen jungen Fürstin verlobt. Der Zar in höchst eigener Person, wie der sensationelle Artikel noch mitteilte, war der Vermittler, der die beiden Herzen zusammengeführt hatte. In den eingeweihten diplomatischen Kreisen gab es für das ehestiftende Empressement Sr. Majestät eine sehr nüchterne Erklärung. Man sagte sich lachend: »Eine Hand wäscht die andere.«
Louis Napoleon hatte in Sachen Polens die strengste Neutralität Frankreichs zugesichert – – Alexander Nikolajewitsch hatte als Gegenleistung die Aufgabe übernommen, für Morny auf die Brautschau zu gehen. Auf diese Art und Weise trieb einer dem andern den erwünschten Hasen in die Küche.
Gab die Verlobungsanzeige den Parisern pikanten Stoff zum Salongeplauder, so war sie ein krachender Donnerschlag für – die Gräfin Lehon.
Beim Abschied hatte ihr der arglistige Tartüffe nochmals unwandelbare Treue geschworen und dem allzu vertrauensseligen Weibe am Horizont den winkenden Brautschleier gezeigt. Der Schleier maskierte eine kalte Lüge.
Mitten in dem wilden Aufruhr von Schmerz, Beschämung und Wut warf die Gräfin mit fliegender Feder folgende Zeilen auf ein Blatt Papier:
»Herr Herzog!
Die Zeitung meldet mir Ihre Verlobung mit einer russischen Fürstin. Ich habe dazu nur so viel zu bemerken: Wenn Sie bei Empfang dieses nicht sofort für das bündigste Dementi jener Zeitungsnotiz sorgen, so werde ich ebenso ungesäumt all die Papiere, die in meinem Besitze sind, der Öffentlichkeit übergeben. Der Staatsstreich und die Rolle, die Sie, Herr Herzog, dabei gespielt haben, sollen den Reigen eröffnen.
Gräfin Lehon.«
Der Donnerschlag, der auf das Haupt der Gräfin herabgekracht war, fuhr jetzt mit gleichem Effekt dem verblüfften Bräutigam in die Knochen.
Wohl hatte damals schon Viktor Hugo in seinem epochemachendem Buch »Napoleon der Kleine« das blutige Dezember-Attentat und seine Mordgesellen vor den Augen Europas an den Schandpfahl geschlagen; das innere Räderwerk dieser niederträchtigen Haupt- und Staatsaktion konnte aber der schlichte Schriftsteller nur zum kleinsten Teile bloßlegen, ihm standen ja die geheimen Archivalien des Elysée, der Polizeipräfektur und der verschiedenen Ministerien nicht zur Disposition und so malt sich in seinem klassischen Buche der Staatsstreich auch nur von außen.
Über ganz anderes Beweismaterial verfügte die Gräfin Lehon, die zu jener Zeit als vertrauteste Freundin Mornys einen direkten Einblick in die lichtscheue Verschwörung hatte und, einerlei wie, in den Besitz der wichtigsten und internsten Dokumente gelangt war. Ein europäisches Hallo mußte also losbrechen, wenn jetzt diese Urkunden der Infamie publik gemacht wurden! Unter Umständen konnten sie dem Kronenräuber in den Tuilerien verhängnisvoll werden!
Nun erklärt sich unserm Leser die wohlbegründete Bestürzung Mornys, als er, ein anderer Äneas, die kategorische Drohnote der verlassenen Dido empfing. Noch am gleichen Tage jagte ein Kurier von Petersburg nach Paris. Der Eilbote trug in seiner Tasche das ominöse Billet doux der Gräfin. Als Postskriptum hatte Morny darunter geschrieben: »Sire, lesen und handeln Sie! Es muß aber rasch geschehen, sonst werden wir die Zielscheibe eines unermeßlichen Skandals!!!«
Man sieht, aus diesem kurzen Notabene spricht die höchste Bestürzung. Der sonst so nervenstarke Bösewicht zitterte; er flüchtete sich hinter den Rücken seines edeln Bruders, der für ihn in die Bresche treten sollte …
Für den weitern Verlauf und Ausgang dieses echt napoleonischen Zeit- und Familienromanes haben wir einen authentischen Gewährsmann: es ist dies Griscelli, der geheime Leib- und Kabinettspolizist Louis Napoleons. Griscelli hatte bereits beim Staatsstreich als Mouchard eine Hintergrundsrolle gespielt und war dann infolge seiner Brauchbarkeit zum speziellen Leibspitzel Louis Napoleons avanziert.
Der Mann, ein Korsikaner, wie fast das ganze Personal der kaiserlichen Leib-Polizei, hat später die Denkwürdigkeiten seines unsaubern Handwerks niedergeschrieben und veröffentlicht. Was diese Memoiren besonders wertvoll macht, ist die zynische Freimütigkeit, womit er sich selber an den Schandpfahl nagelt. Er brandmarkt sich selber als Schuft und darum können wir ihm das Register seiner Schurkenstreiche aufs Wort glauben. Auch bei der Affäre Lehon hat er seine schmutzigen Finger im Spiel gehabt und die Darstellung die er in seinen Memoiren gibt, harmoniert vollständig mit den Aufzeichnungen der verlassenen Gräfin, so daß die Wahrheit des Folgenden feststehen dürfte.
Als der Kurier aus Petersburg beim Kaiser eintraf, beschied dieser den Polizeipräfekten Pietri – gleichfalls Korse von Geburt – zu sich. Nach einer kurzen Mitteilung des Sachverhalts stellte der Kaiser die Anfrage, welcher von den Geheimpolizisten sich wohl besonders dazu eigne, der Gräfin einen Besuch abzustatten und, sei es auf dem Wege der Güte oder der Gewalt, die kompromittierenden Papiere herauszukriegen. Ohne langes Besinnen bezeichnete Pietri den Agenten Griscelli als die zweckdienlichste Person, wozu der Kaiser bemerkte, auch er selber habe sofort an diesen findigen Kumpan gedacht.
Die nächste Frage lautete: Wo steckt Griscelli? – Er war gerade dienstfrei, trieb sich also Gott weiß wo herum. Nichtsdestoweniger bestand der Kaiser darauf, man müsse den Mann sofort suchen und so machte sich ein ganzer Schwarm von Polizeisergeanten und Lakaien auf die Jagd – natürlich ohne zu wissen, um was es sich eigentlich handle. Die nervöse Ungeduld des Kaisers wuchs von Minute zu Minute so sehr, daß er zuletzt sogar seine Adjutanten und Ordonnanz-Offiziere auf die Streife schickte. Der beste Beweis, wie auch er die Konsternation Mornys teilte und welche Bedeutung er dem drohenden Schritt der Gräfin beimaß! – – – Der General Rollin war der glücklichste dieser Diogenesschar, die in Paris einen Menschen suchte: er entdeckte den Korsen, der, gemütlich eine Zigarette rauchend, auf einer Bank des Pont-Royal saß und sich das bunte Treiben auf der Brücke und den Fluß betrachtete.
Binnen zehn Minuten stand schon der Agent vor dem Kaiser und dem noch anwesenden Polizeipräfekten. Griscelli genoß das vollste Vertrauen Louis Napoleons; ohne alle Umschweife berichtete ihm auch jetzt der Kaiser den leidigen Kasus. Was dem gekrönten Sünder ganz besonders das Blut durch den Leib jagte, war der Gedanke, die rachelechzende Gräfin könne bereits die Papiere an die Orleanisten ausgeliefert haben, für die es selbstverständlich ein Göttergenuß gewesen wäre, diese kostbaren Aktenstücke bis zum letzten Komma und I-Tüpfelchen auszuschlachten. Griscelli erlaubte sich die Bemerkung, daß ein solch blinder Übereifer bei der Gräfin kaum zu befürchten sei, denn natur- und vernunftgemäß werde sie doch zunächst die Rückäußerung Mornys abwarten, bevor sie zur Lunte greife, um das Pulverfaß in die Luft zu sprengen. Diese Vorstellung beruhigte einigermaßen den verstörten Usurpator. Mit unbeschränkter Vollmacht ausgerüstet, verließ gleich darauf der Korse die Tuilerien, um sich nach den Champs-Elysées zu verfügen, wo die Gräfin eine reizende kleine Villa bewohnte. Der Geheimagent war für die Dame durchaus keine unbekannte Erscheinung. Bei Morny – der mit Griscelli gleichfalls auf sehr vertrautem Fuße stand – hatten sich die beiden zu wiederholten Malen getroffen. Demzufolge empfing jetzt auch die Gräfin den Emissar des Kaisers ohne jene formelle Reserve, die man einer durchaus fremden Persönlichkeit gegenüber zu beobachten pflegt.
Das Resultat der Unterredung war gleich Null.
Mit kalter Ruhe erklärte die Dame, daß sie die Papiere nur unter einer einzigen Bedingung herausgeben werde. Der Korse blickte sie fragend an.
»An dem Tage, wo ich Herzogin von Morny werde, soll mein Gemahl die Papiere erhalten … Er möge sich also beeilen, denn ich könnte leicht die Geduld verlieren!« Ein drohender Schatten flog dabei über ihr Gesicht hin.
»Aber Madame« – – –
Eine diktatorische Handbewegung der Gräfin schnitt dem Agenten die Rede ab.
»Kein Wort weiter, mein Herr! Ich weiß, was die Papiere wert sind und ich bleibe bei meiner Forderung.« Wie der Schlag eines eisernen Hammers klang ihre Stimme, als sie nach einer Pause sagte: »Ich will die Lacher auf meiner Seite haben!«
»Madame,« bemerkte der Agent, der es noch nicht an der Zeit hielt, seine letzte Batterie zu demaskieren: »Ich begreife und würdige vollkommen das schwere Unrecht, dessen Opfer Sie geworden sind! Aber auch die eigentümliche Situation Mornys muß billigerweise in Betracht gezogen werden. Der Kaiser von Rußland« – –
Mit einem ironischen Lachen unterbrach ihn die Gräfin. »Der Kaiser von Rußland?! Er soll in mir eine tolerante Ehefrau kennen lernen, denn als Herzogin von Morny werde ich jener jungen Fürstin mit Vergnügen gestatten, die Maitresse meines Gemahls zu werden!«
Mit diesem letzten Beilstreich war die Brücke der gütlichen Verständigung abgebrochen. Für den Agenten blieb nur noch ein Gewaltakt übrig. Der Kaiser hatte ihn autorisiert, in diesem Fall jedes Mittel anzuwenden und der Korse war nicht der Mann, der etwa Bedenken trug, von dieser summarischen Instruktion den ausgiebigsten Gebrauch zu machen. Noch erwog er, wie und wo am besten der Hebel anzusetzen sei, der, wie die Eisenschraube einer Folterbank, den Trotz der Gräfin brechen sollte – da hörte er plötzlich von einem der angrenzenden Gemächer her ein Stimmengeräusch: schon im nächsten Moment trat die Kammerfrau in den Salon, um der Gebieterin auf silbernem Teller eine Karte zu überreichen.
»Der Herr Marquis und die Frau Marquise werden mir willkommen sein,« beschied, nachdem sie einen flüchtigen Blick auf die Karte geworfen hatte, Madame de Lehon den dienstbaren Geist. Es war ersichtlich, daß sie den unerwarteten Besuch segnete, der ihr eine so günstige Gelegenheit bot, den lästigen Polizeigast auf gute Manier loszuwerden.
»Mein lieber Griscelli,« wandte sie sich mit dem Ton konventionellen Bedauerns an den Agenten: »Sie müssen entschuldigen, daß ich Ihnen nicht länger zur Disposition stehen kann, aber zu meinem Leidwesen« – – –
Der Korse schnitt ihr die Phrase glatt vom Munde ab. »Madame, ich weiß Ihr Leidwesen vollkommen zu taxieren! Ich habe nur noch die eine Frage an Sie zu richten: wollen Sie sich bezüglich der Papiere mit mir arrangieren oder nicht?« Die Gräfin hatte sich vom Sofa erhoben. Ohne die kategorische Interpellation zu beantworten, wandte sie den Kopf nach der Türe hin, deren Flügel sich soeben öffneten, um dem angemeldeten Besuch Einlaß zu geben. Wenn Griscelli keine lächerliche Figur spielen wollte, so hatte er zunächst nichts zu tun, als ungesäumt mit möglichster Eleganz den Platz zu räumen und den neuen Gästen gegenüber als regelrechter Komödiant abzutreten. Mit einer stummen tiefen Verbeugung verabschiedete er sich von der Dame des Hauses, die ihn mit dem süßesten Lächeln moralisch zur Türe hinauswarf; mit einer zweiten leichtern Reverenz ließ er seine gesellschaftlichen Nachfolger an sich vorüberpassieren – – auf der Schwelle aber wandte er sich blitzschnell um und aus seinem Blick sprach eine solch furchtbare Drohung, daß die Gräfin unwillkürlich erbleichte.
Im Vorzimmer blieb der Korse stehen, um seine Gedanken zu sammeln. Sollte er hier warten, bis sich der Besuch entfernte, oder sollte er nach den Tuilerien eilen, um dem Kaiser den provisorischen Stand der Dinge zu rapportieren?
Was ihn einigermaßen beruhigte, war, daß die Gräfin gerade diesen und keinen andern Besuch erhalten hatte. Der Marquis von *** war ein alter, harmloser Herr, der sich, wie Griscelli aus den geheimen, mit äußerster Sorgfalt geführten Polizeilisten wußte, absolut um keine Politik kümmerte und dessen ganze Individualität auch sonst nicht annehmen ließ, daß er irgendwie an der Intrige der Gräfin beteiligt sei … Eine Türe, die sich hinter dem Agenten öffnete, erweckte ihn aus seinem tiefen Sinnen: ein junger Mann war eingetreten, der in Gesicht und Haltung eine frappante Ähnlichkeit mit der Gräfin Lehon hatte. Er durfte ihr wohl gleichen, denn er war ihr Sohn. Wie Griscelli wußte, hing sie mit der leidenschaftlichsten Mutterliebe an diesem bildschönen Jüngling, der zugleich ihr einziges noch lebendes Kind war.
Ein diabolischer Gedanke schoß mit einemmal durch den Kopf des Korsen!
Mit einem artigen Gruße wollte der junge Mann an dem Agenten vorübergehen, um sich offenbar in den Salon seiner Mutter zu begeben. Rasch vertrat ihm Griscelli den Weg. »Herr Graf, ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, die für Sie von größtem Interesse sein dürfte.« Erstaunt blickte der junge Mann den mysteriösen Gast an. »Es handelt sich um Ihre Zukunft, Herr Graf – zugleich auch um das Wohl oder Weh Ihrer Frau Mutter!« sprach Griscelli in bedeutsamem Ton weiter: »Ich bin bereit, Ihnen eine nähere Erklärung zu geben, wenn Sie mir gefälligst ein paar Minuten Gehör schenken wollen.« In den Gesichtszügen des Grafen malte sich ein Ausdruck von Mißtrauen. »Mein Herr,« bemerkte er: »Ich weiß ja gar nicht, mit wem ich eigentlich die Ehre habe« – – –
»Mein Namen,« unterbrach ihn der Korse, »spielt bei der ganzen Angelegenheit gar keine Rolle! Meinem Beruf dagegen dürfte einiger Wert beizumessen sein, ich bin Agent der geheimen Polizei.« Er griff in die Brusttasche seines Rockes und hielt dem jungen Mann ein kleines Metallschild entgegen, das den kaiserlichen Adler trug und darunter die Worte: Police secrète … In geschäftsmäßiger Weise ließ er die Legitimationsmarke in ihr Versteck zurückgleiten. Seinem beobachtenden Blick war es nicht entgangen, daß der Graf momentan erbleichte.
»Sie wollen meine Mutter verhaften?!« rief der junge Mann mit einer Stimme, die vor Bestürzung und Entrüstung zugleich zitterte. Eine zweideutige Gebärde war die Antwort des Agenten. »Was kann oder was soll ich tun?« rief der andere in wachsender Erregung und ließ sich in einen Fauteuil fallen.
»Herr Graf,« brach Griscelli seine Kunstpause: »die Wände haben Ohren! Wenn Sie Ihrer Frau Mutter höchst unangenehme Konsequenzen ersparen wollen, so begleiten Sie mich gefälligst in die nächste Allee der Champs-Elysées, wo ich frei und ungestört mit Ihnen reden kann. Ich werde Ihnen dann zugleich den Beweis liefern, daß ein Polizeimann unter Umständen auch ein wohlmeinender Freund sein kann.« Der junge Kavalier schien zu schwanken, ob er dem Ansinnen Folge leisten solle oder nicht. Mit kalter Ruhe griff Griscelli nach seinem Hut. »Meine Zeit ist kostbar, Herr Graf!« sagte er: »Ich habe keine weitere Minute mehr zu verlieren und muß also zum letztenmal die Frage an Sie richten, ob Sie mich begleiten wollen oder nicht?« Aus Ton und Blick des Korsen sprach ein solch kategorisches Ultimatum, daß der junge Mann nur noch Ja oder Nein zu sagen hatte. Der Gedanken an seine bedrohte Mutter diktierte ihm eine zustimmende Antwort. Gleich darauf verließen die beiden die Villa und wandten sich nach den angrenzenden Champs-Elysées. In einer menschenleeren Seitenallee machte der Agent plötzlich Halt. Seine kleinen schwarzen Augen hatten in ihrem jähen Aufschlag jene kalte, durchbohrende Schärfe, die den Blick der Raubvögel charakterisiert; seine schmale, schnabelförmig gebogene Nase ergänzte noch diesen unheimlichen Geierausdruck.
Seinen korsischen Landsleuten, die mit ihm bei der Polizei dienten, galt es als eine ausgemachte Sache, daß er ein »Jettatore« Im südlichen Italien und auf den Inseln Corsika, Elba und Sardinien spielt die sogenannte »Jettatura« – ein aus grauer Vorzeit überkommener und noch in voller Geltung stehender Aberglauben, gleichbedeutend mit dem orientalischen »bösen Blick« – eine große Rolle. Wie anderwärts jedes Dorf seine Hexe haben muß, so repräsentiert hier der »Jettatore« oder – wenn es ein Weib ist – die »Jettatrice« das dämonische Element. Der unheilvolle Zauber, der in dem Blick dieser Personen liegen soll, wird kurzweg dem Teufel zugeschrieben, der den dazu prädestinierten Kindern schon im Mutterleib einen Funken seines Höllenfeuers in die Augen bläst! Mit Talismanen und Amuletten verschiedener Art sucht sich das Volk gegen die diabolischen Einwirkungen der Jettatura zu feien. sei. Auch den jungen Kavalier erfaßte es wie ein magnetischer Bann, als ihn jetzt sein Begleiter einige Sekunden lang regungslos fixierte. »Herr Graf,« brach der Agent das beiderseitige Schweigen: »Ich habe Ihnen bereits bemerkt, daß es in Ihrer Macht liegt, über das Wohl oder Wehe Ihrer Frau Mutter zu entscheiden … Die Papiere des Herzogs von Morny, womit die Frau Gräfin eine recht unsaubere Spekulation – –«
»Mein Herr!« fuhr ihm der Kavalier zornig ins Wort: »die Ehre meiner Mutter – –«
»Nur keine sittliche Entrüstung, wenn ich bitten darf!« winkte der Polizeimann mit einem eiskalten Lächeln ab: »mit pathetischen Redensarten kommen wir nicht ans Ziel. Beantworten Sie mir also, Herr Graf, gefälligst die einfache Frage: wo sind zur Stunde die Papiere des Herzogs von Morny? Befinden sie sich noch im persönlichen Besitz der Frau Gräfin, oder hat sie dieselben anderweitig deponiert?« Wie eine eiserne Schraube bohrte sich der Blick des Korsen in die verwirrt umherschweifenden Augen des jungen Mannes. »Nur ein offenes Geständnis kann Ihre Frau Mutter retten!« drängte er: »Wo sind die Papiere?«
Wohl war es gerade dieser kategorische Inquisitorton, der die bisherige Bestürzung des Kavaliers zu einem plötzlichen Trotze umstimmte. »Sehen Sie selber zu, ob und wo Sie die Papiere finden,« sagte er und wandte sich kurz zum Gehen.
Wie eine Stahlzange legte sich die Hand des Agenten um den Arm des Rebellen.
»Herr Graf,« erklärte er mit unheimlicher Ruhe: »Ich lasse Ihnen noch eine einzige Sekunde, um sich auf Ihre letzte und definitive Antwort zu besinnen!«
Mit einem heftigen Ruck suchte der junge Mann seinen Arm zu befreien; als ihm dies mißlang, führte er mit geballter Faust einen wütenden Schlag nach dem Korsen. Leicht parierte dieser den Streich, dann sagte er: »Wie ich sehe, junger Herr, verschmähen Sie eine gütliche Verständigung und nötigen mich, andere Saiten aufzuziehen.«
»Sie haben mich wie ein Bandit in einen Hinterhalt gelockt!« knirschte der junge Mann und suchte sich von neuem dem eisernen Griff des Polizisten zu entwinden. »Lassen Sie mich los!« keuchte er: »oder ich rufe um Hilfe.«
»Ich rate Ihnen, Herr Graf, keinen öffentlichen Skandal zu provozieren, denn bei dem ersten Schrei, den Sie etwa ausstoßen sollten, werde ich Ihnen sofort den Mund mit einer Kugel stopfen.« In seine Rocktasche greifend, enthüllte Griscelli für einen Moment den Schaft seines Revolvers. »Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, Herr Graf, so folgen Sie mir ohne jeden ferneren Widerstand oder Fluchtversuch, denn Sie sind jetzt mein Gefangener!« In Ton, Blick und Haltung des Korsen lag eine solch furchtbare Energie, daß der junge Mann unwillkürlich erblaßte. In düsterm Schweigen folgte er seinem Führer, der den Weg nach dem nächsten Polizeibureau einschlug. Der anwesende Kommissar kannte natürlich den Geheimagenten des Kaisers und begrüßte ihn respektvoll. »Herr Kommissar,« redete Griscelli den Beamten an: »Sie werden wohl die Güte haben, mich mit diesem Herrn hier einen Augenblick allein zu lassen.« Salutierend verbeugte sich der Kommissar und verschwand aus seinem Dienstzimmer.
»Nehmen Sie Platz, Herr Graf!« bedeutete der Agent kurzhin seinen unfreiwilligen Begleiter, während er sich selber an den Bureautisch des Kommissars setzte und nach Papier und Feder griff. Schon nach ein paar Minuten erhob er sich wieder und überreichte dem jungen Manne das Blatt, auf das er nur wenige Zeilen hingeworfen hatte. »Lesen Sie, Herr Graf!« sagte er gleichmütig. Das Billett lautete:
»Frau Gräfin!
Ihr Herr Sohn befindet sich als Geißel in meiner Gewalt und haftet mit seinem Leben für die bewußten Papiere. Ich bin fest entschlossen, nötigenfalls den letzten Trumpf auszuspielen und überlasse Ihnen also, Madame, ganz die Wahl.
G.«
Das lakonische und doch so inhaltschwere Billett übte auf den jungen Kavalier eine geradezu niederschmetternde Wirkung aus; mit einem scheuen Seitenblick betrachtete er seinen erbarmungslosen Hüter und seine Hand zitterte nervös, als er dem finster wie ein Dämon am Tisch lehnenden Korsen das Blatt zurückgab, das der Mutter das eventuelle Todesurteil des Sohnes verkünden sollte …
Ohne von der inneren Unruhe des Gefangenen scheinbar irgendwelche Notiz zu nehmen, streifte der Agent einen Ring von seinem Finger und versiegelte damit das Couvert, das er dann an die Gräfin Lehon adressierte. Ein Zug an der Glockenschnur rief den Kommissar in das Zimmer herein. Der Agent des Kaisers winkte den Beamten in eine Fensternische und erteilte ihm hier leise eine Instruktion, während er ihm zugleich das Billett einhändigte. In militärischer Haltung griff der Polizeioffizier an seinen Dreispitz und verließ das Bureau, wobei er im Vorübergehen mit einem kalten, scharfen Blick den aristokratischen Häftling fixierte.
Kaum hatte sich hinter dem Kommissar die Tür geschlossen, als der junge Kavalier in höchster Erregung von seinem Stuhle aufsprang und dem Korsen entgegentrat. »Mein Herr,« rief er und seine Augen brannten in einer fieberhaften Glut: »Sie werden durch dieses Mörderbillett meine arme Mutter zum Wahnsinn treiben!«
»Im Gegenteil, Herr Graf!« gab der Agent mit eisiger Ruhe zurück: »Ich gedenke durch dieses kleine Billett Ihre Frau Mutter zur Vernunft zu bringen und ihr klar zu machen, daß es besser ist, auf einen ehrgeizigen Traum zu verzichten, als sein eigenes Kind die Rolle eines Sündenbockes spielen zu lassen … Machen Sie sich übrigens fertig, Herr Graf, denn ich erwarte jeden Moment die Droschke, die uns weiter befördern soll« …
Der junge Mann knickte sichtlich zusammen. »Wohin?« frug er mit tonloser Stimme und in seinem Gesichte zeigte sich der Ausdruck eines dumpfen Grauens.
»Zunächst nach der Polizeipräfektur,« erklärte der Agent kurzab: »was weiter mit Ihnen geschieht, wird sich finden.«
Die Hand an die Stirn gepreßt, durchschritt der Gefangene in fieberhaftem Tempo einige Male das Zimmer, dann trat er plötzlich vor den Korsen hin. »Führen Sie mich zum Kaiser!« sagte er und seine bisherige Kleinmütigkeit schien wie auf einen Schlag einer kalten Entschlossenheit Platz gemacht zu haben. »Führen Sie mich zum Kaiser!« wiederholte er in fast gebieterischem Ton: »Er selber soll mir die Versicherung geben, daß meine Mutter keine weitern Belästigungen und Verfolgungen mehr zu befürchten hat, sobald die Auslieferung der Papiere erfolgt ist.«
»Diese Versicherung kann ebensowohl ich Ihnen geben, Herr Graf,« bemerkte der Agent: »von dem Moment an, wo Ihre Frau Mutter die Papiere aushändigt, entfällt nicht nur jeder vernünftige Grund, die Dame noch irgendwie zu behelligen, sondern sie darf zugleich von seiten Seiner Majestät der huldvollsten Anerkennung versichert sein.«
»Wohlan, mein Herr,« erklärte der junge Kavalier: »ich bin bereit, dem Kaiser – aber auch nur ihm persönlich den erwünschten Aufschluß über die Papiere zu geben. Andernfalls werd' ich an meiner Mutter niemals zum Verräter werden.«
Der Korse besann sich, was er dieser unerwarteten Bedingung gegenüber tun solle. Unter sonstigen Umständen hätte er natürlich eine derartige Forderung kurzweg als unstatthaft zurückgewiesen; hier aber wußte er, wie sehr dem Kaiser die rascheste Erledigung der unbehaglichen Papieraffäre am Herzen lag. Demzufolge beschloß der Agent, den speziellen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Er warf einen Blick auf die Uhr, um zu sehen, was es an der Zeit sei. Der Kaiser wollte an diesem Abend einem Wohltätigkeitskonzert beiwohnen; in etwa einer halben Stunde verließ er die Tuilerien. Griscelli durfte also nicht länger zögern, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Draußen hielt bereits die bestellte Droschke, er stieg mit dem Grafen ein, und der Kutscher, durch ein Trinkgeld animiert, peitschte seinen Gaul in einen scharfen Trab. Unterwegs redete der Agent wie ein wahrer Galgenpater auf den zerknirschten jungen Mann ein, um ihn vollends mürbe zu machen und ihm vorzustellen, daß die leidige Geschichte sich zu allseitiger Zufriedenheit arrangieren lasse.
So erreichten sie die Tuilerien. Auf der Geheimtreppe, die von dem Pavillon de l'Horloge zu den auf der Südseite des Schlosses belegenen Appartements des Kaisers führte, brachte Griscelli seinen Begleiter nach einem Gemach, in welchem sich ein älterer, einfach in Schwarz gekleideter Mann befand – Monsieur Broc, der damalige erste Kammerdiener Louis Napoleons. Mit einem vertraulichen Kopfnicken begrüßte der Korse den Alten und winkte ihn zur Seite. Flüsternd erklärte er den Zweck seines Kommens und mit leisem Katzenschritt verschwand Monsieur Broc, um den Agenten anzumelden. Kaum eine Minute später betrat dieser das Kabinett des Kaisers, während der Kammerdiener wieder seinen Hüterposten in der Antichambre einnahm. Nach einer kleinen Weile erschien Griscelli und bedeutete mit einer stummen Handbewegung den jungen Kavalier, sich zu nähern, »Haben Sie volles Vertrauen, Herr Graf!« raunte ihm der Agent rasch zu – – schon im nächsten Moment stand der junge Mann dem Kaiser gegenüber.
An einem mit Büchern und Papieren beladenen Tische saß, schon zur Ausfahrt angekleidet, der Imperator. Der Geheimagent war verschwunden, als hab' ihn eine Theaterversenkung verschluckt. Mit einer gewissen Schwerfälligkeit, die damals bereits seine Bewegungen charakterisierte, erhob sich Louis Napoleon von seinem Sessel und schritt auf den jungen Mann zu, der tief sich verbeugend in sichtlicher Verwirrung an der Schwelle des Kabinetts stehen geblieben war.
Mit seinem bekannten kardialen Lächeln reichte er in gemütlicher Weise dem jungen Mann die Hand und geleitete ihn nach einem Fauteuil. Im Banne dieses huldvollen Zaubers beantwortete der Graf ohne jeden Rückhalt die verschiedenen Fragen, die der Kaiser an ihn richtete. Ebenso willig räumte er ein, daß sich die ominösen Papiere noch im persönlichen Besitze seiner Mutter befänden, nur wisse er nicht, wo sie dieselben versteckt halte; er erklärte sich aber bereit, nach Hause eilen und seine Mutter zur sofortigen Herausgabe der Dokumente bestimmen zu wollen.
»Ich bin Ihnen dankbar für Ihr loyales Anerbieten, Herr Graf,« bemerkte der Kaiser: »Sie sollen aber einstweilen noch mein Gast bleiben und so mag ein anderer den Gang machen. Belieben Sie also in dem von Ihnen angedeuteten Sinne einige Zeilen an Ihre Frau Mutter zu richten.« Er wies nach einem Pulte hin, auf dem sich die nötigen Schreibutensilien befanden. Schon nach wenigen Minuten überreichte ihm der Graf das kurzgefaßte Billett.
Der Kaiser las:
»Liebe Mama!
Im Kabinett Sr. Majestät des Kaisers schreibe ich Dir diese wenigen Zeilen. Durch den huldvollen Empfang, den mir Seine Majestät zuteil werden ließ, bin ich allzu bewegt, um Dir jetzt weiteres mitteilen zu können. Ich bitte Dich nur um eines: händige dem Überbringer meines Billetts in allem Vertrauen das Kästchen aus, in welchem sich die Papiere des Herzogs von Morny befinden. Es ist dies der Wunsch Sr. Majestät. Ich beschwöre Dich, beste Mama – laß diesen Wunsch für Dich einen Befehl sein.
Dein ergebener Sohn
Graf
Léon Lehon.«
»Ich hoffe, dieser Appell eines wohlmeinenden Sohnes wird das Herz der Mutter erreichen,« sagte der Kaiser, indem er dem jungen Manne das Blatt zurückgab, um es zu falten und zu adressieren. »Das Couvert zu siegeln, ist überflüssig, Herr Graf,« bemerkte er: »die gleiche Vertrauensperson, die Ihnen das Geleite hierher gab, wird auch das Billett an Ihre Frau Mutter befördern.« Zu seinem Tische hintretend, setzte er eine silberne Clochette in Bewegung: noch vibrierte der helle Glockenton durch das Kabinett, als auch schon die düstere Figur des Korsen sich zeigte.
Im Verkehr mit Griscelli pflegte sich Louis Napoleon meistens der italienischen Sprache zu bedienen. So auch diesmal. »Du wirst dieses Billett hier der Frau Gräfin persönlich übergeben und dann zum Rapport zurückkehren,« sagte er und für den scharfsinnigen Agenten bedurfte es keiner weitern Instruktion, denn das offene Billett – dessen Versiegelung der Kaiser mit gutem Bedacht für überflüssig erklärt hatte – war ja für Griscelli der beste Leitfaden.
Ein leichter Wink des Imperators entließ den Korsen – im selben Moment bannte ihn auch schon wieder ein Zuruf fest. »Du kannst im Vorübergehen zu Broc sagen, daß ich nicht das Konzert besuchen werde, und daß ich ungestört bleiben will.«
Mit einer Verbeugung verschwand der Agent, geräuschlos wie ein Indianer, der bei Nacht und Nebel den Kriegspfad antritt …
Wie ein Ausdruck von innerlicher Erleichterung glitt es über die müden Gesichtszüge des Schloßherrn hin, als er sich langsam in seinen Fauteuil versenkte und mit einer artigen Handbewegung seinen jungen Gast einlud, ihm gegenüber Platz zu nehmen. »Plaudern wir ein wenig über Ihre Zukunftspläne, lieber Graf!« lächelte der Imperator und faltete dabei die Hände über dem Bauche zusammen wie ein Mann, der gar nichts anderes zu tun hat, als sich für das Freud und Leid seiner Mitmenschen zu interessieren …
Als sich der Korse nach der Villa der widerspenstigen Gräfin auf den Weg machte, kam ihm mitten auf der Geheimtreppe, die, wie schon erwähnt, von den kaiserlichen Gemächern nach dem Pavillon de l'Horloge und von da in den Schloßhof hinausführte, sein Vorgesetzter entgegen, der Polizeipräfekt Pietri, der sich gerade zum Kaiser begeben wollte. Griscelli rapportierte kurz und bündig das Resultat seiner bisherigen Bemühungen und überreichte dem Präfekten das Billett, das der junge Graf an seine Mutter gerichtet hatte. Zur nächsten Gasflamme hintretend, las Pietri die wenigen Zeilen, dann faltete er das Billett wieder zusammen und gab es dem Agenten zurück. »Unten im Hofe hält noch mein Coupé,« sagte der Präfekt: »Ich werde dich nach der Villa bringen und für alle Fälle mag uns Alessandri Gleichfalls ein Korse und Brigadier bei der kaiserlichen Geheim-Polizei. begleiten.«
Das Trio stieg ein und die in ganz Paris wegen ihrer wunderbaren Schnelligkeit berühmten Ungarrößlein des Präfekten sausten nach den Champs-Elysées hin. Im Schatten der Bäume, die, der Villa Lehon gegenüber, die Avenue einsäumten, machte auf einen Zuruf Pietris der Kutscher Halt und Griscelli stieg aus, während seine beiden Begleiter vorläufig als Reserve im Wagen zurückblieben. Kaum hatte sich Griscelli neuerdings bei der Gräfin anmelden lassen, als sie auch schon wie eine rasende Tigerin auf ihn losstürzte. »Elender!« kreischte sie mit flammenden Augen und geballten Fäusten: »Wo ist mein Sohn? Wenn Ihr ihn ermordet habt so gebt mir wenigstens seinen blutigen Leichnam, damit ich als Mutter ihn begraben kann!«
Mit kalter Ruhe nahm der Agent diesen wild leidenschaftlichen Erguß hin.
»Mein Haus wird durch einen Polizeispitzel verpestet, der mich schon seit einer Stunde als seine Gefangene behandelt!« loderte die Dame in einem neuen Anfall von Wut auf, nachdem sie einen Moment lang Luft geschnappt hatte. Sie deutete nach einem Nebenzimmer, durch dessen halbgeöffnete Türe sich eine Polizei-Uniform erkennen ließ.
»Madame,« brach jetzt Griscelli sein bisheriges Schweigen: »der Mann ist auf meinen Befehl vom nächsten Polizeibureau hierher gekommen, um durch seine Blockade Sie von irgendeiner Unbesonnenheit zurückzuhalten, die nur zu Ihrem eigenen Unheil hätte ausschlagen können. Übrigens soll Sie, Madame, der Mann jetzt nicht länger mehr durch seine Gegenwart belästigen.« Ein kurzer Wink des Geheim-Agenten ließ den Polizisten verschwinden. »Und jetzt, Frau Gräfin,« sprach er weiter: »habe ich die Bitte an Sie, sich ein wenig beruhigen und zunächst dieses Billett lesen zu wollen.« Er überreichte ihr das Schreiben ihres Sohnes. Sie erkannte sofort die Handschrift und die hellen Tränen schossen ihr in die Augen. Kaum hatte die überreizte Frau die wenigen Zeilen gelesen, als sie auch schon von dem Sofa emporschnellte, auf das sie hingesunken war. »Diesen Brief,« schrie sie: »kann mein armer Sohn nur unter dem brutalen Diktat einer Pistolenmündung geschrieben haben! Nun und nimmer kann es sein eigener Wunsch sein, daß seine schnöde betrogene Mutter das einzige Repressionsmittel, das ihr übrig bleibt, aus den Händen gibt!«
Dem Korsen begann die Geduld auszugehen; die Narbe, die sich fast fingerbreit quer über seine Stirne hinzog, färbte sich dunkler. »Genug der Worte, Madame! Wollen Sie mir die Papiere geben oder nicht? Ersparen Sie sich alle weitern Tiraden und Deklamationen und antworten Sie mir kurz Ja oder Nein! … Im letztern Falle – – –.« Ein plötzliches Durcheinander von Stimmen und Schritten draußen im Korridor unterbrach den Agenten und instinktiv wandte er seinen Kopf nach der Schallrichtung hin: im selben Moment hörte er auch schon hinter sich eine Türe zuschlagen und einen Riegel klirren. Ebenso rasch fuhr er auf dem Absatz herum – – die Gräfin war verschwunden! Sie hatte die Gelegenheit benützt, um mit einem flinken Sprung in das Nebenzimmer zu stürzen und gleichzeitig dem Verfolger den Weg abzuschneiden. Sie mochte sich gerettet wähnen, aber sie hatte ohne die wilde Energie und riesige Kraft des Korsen gerechnet. Ohne jedes Besinnen stemmte er seine Schulter wie einen Sturmbock gegen die Tür, die unter dem wuchtigen Druck krachend aus ihrem Gefüge sprang. Gerade als er in die Bresche eindrang, sah er das flatternde Gewand des Flüchtlings hinter einer zweiten Türe verschwinden. Auch diese Scheidewand zersplitterte unter dem dröhnenden Anprall Griscellis, in welchem die ganze Tigerfurie des korsischen Blutes entflammt war. Mit solch enormer Gewalt hatte er diese zweite Türe aufgesprengt, daß ihn der Stoß halb in das nächstfolgende Zimmer schleuderte. Es war das Schlafkabinett der Gräfin. Eines der Fenster stand offen und ein Stuhl davor: zweifelsohne hatte sie in den Garten herabspringen wollen, doch der Agent war allzu rasch nachgefolgt und ihr dadurch keine Zeit geblieben, sich zu dem Salto mortale zu sammeln. Todesbleich, Haß und Wut in den fieberhaft glühenden Augen, hatte sie sich in eine Ecke verschanzt wie eine abgehetzte Wölfin; krampfhaft hielt sie eine silberbeschlagene Kassette von Ebenholz an sich gepreßt, während in ihrer drohend erhobenen rechten Hand ein kleiner, zierlicher Revolver funkelte. Unbekümmert um die Waffe, stürzte sich der ergrimmte Korse auf die Amazone, um ihr die kostbare Kassette zu entreißen und die Kugel, die ihn treffen sollte, schien wirklich noch nicht gegossen zu sein, denn von den zwei Schüssen, die rasch hintereinander die Gräfin auf ihn abfeuerte, durchlöcherte ihm bloß der eine den Rockflügel. Die rabiate Dame entwaffnen und ihr die Kassette entwinden, war das Werk einer Sekunde … Noch hatte sich der wogende Pulverdampf nicht gelichtet, als der Präfekt Pietri und der Brigadier Alessandri herbeigeeilt kamen. Wie eine Furie sprang die Gräfin auf den Präfekten los. »Dieser elende Bandit« – sie deutete auf Griscelli – »hat mich überfallen und beraubt! Ganz Europa soll erfahren, was unter der glorreichen Regierung Badinguets Der bekannte Spitznamen des Kaisers Louis Napoleon. ein Spitzbube sich erlauben darf, sobald er unter der Polizei-Flagge segelt!« Mit einem gellenden Lachen hielt sie dem Agenten ihre Uhr hin. »Wollen Sie nicht auch gleich diese Uhr als gute Prise einstecken? Sie ist unter Brüdern immerhin ihre fünfhundert Franks wert.« Keuchend warf sie sich in einen Fauteuil … Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, hatte der Polizeipräfekt die schmeichelhafte Definition des von ihm geleiteten Institutes hingenommen; das einzige, was er tat, war, daß er dem Brigadier Alessandri zuwinkte, sich in das Nebenzimmer zu postieren, damit wenigstens die kritischen Expektorationen der Dame auf einen Kreis beschränkt blieben, wo sie keinen weitern Schaden anrichten konnten.
Griscelli wollte die so heiß errungene Kassette seinem Vorgesetzten einhändigen, doch Pietri sagte ihm leise: »Bringe du sie nur selber nach den Tuilerien, denn ich muß zunächst suchen, diesen verrückten Weiberkopf hier zurechtzusetzen. Alessandri mag draußen im Vorzimmer zurückbleiben.«
Im Coupé des Präfekten flog Griscelli nach dem Schlosse, wo inzwischen der Kaiser in leicht begreiflichem Hangen und Bangen dem Resultat entgegengeharrt hatte, während ihm doch die Aufgabe oblag, seine innere Unruhe vor seinem Zwangsgaste – dem jungen Grafen Lehon – sorgfältigst zu verbergen. Bekanntlich war Louis Napoleon ein Meister in der Kunst, seine Gesichtszüge zu beherrschen und sie in die Form einer dem jeweiligen Zweck entsprechenden Maske zu pressen. Hier aber durchbrach die Natur den Bann der Mimik und ein heller Freudenstrahl glitt unwillkürlich über sein Antlitz, als er in den Händen des eintretenden Korsen die verhängnisvolle Kassette erblickte. Er schien momentan die Anwesenheit des Grafen ganz zu vergessen, denn rasch dem Agenten entgegengehend, bemächtigte er sich – fast mit einem Riß, könnte man sagen – des für ihn so hoch bedeutsamen Kästchens. Erst der Besitz des kostbaren Beutestückes gab ihm seine sonstige Besonnenheit wieder zurück und ruhig trat er hinter eine spanische Wand, die einen Teil des Kabinettes abschloß und ihn dem Blicke des Grafen entzog. Auf einen Wink folgte ihm Griscelli nach … »Wo ist der Schlüssel?« fragte der Kaiser leise in italienischer Sprache. » Affé, Sire,« antwortete der Korse mit einem schelmischen Grinsen: »den hat die Frau Gräfin vergessen, mir mitzugeben. Unten im Wachtzimmer ist aber Prunelli, der als gelernter Schlosser –«
» Soverchio!« unterbrach ihn der Imperator mit einer ungeduldigen Handbewegung: »der kürzeste Prozeß ist hier der beste – sprenge du nur selber das Schloß auf, einerlei wie und womit.«
Dem Befehl gehorsam, klemmte der Agent die starke Klinge seines Stiletts zwischen das Gefüge der Kassette und mit einem leisen Krach flog der Deckel zurück. Die nervöse Spannung des Kaisers war derartig, daß er sich nicht die Zeit ließ, die Papiere einzeln herauszunehmen; mit einem Ruck stülpte er die Kassette kurzweg um. Schriftstücke aller Art – vom dickleibigen Aktenfaszikel bis zur flüchtigen Bleistiftnotiz – bildeten den Inhalt. Ein Miniaturarchiv, dessen Veröffentlichung für den meineidigen Usurpator und seine Dynastie wohl furchtbarer gewesen wäre, als die Dolche und Dynamit bomben eines Attentats! Ließ ja schon die oberflächlichste Prüfung der Dokumente den Imperator die Überzeugung gewinnen, daß die Gräfin mit kritischem Scharfblick die Mappen und Repositorien Mornys durchstöbert und sich nach und nach eine Kollektion von Originalbelegen zusammenstibitzt hatte, die gerade die dunkelsten Punkte und geheimsten Minengänge des Staatsstreiches erbarmungslos beleuchtete!
Mit nervös zuckenden Fingern, wie Griscelli beobachten konnte, durchkramte Louis Napoleon die Papiere, von denen jedes einzelne genügt hätte, die europäische Presse wie einen Bienenkorb aufzurütteln. Ja, die noch so rechtzeitig erbeutete Kassette war eine Pandorabüchse, die – um Mornys Wort zu gebrauchen – einen unermeßlichen Skandal in sich schloß … So sehr hatte sich der Kaiser in die Durchsicht der Papiere vertieft, daß er den Eintritt Der Polizeipräfekt hatte das Recht, bei wichtigen und dringenden Angelegenheiten jederzeit unangemeldet vor dem Kaiser zu erscheinen. Pietris gar nicht zu hören schien. Erst als Griscelli sich diskret zurückzog, um seinem Vorgesetzten Platz zu machen, blickte, wie aus einem Traum erwachend, der Imperator um sich und begrüßte den Präfekten mit einem familiären Kopfnicken. Leisen Tones erstattete Pietri einen kurzen Rapport – dann trat Louis Napoleon hinter seinem Wandschirm hervor und näherte sich mit erstem zufriedenen Lächeln dem Grafen Lehon, der die für ihn ziemlich unerquickliche Pause damit ausgefüllt hatte, daß er ein ihm gegenüberhängendes Porträt mit einem Eifer, als solle er den Kaufpreis taxieren, bis auf den letzten Pinselstrich musterte. Respektvoll schnellte der junge Kavalier auf seine Beine, als der Landesvater sich ihm zuwandte. »Herr Graf«, lächelte der blutige Dezembermann und schüttelte kordial die Hand seines Gelegenheitsgastes, »rechnen Sie auf meinen Dank und empfehlen Sie mich einstweilen bestens Ihrer Frau Mutter.« Wohlgelaunt winkte er seine beiden Polizeischutzengel, die sich ehrerbietig in den Hintergrund verzogen hatten, zu sich heran.
»Lieber Pietri, Ich erwarte Sie morgen zum Dejeuner – – Sie, Griscelli, werden sich gleichfalls morgen früh um acht Uhr unten im Dienstzimmer einfinden.« Mit einem nochmaligen gnädigen Kopfnicken gegen das knixende Trio hin trat der Napoleonide zurück.
»Kommen Sie, Herr Graf!« flüsterte Pietri dem etwas perplexen jungen Mann zu und zupfte ihn sanft beim Rockflügel …
Wenige Minuten später bestiegen die drei das Coupé Pietris, das unten im Schloßhofe hielt. »Zu Duhem, Palais-Royal!« rief der Präfekt seinem Kutscher zu. Mit Kratzfüßen und Bücklingen geleitete Monsieur Duhem in eigener Person den gefürchteten Polizei-Generalissimus und dessen Tafelgenossen nach einem Cabinet à part. Ein exquisites Souper – Pietri bezahlte die Zeche – hielt in zwangloser Fidelität das durch den Zufall improvisierte Kleeblatt bis nach Mitternacht beisammen, dann brachte Griscelli den ziemlich »angesäuselten« Grafen bis vor seine Haustüre.
Auf den Glockenschlag der achten Morgenstunde stand der Korse befohlenermaßen im Dienstzimmer der Schloßpolizei und gleich darauf ward er auch schon zum Kaiser beschieden, der beim Eintritt des Agenten in anscheinend rosigster Laune mit seiner Gemahlin, der Frau Eugenie, plauderte. In leutseliger Weise von den beiden Majestäten empfangen, mußte Griscelli seine dramatischen Verhandlungen mit Mutter und Sohn ausführlich berichten. Jetzt, nachdem der drohende Sturm glücklich ausgewettert hatte, konnte das hohe Zuhörerpaar dem kritischen Kasus auch die komische Seite abgewinnen und der trockene Humor, womit der Agent seinen Bericht erstattete, setzte wiederholt die Lachmuskeln der Majestäten in Bewegung. Es erfüllte sich das Sprichwort: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
»Griscelli, ich bin zufrieden mit Ihnen,« sagte der Kaiser und winkte seinen Chargé d'affaires zu sich heran, um ihm ein zusammengefaltetes Papier in die Hand zu schieben. Das Couvert enthielt sechs Tausendfranks-Billets.
»Jetzt noch eine kleine Frage, lieber Griscelli,« wandte sich, halb scherzhaft, halb ernsthaft, die Spanierin an den Agenten: »Was hätten Sie eigentlich gemacht, wenn die Gräfin Lehon hartköpfig genug gewesen wäre. Ihnen die Herausgabe der Kassette rundweg zu verweigern?«
Die funkelnden Tigeraugen des Korsen schielten mit einem zögernden Ausdruck nach dem Kaiser hin.
»Ich denke, Madame, wir wollen ihm auf diese kleine Frage die Antwort schenken,« lächelte der Dezembermann und deutete mit einer kurzen Handbewegung seinem Spiritus familiaris an, daß er in Gnaden entlassen sei.
Pietri, der, wie wir uns erinnern, an jenem Abend bei der körperlich und seelisch gebrochenen Dame zurückgeblieben war, hatte keine große Mühe – um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen – »den verrückten Weiberkopf zurechtzusetzen«. Die gezähmte Widerspenstige strich die Flagge und kapitulierte à discretion.
Noch am gleichen Tage, wo Griscelli sein Honorar erhielt, löste der leicht aufatmende Imperator auch dem Grafen Lehon gegenüber sein Wort ein: er machte den jungen Mann zum Ritter der Ehrenlegion und verlieh ihm den wohldotierten, gemächlichen Posten eines Requetenmeisters. Requetenmeister (maître des requêtes) hieß bei den altfranzösischen Parlamenten – anfänglich bloß bei dem zu Paris – derjenige Ratsherr, welcher der für die Bittschriften und »Vorstellungen« (requêtes) bestimmten Abteilung vorgesetzt war. Wegen der besondern Vorrechte des Pariser Parlamentes, dem König Vorstellungen zu machen, war dieses Amt eines der bedeutendsten. Der Sturm der Revolution fegte den Requetenmeister hinweg, der erst im Jahr 1814 bei der Restauration der Bourbonen wieder auftauchte – als demonstratives Wahrzeichen des zurückgekehrten Patriarchenstaates. Auch das zweite Kaiserreich ließ sich nominell den Requetenmeister gefallen, um, wie dies das Beispiel des Grafen Lehon zeigt, mit diesem zur reinen Sinecure gewordenen Posten allerlei mehr oder minder fragwürdige Verdienste auf gute Manier zu belohnen. (Anmerk. d. Verl.)
Kurze Zeit darauf vermählte sich Morny zu Petersburg mit seiner fürstlichen Braut. Die Flitterwochen brachten den neugebackenen Ehemann mit seiner reizenden Gattin nach Paris und die allerersten Gratulanten, die sich im Hotel Morny einfanden, waren – – Madame de Lehon und ihr Herr Sohn. In Begleitung seiner jungen Gemahlin quittierte am folgenden Tag Morny diese zarte Aufmerksamkeit von Mutter und Sohn durch einen feierlichen Gegenbesuch. Der Kassetten-Affäre geschah mit keiner Silbe Erwähnung.
* * *
Wenden wir uns von dieser das zweite Kaiserreich und seine Moral charakterisierenden Episode wieder nach dem Ballsaal der Tuilerien. Mitten im Gewühl der geladenen Gäste sahen wir die lange, hagere Figur jenes geheimnisvollen Fremdlings auftauchen, dessen unerwartete Erscheinung auf den kaiserlichen Wirt so verstimmend einwirkte. Ebenso spurlos war gleich darauf der unheimliche Gast auch schon wieder verschwunden. Das flüchtige Intermezzo hatte sich aber nicht unbeachtet abgespielt: ein Dritter war mit scharfem Auge und ironischem Lächeln den Bewegungen Louis Napoleons gefolgt. Dieser stille Beobachter war der Herzog von Morny, zurzeit Präsident des Staatsrates …
Soeben hatten sich die Blicke der beiden Halbbrüder rasch gekreuzt. In sehr verschiedenem Ausdruck: beim Kaiser verbissener Grimm – beim Herzog dagegen kalter Spott. Morny behauptete den Kampfplatz, denn der andere gab zuerst seinem Blicke eine ausweichende Richtung. Mit einer leichten Handbewegung winkte er einen seiner Adjutanten herbei, dem er leise einen kurzen Auftrag erteilte. Salutierend trat der Offizier ab und lenkte seine Schritte nach dem Herzog von Morny hin, der mit seiner Lorgnette gemächlich den bunten Damenflor musterte, als hab' er das bedeutsame Augenspiel mit seinem kaiserlichen Bruder bereits vergessen. Ruhig nahm er die Botschaft des Adjutanten entgegen und beantwortete sie mit einem lakonischen Kopfnicken. Phlegmatisch erhob er sich von seinem Fauteuil – – flüchtig kreuzte sich nochmals sein scharfer Blick mit dem des Kaisers. Einen Moment später war der Herzog von Morny in dem Gewühl der Ballgäste verschwunden, lächelnd und grüßend nach allen Seiten hin.