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Berlin hat zwar weder die sehr schmutzigen Vgl. für das Folgende: Biarritz VI., VII. Band. aber manchmal ganz interessante Bilder gebenden Gäßchen und Durchgänge Hamburgs und Wiens, noch im allgemeinen die großen Häuserkomplexe der letzteren Stadt, die manchmal förmlich eine Stadt in der Stadt bilden, doch fehlt es in vielen der älteren Straßen keineswegs an solchen Kasernen des Verkehrs, die mit zwei selbst drei eng umbauten Höfen sich weithin erstrecken und die verschiedensten Etablissements, Läden und Werkstätten des Handwerks und der Industrie mit Privatwohnungen der verschiedensten Stände vereinigen.
In einem Hause in einer der älteren die Leipziger Straße mit dem südlichen Berlin verbindenden Straßen in der Nähe des Spittelmarktes befanden sich in den Parterreräumen außer zwei Läden und daranstoßenden kleinen Wohnungen nicht weniger als vier Restaurationslokale, vorn eine Weißbier-Stube an der einen Seite des breiten Hausganges, auf der anderen eine Wein-Restauration, die sich beide in den Hinterflügeln fortsetzten und von dem Querflügel mit einem Garten-Lokal abgeschlossen wurden. Von der schmalen Nebenstraße aus führte eine Treppe zu einer ziemlich großen und vielbesuchten Keller-Restauration, die auch nach dem Hofe und dem hinter dem Quergebäude liegenden Garten je einen Ausgang hatte.
Die eine Hälfte des ersten Stockwerks bewohnte Herr Meier Aaron Hirsch, ein Geschäftsfreund des Hof-Bankiers Cohn, und auf der andern Seite der Redakteur einer im Publikum vielgelesenen und an der Börse vielbenutzten Zeitung, Dr. jur. Heitel; im zweiten Stock ein Geheimer Rat und eine Zimmervermieterin, den dritten hatten kleine Leute inne, die beiden Läden an der Front ein Posamentierer und eine kleine Schnittwaren- und Tapisserie-Handlung.
Die Hofwohnungen waren von kleinen Handwerkern, Altkrämern und einzelnen Leuten besetzt, in den Kellerwohnungen hauste das Elend und die Not in der traurigsten Form.
Der große Eingang und Hof waren sehr belebt, es mußte in dem Bierlokal im Querhause vor dem Garten offenbar heute Abend noch ein anderer Magnet so viele Besucher anziehen, als die gewöhnliche Restauration, und zwar Besucher aus dem Arbeiterstande, Maurer, Zimmerleute, Gesellen der verschiedenen Handwerke, einige kleine Meister, die durchgängig ein verkommenes Äußere zeigten, Fabrikarbeiter, Handlanger, viele kräftige Männer mit von der Arbeit schwieligen und rauhen Händen, bärtige Gesichter mit ehrlichem aber oft finsterem, unheimlichen Ausdruck oder schweren Sorgen auf der gefurchten Stirn, viele andere vom Trunk gerötet, mit verwässerten Augen, nach schlechtem Tabak und Schnaps stinkendem Atem, dazwischen einige besser gekleidete Personen, die von Tisch zu Tisch gingen, mit dem und jenem aus dem Seidel tranken oder ihm die Hand schüttelten und sich »gemein« machten.
In dem niederen Saal – unter ihm war eine Schlosserwerkstätte, über ihm durch das ganze Gebäude hin eine Spinnerei, wo sich während des Tages viele hundert Spindeln drehten, die von einer großen Zahl junger Mädchen beaufsichtigt wurden – war alles voll dichtem Tabaksqualm, sodaß man die einzelnen Gruppen oft kaum zu Gesichte bekam.
Dennoch herrschte, trotz der lauten oft lärmenden Unterhaltung und der Aufregung kein wirklicher Skandal, und das Betragen der ganzen so gemischten Versammlung trug, wenn auch nicht den Stempel der Bildung, Ruhe und Ordnung, doch sicher auch nicht den der Gemeinheit, wie er so häufig unter den untersten Klassen der Bevölkerung Berlins zu finden ist, die freilich dann als die Hefe derselben zu bezeichnen ist.
Die unverkennbare Aufregung in der Gesellschaft wurde genährt durch das fortwährende Ab- und Zuströmen der einzelnen aus diesem Raum, der die eigentliche Restauration enthielt, in einen zweiten, zwei oder drei Stufen tiefer nach dem Garten hin gelegenen und von dem ersteren durch eine große Glastür geschiedenen Saal. Hier waren Stühle in Reihen und Bänke an den Wänden aufgestellt und immer ganz mit Zuhörern besetzt, deren noch eine große Zahl Schulter an Schulter gedrängt den leeren Raum füllte. Vor der vordersten Stuhlreihe an der hinteren Wand stand auf einem erhöhten, sonst für Sänger und Gaukler dienenden Podium eine Art Rednerbühne und ein Mann haranguierte von dort herab eben mit einer Ansprache das ziemlich aufmerksam zuhörende Publikum.
Eine Tür in der Seitenwand führte hinaus in den jetzt in winterlicher Öde liegenden Garten.
Man nannte diese Abendunterhaltungen, um sie dem Vereinsgesetz und der durch dieses verordneten Überwachung der Polizei zu entziehen »Freie Vorträge!« Die ganze Art dieser Lokale, deren Zahl nach Beseitigung der strengeren Kontrolle der Polizei damals rasch wieder wuchs, namentlich in gewissen Straßen und Stadtteilen, glich so ziemlich den Polkakneipen der Jahre Achtundvierzig und Neunundvierzig, und die Bedienung darin wurde wieder von »Schankmamsells« ausgeführt, nachdem zur Vorfeier der Gewerbefreiheit die Polizei die Beschränkung der »Biermamsells« wieder hatte aufheben müssen.
Für einen feinen Beobachter hätte das Publikum, das vor der Redner-Tribüne saß und stand, ein interessantes Bild abgegeben. Da saßen denkende, ernste Männer, die oft die Phrasen des exaltierten Redners mit Kopfschütteln begleiteten oder mißbilligende Bemerkungen machten, neben dem verlodderten Bummler, der jeder Phrase gegen das Eigentum zujubelte; Fanatiker, die von dem »Recht der Arbeit« phantasierten, aber von den Pflichten nichts wissen wollten, jugendliche Brauseköpfe, denen keine Schranken paßten, verbitterte neidische Gesichter, die voll Unzufriedenheit und Haß, leichtsinnige junge Burschen, ohne Kümmernis und Sorgen.
Der Mann auf der Tribüne hatte ein sehr rotes Gesicht und ein gewaltiges Maulwerk. Er hatte einen ganz guten Rock an, aber er geberdete sich, als stecke er in Lumpen und müßte Jahr aus, Jahr ein Hunger und Durst leiden.
»Brüder Arbeiter«, schrie er mit etwas heiserer Stimme, »aus dem freien England kommt uns das glorreiche Beispiel, wie wir mit diesen Geldsäcken, den faulen Bourgeois umspringen sollen! Was ist ein Fabrikherr? Ein Vampyr, der sich vom Schweiß und Blut der Arbeiter mästet und in seinen Wollüsten sich wälzt. Was ist der Staat? Der Staat ist ein Institut, damit die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer werden! Es ist Zeit, daß die Sache anders wird! Der Stahl hat den Dickköpfen im Herrenhause gesagt: Die Wissenschaft muß umkehren! Ich aber sage Euch, Brüder Arbeiter, die ganze Welt muß umkehren! Was soll uns eine solche Vertretung, wo das wahre und einzige Volk nicht vertreten ist. Habt Ihr sozialdemokratische Abgeordnete drin? Keinen einzigen! Der Schulze-Delitzsch will, daß wir sparen sollen. Ja wenn wir was zu sparen hätten, dann brauchten wir keine Sparkassen. Der Staat hat die Pflicht, für jeden von uns so viel einzulegen, daß er, wenn er nicht mehr arbeiten kann, von den Zinsen leben und des Abends seine Bairische trinken kann! Für was zahlen wir Steuern! Die Arbeiter ernähren die Gesellschaft, ich beantrage, daß die Arbeiter keine Steuern mehr zu bezahlen brauchen!«
Ein donnerndes Bravo begleitete dies Verlangen.
»Wie kommen wir alle auf die Welt? Nackt! Bringen wir ein Rittergut, oder ein Haus oder einen Geldbeutel mit auf die Welt? Es sind also alle Menschen gleich von Natur und haben gleiche Ansprüche. Weshalb hat also der eine viel und der andere nichts? Weshalb soll sich der eine schinden und plagen und der andere faullenzen? Weshalb soll der eine Champagner saufen und der andere Spreewasser trinken, während uns doch der Durst angeboren, also eine ganz natürliche Sache ist!« Der Redner klappte mit dem leeren Seidel auf das Pult und rief nach der Mamsell.
»Am Durst hat's dem da noch nie gefehlt!« sagte ein älterer Arbeiter mit gutmütigem Gesicht zu seinem Nachbar, einem jungen Mann von intelligentem Aussehen. »Ich weiß noch, wie er einen Schusterkeller in unserer Straße hatte, aber selten an der Arbeit, desto häufiger im Bums zu finden war, und wenn er betrunken nach Hause kam, Frau und Kinder prügelte, bis das Geschäft verloddert war, und der Hauswirt ihn an die Luft setzte. Seitdem ist er Redner im sozialdemokratischen Klub geworden, und wenn ich gewußt hätte, daß der hier uns belehren will über die Rechte der Arbeiter, wäre ich wahrhaftig nicht hergekommen.«
»Beruhigen Sie sich! Subjekte wie der Schuster Armbusen sind zwar eine Schande für unsere ehrliche Sache, aber man muß den Unsinn mit in den Kauf nehmen.«
Der Redner hatte unterdeß seinen Durst gelöscht und sprach weiter.
»Und weil wir also gleich auf die Welt gekommen sind, deshalb soll auch keiner ein Vorrecht vor dem andern haben, und alles muß gleich geteilt sein. Ich frage Euch, Brüder Arbeiter, ist das der Fall? Wenn ich heute zu Bleichrödern oder Reichenheim gehe und sage: Männeken, rücken Sie mal raus, ick brauche zehn Schweden, denn Sie haben meinen Anteil in Ihrem Geldsack – er würde mir …«
»Rausschmeißen!« sagte eine tiefe Bierstimme aus dem Hintergrunde, begleitet von brüllendem Gelächter der ganzen Versammlung.
»Ich glaube selber, wenn ick es so weit kommen ließe! Was, frage ich Euch, Brüder Arbeiter, haben diese Geldsäcke im Landtag bis jetzt vor uns getan, da wir sie doch gewählt haben. Ich frage Euch, welcher ist der zahlreichste Stand im ganzen Lande? Der Arbeiterstand. Wer muß also die Gesetze machen? Die Arbeiter. Warum geschieht das nicht? Weil wir so dumm sind und uns übers Ohr hauen lassen! Das muß anders werden. Was haben sie uns alles versprochen! Freiheit und Gleichheit und keene Soldaten mehr! Vor was zahlen wir ihnen die schweren Diäten? Donnerwetter, wenn ick alle Tage drei Taler vor's Reden kriegte, ick wollte ihnen was anders vorerzählen, als Virchown und Unruhen! Aber das kommt davon, weil sie keenen ordentlichen Präsidenten haben, der Grabow versteht's nich! – Ich beantrage Abschaffung der Schutzleute und keene Polizei nich! Ich versetze das ganze Ministerium in Anklagestand und verlange, daß die Pfaffen abgeschafft werden, die nur das unglückliche Volk verdummen, und daß Montag kein Mensch zu arbeiten braucht, damit wir eenen Tag frei haben, um über unsere unglückliche Lage nachdenken zu können. Der blaue Montag muß jesetzlich werden!«
»Der Kerl ist offenbar schon wieder betrunken gewesen, ehe er hierher gekommen ist!« sagte der junge Arbeiter mit dem intelligenten Gesicht. »Der Sache muß ein Ende gemacht werden, wenn der ganze Abend nicht wieder ohne Resultat verlaufen soll!« Er hob die Hand in die Höhe. »Ich bitte um's Wort!« sagte er mit schallender Stimme.
»Wa – was?« schrie unter Schlucken der Redner auf der Tribüne. »Hier hat niemand zu reden außer mich, denn ich bin der Präsident, und ich bin noch lange nich fertig!«
Der junge Mann zog die Uhr. »Ich denke, der Vorredner hat lange genug gesprochen, und in einer Versammlung freier Arbeiter hat jeder das Recht, seine Meinung zu sagen. Ich bin der Zigarrenarbeiter Frisch, und ich frage die geehrte Versammlung, ob sie mir das Wort gibt, nachdem sie dem Herrn Vorredner noch fünf Minuten gestattet hat, seine Anträge zu stellen!«
»Wir wollen Frisch hören!« schrie die Mehrzahl.
»Es ist nicht recht von Sie, mir zu unterbrechen, wenn ich im besten Zuge bin,« schluckte der Schuster. »Er ist en Aristokrat, denn er hat eene Uhr, wovon Sie sich alle überzogen haben werden aus Augenschein, und ich habe keene, die meinigte ist bei Onkeln in der Jägerstraße. Aber um mir kurz zu fassen, und weil mich dat Reden die Kehle trocken gemacht hat: ick beantrage, daß die Hauswirte keene Miete fordern dürfen, und daß der Mieter dasselbige Recht hat, wie sie! Nummer Zwei: ick beantrage, daß Heydten verpflichtet is, jeden Sonnabend die Pfänder ins Leihhaus auszulösen, damit der Arbeiter des Sonntags vor's Tor spazieren gehen kann, um frische Luft zu schöpfen. Minna, en frisches!«
Ein paar gute Freunde holten den geistreichen Volksredner unter dem Gelächter der Versammlung von der Redner-Tribüne und setzten ihn in einen Winkel, wo er sogleich einschlief.
Der Zigarrenarbeiter hatte alsbald die Tribüne bestiegen, und schon seine ersten Worte zeigten, daß man es hier mit einer anderen Agitationskraft zu tun hatte, als bei dem wüsten Trunkenbold.
»Kameraden! Männer der Arbeit und der Entbehrung,« begann er mit frischer, wohllautender Stimme. »Der Vorredner hat gewiß seine Verdienste um die Sache unserer heiligen Rechte, aber er hat seine Ideen nicht genügend klar gelegt, und ich will versuchen, das nachzuholen, was er im Übermaß seines Grolls über die Unterdrückung unseres Standes etwa zu sagen versäumt hat. Es ist klar, daß die Menschen gleich geboren sind und das Recht ihrer Existenz aus ihrer Arbeit begründet ist. Wer nicht arbeitet, hat nicht das Recht zu existieren. Schon damit ist der Privatbesitz, das Kapital verurteilt. Wer Kapital, das heißt also, die Mittel besitzt, die ihm gestatten, nicht selbst zu arbeiten, ist ein geborener Feind der Arbeitspflicht. Seit die bürgerliche Gesellschaft besteht, hat ein Kampf des Kapitals, das ist der Macht, Andere für sich arbeiten zu lassen, und des Proletariats, das ist der Kraft und des Willens, zu arbeiten, stattgefunden, und nur durch unsere staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen ist es möglich geworden, diesen Kampf immer zu Gunsten des Kapitals zu entscheiden, sei es durch die von den Reichen und Besitzenden gegebenen Gesetze, sei es durch die brutale Macht der Soldateska. Das Ideal und das allein richtige Prinzip der Gesellschaft ist die unbedingte Gleichheit in Pflichten und Rechten. Diese Gleichheit existiert gegenwärtig nicht, deshalb muß sie auf eine oder die andere Weise hergestellt, das heißt also, was sie verhindert, was ihr entgegen steht, muß beseitigt werden. Dies Hindernis ist der Staat mit seiner Klassengliederung, deshalb muß zunächst der Staat in seiner jetzigen Form reformiert werden. Hierzu ist das unbedingte und direkte Wahlrecht nötig. So allein können wir es erreichen, daß die Gesetzgebung, die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, in die Hände derer gelegt wird, die durch ihre weit überwiegende Majorität dazu berechtigt sind: in die Hände der Arbeiter.«
»Sehr richtig! – Allgemeines Wahlrecht!«
»Aus der Übung dieses allgemeinen Wahlrechts,« fuhr der Redner fort, »muß dann Folgendes hervorgehen: Ein freier Volksstaat! Direkte Gesetzgebung allein durch das Volk! Volkswehr an Stelle der stehenden Heere! Öffentliche Arbeits-Werkstätten! – Abschaffung aller Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze, überhaupt aller Ausnahme-Gesetze! – Rechtsprechung durch das Volk mit unentgeltlicher Rechtspflege! – Gleiche Volkserziehung und unentgeltlicher Unterricht!«
Jeder dieser Sätze wurde von einem stürmischen Beifall der ganzen Versammlung begleitet, der auch den Schuster aus seinem Halbschlummer wieder aufweckte. »Ich habs gleich gesagt,« murmelte er: »Et muß Allens verrungeniert werden! Die Pfaffen und die Ehe ist abjeschafft, damit uns die Weiber nich mehr kujenieren! Et muß Allens geteilt werden!«
Sein Kopf sank wieder auf die Schulter des Nachbarn – alle Bequemlichkeiten des Lebens waren ja Gemeingut!
»Dies sind die Ziele, Brüder, Arbeiter,« fuhr der Redner fort, »die wir anzustreben haben. Um sie zu erreichen, müssen die Güter dieser Erde Allen gemeinsam sein, die Knechtung der Arbeit durch das Kapital muß aufhören, der Besitzende darf keine Herrschaft über den Nichtbesitzenden üben!«
»Bravo!«
»Zu diesem Ende müssen wir uns darüber klar machen: wer ist der Vorsitzende? – Es gibt zweierlei Arten von Besitz – den immobilen, also den Grundbesitz, und den mobilen, also das Kapital.«
»Teilung! Teilung!« erscholl es aus der dichtgedrängten Menge am Eingang der Restauration. Ein bekannter Journalist, der dort eingekeilt stand, hielt plötzlich das Tuch an den Mund, als habe er Nasenbluten, und bat die Nächststehenden, ihm Platz zu machen, um sich entfernen zu können. Der Journalist war ein hübscher, noch junger Mann mit schwarzen klugen Augen und sein Aussehen hatte durchaus nichts Jüdisches. Er ging rasch durch das Restaurationszimmer über den Hof und trat in das Weinlokal, wo er einen Kellner winkte.
»Kennen Sie Herrn Doktor Lassalle?«
»Werd' ich nicht! Versteht sich, er sitzt drinnen bei den Herren von der Kammer, aber das Zimmer ist privée!«
»Bitte, lassen Sie ihn einen Moment heraus rufen. Er hat mich dazu beauftragt.«
»Das ist etwas Anderes, die Herren lassen sich sonst nicht gerne stören!« Der Kellner verschwand, und bald darauf trat der Gerufene herein.
Es ist charakteristisch für die sehr aristokratischen und eitlen Gelüste dieses so viel genannten, in der Entwickelung der Arbeiterverhältnisse und im sozialen Leben dieser Epoche eine so bedeutende Rolle spielenden Mannes, daß er aus einer kleinen jüdischen Familie Namens Lassel oder Lasel in Breslau stammt, die es für gut fand, ihren Namen in Lassalle umzuwandeln, ein Name, der einer vornehmen baierschen und rheinischen Adelsfamilie gehört, die viele tapfere und ausgezeichnete Krieger zu Mitgliedern gezählt hat.
Ferdinand Lassalle war einer jener spekulativen Denker, wie sie das Judentum so oft schon gezeitigt hat. Wenn Spinoza der Philosoph der moralischen Berechtigung und Baruch Straußberg der Philosoph des Kredits genannt werden mag, so verdient Lassalle ein Philosoph des Materialismus zu heißen!
Ob Lassalle wirklich ein Herz für die Not des Arbeiterstandes und den aufrichtigen, ehrlichen Wunsch gehabt hat, dem Arbeiter um seiner selbst willen zu besseren Zuständen zu helfen, oder ob er die Not, den Fluch der Arbeit bloß als die beste Gelegenheit für Befriedigung seiner ehrgeizigen Eitelkeit erkannt und benutzt hat – das zu prüfen, wäre wirklich der Mühe wert.
Jede Agitation für die heiligen Rechte der Menschheit muß auf einem moralischen Boden stehen, der Agitator muß ein Mann nicht bloß von Befähigung und Mut, sondern auch von Selbstlosigkeit und moralischem Halt sein, wenn sein Wirken wahre Achtung verdienen soll! Der heilige Crispin, der Leder stahl, bleibt nichts desto weniger ein Spitzbube, auch wenn er davon Schuhe für die Armen machte, und ein Sybarit ist ein schlimmer Apostel der Arbeit und Enthaltsamkeit.
Ein solcher Sybarit war Lassalle, durch und durch voll luxuriöser Gewohnheiten und kostspieliger Bedürfnisse.
Die Begeisterung für hohe Zwecke geht fast immer aus der Jugend hervor, die warmherzig fühlt und die Fähigkeit hat, sich dafür aufzuopfern, spätere Ziele sind meist die Folge der Berechnung. Es findet sich nirgends die Spur eines solchen idealen Zugs in dem Leben Lassalles, eine frische jugendkräftige Begeisterung für die Aufgabe, das Los der arbeitenden Klassen zu erleichtern, es ist alles Raffinement und Spekulation! Es ist unzweifelhaft, daß ein so scharfer Geist, wie der Lassalles in jeder Sphäre etwas Hervorragendes geleistet haben würde, als Kaufmann, Jurist, Mediziner, Schauspieler usw., aber er hat eigentlich kein wirkliches Fachstudium betrieben. Als ein auszeichnungs- und genußsüchtiger Abenteurer hat er sich in das hochgehende Getriebe der Gesellschaft geworfen, und als durch Eitelkeit und Leidenschaft in seinen angeblichen Grundsätzen bankerotter Abenteurer ist er aus der Gesellschaft und dem Leben geschieden.
Die zufällige Bekanntschaft mit einem jener traurigen Auswüchse des vornehmen Lebens entwickelte alle schlimmen Seiten seines Charakters und seines Talents; statt in seiner Jugend einer tüchtigen Vorbereitung zu einer glänzenden und realen Karriere sich zu widmen, wurde er der Louis einer vornehmen Dame und ihrer Spekulation auf den Skandal. In dieser Knappenschaft ging ihm natürlich jedes Gefühl für Moral, Ehre und Gewissen verloren.
Wir haben – wie in den Messalinen des Altertums leider noch in der neuesten Zeit so manche Frauengestalten auftauchen sehen, die eben selbst mit Allem, was sonst dem Weibe am Heiligsten sein muß, auf den Skandal und das Aufsehen spekulieren, und selbst jetzt noch eine Rolle in der hohen Gesellschaft spielen. Wir brauchen nicht auf Italien oder Paris zurückzugreifen, oder auf Berliner Skandalprozesse für verweigerte Zuführungs-Honorare, auch die sonst wegen ihrer häuslichen Tugenden hoch belobte deutsche Frauenwelt hat solche Emanzipationen aufzuweisen! Wir erinnern nur an die neuesten Memoiren, welche die Wiener Polizei nicht zu unterdrücken vermochte. Die Sucht, Aufsehen zu erregen und bemerkt zu werden, gehört sogar zu den Krankheiten der Zeit! –
Vielen unserer Leser wird der Skandal des sogenannten Chatoullenprozesses, der in den Vierziger Jahren vor den Kölner Assisen verhandelt wurde und der seit langer Zeit zum ersten Male wieder einen schneidenden Einblick in die früher von der Zensur so sorgsam verhüllte Fäulnis vornehmer Gesellschaft tun ließ, noch erinnerlich sein – für die neuere Generation wird eine kurze Skizzierung genügen. Die Tochter eines vornehmen Hauses, damals ein junges, schuldloses Mädchen, war gezwungen worden, aus Familien-Interessen einen alten invaliden Roué zu heiraten. Das Herz der jungen Frau begann sich rasch zu regen, wie es ja so häufig passiert, sich aber meist auch in seinen Verirrungen gegen die Sitte und die Schranken der Gesellschaft unbeachtet austobt. Aber hier war es eine energische blutvolle Natur, die im Genießen so zum Dämonischen anschwoll, namentlich zum dämonischen Haß gegen den trotz der Invalidität noch immer den Roué Spielenden, daß sie gegen diesen ein förmliches Verfolgungssystem entrierte und zu dem Ende den in Berlin flanierenden Lassalle nebst zwei anderen jungen Bummlern als Leibknappen engagierte. Das vierblättrige Kleeblatt reist einer russischen Baronin nach, um ihr angeblich Liebesbriefe der alten Salondame abzujagen, die man als Beweise bei der eingeleiteten Scheidungsklage brauchen wollte, um den reichen Gatten als schuldigen Teil erklären und zu einem sehr bedeutenden Schadenersatz verurteilen zu lassen. Von den beiden Akoluthen wurde in der Tat auf dem Kölner Bahnhof der reisenden Dame eine Kassette gestohlen, die aber mehr Schmucksachen als Papiere enthielt, sie wurden beide vor die Assisen gestellt und beide aus geachteten Familien stammende junge Männer durch ihre Verurteilung wegen Diebstahls der bürgerlichen Gesellschaft entzogen, während Lassalle frei ausging, obschon Jedermann wußte, daß er an Ort und Stelle die ganze Sache geleitet. Aber er hatte so schlau operiert und benahm sich bei der Assisen-Verhandlung so raffiniert, daß der Staatsanwalt ihm nichts anzuhaben vermochte. Auch in dem späteren, an wirklichen Schandmanövers überreichen Fortgang des Scheidungsprozesses agierte er so keck und geschickt, daß offenbare Verbrechen ungestraft bleiben mußten. Unterdeß war das Jahr Achtundvierzig mit seinen auch am Rhein hochgehenden Wogen gekommen, und Herrin und Knappe, oder vielmehr Knappe und Herrin versuchten, sich in die Wogen zu werfen, wo das Wasser am schmutzigsten war. Man erinnert sich, daß die Cohorte Lassalles in Düsseldorf König Friedrich Wilhelm IV., als er mit dem hohen Residenten der Rheinprovinz vom Bahnhof zur prinzlichen Residenz fuhr, mit Straßenschmutz bewarf – worauf Prinz Friedrich, der königliche Kavalier, dem geliebten langjährigen Rheinsitz den Rücken kehrte. Einige weitere Versuche, in Demokratie und Revolution zu machen, fanden darin ihre Beendigung, daß der Polizeirat Goldheim aus Berlin eine Haussuchung hielt und ein energischer Polizeibeamter den Volksagitator einsteckte und die vornehme Amazone, die ihn mit der Pistole verteidigen wollte, mittels einer kräftigen Ohrfeige in den Winkel warf. Es war damals grade neben den vielen aufgetauchten Berühmtheiten eben kein Aufkommen und der Agitator zog es vor, eine Reise nach dem Orient zu machen und sich einstweilen philosophischen Forschungen zuzuwenden. Ihr Ergebnis, sein Werk über Heraklit, verschaffte ihm zwar das Lob Bökh's und den Schutz Humboldt's, machte aber nicht jenes Aufsehen, das sein Ehrgeiz erstrebte.
Was lag ihm näher, als die Frage: Auf welchem Wege ist rasch politische Karriere zu machen?, da sein Redeüberfluß und seine Neigungen ihn hinderten, dies im parlamentischen Felde zu erreichen, und seine Nationalität und seine Vergangenheit ihm wenig Aussicht auf das Minister-Portefeuille boten.
Ebenso nahe lag die Antwort: durch Aneignung der großen sozialen Frage der Arbeit! Jene früheren Verbindungen mit den Arbeitern der untersten Klasse in Düsseldorf leiteten ihn noch leichter dazu, sein Raffinement und seine Spekulation zeigte ihm, welche Macht einem klugen Kopf mit diesem Thema gegeben werden konnte. Die soziale Bewegung war leichter und versprach größeren Erfolg als ein Anschluß an den Nationalverein und politisch revolutionäre Agitation.
Die ehrgeizige Spekulation allein trieb ihn auf diesen Weg, nicht das Herz für die arbeitende Klasse oder die innere Aufgabe der Lösung einer humanen Frage; deshalb sein Haß gegen Alle, die sich nicht blindlings ihm unterordnen wollten. Sein Egoismus hätte ohne Bedenken tausende von Menschenleben geopfert, aber sicher nicht einen seiner sybaritischen Abende in Berlin für die Errettung einer armen heruntergekommenen Arbeiterfamilie. Leidenschaftlicher Spieler, Schwelger und Wollüstling, Demokrat in Glacéhandschuhen so lange es ihm paßte, von maßloser Eitelkeit suchte er seinen Umgang in weit unter ihm stehenden Persönlichkeiten, die ihm grobe Schmeicheleien sagten und blindlings an ihn glaubten; aber er vermochte nicht eine Badesaison der Agitation für die »Sozial-Demokratie« zu opfern. Der reiche, vorher verklausulierte Anteil an der endlich erzwungenen Scheidungs-Abfindung der vornehmen Dame, der in Berlin ausbezahlt wurde, gab ihm die Mittel eines üppigen Lebens.
Lassalle, am 11. April 1825 geboren – war bereits 36 Jahr und eine eigentümliche Erscheinung. Es läßt sich nicht leugnen, daß etwas Aristokratisches, Pikantes darin war, obschon Profil und Kopf etwas Widderartiges hatten. Ein blutloser blasser Teint, große Augen und ein dichter negerartiger Haarwuchs erhöhten die Eigentümlichkeit, die sinnliche Bildung des Mundes erinnerte allein an seine Abstammung. Sein gewöhnlich mattes, kaltherziges Auge belebte sich nur, wenn er in Zorn geriet, der leicht bis zur Leidenschaft gedeihen konnte, namentlich wenn seine Eitelkeit oder seine Anmaßung verletzt wurden. Im gesellschaftlichen Leben zeigte er gewöhnlich eine kalte persifflierende Ironie, die sein scharfer Geist leicht bis zum giftigen Hohn zu steigern wußte.
»Ah – sieh da! Ist es Zeit?« fragte Lassalle den Journalisten, der ihn hatte herausrufen lassen.
»Die höchste! Der Tölpel Armbusen hat gesprochen, natürlich wieder betrunken. Nach ihm aber hat der Zigarrenarbeiter Frisch das Wort genommen, und es ist ihm Talent und Rednergabe nicht abzusprechen. Aber er ist im besten Zug, uns anzugreifen und gegen uns zu hetzen. Es ist Zeit, daß Sie die Leitung der dummen Menge übernehmen und ihr einen andern Köder vorwerfen, als das Börsen-Kapital.«
Der künftige ›Arbeiter-Apostel‹, der heute mit einer Rede einen seiner ersten Versuche machen wollte, in Berlin festen Fuß zu fassen, hatte Hut und Paletot genommen, und den berühmten Stock Robespierres erfaßt, mit dem er gar zu gern kokettierte, das Geschenk eines Berliner demokratisch gewordenen Professors.
»So lassen Sie uns eilen! Ich habe eben genug unsinnige Weisheit verdauen müssen über die italienische Frage und große Lust, eine Broschüre über den Unsinn zu schreiben. Ich werde mich kurz fassen, denn wir haben heute noch ›neapolitanische Nacht‹ zu Ehren der Ankunft der Gräfin. Sie kommen doch auch? Die kleine pikante Rahel wird dabei sein und Ludmilla.«
»Den Henker auch! Ich habe noch Kopfschmerzen von Ihrem verdammten Opium oder was das Zeug sonst ist, das Sie uns in den Nargilehs rauchen ließen und das Narren oder noch Schlimmeres aus uns machte, nachdem wir unser Geld gegen Zündhölzchen verloren hatten.«
»Bestien, lieber Freund! Bestien! Ich sage Ihnen, es ist einer der pikantesten Genüsse, die es gibt, einmal die wahre Natur an unseren Freunden und Freundinnen zum Vorschein kommen und die Tünche von der ursprünglichen Bestialität abfallen zu sehen, die bei uns allen mehr oder minder den wahren Kern bildet. Sie müssen es einmal machen wie ich, und so eine kleine Orgie nüchtern, wie aus der Vogelperspektive, ansehen. Ich wünschte, man könnte es einmal im Großen probieren, so etwa wie der alte Graf von Syrakus bei seinem Ball, auf dem er die Gäste mit Zuckerwerk aus Diavolinas Diavolina, ein Aphrodisiakon. fütterte.«
»Ja, aber er mußte darauf eiligst Neapel räumen, um den Degen oder den Dolchstößen der Ehemänner zu entgehen!«
»Bah! das ist bei uns nicht zu befürchten.«
»Ja, aber Sie haben auch keine Lust und Zeit, Berlin für ein solches Privat-Vergnügen zu räumen, da Sie sich prinzipiell nicht duellieren.«
»Das Duell ist eine Dummheit! Sonst wird Jeder seinen Mann an mir finden, dessen seien Sie sicher! Wie kommen Sie darauf?«
»Ich meinte nur so. Nehmen Sie sich vor dem Intendantur-Assessor in Acht!«
»Was? setzt Borrmann seine Besuche noch fort, selbst nach der Lektion von neulich?«
»Sie haben ihn allerdings in einer Weise lächerlich gemacht, daß ihm nichts übrig bleibt, als …«
»Was?«
»Sie zu fordern oder keinen Fuß mehr ins Haus zu setzen.«
»Das ist seine Sache, ich werde das alberne Kartell abweisen. Aber nun kommen Sie, Kleiner, wir dürfen diesen Delitzschianern und Radikal-Pionieren nicht zu lange das Feld lassen. Von wem werden Sie mich vorstellen lassen?«
Der Journalist nannte ein Paar Namen, die damals in den ›Arbeiter-Vereinen‹ aufzutauchen begannen.
»Gut! – Einverstanden!«
Sie traten durch die Gartentür in den hinteren Saal. Das Gedränge dort war jetzt so groß, der Tabaksrauch so stark, daß ihr Eintritt im Anfang fast unbemerkt blieb und der Journalist vollkommen Zeit gewann, sich seine Leute herauszusuchen.
Der junge Zigarrenmacher behauptete noch immer die Redner-Tribüne.
»Unser gefährlichster Feind also, Brüder, Arbeiter,« fuhr er fort, »bleibt immer, solange die gegenwärtigen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, das mobile Kapital, der Geldbesitz! Der Grundbesitz ist durch die Hypotheken fast durchgängig schwer verschuldet, und wir müssen doch leben und wohnen. Das Geld, das mobile Kapital ist es, was die Tyrannei übt, was die Arbeit des Einzelnen unterdrückt und entwertet, aber ebenso die Arbeit der Masse. Aller Gewinn fließt in den Beutel des Fabrikherrn, also des Geldbesitzers. Wir sind und bleiben ihre Hunde, ihre Knechte! Welches Anrecht haben sie, als höchstens eine billige Verzinsung des Kapitals? Was drüber ist, ist unser Schweiß und Blut, es gehört uns! Die Börsenleute und Hypothekenbesitzer fahren in glänzenden Equipagen, während wir oft nicht eine Sohle unter unseren Schuhen haben! Warum sollen sie Kaviar und Austern essen und Champagner trinken, während wir bei zwölf- und mehrstündiger Arbeit oft kaum das Brot für Frau und Kind erwerben? Mit welchem größerem Recht schlafen sie auf Daunen-Pfühlen und stecken ihre Weiber und Kinder in Sammet und Seide, während wir das notdürftigste Dach über unserem Haupt mit schwerer Miete bezahlen und noch alle Augenblicke riskieren müssen, an die Luft gesetzt zu werden! Unsere Frauen, unsere Kinder gehören dem Fabrikherrn, der durch lange und schwere Tagesarbeit unsere Körper entnervt. Wer setzt den Lohn fest? Der Fabrikherr, der Kapitalbesitzer!«
»Darum, Brüder, Arbeiter, ist es vor allem notwendig, das eherne Lohngesetz zu brechen und das Monopol der Kapitalistenklasse auf die Mittel der Arbeit. Diese Mittel zur Arbeit müssen das Gemeingut der bürgerlichen Gemeinschaft werden, also Aufhebung jedes Privatbesitzes! und weil eine solche Abschaffung sich nur auf einem Wege herstellen läßt, müssen wir einen Staat mit vollkommener Gleichheit Aller erstreben, den freien Volksstaat!«
Die Begeisterung des Redners, so unklar und vag auch seine Ideen waren, hatte in den einzelnen Sätzen auch die ungeschulten Sympathieen der Hörer erregt, und stürmischer Beifall die Kraftstellen begleitet. Als der junge Agitator jetzt, sich den Schweiß von der Stirn trocknend, die Tribüne verließ, streckten sich ihm viele Hände entgegen, selbst die älterer Männer.
Der gelehrtere Agitator sah, welch schweren Stand er diesem Erfolge gegenüber haben werde.
Aber Lassalle war keineswegs der Mann, der sich von solchen Dingen einschüchtern ließ, und, obschon ihn die Wenigsten der hier Versammelten kannten, hatten doch einige gute Freunde so vorgearbeitet und den gelehrten Doktor als einen Freund und Märtyrer des Arbeiterstandes vom Rhein her darzustellen gewußt, daß er, als er jetzt der sehr primitiven Versammlung vorgestellt war, mit Akklamationen begrüßt und aufgefordert wurde, eine ›Rede zu halten‹.
Sich um eine solche bitten zu lassen, ist niemals Sache des Agitators gewesen, ja, dieser ihm zu Gebote stehende Redestrom ist später häufig die Ursache geworden, daß seine Erfolge zweifelhaft wurden und man eine förmliche Furcht bekam, wenn er Miene machte, die Rednertribüne zu besteigen. Im Anfang war das freilich noch anders, der Arbeiter horchte mit einer gewissen Ehrerbietung und ohne Prüfung auf die Orakelsprüche einer so hoch über ihm stehenden gelehrten Größe und war stolz darauf, eine solche sich mit seinem Lose beschäftigen zu sehen.
Der Redner wußte sehr wohl, wie er den niederen Mann zu behandeln hatte und, indem er zum Eingang mit seiner scharfen Stimme und in anregenden Worten seine Sympathieen für das Volk, die große Masse der Besitzlosen, beteuerte, als deren Vertreter er am Rhein seine Gefängnisstrafe erlitten haben wollte, schilderte er gleich den anderen zunächst die Unterdrückung des Arbeiterstandes, sowohl in der Industrie wie im Ackerbau, hütete sich aber, das Recht am Privateigentum anzugreifen, und betonte vor Allem nur das Recht am Verdienst. »Der Erwerb,« sagte er, »darf nicht von dem Willen eines Einzelnen durch das eherne Lohngesetz abhängen, das eben ist die Ausbeutung der Arbeit. Fällt also das Recht der Lohnbestimmung durch den Einzelnen in seinem Interesse weg, so ist der Druck gehoben. Nicht das Kapital an und für sich ist schuld daran, denn es liegt auf der Hand, daß zu jeder Produktion Kapital gehört, sei es in Grund und Boden, in Gebäuden, in Maschinen und Werkzeugen oder in barem Gelde zur Anschaffung der Materialien und zur Regelung der Absatzquellen. So lange wir also keine soziale Republik haben können, in der das Eigentum überhaupt Gesamtgut Aller ist, müssen wir wenigstens dafür sorgen, daß das notwendige Kapital den Erwerb des Einzelnen nicht schmälern darf. Wie aber wird eine lohnende Arbeit erzielt? Einzig durch das Zusammenwirken Vieler in einer bestimmten Richtung! Deshalb empfehle ich mein System der Produktiv-Genossenschaften! Die Arbeiter mögen je nach ihrer Befähigung und ihren Wünschen zu Genossenschaften sich verbinden, die eine bestimmte Fabrikation, eine bestimmte Arbeit betreiben. Das Kapital, das heißt die Mittel zu dieser Fabrikation, sei es in Geld, sei es in Grund und Boden muß die Gesamtheit, das heißt, der Staat herleihen, bis es der Genossenschaft gelungen ist, sie sich selbst zu erwerben. Die Produktion wird also unter dem Eigentumsrecht aller Genossenschaftsglieder betrieben, und jedes derselben hat das Recht am Ergebnis. Dieser Anteil muß an die Stelle des bisherigen Lohnes treten. Dann ist der Arbeiter nicht mehr der geknechtete Sklave des Kapitals, sondern sein gleichberechtigter Associé. Den Anteil bestimmt die Genossenschaft selbst. In diesem Anteil am Verdienst, das heißt am Ergebnis, erwirbt der Arbeiter ein Eigentumsrecht auch an dem Kapital, am Grund und Boden, an den Maschinen, und so muß sich die soziale Revolution des Eigentums ohne Gewalt vollziehen.
Aber es ist nötig, zu dem Sieg dieser Prinzipien die Arbeiter, also die allein zu Entscheidungen berechtigte Majorität des Volkes, zu vereinigen, damit sie ihre Kraft kennen und ausüben lernt, zunächst durch Erwerbung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts. Die Arbeiter bilden, wie gesagt, die Majorität, mit Ausübung des direkten Wahlrechts werden sie also nur solche Männer in die Gesetzgebung wählen können, die ihre Interessen, ihre Ansichten vertreten, und deshalb werde ich, sobald es an der Zeit 1883 wurde dieser Verein in der Tat gegründet., die Gründung eines ›Allgemeinen deutschen Arbeiter-Vereins‹ ins Werk setzen. Was nützen die Sparkassen und Konsumvereine des Herrn Schulze, wenn der Arbeiter nichts zu sparen hat und nicht die Mittel, zu konsumieren! Das System der Produktions-Genossenschaften, also ein gleiches Recht an dem Ergebnis der Arbeit, muß dem Arbeiter erst diese Mittel schaffen.«
Der Redner verlor sich hierauf mit der ihm eigenen Weitschweifigkeit und Unklarheit in das Gebiet der Politik. Hat doch seine Broschüre: ›Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens, eine Stimme aus der Demokratie‹ bewiesen, wie partikularistisch er selbst eigentlich dachte und wie er von einer gleichen Nationalitätsbewegung in Deutschland für seine persönlichen Pläne Förderung erwartete. »Die Nationalitäten-Bewegung sei allerdings der Urquell aller Demokratie. Die deutsche Bewegung von Achtundvierzig sei nur deshalb mißglückt, weil man zögerte, Österreich zu schlagen. Die Aufgabe Preußens sei es jetzt, was in Italien geschehen, in Deutschland nachzuahmen und die deutsche Einheitsschöpfung ins Werk zu setzen. Die deutsche Demokratie werde selber das Banner Preußens tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden werfen. Dann, wenn die deutsche Einheit errungen sei, werde es leicht sein, die ›neue Aera‹ des Arbeitertums herbei zu führen.«
Die Unklarheit in den demokratischen Begriffen mußte natürlich diesem Zuhörerkreise verborgen bleiben, nur die Idee einer Arbeitervereinigung und der Anteilsberechtigung am Gewinn leuchtete Allen ein, und ein gewisser Respekt vor der geistigen Bildung und höheren Stellung des Redners hielt die Meisten ab, ihn, als er sich in ihnen gleichgültigere Themata und Raisonnements verlor, zu unterbrechen, bis ein im Vordersaal sich erhebender Lärm dies tat, der auf eine Schlägerei schließen ließ.
Auch hier war, wie gesagt, die Gesellschaft aus den unteren arbeitenden Klassen gemischt und ein Bruchteil bestand aus Frauen. Es waren dies die Weiber kleiner Handwerker oder die Geliebten junger Männer, Gesellen und Handarbeiter.
An einem der Tische an der Wand saßen zwei junge Mädchen, ein neben ihnen umgelegter Stuhl bewies, daß der Mann, der zu ihnen gehörte, wahrscheinlich in dem Nebensaal den sozialistischen Reden zuhörte. Vor ihnen standen zwei Seidel Bier.
Die beiden Mädchen waren jung und hübsch, in ihrem Äußeren dagegen sehr verschieden.
Die ältere, etwa zwanzig Jahre zählende Brünette war ein Mädchen von großer schlanker Figur mit dunklen feurigen Augen, einem etwas kecken ungenierten Gesichtsausdruck und üppigem Mund. Sie klapperte mit der Gabel auf dem Teller, auf dem noch die Knochen des verzehrten Schweine-Koteletts lagen und winkte eben dem dienenden Geist, ihr ein frisches Seidel zu bringen.
»Aber Nettchen, willst Du denn gar nichts genießen? Du hast kaum von Deinem Biere genippt, und ich wette darauf, daß Du noch nicht zu Abend gegessen hast! He, Kleiner, reichen Sie noch einmal die Speisekarte her!«
»Ich bitte Dich, Pauline, ich mag nichts, ich habe keinen Appetit. Du weißt, daß ich Dich, als ich Dich mit Deinem Bräutigam im Torweg traf, hierher begleitet habe, um den weiten Weg nicht noch einmal zu meiner Schwester machen zu müssen. Ich, ich habe schon gegessen!«
»Papperlapapp! selbst wenns wahr wäre, kann ein junges Ding wie Du immerhin zweimal zu Abend essen, denn das Mittagbrot wird grade auch nicht von Huster oder Meinhardt gewesen sein. Bringe gebratene Leber, mein Junge, und Rotkohl, aber spute Dir! Halt den Mund, Nettchen, ich traktiere, und mach nicht länger ein so jämmerliches Gesicht. Sag' mir ums Himmels willen, was hast Du eigentlich, und warum willst Du mit Gewalt Deine Schwester sprechen? Ehrlich gestanden – ist die in ihren jetzigen Verhältnissen doch grade keine sonderliche Beraterin für Dich!«
»Sie ist meine Schwester, die einzige Verwandte, die ich noch auf der Welt habe,« sagte die andere, den Kopf niederbeugend, wahrscheinlich, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen traten.
Das Gesicht hatte etwas Sanftes, es war weniger hübsch, als angenehm, und die Jugend – Henriette war achtzehn Jahre – ersetzte durch die Rundung der Formen und die Frische des ganzen Wesens, was ihr an jenen herausfordernden Reizen abging, deren ihre Freundin sich rühmen konnte, übrigens zeigten sich diese frischen kräftigen Formen nur unter züchtiger Verhüllung; denn das braune Merino-Kleid, welches das Mädchen unter dem kurzen schwarzen, wenig gegen die noch rauhe Jahreszeit schützenden Mäntelchen trug, ging bis an den Hals hinauf und war dort von einem einfachen weißen aber sehr sauberen Leinewandkragen geschlossen. Das ganze Mädchen hatte etwas Sauberes, Einfaches und Bescheidenes an sich, während ihre Freundin, wenn auch nicht luxuriös, doch modern gekleidet war.
»Sage mir um Himmelswillen, Nettchen, weswegen Du heute so melancholisch bist und so traurig aussiehst? Ist Dir etwas passiert?«
Helle Tränen liefen über des Mädchens Wangen, ehe es sich zu antworten entschloß. »Ach Pauline,« sagte sie endlich – »ich weiß, Du bist so gut und kennst meine Lage. Du weißt, daß ich allein von meiner Hände Arbeit lebe und mir bisher fleißig und ehrlich durchgeholfen habe ….«
»Ja, das weiß ich, und daß Du dazu Deine alte Pflegemutter auf dem Halse hast und ernährst und deshalb nicht aus dem Hause schneidern gehst wie ich, obschon Du es mindestens ebenso gut verstehst und weit fleißiger bist! So sitzest Du den ganzen geschlagenen Tag in Deiner einsamen Hinterstube, stichelst von früh bis in die Nacht für ein Spottgeld für das große Konfektionslager von Frankfurter und hast das ganze Jahr kein Vergnügen! Das ist ein Hundeleben, das ich nicht eine Woche aushalten könnte!«
»Wenn man arm ist und allein in der Welt steht – muß man froh sein, wenn man nur Arbeit hat, aber ….«
»Was aber? … heraus damit, sag' ich Dir!«
»Wenn man nur eben immer ehrliche Arbeit hätte!«
»Was? daran fehlt Dir's doch nicht? Ich hab' Dir schon gesagt, daß Du ohne Frage die Geschickteste von uns allen warst, die damals bei Reimann das Schneidern lernten, und die Fleißigste und Solideste bist Du ohnehin. Du hast ein wahres Genie dazu und kannst jedem Modejournal zu raten aufgeben. Weder Mannheimer noch Oppenheim haben in ihrer ganzen Manufaktur eine Arbeiterin wie Du, und Gersons würden Dich mit Kußhand ins Konfektionsgeschäft nehmen, wenn Du eben nicht so eigensinnig wärst, nur zu Hause zu arbeiten.«
»Es muß doch wohl nicht so sein, denn – man hat mir die Arbeit gekündigt!«
»Wie, was? das ist nicht möglich!«
»Es ist dennoch so – ich habe seit Sonnabend keine Arbeit mehr!«
»Aber – was ist los? ist das Konfektionsgeschäft von Frankfurter etwa bankerott? ich habe doch nichts gehört davon!«
»Bewahre – das ist's nicht!«
»Na also, was ist's denn? heraus damit!«
»Der erste Kommis – er ist ein junger Vetter von der Frau des Prinzipals und hat die Ausgabe an die Näherinnen und die Annahme der abgelieferten Arbeit, – mag mich nicht leiden!«
Die junge Arbeiterin beugte den Kopf, um ihr mit Röte übergossenes Gesicht nicht sehen zu lassen.
»Nicht leiden?« fragte die andere. »Ich verstehe, Du willst sagen, er mag Dich zu viel leiden!«
Das Gesicht der Nähterin beugte sich noch tiefer nieder.
»Dacht ich mir's doch! Nur heraus mit der Sprache – was brauchst Du Dich zu genieren, wir sind unter uns Mädchen.«
»Es ist schon einige Zeit her – bald nachdem er in das Geschäft getreten war, daß er haben wollte, ich sollte in dem Magazin arbeiten. Und dann, dann – es wäre albern, wenn ich tun wollte, als wüßte ich nicht, worauf es immer und immer abgesehen ist! – Dann fragte er mich, ob er mich nicht besuchen dürfte, und verlangte von mir, ich sollte ihn irgendwo treffen, und solle mit ihm ausgehn – er bot mir Theaterbillets an und wollte mich abholen ….«
»Die alte Leier! Die Theaterbillets sind eine verdammt verführerische Sache, ich weiß ein Liedchen davon zu singen. Und Du armes Vögelchen gingst auch in das Garn, wie so viele vor Dir getan und nach Dir tun werden?«
»Nein! Ich habe zwar einmal ein Billet von ihm genommen nach dem Friedrich-Wilhelmstädtischen, aber ich bin schon nach dem vorletzten Akt fortgegangen. Am nächsten Ablieferungstage machte er mir bittere Vorwürfe, denn er wußte, daß ich dort gewesen war, und von da ab – ging die Verfolgung an!«
»Wieso? Erzähle mir ausführlich! Ich glaube, ich kenne den Burschen! Heißt er nicht Salomon, Eduard Salomon oder Salomonski?«
Die Blonde nickte. »Ja, so heißt er! Ach, ich kann Dir nicht sagen, wie es mir immer schlimmer und schlimmer ging, als ich ihm kein Gehör geben wollte. Ich mußte alle Woche zweimal hin, um Arbeit zu holen. Er nötigte mich, mit ihm in die Modell-Kammer zu gehn und da – als ich mich zur Wehr setzte und ihn von mir stieß – schlug er mich! – aber nein – nimmermehr!«
»Das Vieh! Es waren gewiß zehn andere da, die sich nichts daraus gemacht hätten.«
»Dann drohte er mir, ich solle keine Arbeit mehr haben, wenn ich mich nicht seinem Willen fügte.«
»Hast Du ihm nicht gesagt, Du würdest Dich beim Prinzipal beschweren?«
»Was hätte es mir genutzt? Ich sagte es zwar, aber er lachte mir ins Gesicht! Sie nannten mich höhnisch nur die »Prinzessin!« weil ich anders sein wollte, als die andern!«
»Warum, wenn Du mit Gewalt tugendhaft bleiben wolltest, obschon es ein Unsinn ist in unserem Stand, sich darauf zu kaprizieren, hast Du Dir nicht anderwo Arbeit gesucht? Es gibt der Geschäfte genug in Berlin.«
»Als ob es dort anders wäre! Man hört genug davon! Überdies kennen sie sich meist einer den anderen, und man wird förmlich verschrieen, daß man überall abgewiesen wird. Und wäre es das bloß allein, aber ….«
»Nun was noch?«
»Mein ehrlicher Name …«
»Was hat der damit zu tun?«
»Seitdem, seit ich ihn ganz bestimmt abgewiesen, hat er zwar seine Drohung nicht gleich wahr gemacht, mir die Arbeit zu entziehen, vielleicht wagte er's nicht, seines Schwagers wegen, der wußte, daß ich eine gute und fleißige Arbeiterin war, aber seitdem fehlte alle Augenblicke an dem Zeuge, was mir der Zuschneider gab, an der Seide und den Zutaten, der Zuschneider ist ein schlechter Mensch und steckte sicher unter einer Decke mit ihm. Kurz, wenn ich nach Hause kam, konnte ich nie mit dem Übergebenen reichen und mußte wieder hin, um nachzuholen. Ich weiß nicht, wie sie das dem Prinzipal vorgestellt haben mögen, er sah mich immer so mißtrauisch an. Zuletzt behaupteten sie gar, das Zeug wäre mir richtig übergeben, es müsse bei mir verschwinden oder die Mäntel und Jaquetts wären viel zu eng gemacht, ich müsse Zeug und Besatz zurückbehalten haben, man kündigte mir die Arbeit, und heute – ach Gott, denke Dir, heute Nachmittag …«
»Nun?«
»O die Schande, heute Nachmittag ist der Zuschneider, der schlechte Mensch, mit einem Schutzmann in meiner Wohnung gewesen und hat alles durchsucht, unter dem Vorgeben, es fehlten drei Ellen guter Sammet und zwei Stück Perlen-Guimpe, die ich erhalten und nicht nachgewiesen haben sollte. Meine Pflegemutter hat fast den Tod davon gehabt.«
»Der Schurke!«
»Du kannst wohl denken, daß man nichts gefunden – aber mein ehrlicher Name ist dahin, und Arbeit werde ich nirgends mehr bekommen, denn viele Leute im Hause haben es doch erfahren und dergleichen spricht sich rum, so groß auch Berlin ist, und der Salomonski wird schon dafür sorgen! – In dieser Not wollte ich zu meiner Schwester gehn und ihr wenigstens alles sagen, damit sie nichts Schlechtes von mir denken soll, und vielleicht hätte sie mir doch einen oder den anderen Rat geben können. Da sie feinwäscht und plättet, kommt sie doch in vielen Häusern herum und hört, wo etwa Arbeit ist!«
Die Schneidermamsell hatte den Kopf in den Arm gestützt und sann mit finstern Blicken und krauser Stirn nach. Der Kellner hatte unterdeß die bestellte Portion gebracht und sie auf einen Wink vor die weinende Näherin gestellt.
»Laß mich einen Augenblick nachdenken, Nettchen,« sagte sie energisch, »vor allen Dingen aber iß, oder ich rede nicht mit Dir.«
Auf diese Drohung hatte sich das weinende Mädchen endlich entschlossen, zuzulangen, und der Appetit, mit dem sie aß, nachdem sie die erste Scheu überwunden, bewies, daß ihr Vorgeben von dem bereits verzehrten Abendessen mit Recht keinen Glauben bei der Freundin gefunden und sie wahrscheinlich den ganzen Tag gefastet hatte. Fräulein Pauline, denn unter »Fräulein« tut es ja keine Berliner Köchin mehr! hatte Gefühl oder Takt genug, es auch nicht zu bemerken, wie von den dünnen Leberscheiben zwei in einem Papier und mit diesem in der Ledertasche der jungen Konfektionistin verschwanden und diese hauptsächlich an dem Brot, den Kartoffeln und der Sauce ihren Appetit stillte. Endlich war der Teller so leer, als hätte ihn ein Kätzchen abgeleckt; dann sagte sie:
»Laß uns nun einmal ein ernstliches Wort miteinander reden, Nettchen, denn ich habe mehr Lebenserfahrung als Du, und Du weißt, daß ich Deine aufrichtige Freundin bin.«
»Gewiß weiß ich das!« beteuerte schluchzend das Mädchen.
»Vorerst nimm Dir zusammen und fange kein Geheule an, damit wir hier kein Aufsehen machen. Du weißt, daß ich eine Waise war, so gut wie Du, oder vielmehr noch schlimmer, denn ich habe meine Alten gar nicht gekannt und der Armenvorsteher vor dem Hamburger Tor ließ mich in das Waisenhaus an der Waisenbrücke aufnehmen, und als ich eingesegnet war mit der bekannten Waisengarderobe, brachten sie mir in Dienst und das war alles, was weiser Magistrat und Stadtverordneten vor mich tun konnten und wofür ich ihnen auch dankbar bin, denn im Grunde genommen, muß man doch auch billig sein und, wie Fritz sagt, bedenken, daß der Berliner Magistrat und die Stadtverordneten viel zu viel mit der Reaktion und der Politik sich befassen müssen, als daß sie Zeit haben können, sich mit jedem Bankert zu beschäftigen, nachdem die Obrigkeit die wohltätigen Anstalten in der Königsmauer, Krausen- und Kanonierstraße und an sonstigen Orten aufgehoben hat. Also – ich war von Kindesbeinen auf ein gewitztes Berliner Kind, und mein Vater ist wahrscheinlich ein Komödiant oder ein Offizier gewesen, aber zu pauvre, als daß meine Mutter es der Mühe wert gehalten hätte, ihn auf Alimente zu verklagen. Kurz zu erzählen, ich kam in einen ganz guten Dienst, und der alte Kanzleirat Brummel, der keine Kinder hatte, und dem ich seine Gewohnheiten bald abgeguckt, sprach mit seiner Alten, die auch eine ganz gute Person war, wenn ich nur ihre zwei Köters ordentlich besorgte und sie des Abends vor's Hallesche Tor spazieren gehen konnte, und sie ließen mich nähen lernen. Ja, als der Alte starb, nachdem ich zwei Jahre bei ihnen gewesen, hat er mir fünfzig Taler vermacht, die er statt des Lohns für mich in der Sparkasse angelegt hatte. Nun hatte ich zwar einen Vormund, aber die Berliner Vormünder, das sei Gott geklagt!
Ich ging also zu meinem Uhrmachermeister, der stets bei den Sprößlingen seiner Freunde Vaterschaft oder wenigstens die Vormundschaft übernahm und erklärte ihm rund heraus, das Dienen gefiele mir nicht länger und ich wollte für mein Geld Damenschneidern lernen und mir anständig einmöblieren. Er fand den Gedanken sehr verständig und legte mir nur die Verpflichtung auf, tugendhaft zu bleiben und mich alle Vierteljahre einmal bei ihm zu melden, damit er sich nach mir nicht umzusehen brauche. Das versprach ich und hatte Überlegung und Witz genug, mir einen tüchtigen Lehrmeister zu suchen, bei dem ich das Kleidermachen lernen könnte. Da war's, wo wir uns beide kennen lernten. Du kamst freilich etwas jünger auf die Schneider-Universität als ich!«
»Ja, die braven Leute, die mich als Kind aufgenommen hatten, als meine beiden Eltern so rasch hintereinander gestorben waren und gar nichts hinterlassen, hatten es in der Tat ermöglicht, das teure Lehrgeld für mich zu bezahlen, um mir damit einen Erwerb in der Zukunft zu sichern. Hatte ich doch schon bei meinem Vater mithelfen müssen zu nähen und seitdem Passion für das Schneidern. Deshalb habe ich auch die Pflicht, meine Pflegemutter nicht zu verlassen, jetzt da sie allein und gelähmt ist und selbst nichts mehr verdienen kann!«
»Das ist recht brav und schön von Dich, aber es ist ein Unglück, denn jeder ist sich doch am Ende selber der Nächste, und ich bin froh, daß ich meine Pflegeeltern, den hochlöblichen Magistrat und die Stadtverordneten nicht zu ernähren brauche. Ich glaube, so weit würde sich meine Dankbarkeit nicht erstrecken, und es würde mir auch etwas schwer werden, denn die meisten sind's verteufelt gut gewöhnt und eine Hand wäscht die andere. Aber um wieder auf meine Geschichte zu kommen. Du weißt, daß ich's einige Zeit auch in der Konfektion versuchte, die damals in Schwung kam, aber es gefiel mir nicht, vielleicht aus demselben Grunde wie Dir, das heißt, weil ich mir meine Liebhaber nicht nach meinem Penchant wählen konnte, und so versuchte ich's mit dem Hausschneidern; ich hielt mir ein Mode-Journal, kleidete mir anständig und ließ mir Karten drucken. Mit dem Ausbessern ist es freilich nicht viel, und manche Frauen sind so kratzbürstig und eklich, daß sie einem Floh das Fell abziehen, und eine Hausnähterin wie einen Droschkengaul abnützen möchten, namentlich, die früher selber nichts jewesen sind; aber es jibt ihrer doch auch noch anständige, und weiß man erst ein bischen mit ihnen zu tun und etwas Klatscherei aus der Nachbarschaft, oder man versteht es, sich rar zu machen und kann erzählen, daß man bei der und der Gräfin geschneidert hat, oder bei der Frau Geheimrätin X. noch diese Woche ein Kleid abliefern wird, oder gar der Kammerfrau der Prinzessin helfen muß, da sind sie hinter einem her, wie die Teufel hinter einer armen Seele, und ich habe auf vier Wochen voraus alle meine Tage bestellt und muß mit am Tische essen. Eins soll man freilich verstehn, das ist, die Augen hübsch auf den Teller halten oder auf der Nadel, wenn der Herr im Zimmer ist, oder wenn sie einen erwachsenen Sohn haben; denn da sind die Weiber, alle, wie sie gebacken sind, vornehm oder nicht, wie der Geier dahinter her, und man darf sich nicht einmal ganz unschuldig in die Backen oder sonst wohin kneifen lassen, und ich hab' einmal eine vortreffliche Stelle bei einem Partikulier verloren, blos weil's die alte häßliche Hexe im Spiegel sah, daß der Mann, obgleich er ebenso alt und häßlich war wie sie selber, mich eine Kußhand zujeworfen hatte. Aber das tut nichts – die Männer und die jungen Herren wissen's doch schon möglich zu machen, die Alte zu betrügen und einem ein Theater-Billet oder sonst etwas zuzustecken und abends an der zweiten Ecke uns aufzulauern, wenn man nur jung und hübsch ist. Und für was wäre man denn jung und hübsch, als fürs Vergnügen? Ich sage Dir, die Männer haben alle den Teufel im Leibe und vor allem die Alten, und Berlin ist jroß, und man muß sich nur nicht erwischen lassen. Nun gar, wenn die Abgeordneten da sind, die sind froh, wenn sie einmal von Muttern aus der Provinz fort sind, sie taugen alle nichts, die Reaktionäre wie die Demokraten, und es nutzt auch nichts, wenn die Weiber mit hierher kommen! Ich habe da jetzt eine Stelle bei einer gnädigen Frau aus Pommern oder Preußen, und der Mann hält große Reden in der Kammer und geht auch bei Hofe, obgleich er in der Opposition ist, aber der dreht jeder pommerschen Landpommeranze eine Nase, daß es nur so eine Art hat, und ich bin in dem Winter schon zweimal mit ihm auf dem Ball vom Korps de Ballet gewesen bei Kroll und selbst im Opernhause, seit wieder gespielt wird, ohne daß eine Christenseele etwas gemerkt hat. Und für was wären denn die Delikateßkeller da, die feinsten, die besten! Ich sage Dir, Nettchen, so ein Delikateßkeller ist eine vortreffliche Erfindung, und die Wirte sind ganz ausgezeichnete Leute. Es ist eine Dummheit von Birkenfelden, daß er es zugegeben hat, daß in so vielen jetzt Fenster in den Türen und keine Riegel an den Schlössern sein sollen. Hast Du schon einmal Austern jegessen, Nettchen?«
»Niemals!«
»Oh, es ist etwas Ausgezeichnetes, frische Austern, mein Baron kann vier Dutzend vertilgen; aber unter uns, mir schmecken sie auch nicht, der Champagner dazu ist mir viel lieber! Aber um wieder auf unseren Hammel zu kommen, ich habe mehr als einmal an öffentlichen Orten den kleinen Salomonski getroffen; er ist sonst ein ganz netter Junge, und da unsere Leute nun einmal das Heft in der Hand haben, das heißt das Geld, und allen Handel und Wandel, und damit auch unser tägliches Brot, – kannst Du Dich nicht entschließen, ein bischen nachzugeben? Es ist doch nun einmal unser Schicksal, und wir können nicht mit dem Kopf durch die Wand!«
»Nein, nein, ich kann es nicht!«
»Höre, Kleine,« sagte die andere, den Kopf schüttelnd, »sollte da nicht vielleicht noch ein anderer Grund dahinter stecken! Hast Du vielleicht eine stille Avourschaft, eine geheime Poussade?«
Es ist merkwürdig, wie selbst bei den einfachsten, unschuldigsten Mädchen schon jener geheime Instinkt, jene weibliche Schlauheit sich geltend macht, die sie lehrt, den Krieg stets auf das feindliche Gebiet zu spielen und jeder direkten Antwort auszuweichen. So geschah es auch hier und die junge Nähterin sprach zu der erfahreneren Freundin: »Ich begreife Dich wirklich nicht, Pauline. Wie ist es möglich, wenn Du Deinen Fritz, wie Du sagst, wirklich und aufrichtig lieb hast, daß Du da mit anderen Männern sponsierst und mit ihnen selbst in so verrufene Lokale gehen kannst, wie diese Delikateßkeller sind, und wohin doch Mädchen unseres Standes gar nicht gehören!«
»Närrchen!« lachte die Freundin, »ein hübsches Gesicht und eine gute Taille hebt in der Beziehung jeden Standesunterschied auf. Ich sehe nicht ein, warum eine fleißige Nähterin oder Schneiderin, die den ganzen lieben Tag sich redlich geplagt, und gar manche Demütigung hat geduldig verschlucken müssen, während bei ihr doch alles Natur und keine Schminke und Wattierung ist, des Abends nicht ebenso gut zu Kroll oder mit einem fein gekleideten und reichen oder vornehmen Herrn in ein vornehmes Lokal soupieren gehen kann? Oder ist das blos für die Choristinnen und die Backfische von's Ballet, die sich den Puder fingerdick auflegen, sich Künstlerinnen schimpfen und uns, die wir ehrlich von unserer Hände Arbeit leben, über die Achseln ansehen? Ich presse den Offizieren und den Bankiers nicht die Fünfundzwanzig-Talerscheine ab, wie die unreifen Plagen sie alle Tage bei Meyer wechseln lassen, wenn sie dort ihre Schokolade nutschen, ich bin überhaupt keine solche, wie ihrer schockweise herumlaufen und nach der Sitte auf dem Molkenmarkt müssen; ich bin ein ehrliches Mädchen, das seine Arbeit hat; wenn ich mich auch nicht grade für eine Tugendheldin ausgeben will, weil ich das Vergnügen liebe und mich in die Zeit und meine Lage schicke.«
»Aber wenn Du den Fritz liebst …«
»Gewiß liebe ich ihn, zum Heiraten! und ich werde ihm gewiß eine gute und brave Frau sein. Aber soll ich deswegen meine Jugend vertrauern, weil er nichts hat, und ich auch nichts, als die Paar Möbel und das Bett, oder soll ich deswegen wie die arme Schwefelholz-Marie, die nun einmal für das Vergnügen schwärmt, weil sie jung und hübsch ist, ins Odeum oder gar in die Tanzkneipen vor dem Frankfurter und Rosentaler Tor laufen und mich mit der Sorte gemein machen, wie die Fabrikmädchen? Jott bewahre! Wenn's Sommer ist, gehe ich alle Sonntage mit ihm spazieren und im Winter in ein anständiges Lokal ins Konzert, wie bei Jachmann oder ins Konzerthaus, und ich denke, ich mache ihm da wahrhaftig keine Schande, auch zu Gräberten ins Theater und das ist gewiß ein Opfer, wenn man so oft ins Wallnersche oder ins Viktoria und die Friedrich-Wilhelmstadt gehn kann, wie mir's geboten wird! Aber in der Woche – da darf er mir nicht kommen, und etwa aufpassen und mir nach Hause bringen wollen, denk ich nich dran, da will ich selbständig und frei sein und mir bilden!«
Die junge Nähterin schüttelte über diese Philosophie den Kopf. »Aber Du bist doch heute hier mit ihm, und es ist heute Donnerstag.«
»Ja das ist was ganz anderes, das ist extra! Das ist, weil sie mir bei Engelbrecht, dem dicken Rentier und Stadtverordneten am Anhaltschen Tor, der auch sieben Häuser und keine Schlafstelle hat, und aus lauter Patriotismus und Gemeinsinn der Kommune ein altes Haus nach dem andern für vieles Geld zu einem Schulhausbau oder Straßendurchbruch aufschwatzt, haben absagen lassen, indem die Frau Stadtverordnetin heute zum Frauenverein ins englische Haus muß! – und da mir der Fritz jesagt hatte, daß heute hier eine Arbeiter-Versammlung sein sollte, wo sie eine Strike besprechen und Reden gehalten werden müßten, so hab' ich ihn von der Fabrik abgeholt und bin mitgegangen, damit er mich nich zuviel Unsinn reden sollte; denn er redt gerne und möchte ein Volkstribun werden, wie der Held war, der jetzt die Daubitzsche schreibt. Im Handwerkerverein laß ich mir's noch jefallen, da sind die Professoren da, der Virchow und die anderen, und halten Vorträge über Dinge, von denen unsereins im Leben nichts hört, und wenn man's auch nicht versteht und es uns für die Arbeit nichts nutzt und langweilig ist, so ist's doch für die Bildung und überdies ist ein Schutzmannswachmeister da oder jar ein Leutnant und läßt's mit den Reden nicht so weit kommen, daß sie deshalb eingesteckt werden können. Aber hier ist's was anders, das soll eine Versammlung aus Zufall sein und ohne Litfassen, und da könnte der Fritz am Ende Unsinn machen und sich vor's Kriminal schwatzen, er steht so nich jut angeschrieben beim Revier-Hauptmann, weil sie ihn am Ende ins Abgeordnetenhaus wählen könnten. Aber wenn er weiß, daß ich hier bin, nimmt er sich wenigstens in Acht, daß es nich zu einer Uflösung kommen kann. Es ist schon schlimm genug, daß sie Strike machen wollen, nicht, daß sie ihn mir noch einstecken! Aber, Kind, Du hast mir noch immer nicht gesagt …«
»Strike?« fragte die junge Nähterin, die gern dem Berichte entgehen wollte, »man hört jetzt so viel davon, was heißt das eigentlich »Strike«?«
»Ja, was soll's heißen? Strike machen heißt eigentlich faullenzen, bis die Prinzipale oder Arbeitgeber so wollen, wie wir, nicht wir, wie sie wollen. Das ist eigentlich ganz Dein Fall, Kind, Du machst gegenwärtig auch Strike, weil Du mit dem kleinen Salomonski nicht sponsieren willst, wie er doch mit Dir gern tun möchte. Es wird nun darauf ankommen, wer von Euch beiden es am längsten aushält.«
»O pfui, Pauline, es ist nicht hübsch von Dir, daß Du mein Unglück noch verspottest!«
»Hat sich was zu spotten! Die Sache ist halt so, wir armen Geschöpfe sind einmal ihrer Willkür preisgegeben. Ob's Meier oder Itzig, 's Geschäft bringt's halt so mit sich! Aber nun wollen auch noch die Männer Strike machen, das heißt, sie kündigen in den Fabriken die Arbeit, wenn grade die meisten Bestellungen da sind und wollen nicht eher wieder eine Hand anlegen, als bis sie einen höheren Lohn haben. Es ist wahr, es ist jetzt oft ein Hundeverdienst, und ich stehe mich fast ebenso gut wie der Fritz, wenn ich die Kost rechne, und deshalb ist's ihnen nicht zu verdenken; denn die Fabrikherren schlucken's mit Scheffeln und die Werkmeister helfen auch dazu. Fritz hat mir das alles auseinander gesetzt, und es wäre ganz gut, wenn auch wir Mädchens einmal Strike machten und den Herren Prinzipalen den Kuchenkorb etwas höher hingen. Wir verdienen's ihnen ja doch! Aber ich will nur nicht haben, daß er immer der Rädelsführer ist; denn das macht böses Blut, und zuletzt stecken sie ihn doch einmal in freie Schlafstelle am Molkenmarkt. Aber mit all' dem Schwatzen kommen wir ganz von Dir ab – also heraus mit der Sprache, hast Du eine stille Liebe oder nicht, und ist's was Reelles, das heißt: zum Heiraten?«
»Ich habe noch kein Wort mit ihm gesprochen,« stammelte verlegen das junge Mädchen.
»Also doch! ich dachte mir's gleich! Was ist er? Von's Zivil oder Militär?«
»Militär!«
»Ah so! ja, zweifarbig Tuch, das macht uns alle konfuse. Aber hoffentlich doch kein Jemeiner, selbst von der Garde nich?«
Nettchen schüttelte den Kopf.
»Also ein Chargierter, ein Unteroffizier?«
Wieder Kopfschütteln.
»Na denn jar een Feldwebel? Die Leute haben ein Einsehen ins Kriegsministerium – es jibt jetzt schon viele junge Feldwebels! – Was, noch nicht? – Mädchen, Du hast Dir doch nich etwa jar den Kopf von einem windigen Leutnant verdrehen lassen? Das schlag Dir aus dem Sinn, das führt zu nischt als zu einer verdorbenen Taille.«
»Ich habe Dir schon gesagt, daß ich noch kein Wort mit ihm jesprochen habe. Er ist noch so jung, er dient freiwillig auf's Avancement bei den Schützen. Sein Vater ist ein Forstrat, einer vom Adel.«
»So, so –« meinte die erfahrene Freundin. »Kieck einmal, Du hast noch kein Wort mit ihm geredt, und doch weißt Du das schon alles so genau.«
»Ich hörte es zufällig von unserer Nachbarin, sie macht Bedienung in dem Hause, wo der junge Herr von Wendenburg wohnt, er hat die Erlaubnis außerhalb der Kaserne zu wohnen.«
»Hm! Hm! was Du sagst, muß ich freilich glauben.«
»Ich will Dir nur gestehn,« fuhr die Kleine fort, »er ist mir schon mehrmals nachgegangen, ich begreife nicht, woher er weiß, wann ich in die Stadt gehn muß! Und wenn ich aus dem Magazin komme, oder auf den Wochenmarkt, um die Kleinigkeiten zu kaufen, die ich brauche, ist er immer auf der andern Seite der Straße, aber anständig in Zivil. Neulich, Sonntags, ist er selber in der Andreaskirche gewesen, und das beweist, daß er rechtschaffen und fromm ist! – Und – und –«
»Na und?« fragte die neugierige Freundin, der es Spaß machte, die Windungen des jungen unschuldigen Herzens zu verfolgen.
»Und am Mittwoch, als ich abends ausgehn mußte und ein wüster Mensch am Mariannenufer immer hinter mir drein kam und mir Schändlichkeiten sagte und mich mit Gewalt umarmen wollte, war er plötzlich, wie aus der Erde gekommen, da, gab dem Schlingel eine Ohrfeige und befreite mich von ihm.«
»Und er hat darauf nicht gesprochen?«
»Nein, er hat nur eine Verbeugung gemacht, denn er war wieder in Zivil, aber ich habe ihn gleich erkannt, und hat gesagt: Fräulein, es ist nicht gut, hier allein zu gehn, erlauben Sie, daß ich bis in die Nähe Ihres Hauses hinter Ihnen gehe!«
»Jott sei Dank, daß er gesprochen hat, ich fing schon an, ganz am Charakter von's preußische Militär zu zweifeln! Und weiter hat er nichts gesagt? Aber den Arm hat er Dir doch geboten und Dir jeführt?«
Nettchen schüttelte den Kopf. »Nein, weiter hat er nichts jesagt, er ist nur immer zehn Schritt hinter mir gegangen, bis ich an unserem Hause war,« sagte sie ziemlich betrübt.
»Also noch sehr jrün? Na sie werden's ihm unter den Schützen schon ablernen, davor brauchst Du nicht bange zu sind.«
»Ach Gott, ach Gott! Denke Dir, wenn er nun hört, daß die Polizei bei mir gewesen ist und Haussuchung gehalten – ich sage Dir, es bleibt nichts verschwiegen in der Köpnicker Straße, die Leute sind so klatschig – was wird er glauben von mir? Er spricht im Leben kein Wort oder sieht mich gar nicht mehr an!«
Die Freundin lachte. »Vielleicht desto eher. Du bist doch noch sehr jung und einfältig! Aber Du hast Recht – das ist eine Sache, der zuerst abjeholfen werden muß. Hören Sie da, Herr Weber«, sprach sie einen mit dem Seidel vorübergehenden jungen Mann an, »Sie kennen ja wohl meinen Fritz – Herrn Frisch meine ich!«
»Jewiß, Fräulein, er hat eben unten im Saal eine vortreffliche Rede gehalten mit allgemeinen Beifall gehabt.«
»Na, denn tun Sie mir eenmal den Jefallen, und suchen Sie ihn auf, und sagen Sie ihm von mich, et wäre nu jenug Blech geredet, und er solle striktement, oder wie Sie's heißen, sogleich einmal zu mir herkommen, ich hätte etwas Dringendes mit ihm zu reden, aber verstehen Sie mir wohl, jleich, auf der Stelle.«
Der junge Mann versprach es und verschwand. Fräulein Pauline schien übrigens eine mehr als monarchische Gewalt über den angehenden Volkstribun und Sozial-Republikaner zu haben und ihr Scepter sehr streng zu schwingen, denn es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als Herr Fritz Frisch, der große Redner, bereits auf dem dritten Stuhl am Tisch der beiden jungen Mädchen saß, und von Fräulein Pauline gehörig abgekanzelt wurde, weil er sie so lange allein gelassen wegen der dummen Rederei, bei der doch nichts Gescheites herauskäme.
»Aber, Kind,« sagte der Gescholtene, »es wurde grade jetzt so interessant und wichtig. Der Doktor Lassalle spricht über die Produktiv-Genossenschaften.«
»Unsinn, Trink- und Bummel-Genossenschaften, wo Ihr Männer bloß ohne Aufsicht der Frau seid. Ich sage Dir, Fritz, nimm Dich in Acht, denn, wenn sie Dich vor's Kriminal bringen, kann im Leben aus uns beiden nichts werden. Ich will keinen Mann, der bloß in die Vereine läuft und sich mit der Polizei stets in den Haaren liegt, das ist mir eine viel zu unsichere Existenz. Im Staat soll der König regieren und im Hause die Frau. Aber nun paß auf und hör zu.«
Fräulein Pauline war eine Monarchistin, sie hatte so viel zu schneidern bei Geheimrätinnen, Offiziersdamen und Rentierfrauen, daß das ursprüngliche demokratische Blut in ihr zur Milch der frommen Denkungsart verwandelt war, wenigstens dem künftigen Ehemann gegenüber, und sie nur für Kommunismus und demokratische Menschenrechte schwärmte, wenn sie nach der Tagesarbeit ihre Erholung suchte. Jetzt erzählte sie dem jungen Mann, was ihr eben die Freundin mitgeteilt hatte, mit einigen Zusätzen, die natürlich nicht geeignet waren, ihn nachsichtiger für das Verfahren des Ladenjunkers zu stimmen.
»Wenn ich nicht irre,« sagte sie, »hast Du mir ja einmal erzählt, daß Du mit dem Zuschneider von Frankfurtern bekannt bist?«
»Mit dem langen Schletterbach, ja wohl! Es ist ein tückischer Kerl, ich glaube, er kommt in den Handwerkerverein und des Abends zu Kühne immer hin, um zu spionieren, was die Arbeiter reden und ob sie striken oder noch länger den Hundelohn sich gefallen lassen wollen.«
»Also Du weißt ihn zu finden?«
»Jeden Abend! gewiß! es ist selten, daß er einen überschlägt.«
»Und Du hast Freunde, auf die Du Dich verlassen kannst?«
»Gewiß! Sie gingen mit mir durch Dick und Dünn!«
»Nun, so hör mich hübsch an! Du wirst noch heute den Schletterbach aufsuchen und ihn unter einem Vorwand auf Deine Stube locken. Dort, wenn Ihr allein seid, hältst Du ihm seine Schlechtigkeit vor, die er hier an dem armen Kinde begangen hat, und drohst ihm die Sache publikus zu machen und in den Publizisten setzen zu lassen, und Du würdest es Deinen Freunden erzählen, und wo einer von ihnen ihm in einem öffentlichen Lokale oder auf offener Straße begegnete, würde er ihn rempeln und Streit mit ihm suchen, bis er so weich geschlagen sei, daß er sich nicht mehr rühren könne, wenn er nicht sofort einen Brief hier an Nettchen schreibt mit seinem vollen Namen und sie um Verzeihung bittet und erklärt, daß der angeblich vermißte Sammet und die Guimpe sich gefunden habe, und daß sie ein braves und ehrliches Mädchen sei und Herr Frankfurter sie nur sehr ungern verlieren würde.«
»Aber ich will um keinen Preis wieder in dies Magazin gehn!«
»Hör' nur weiter! das sollst Du auch nich! Und seinem schuftigen Anstifter, dem Herrn Salomonski, soll er sagen, daß es ihm ebenso gehen werde und daß die ehrlichen Arbeiter ihn zwingen würden, Berlin zu verlassen, wenn er nicht dafür sorgte, daß sein Schwager hier meiner Freundin ein jutes Zeugnis schickt, denn in das Jeschäft käme sie nich mehr. Wenn er's nich tut, braucht er sich in keinem Lokal mehr sehen zu lassen, wo es Vergnügen gibt!«
»Da kannst Du doch nichts dazu tun!«
»Na, das ist meine Sache! Ich frage Dir bloß, willst Du uns helfen oder nicht?«
»Gewiß will ich's, aber wäre es nicht weit einfacher, wenn ich den Kerl bei mir habe, und ich ließe ihn gleich den Brief schreiben an Deine Freundin, oder ich drohte ihn, halb tot zu schlagen?«
»Kannst Du auch tun, nur haben muß sie ihn, damit ihre Reputation vor den Leuten nicht leidet. Und vor Dir, Nettchen, habe ich noch einen besondern Plan. Du mußt suchen, ein Mädchen ohne Anhang zu Dir zu nehmen, das zu Hause arbeitet; solcher Beschäftigungen gibt's ja viele! und da kann sie dabei die Alte pflegen, während Du aus dem Hause schneidern gehst und Geld wie Heu verdienst.«
»Meinst Du wirklich, daß dies anginge?«
»Warum sollt es nicht angehn, wenn ich Dir's sage! Vor Arbeit brauchst Du nicht bange zu sein, am Montag kannst Du gleich auf zwei Tage zur Jeheimderätin Ströhmer hingehn, ich bin versagt, aber auf meine Rekommendation wird sie Dir mit Kußhand aufnehmen, denn sie muß ihre Kleider ändern lassen und vielleicht bringt sie Dir jar zur Prinzessin! Ach Herr Je, was is denn des? Fritze, geh doch mank und seh mal nach, was das is?«
Ein Lärm hatte sich in der Nähe der Eingangstür erhoben, wo auch der Ausschank war.
Eine Frau in ärmlicher Kleidung, mit den Furchen des Harms und des Elends auf dem eingefallenen Gesicht war in das Lokal getreten und hatte sich gegen den Schanktisch gewendet. Zwei kleine Kinder von vier und sechs Jahren klammerten sich ängstlich an Schürze und Rock der Mutter.
»Verzeihen Sie,« sagte die Frau zu dem Wirt, der eben mit dem Eingießen einer Weißen beschäftigt war und deshalb diesem Besuch wenig Aufmerksamkeit schenkte, »ist mein Mann wieder bei Sie?«
»Ihr Männeken? Aber ick weeß jar nich, wat für eine Jeborne Sie sind! Entschuldigen Sie, Madamken, aber et wird hier nischt jejeben.«
»Ich heiße Armbusen, mein Mann ist der Schuhmacher Armbusen, ich möchte ihn gern in einer dringenden Angelegenheit sprechen.«
»Ach so, Madame Armbusen – ja des is was anders! Bitte Madamken, wollen Sie sich nich ein bisken setzen. Ick werde den Herrn Jemahl jleich rufen lassen. Befehlen Sie eenen Kümmel mit Pommeranzen? Bitte, genieren Sie sich nicht, et jeht uf Rechnung. Wenn Herr Armbusen ooch vor jewöhnlich nich sehr bei Kasse is, so verschafft er mir doch ville Kundschaft, und ich bin nich undankbar!«
»Ich will nichts von Ihnen als meinen Mann! Ihr schändliches Kreditgeben, das ist grade auch eins von den Mitteln zur Verführung, die einer armen Frau und den Kindern den Vater zum elenden Bummler gemacht! Wollen Sie mir ihn gleich zur Stelle schaffen, oder ich schreie Feuer! Ich habe nichts mehr zu schonen, so unglücklich sind wir schon von all' dem demokratischen Schwindel geworden. He, Armbusen, wenn Du noch ein Herz im Leibe hast, so komm hierher und geh' mit mir nach Hause!«
Sie hatte die letzten Worte mit schreiender Stimme gerufen; es war offenbar, daß die arme Frau sich in einem Zustand der Verzweiflung befand, welcher sie keine Rücksicht mehr nehmen ließ.
Die Kinder klammerten sich weinend an den dürftigen Rock der Mutter und schrien mit ihr.
Der Schuster Armbusen hatte zwar viele gute Freunde, aber nur unter dem Plebs der Arbeiter, den verkommenen, arbeitsscheuen Subjekten, denen das Wirtshaus lieber war als die Kelle oder Hobelbank. Alle die besseren Elemente duldeten ihn blos als Agitator und Wühler, wie die oppositionellen Zeitungen einen verantwortlichen Sitzredakteur für den Staatsanwalt und die Prozeßdeputation halten. Sein bekannter Lebenswandel machte ihn selbst bei seinen Anhängern verächtlich, und viele, die seinen albernen und unverdauten Phrasen noch vorhin Beifall geklatscht, gönnten ihm jetzt einen Skandal.
Der Ruf: »Armbusen! hierher, Armbusen! ein Telegramm für Armbusen!«
Der letzte, von einem cynischen Witzbold eingemischte Ruf drang in den Versammlungssaal und unterbrach die Rede des gelehrten Doktors, die nachgerade anfing, vielen Hörern etwas unklar zu werden. Einige glaubten, es handle sich um eine Berufung des Schusters nach irgend einem andern Tummelplatz der begonnenen sozialen Agitation, wie Stettin, Hamburg usw. Man weckte also den Halbtrunkenen aus seinem Schlaf und stieß und trieb ihn halb mit Gewalt zum großen Ärger des Doktors nach dem vordern Schanklokal. Das erste Debüt des großen Sozialdemokraten war vollständig verunglückt!
Schuster Armbusen war durch die verschiedenen erhaltenen Püffe ziemlich ernüchtert; das Geschrei, ein Telegramm für ihn sei angekommen, ließ ihn sich stolz in die Brust werfen und in der Mitte seiner Freunde vorwärts schwanken.
Es war ein Spiel des Zufalls oder raffinierter Bosheit, daß eine Menschenmauer ihm den Anblick seiner unglücklichen Familie bis zum letzten Augenblick vollständig verbarg, sodaß er ihre Anwesenheit erst bemerkte, als er dicht vor ihnen stand. Ein fester Kreis hatte sich sofort um sie geschlossen, und es war dem würdigen politisierenden Stiefelversohler unmöglich, seinem Schicksal zu entrinnen.
Jetzt, als sie ihren lüderlichen Gatten vor sich sah, schien sich der bisherige Jammer und die Verzweiflung der armen Frau in leidenschaftlichen Zorn zu verwandeln.
Wer je Gelegenheit gehabt hat, dem Keifen einer echten Berliner Hökerin zuzuhören, hat die Zungengeläufigkeit ziemlich in ihrer höchsten Potenz kennen gelernt.
Frau Armbusen konnte sich zwar nicht dieser Virtuosität der Berliner Höckerinnen rühmen, ja, sie war eigentlich keine resolute Frau, sondern ein ziemlich gedrücktes, unscheinbares Wesen, sonst hätte vielleicht das ganze Familienschicksal einen anderen Verlauf genommen, und Herr Armbusen wäre mit der Gewalt der Rede und vielleicht einiger anderen handfesteren Mittel zu einem fleißigen Arbeiter und nicht zu einem Bummler und »Volksredner« geworden, aber nach dem alten Sprüchwort wird unter gewissen Einflüssen selbst das Lamm zum Tiger, und die unglückliche Frau sah daher ihren würdigen Ehegatten kaum in Natur vor sich, als alle anderen Rücksichten schwanden und sie mit einer Flut von Vorwürfen über ihn herfiel.
»Hab' ich's nicht gewußt, daß ich Dich wieder im Wirtshaus finden würde,« schrie sie, »schlampend und prahlend, während Deine Familie im Elend verkommt und nicht das trockene Brot im Hause hat! Ein Volksführer willst Du sein und die Rechte der Arbeiter vertreten, Du, der selbst keine Lust zur Arbeit hat und nur zum Trinken und Faullenzen! Warum hören sie auf Dein dummes Gequatsche, das noch keinen Hund satt macht, vielweniger Frau und Kind; denn, was Du für Dein Reden aus der Kasse des Arbeiter-Vereins oder von weiß Gott welchem fremdländischen Hetzer bekommst, das bleibt im Wirtshaus, und wir sehen keinen Pfennig davon. Rausschmeißen sollten sie Dich, wo Du Dich unter redlichen Leuten blicken läßt, und es ist Dir oft genug geschehen, und ich arme unglückliche Frau habe Dich von der Gasse auflesen oder von der Polizeiwache holen müssen …«
»Weib!« schrie der Agitator, »halt's Maul, ehre meine Menschen- und Jattenwürde, oder …«
»Bravo, bravo, geben Sie's ihm man tüchtig, Madameken!« tönte es von der andern Seite; man stand auf den Stühlen, auf den Tischen um die Streitenden her und hinderte den Wirt, sich in diesem Kreis Bahn zu brechen und, wie er beabsichtigte, mit Gewalt die arme Frau zu entfernen.
»Ein Gatte willst Du sein, ein Ehemann, ein Familienvater? Hören Sie's, meine Herrschaften, dieser Mensch rühmt sich dessen, und was hat er getan, in den fünfzehn Jahren, die wir verheiratet sind! Ich will's Ihnen sagen. Um meine Jugend hat er mir gebracht! weil mein Vater eine gute Kundschaft hatte und sich was erspart, hat er mich geheiratet, und kaum hatte er mich, als er seine wahre Natur zeigte und sich auf die lüderliche Seite legte; das Geschäft hat er vernachlässigt und ruiniert, bis mein Vater und meine Mutter gestorben sind aus Gram über mein Unglück!«
»Halt's Maul!«
»Nein, ich will reden und den Herrschaften allen sagen, was Du selbst für ein schlechter Kerl bist, der andern Leuten gute Lehren geben will, und der auf die Reichen schimpft, blos weil er selbst sein Hab und Gut durchgebracht hat! Hinter den Karten und der Schnapsflasche hat er gesessen, bis das schöne Geschäft in der Taubenstraße herunter gebracht war und wir in die Kellerwohnungen ziehen mußten. Und, wenn er nur da noch fleißig gewesen wäre! ich bin gewiß sparsam erzogen und hab's mir sauer werden lassen, aber da war kein Aufkommen mehr. Was kann die Frau tun, wenn der Mann kein Brot ins Haus schafft und alles mit seinen Kneipbrüdern vertut! Ich will Ihnen nicht beleidigen, meine Herren, Sie sind gewiß alle fleißig und ordentlich, aber dieser Mann hat uns hungern lassen, daß wir kaum noch einen Lumpen auf dem Leib hatten, und heute, als ich ihn kniefällig bat, doch zu Hause zu bleiben, da unser jüngstes Kind in dem ungesunden Loch totkrank geworden, wo uns das Mitleid der Hausbesitzerin noch duldet, als ich ihn bat, zum Doktor zu gehn … –«
»Wirst Du schweigen, Weib!« Der lüderliche Schuster holte aus, um sie zu Boden zu schlagen, aber der erhobene Arm wurde von einer jüngeren, kräftigeren Hand festgehalten. »Schämen Sie sich, Mann!« sagte der junge Zigarrenmacher, »die Frau hat Recht!«
»– als wir keinen Bissen Brot im Hause hatten, keinen Groschen, um eine letzte Labsal für das arme Kind zu schaffen, da hat er die Kommode aufgebrochen, der Sozial-Demokrat, der heillose Mensch, und hat die silberne Strickscheide herausgenommen, das letzte Andenken, was ich von meiner Mutter hatte, und ist fortgegangen, sie zu versetzen – und in seine Kneipe ist er gegangen und hierher und hat gotteslästerliche Rede gehalten gegen König und Obrigkeit und unterdes – unterdes …«
Die Frau brach in ein konvulsivisches Schluchzen aus.
»unterdes ist mein armes Mariechen, sein Kind, ohne Hilfe, ohne Beistand gestorben und klagt ihren lüderlichen Vater an dort oben am Himmelsthron!«
Der unerwartete Schluß war so traurig, daß alle verstummten und ein tiefes Schweigen rings umher herrschte; selbst der halbtrunkene Missetäter fühlte die allgemeine Verachtung und taumelte an den Schänktisch.
»Verflucht! muß die dumme Jöhre auch jrade jetzt sterben! – Einen Nordhäuser – Wirt – mir is schlimm!«
Er fuhr mit der Hand über die Stirn, auf der die kalten Schweißtropfen standen.
Die Frau schluchzte leise weiter, das Herz schien ihr mit der letzten Anklage gebrochen.
»Ick werde jleich mit Dir jehen, Lotte,« sagte zerknirscht der würdige Gatte, »ick habe weeß Jott nich jedacht, det es so schnell jehn würde! Ick jehe mit Dir!«
Sie stieß seinen Arm zurück. »Bleib', wo Du bist! Hast Du Geld, für Dein Kind einen Sarg zu kaufen und das Begräbnis zu bezahlen? Hast Du Brot für Deine armen Kinder, daß sie nicht auch verhungern wie das arme Mariechen?«
Der junge Zigarren-Arbeiter, der Redner für die Abschaffung des Eigentums und der Monarchie, hatte seinen Kalabreser genommen und einen blanken Taler, vielleicht seinen letzten, da er gewiß nicht zu sparen gelernt, hineingeworfen, damit ging er von Mann zu Mann sammelnd umher: »Für eine hungernde Mutter mit ihren Kindern! für einen Sarg dem armen Kinde! Ein Seidel weniger, Kameraden!«
Es waren zwar keine Taler mehr, die in den Hut des Sammelnden fielen, es waren kleine Silbermünzen, mitunter selbst Kupfer, was sie spendeten, aber keiner, selbst die Ärmsten nicht, schlossen sich aus, und über die Köpfe der Nächststehenden langten die schwieligen Hände der Arbeiter und warfen ihr Scherflein in den Hut.
»Nun, Herr Wirt, ich bitte um Ihren Beitrag!«
Der dicke Kneipier rückte sehr ärgerlich das grüne Sammetkäppchen von einem Ohr zum andern. »Er steht noch stark an der Kreide, und et is jar keene Aussicht nich, dat er mir bezahlen dhut!«
Aber der Zigarrenmacher hielt fest und schüttelte den Hut. »Es ist für die Frau und das tote Kind!« sagte er. »Wann sind die Berliner je knickrich im Wohltun gewesen?« und leise fügte er bei: »Einen Taler, Mann, oder ich sorge dafür, daß nie wieder eine Versammlung bei Ihnen gehalten wird!«
Schon ertönte aus der umdrängenden Menge der Ruf: »Pfui, Kuleke, schämen Sie sich, ein so reicher Mann!« Mehr als die Appellation an sein Gefühl wirkte aber die Drohung des Zigarrenmachers. Herr Kuleke griff mit einem verzweifelten Entschluß in die Theke und warf richtig drei Achtgroschenstücke in den Hut unter dem Bravo seiner Gäste.
Als Frisch nun den Hut auf dem nächsten Tisch ausschüttelte und das Geld zählte, ergab sich ein Betrag von fünfzehn Talern und zwanzig Groschen. Ein anwesender Tischler erbot sich, den Kindersarg zu machen gegen die bloße Vergütung des Holzes, und die Frauen und Mädchen versprachen, die kleine Leiche und den Sarg zu schmücken, so gut es in der Jahreszeit anginge, ein Droschkenkutscher wollte ihn umsonst zum Kirchhof fahren, ein anderer die unglückliche Mutter und Geschwister.
Als der verhältnismäßig gewiß reiche Ertrag der Sammlung proklamiert war, schien der betrübte Vater neues Leben zu bekommen, und er machte eine Bewegung, als wolle er des Geldes sich bemächtigen und begann eine Danksagung mit einer Phrase, daß nur im Arbeiterstande wahre Großmut und Kameradschaft zu finden sei, aber der Zigarrenmacher schnitt ihm rasch das Wort ab.
»Hier, Frau Armbusen, nehmen Sie das Geld an sich – und Sie, Mensch, Schuster, Gatte und Volksvertreter! hören Sie mich wohl an, und merken Sie sich's. Wenn ich erfahre, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich's erfahre, und die Freunde hier herum werden mir alle dazu helfen, daß Sie auch nur einen Sechser von dem Gelde, das wir hier für die arme Frau und die lebenden Kinder und für das tote Kind gesammelt, angerührt haben, so walke ich Sie so windelweich, daß Sie Ihre Knochen im Schnupftuch nach hause tragen können, Sie Arbeiter-Apostel, verstehn Sie mir? Na, was ist das?«
Die kleine Frau des dicken Wirts Kuleke stürzte aus der anstoßenden Küche herein, das sonst etwas vergilbte Gesicht vom Feuer gerötet, in der Hand noch die große Küchengabel, mit der sie eben ein Paar Schweine-Kotelettes umgedreht. »Ach Herr Je, Kuleke, Kuleke – hörst De nich – die Polizei is bei Jamraden – et is wieder kriminalisch!«
»Die Polizei? – Wat jeht mir die Polizei an? et is nur en jesellschaftlicher Vortrag, den brauch ick nich anzumelden uf's Büreau!«
»Aber, um Jotteswillen, so höre doch – sie schreien Mord!«
»Mord?«
Die ganze Versammlung, so unschuldig sich die meisten auch wußten, stiebte auseinander.
In der Tat, obschon die Fenster zugemacht und die Läden vorgelegt waren, hörte man bei der augenblicklichen Stille aus dem Vorhof jetzt deutlich den Ruf: »Mord! Halten Se den grausamen Mörder! Gott Jakobs, er macht uns alles kapores!«
Die Nationalität des Hilferufenden war so unverkennbar, daß viele in Gelächter ausbrachen, als ein tiefer Bierbaß dazwischen schrie: »Et is en Jud' in't Wasser gefallen!« aber der Ruf »Mord!« hat unter allen Umständen und komme er, woher es sei, etwas Unheimliches, Erschütterndes, daß die meisten zusammenschauderten und alles nach dem Ausgang drängte, aus dem durch einen kleinen Vorbau breite Holzstufen über die im Sousterrain liegende Schlosserwerkstätte hinweg zum Hofe führten. Ein anderer Menschenstrom kam ihm hier entgegen, – die Polizei war bereits zugegen, wie die in den Gasflammen blitzenden Helme der Schutzleute zeigten. – – –
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Der Kommissionär, Börsen-Agent ließ er sich nennen, Herr Meier Aaron Hirsch, der in der ersten Etage des Hauses wohnte, war ein gemachter Mann und schlauer Kopf. Die Zeit der Benno-Meierschen Periode, in der die jungen adligen Offiziere und ihre Familien durch die berühmten Wechsel mit der wandernden Affen-Valuta ruiniert wurden, war zwar vorüber, aber der Schwindel der Kommissionäre desto größer und dreister geworden und florierte namentlich in dieser Zeit, wo Staats-Anwalt Schwark seine liberalen Sporen in der Anklage gegen den Polizei-Direktor Stieber wegen der Arrangements der Offizierschulden mit dergleichen Gläubigern verdiente, und ein Prinz aus der königlichen Familie eine Reise nach Brasilien machte, um den über hunderttausend Taler gewachsenen Wechselschulden zu entgehen. Was früher die kleinen Halsabschneider getan, die solennen Wuchergeschäftchen, das begann jetzt die Börse in größeren Spekulationen: den Ruin des bisher intakten Bürgertums, des Wohlstandes der kleinen Privat- und Gewerbsleute; man ließ einstweilen den Adel und ländlichen Grundbesitz etwas Atem schöpfen. Das Beispiel der großen Pariser Bankiers, Foulds, Pereires, Mirés, die gleich mit Millionen operierten, hatte den Ehrgeiz der Berliner Geldgrößen gestachelt, Nulandt der Dessauer hatte zuerst die Initiative ergriffen, das Hansemannsche Wort: »In Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf!« – (freilich auch manches andere) hatte zur Gründung der Diskonto-Bank, später des Kassen-Vereins, der Vorläufer vieler anderen Institute, geführt, und die Berliner Bankhäuser selbst begannen mit den Geld-Instituten zu konkurrieren.
Der ganze Handelsstand bekam einen anderen Geist; man spekulierte aber nicht mehr mit Geld und Waren, man spekulierte in Zahlen und Papieren.
Anleihen und Eisenbahn-Projekte boten ein neues Feld.
Daß bei einem solchen Umschwung der Spekulation ein gewandter und nicht sehr gewissenhafter Agent für die speziellen Operationen, für die Vorposten und Vorfühler den großen Häusern eine wichtige Person war und tüchtige Prozente für ihn abfielen, läßt sich denken. Herr Aaron Meier Hirsch wurde nicht bloß von dem fürstlichen Hofbankier J. M. Cahn & Co. zu allerlei kleinen Geschäften benutzt, sondern auch von ganz andern Firmen. –
Es war bereits abends – in dem Kontor oder Arbeitskabinet des Herrn Aaron Meier Hirsch war er allein mit einem unserer alten Bekannten, dem früheren Faktotum des Hauses Cahn, dem buckligen Jakob Meier.
Herr Hirsch war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, groß und hager. Er hatte ein schmales, geierartiges Gesicht und eine scharfe Adlernase, deren Spitze fast bis zu dem Munde sich herabkrümmte. Die Augen hinter der goldgefaßten Brille waren etwas vorquellend, was selbst die Brille nicht zu verbergen vermochte. Der Mund war hufeisenförmig in dem langen Gesicht herabgezogen und große noch wohl erhaltene, spitzige Zähne drängten sich unter der Oberlippe hervor.
»Sie kommen aus der Provinz, Meier« sagte der Agent, »Sie sind zwar ein kluger Kopf, aber Sie haben noch zu engherzige Ansichten. Wenn wir wollen vorwärts kommen, dürfen wir uns an solchen Kleinigkeiten nicht stoßen. Ich habe gehabt von Herrn Cahn die Vollmacht, das Haus zu bringen zur Subhastation, und es ist gut bezahlt worden – was wollen Sie mehr? Kein Mensch hätte mehr gegeben für die Kaluppe. Was schrein Sie da Gewalt?«
»Die Geschichte ist doch gewesen faul« sagte der Bucklige, »die alten Leute haben sich gegeben selbst den Tod, weil sie sind doppelt gedrängt worden, zuerst mit der Hypothek und danach mit den Wechseln. Weiß Gott, hätt' ich genau gewußt, wie die Sache steht, ich hätt's nicht gelitten. Sie haben die Familie auf dem Gewissen, Sie und der Cahn!«
»Was schmusen Sie für dummes Zeug? Habe ich eingeklagt etwa die Wechselschuld – hab ich nicht verloren mein Geld daran?!«
»Unsinn, reden Sie nicht so, Hirsch, wenigstens nicht zu mir! Ich weiß recht gut, daß eine Wechselschuld in Wahrheit nie bestanden hat, und daß Sie mit ihr bloß doppelte Deckung hatten.«
»Ich hätte doch machen können mit dem Geld ein ganz ander Geschäft; wenn der alte Gojim war so dumm, daß er nicht einmal wußte, was er war schuldig oder nicht und eigensinnig dazu, statt zu machen einen guten Handel und freiwillig zu verkaufen das Haus, wo er profitiert hätte seine tausend Taler bar – hat er verdient sein Schicksal! Ich hab sie ihm geboten selber, hier auf diesem Fleck.«
»Und hätten verdient fünftausend daran, wie jetzt geschehen ist, während die Familie ins Elend gekommen.«
Der Agent fuhr ihn grimmig an. »Wie kommen Sie überhaupt wieder auf die Geschichte, die Sie doch gar nichts angeht und längst ist vorbei! Lassen Sie uns sprechen von dem andern Geschäft.«
Der kleine Meier wiegte melancholisch den dicken Kopf. »Hm – es ist mir gewesen, als ich stieg die Treppe herauf zu Ihnen, als hätte ich jemand gesehen durch das Fenster nach hinten gehn über den Hof und verschwinden in einer Tür. Sagen Sie mir, Hirsch, wer wohnt hinten im Hof von kleinen Leuten?«
»Soll ich kennen all das Gesindel! Ich hab' schon immer ausziehn wollen aus dem Haus, wenn es nicht grade wäre, daß mir's hier so gelegen ist für die Geschäfte. Es kann jeder gehn unbemerkt aus und ein, und weil wohnen auch anständige Leute im Haus, der Doktor und der Geheime Rat!«
»Der, von dem wir sprechen wollen? Ich wundere mich in der Tat, daß ein so hoher Beamter nicht in einem besseren Hause wohnt und in einer andern Stadtgegend.«
»Hm, die Wohnungen sind teuer! Der Herr Geheimrat wohnt schon hier in dem Hause, seit er ist gekommen nach Berlin. Er wird wohl haben seine Ursache dazu. Aber lassen Sie uns ins Reine bringen zuerst das andere Geschäft, ehe wir reden davon. Wollen Sie nehmen die Hypothek oder nicht auf das Haus vors Potsdamer Tor?«
»Ich habe mir's angesehn. Wenn Sie meinen, daß es ist sicher.«
»Wir machen den Handel zusammen. Es steht dreißigtausend in der Feuerkasse und ist wert das Doppelte. Die Hypotheken laufen aus mit fünfunddreißig. Die Preise der Häuser sind jetzt niedrig, weil die politische Lage ist unsicher und gedrückt. Zum ersten Juli können wir kündigen das Kapital, es muß gezahlt werden aus zum ersten Oktober. Ich wette Hundert gegen Eins, daß der Herr Major, der besitzt das Haus, nicht aufbringen wird das Kapital, denn jeder hält zurück mit seinem Geld, weil er kann machen mehr Prozente damit in den Eisenbahnen, und ich werde sorgen dafür, daß es ihm keiner gibt. Die Kreditinstitute für den Grundbesitz sind purer Schwindel; wo sie nicht sehen ein gutes Geschäft, da haben sie kein Geld. Wir werden kaufen das Haus für dreißig, nein für fünfundzwanzigtausend Taler. Wenn die Zeiten sicherer werden, müssen die Preise steigen in Berlin, und wir werden's verkaufen für's Doppelte. Wollen Sie, oder wollen Sie nicht?«
»Ich will – zur Hälfte! Also mit fünftausend.«
»Abgemacht – und nun zum Hauptgeschäft. Sagen Sie, was wollen Sie wissen?«
»Sie haben dem Konsortium bereits einen bedeutenden Dienst erwiesen mit der Nachricht über die Richtung, für welche sich die Regierung unter den beiden Konkurrenzvorschlägen zu entscheiden gedenkt. Wir wollen nicht wissen, von wem Sie gehabt haben die sichere Nachricht, aber aus der Quelle, aus der geschöpft ist das eine, ließe sich auch schöpfen wohl das andere.«
»Ich habe genug Ärger und Verdruß davon gehabt,« meinte der Agent, »und es hat mich gekostet schweres Geld.«
Der Kleine sah ihn pfiffig an. »Das doch gebracht hat gute Prozente. Was wollen Sie mehr? Gerade heraus, ich habe den Auftrag, Sie zu fragen, ob Sie noch haben die alte Verbindung, und ob Sie können üben Einfluß auf die Entscheidung wegen Erteilung der Konzession?«
Der Agent wandte die eigentümlichen Glotzaugen auf den kleinen Mann und wiegte nachdenkend das Haupt.
»Meierchen, Sie fragen so, ich will fragen anders. Was ist zu verdienen bei dem Geschäft?«
»Für wen? Für Sie?«
»Zunächst für mich, es muß sein anständig, denn ich werde haben davon viele Ausgaben. Es tut heutzutage niemand was umsonst, und wenn ich verborge auf der einen Seite verlornes Geld, muß mir's gestellt werden auf der anderen sicher.«
»Wenn unser Konsortium erhält die Konzession, sollen Sie haben zwanzigtausend Taler Aktien zum Kurs von 50 Prozent.«
»Es ist nichts Sicheres, aber es ist doch etwas. Sie wissen, daß das andere Projekt ist besser, um ganze drei Meilen kürzer und berührt rentable Punkte.«
»Aber das unsere ist notwendig für den Anschluß aus Polen. Die Aktien müssen steigen rapide!«
Der Agent lachte; die beiden Schlauköpfe, die einander blauen Dunst vorzumachen suchten, verstanden einander doch sehr wohl.
»Sein wir offen, Meierken. Ihr neuer Chef will nicht verhandeln mit mir selber, darum hat er Sie geschickt. Wollen Sie geben Sechszigtausend zu fünfzig, dann sollen Sie haben die Konzession, ich weiß sehr wohl, daß Sie brauchen die neue Konzession, damit Sie können fertig bauen die alte Bahn.«
Der Kleine tat, als ob er sich etwas besinne, dann schlug er ein. »Es gilt!«
»Und Sie haben's billig genug! Ich sage Ihnen Meier, und Sie wissen, ich habe ein scharfes Auge für die Welt, es wird kommen eine Zeit, mag sie kommen in fünf Jahren, mag sie kommen in zehn Jahren! aber sie kommt, so sicher ich hier vor Ihnen sitzen tu, wo Sie zahlen werden mit Vergnügen für die Konzession nicht sechszigtausend Taler Aktien, sondern sechsmalhunderttausend Taler, und wo die Direktoren, die gründen helfen eine Bahn, stecken eine Million in die Tasche wie nichts!«
Der kleine Buchhalter dachte unwillkürlich an das, was ihm der Doktor Straußtal prophezeit hatte.
»Also die Sechszigtausend, oder vielmehr die Dreißigtausend, wenn sie ausgegeben werden pari, sind für mich, für die Vermittelung. Aber Sie werden begreifen, daß ich nicht habe zu vergeben die Konzessionen aus meiner Tasche. Was soll ich bieten der Person, die herbeiführen kann die günstige Entscheidung?«
Der Buchhalter machte ein etwas verdutztes Gesicht. »Wie meinen Sie das, Hirsch?«
»Ich kann der Person nicht bieten Geld – wenigstens jetzt noch nicht, vielleicht später bei einem besseren Geschäft. Es ist ein Beamter, ein hoher Beamter, wie Sie können denken. Aber obschon er hat Schulden, mehr wie Haare auf dem Kopf, wird er doch zurückweisen eine Bestechung, und wäre sie dreißigtausend Taler. Meierken, ich versichere Sie, diese Herren Beamten in Preußen sind doch ein merkwürdiges Volk, sie wollen sein unbestechlich und halten auf die Reputation. Was tu ich mit der Reputation? als ob nicht jeder Mensch hätte eine schwache Seite, an der er ist zu fassen. Sie sehen's nur nicht ein, daß bares Geld und gute Papiere sind das einzig Richtige. Ich will Ihnen machen einen Vorschlag. Sie müssen die Person wählen mit ins Direktorium oder mindestens in den Verwaltungsrat von der neuen Bahn mit Anteil an der Tantième.«
»Wollen Sie mir nicht sagen zuerst, wer es ist?«
»Noch nicht! Der Herr Kommerzienrat kennt ihn so gut wie ich und Sie, ohne daß ich nenne den Namen.«
»Aber Sie sagen ja selbst, daß die Beamten sind hartnäckig. Würd' er als stimmberechtigtes Mitglied nicht eigensinnig sein und die Spekulation verderben?«
»Torheit, Meierken! Hat er gesagt A, wird er auch sagen B. Für was wären denn die Frauen da und die Tantièmen? Auf dem gewöhnlichen Wege bringts ein preußischer Geheimer Rat allerhöchstens zum Regierungspräsidenten, wenn er nicht ist vom Adel, aber niemals zum Kapitalisten. Die Geheimeräte und die Beamten werden auch endlich annehmen Vernunft, so gut wie in Rußland und in Österreich und in Frankreich, wenn sie sich auch sträuben noch so sehr und reden vom Gewissen und von Pflichten für das allgemeine Wohl, und wir brauchen die Herrn Beamten. Darum muß davor gesorgt werden, daß nicht etwa ein Gesetz gegeben wird, das den Herren Beamten in Preußen, oder den Herren von der Kammer, oder den Herren Bürgermeistern verbietet, einzutreten in die Direktion von einer Eisenbahn oder einer Aktien-Gesellschaft. Ich sage Ihnen, wenn unter dem Verwaltungsrat fungiert ein Geheimrat vons Ministerium, werden die Leute sich sagen, das Unternehmen ist solid, der Herr Staatsbeamte wird sorgen dafür, daß es ordentlich und richtig zugeht, und die Aktien werden gesucht sein, mehr als andere.«
»Aber wird es auch gestattet werden?«
»Warum sollt es nicht gestattet werden, wenn es nicht verboten ist. Entschließen Sie sich – kann ich reden mit der Person?«
»Es ist in der Tat so Etwas schon angedeutet worden – sprechen Sie mit ihm, aber geschickt, Herr Hirsch, ohne die Firma zu kompromittieren.«
»Der Aaron Hirsch ist doch kein Kind,« sagte der Agent brüsk, »und hat seine Hand gehabt schon in weit subtileren Dingen. Also Sie geben mir Vollmacht zum Unterhandeln und sollen hören von mir, bevor um sind drei Tage. Doch noch Eins. Ich weiß zwar, daß der Kommerzienrat hat zu seiner Disposition den ›Bank-Courier‹ und den ›Aktionair‹, aber wir müssen haben zu unserer Unterstützung noch eine politische Zeitung.«
»Die National-Zeitung steht leider auf der Seite unserer Konkurrenten.«
»Es braucht nicht zu sein eine große Zeitung, aber eine Zeitung, die macht Skandal, und die das Maul auftut und sich nicht fürchtet, die Leute herunter zu reißen, wenn sie für unsere Gegner sind, und zu verdächtigen, daß es eine Freude ist!«
»Und wissen Sie ein solches Blatt?«
»Warum nicht? Sie brauchen gar nicht erst weit zu suchen. Wenn Sie gehn aus meiner Tür, werden Sie sehen ein Schild an der Tür daneben, das heißt: Dr. jur. Heitel, Chefredakteur der ›Öffentlichkeit‹. Das ist der Mann.«
»Aber es wird kosten viel Geld!«
»Was heißt Geld, wenn es nur führt zum Zweck! Wenn Sie ihm geben alle Woche fünfzig oder hundert Taler Zuschuß, schreibt er in jeder Nummer von der neuen Bahn und macht Ihre Konkurrenten schlecht, daß kein Hund einen Bissen Brod von ihnen nimmt.«
»Wollen Sie haben die Güte und reden mit ihm?«
»Warum tun Sie's nicht selber, ich habe nicht gern zu tun mit ihm. Sie können gleich gehn zu ihm in sein Kabinet und reden mit ihm, eh er fährt ins Theater. Er ist zu Hause.«
Herr Hirsch wollte dem Buchhalter nicht gern mitteilen, daß er mit dem Doktor Heitel einmal ein sehr unangenehmes Renkontre gehabt hatte wegen einer eigentümlichen Geschichte, in der er dem Journalisten gewisse Versprechungen gemacht, die er später, als ihm die Sache nicht mehr paßte und der Preßmohr seine Schuldigkeit getan, einfach ableugnete.
Der Bucklige erhob sich; er hatte während der ganzen Verhandlung eine gewisse Unruhe gezeigt. In dem Augenblick jedoch, wo sie einander die Hände schüttelten, erklang ein leises Klopfen an der Doppeltür des Kabinets, die direkt zum Flur führte.
Der Agent beeilte sich, die Tür zu öffnen.
»Ah – meine gnädige Frau – darf ich bitten näher zu treten. – Nun Adieu, lieber Freund, – Sie werden mich besuchen doch in diesen Tagen wieder?« Er kniff bezeichnend die Augen zusammen und wies mit dem Daumen nach der Tür zum Nebenzimmer, aus dem ein Ausgang zum Flur führte. Der Kleine verstand und verschwand eilig ohne weiteren Abschied, wobei er sich jedoch nicht enthielt, einen Blick auf die Eintretende zu werfen.
Es war dies eine große hagere Frau von etwa fünfzig Jahren, mit schmalem bereits ziemlich faltigem Gesicht, großen grauen Augen und einer Adlernase. Die ladestockartige steife Haltung, die etwas forciert vornehmen Manieren und die elegante Haustoilette ließen einen so scharfsichtigen Beobachter wie den buckligen Buchhalter schließen, daß er eine Mitbewohnerin des Hauses und zwar die Gattin des Ministerial-Beamten sehe, der im zweiten Stock über dem Börsen-Agenten wohnte.
Zu weiteren Beobachtungen hatte er jedoch keine Zeit, denn er mußte dem bedeutsamen Winke des Geschäftsfreundes folgen und verschwinden.
Der Agent war, zu einigem Erstaunen der Geheimrätin, die ihn in letzter Zeit etwas vorsichtig gefunden, die Höflichkeit selbst. Er küßte die sehr magern Finger der Dame und führte sie zu der Causeuse, die an der Seite des Zimmers stand, auf der bisher nach dem Usus der mit dem Agenten Geschäfte Verhandelnden, der Buchhalter gesessen hatte.
»Welche Ehre und welches Vergnügen, gnädige Frau, Sie noch zu sehen am Abend bei mir. Ich würde rufen Rahel, meine Frau, um den lieben Besuch zu empfangen, wenn sie nicht gegangen wäre mit einer Freundin ins Opernhaus, wo man heute gibt die Hugenotten …«
»Bemühen Sie sich nicht, Herr Hirsch, mein Besuch gilt eigentlich Ihnen. Ich wollte nur bei der Gelegenheit Ihre liebe Frau bitten, es nicht übel zu nehmen, wenn sie gestört wird; meine Töchter haben heute ihren kleinen litterarischen Cercle und die Gesellschaft möchte wahrscheinlich heute etwas zahlreicher, als gewöhnlich werden, da der geniale Doktor Prutz, der geistreiche Kritiker, versprochen hat, uns zu besuchen.«
Herr Hirsch rieb sich die Hände. »Wie genteel, gnädige Frau, eine edle liberale Denkungsart; denn, wenn mir ist recht, hab' ich doch gehört, daß der Doktor Prutz gehört zu der Demokratie.«
Die Dame zog die stark geschwärzten Augenbrauen in die Höhe. »Wie können Sie uns für so engherzig halten; wir sind gewohnt, das heilige Geschenk des delphischen Gottes zu ehren und zu würdigen, wo wir es finden. Adelaide, unsere Älteste, ist ja, wie Sie vielleicht wissen, selbst von dem Finger Apolls berührt und freut sich so sehr, ein Urteil des berühmten Literar-Historikers über ihre Leistungen zu hören. Wenn Sie unsere kleine Gesellschaft mit Ihrer Gegenwart erfreuen wollen …«
»Ich bitte sehr, gnädige Frau, eine große Ehre vor mir, aber ich bin zu wenig ästhetisch, ein bloßer Geschäftsmann. Darf ich fragen, was mir sonst noch die Ehre verschafft, Sie so spät, ich möchte sagen, so en famille bei mir zu sehen?«
Die roten Flecken, die der kleine Meier trotz seines flüchtigen Blicks auf den hageren Wangen der Geheimrätin durch die leichte Schminke beim Eintritt bemerkt und auf eine gewisse Aufregung gedeutet hatte, erschienen von Neuem bei der Frage des Agenten.
»Ja, was ich sagen wollte, Herr Hirsch,« sprach sie mit einiger Befangenheit, »Sie müssen mir heute in eurer ganz besonderen Verlegenheit helfen. Denken Sie, ich habe eben einen sehr unangenehmen Auftritt mit meinem Manne gehabt!«
»O bedauere sehr!«
»Und zwar,« fuhr sie fort, »von wegen der kleinen Gefälligkeit, die ich Ihnen neulich erwiesen habe. Er beschuldigt mich geradezu, ich müsse geplaudert haben, und bewacht seitdem seinen Schreibtisch, wie ein Argus, selbst vor mir, seiner angetrauten Frau, der Mutter seiner Kinder! Als ob ich nicht in den Zirkeln, in denen ich mich bewege, ebenso viel über die Angelegenheit hören könnte. Da ist die Geheimrätin von Rake und die Präsidentin von Stiefsand, geborene Baronesse Waldenburg, und der Kammerherr von Puttkamer, dessen Güter ja an die neue Linie stoßen würden, und der gewiß aus dem Allerhöchsten Kabinet die besten Informationen hat und viele andere.«
Die Geheimrätin machte eine Pause, als wolle sie sich den Auftritt ins Gedächtnis zurückrufen, den sie soeben mit ihrem Gatten, in dem Kabinet gerade über dem des Agenten gehabt hatte. –
Bei ›Jeheimderats‹ sollte also heute abend literarischer Tee sein. Der Geheime Rat, – er hieß Görling und war Abteilungs-Chef in einem Ministerium, – bewohnte die Hälfte der zweiten Etage in dem großen Hause. Die Front bildeten außer dem Arbeits-Kabinet des Hausherrn zwei Gemächer, welche die Geheimerätin als Besuch- und Gesellschaftszimmer in bestem Glanz hielt, daran schloß sich das, den Berliner Flügelhäusern eigene ›Speisezimmer‹ mit dem einen Fenster, das kaum Licht genug herein läßt, bei Tage die Physiognomien zu erkennen, und je nach Bedarf zum Essen, zum Salon, zur Schlafstube oder zum Durchgang nach dem Seitenflügel dienen muß, in dem ein Paar kleinere Zimmer und Kammern nebst der Küche liegen, von der dann die Hintertreppe wieder in den Hof führt.
Der Geheime Rat hatte nur drei Töchter, keinen Sohn; aber zwei der Töchter waren Modedamen comme II faut und kosteten ihn mehr, als hätte er ebenso viele Söhne gehabt. Nur die dritte, die jüngste, Melanie, war aus der Art geschlagen, sie blieb das Aschenbrödel der Familie, besorgte das Hauswesen, die Wohnung, die Bequemlichkeiten des Vaters, die Nähereien für Mutter und Schwestern, und hatte doch immer noch Zeit zu andern Arbeiten, über welche die Schwestern die Nase rümpften oder welche die Mutter nicht sehen wollte.
Der Geheime Rat war ein kleiner dicker Mann, der gern gut aß und trank, aber dabei ein vortrefflicher und sehr geschickter Arbeiter war und deshalb bei seinen Chefs in großer Gunst stand, und er hatte dieser Chefs seit dem Jahre neunundvierzig bereits drei oder vier gehabt. Es ist ein Vorzug des konstitutionellen Systems, daß man Minister werden kann, wenn man auch von der Branche des Ministeriums herzlich wenig oder gar nichts versteht. Es genügt, ein Parteimann zu sein und Karriere machen zu wollen; aber es ist eine alte Erfahrung, daß mit dem Amt ganz andere Anschauungen kommen, so namentlich in bezug auf Würde und Gehorsam.
Den Geheimen Rat hatte der Ruf zum Hilfsarbeiter im Ministerium als langjährigen Assessor bei einer Regierung in den westlichen Provinzen getroffen; ein alter Freund und Studiengenosse, der Mitglied der neuen ersten Kammer geworden war, hatte sich seiner gedrückten Stellung und seiner guten Talente und Arbeitskraft erinnert und ihn einem der neuen Minister empfohlen. Der neu ernannte Regierungsrat und Hilfsarbeiter im Ministerium war während der Manteuffelschen Periode eine sehr reaktionäre Kraft gewesen, aber merkwürdiger Weise mit der neuen Aera stark ins Balanciren gekommen, und verstand jetzt auch mit den neuen Koryphäen und Wortführern sehr gut auszukommen; nur mit seinen Finanzen kam er nicht aus und steckte ewig in Schulden, weil er von Hause aus ganz unbemittelt gewesen war und seine Frau, eine törichte Auskultator-Leidenschaft aus einer Provinzialstadt, ebenso wenig gehabt hatte, als er sie, sehr jung noch, heiratete. Von dieser Jugend war freilich an Frau Geheime Rätin Görling nichts mehr zu spüren; sie war jetzt fünfundvierzig Jahre und schwärmte nur in Ehrgeiz und in der Bewunderung für ihre beiden ältesten Töchter. Er hatte zwar ein recht auskömmliches Gehalt, aber das reichte weder hier noch dort, und selbst die üblichen 500 Taler Gratifikation zur jährlichen Badereise wurden von den Damen allein verbraucht und kamen der Wirtschaftskasse nicht zu gute.
Wir wollen nicht sagen, daß die Frau Geheime Rätin nicht früher eine gute Wirtin gewesen und mit dem schmalen Assessor-Gehalt lange Jahre ziemlich gut ausgekommen wäre, aber die plötzliche Berufung nach Berlin und die Rangerhöhung hatten sich keineswegs als ein Segen für die Familie erwiesen; der Dame hatte sich der Hochmutsteufel bemächtigt, der bei Frauen ja weit öfter und schlimmer auftritt, und namentlich bei Berliner ›Geheimrätinnen‹, mehr als bei den Männern. Wir wollen keineswegs gesagt haben, daß nicht schon früher ein Keim zu der ›großen Rolle‹ in Frau Görling gesteckt hätte; in welcher Tochter Eva's schlummern nicht all die tausend Teufelchen, die später oft als so und so viele recht ansehnliche Teufel zu Tage treten, aber es war eben unter den gedrückten Verhältnissen eines unteren Beamten keine Gelegenheit dazu gewesen.
Es ist überhaupt eine eigentümliche Sache um den Artikel der ›Geheimen Räte‹ in Berlin, und die alte Illustration der ›Fliegenden Blätter‹ von Herrn Eisele und Beisele, die auf der Wanderschaft durch die Straßen Berlins einen Namen vergessen haben und sich damit helfen, zu rufen: »Herr Jeheimderat!« worauf aus allen Häusern, Fenstern und Stockwerken sich die verschiedenartigsten Köpfe strecken mit dem Ruf: »Meinen Sie mich?« – trifft den Nagel auf den Kopf. Himmel, was für Geheime Räte gibt es in der Tat dort, wirkliche und unwirkliche, aktive und pensionierte, Justiz- und Finanz-, Kriegs- und Kommissions-, Kanzlei- und Hof-, Rechnungs- und Sanitäts-, kurz alle möglichen Räte ohne viel Rat, aber sicher mit dem ›Geheimen‹ Vorschwanz.
Das Ehepaar hatte, wie erwähnt, drei Töchter, die noch unversorgt waren und dem Vater schwere Gedanken machten, während die Mutter ein wahrhaft himmlisches Vertrauen auf die Zukunft hatte und für ihre beiden Ältesten einen Grafen oder Baron für sicher hielt. Deshalb waren die beiden Mädchen auch gründlich verzogen worden und für die Bewerbungen, die sich bei der Stellung und dem bekannten Einfluß des Geheimen Rats gewiß unter den jüngeren Beamten zahlreich gefunden hätten, ganz unzugänglich. Die beiden Töchter wurden von der eitlen Mutter wie ein Paar ausgebotene Schaustücke überall hingeführt, wo man sich nur zeigen, und in die sogenannte exklusive Gesellschaft drängen konnte, bei Konzerten, Bällen, Theater, Soireen, Partien, überall mußten sie dabei sein.
Die Älteste, Adelaide, vom Vater und der Jüngsten zum großen Verdruß der Mutter und ihrer selbst Lida gerufen, galt als ein hochpoetisches Gemüt, eine Dichterin und Kunstverständige. Sie sprach hochgelehrt, zeigte sich überaus empfindsam, von der gewöhnlichen Welt nicht verstanden, und hatte einst den unglücklichen Versuch gemacht, eine Tragödie in ungereimten Versen zu schreiben und an die königliche Bühne zu bringen; aber das Lese-Komité, bis zu dem sie die Geheimerätin durch allerlei Besuche und Versuche glücklich durchgearbeitet, hatte sie zurückgewiesen unter dem Vorgeben allzugroßer Schwierigkeiten für die Aufführung. Seitdem spielte Lida die Gekränkte, von Kabalen Verfolgte. Der heutige Abend sollte dazu dienen, vor dem glücklich eingefangenen Kritikus, zwei noch sehr jugendlichen Garde-Offizieren, einer alten, halbtauben Baronesse und Stiftsdame und einigen anderen geladenen ästhetischen Personen einen Akt der Tragödie vorzulesen.
Iska, eigentlich Lodoiska getauft, weil sie zur Zeit eines polnischen Revolutionsversuches geboren worden, war das Gegenteil der Schwester. Sie wollte von Sentimentalität nichts wissen, spielte die Emanzipierte, rauchte Zigaretten, auch Zigarren, ritt mit Kavalieren spazieren, schoß Pistolen, hatte sich allerlei Phrasen des Sports angeeignet und fehlte gewiß auf keinem Rennen, ja, hatte es selbst bis zu der Hubertusjagd gebracht. Ihr Ideal wäre gewesen, gleich jener ungarischen Gräfin im Zirkus Renz als erste Schulreiterin zu debütieren; da aber der Herr Papa von dieser ›Karrière‹ nichts wissen wollte, mußte sie sich mit den kleinen gesellschaftlichen Exzentrizitäten begnügen, und da sie ein hübsches Stumpfnäschen bei lebendigen Augen und einen allerliebsten Tituskopf hatte, im Grunde auch eigentlich ein gutmütiges, gewecktes Mädchen ohne Neid und Intrigue war, ließ man sie sich in den Gesellschaftskreisen ganz gut gefallen.
Daß aber diese Neigungen der drei Damen viel Geld, ja sehr viel Geld kosteten, weit über die gewöhnlichen Einkünfte des Geheimen Rats hinaus, läßt sich denken, und so kam es, daß Papa und Mama und die gnädigen Fräuleins ewig in Geld-Verlegenheiten steckten, die oft zur wirklichen verschämten Not wuchsen, und die nur durch das sparsame verständige Wirtschaften der jüngeren Tochter wieder ausgeglichen wurden. Denn schließlich mußte der Geheime Rat den Forderungen der Damen immer weichen, und nur in einem Punkt war er klug genug gewesen, allem Grollen seiner Gattin und allen Klagen der beiden jungen Modedamen tapfer zu widerstehen: das war die Forderung nach einer größeren eleganteren Wohnung in einem fashionableren Stadtteil; denn er sah voraus, daß mit einer solchen sehr bald die Forderung von Diners, Bällen, Soireen und dergleichen hinterdrein kommen würde. So behauptete er mit einer bei seinem Charakter allerdings merkwürdigen Konsequenz, daß er an die alte, schon bei seiner Übersiedelung nach Berlin bezogene Wohnung so gewöhnt sei, daß er in einer anderen gar nicht arbeiten könne und sich lieber pensionieren lassen wolle.
Das Letztere war ein überaus geschickter Schachzug, denn die Geheimerätin fürchtete nichts mehr, als das Pensioniertwerden; mit dieser Drohung verschaffte sich der eheliche und väterliche Märtyrer stets wieder auf einige Zeit Ruhe, und Mutter und Töchter mußten sich mit kleinen Tee's und ästhetischen Gesellschaften begnügen.
Heute abend nun war der Geheime Rat in einer ziemlich unangenehmen Stimmung in seinem Arbeitskabinet vor dem fächerreichen Schreibtisch, die Augen fest auf ein Aktenstück gerichtet, die Feder in der Hand, einstweilen ohne Gebrauch, und ihm zur Seite, die Hand fest auf den Rand dieses Schreibtisches gestützt, stand die hagere Gestalt der Geheimrätin mit sehr erhitztem Gesicht.
»Aber Karl, ich sage Dir, ich muß Geld haben.«
Der Geheime Rat zog eine Schublade auf. »Da nimm!«
Es lagen in der Lade in einer kleinen Schwinge ein harter Taler und einige Viergroschenstücke.
»Unsinn, Mann« – aber sie nahm doch vorsichtig das Geld heraus und schob es in die Tasche, – »ich habe Dir schon gesagt, daß heute der Doktor Prutz kommt und der junge Fürst Strabetzkoi, der reiche moldauische Bojarensohn, der so viel Gefallen an Lodoiska findet und seit vierzehn Tagen fast nur mit ihr reitet und spricht. Ich sage Dir, es macht sich – er hat mir selbst gesagt, daß er in einem halben Jahr mündig ist und die großen Güter von seiner Mutter übernimmt.«
»Der Bursche sieht mir eher aus wie ein Aventürier!«
»Rede nicht solches Zeug, Görling, Du weißt, daß er einen Hofmeister oder Gesellschafter bei sich hat, einen höchst achtbaren ältlichen Herrn mit zwei Ordensbändern, den ihm sein Vater, der alte Fürst, mit Gewalt aufgezwungen für die Zeit, bis er mündig ist. Er muß auch aus vornehmer Familie sein.«
»Die Fürsten laufen in der Moldau und Walachei wie die Hammel umher,« murrte der Geheime Rat, »Du hättest nur Meusebach darüber sprechen hören sollen, der jetzt in Brasilien ist.«
»Wie sollte ich ihn sprechen hören, da Du nie Jemanden von Distinktion in unser Haus einführst. Freilich ist es auch danach, eine so pauvre Wohnung – Gott – das wäre eine Karrière für uns gewesen, Gesandtin! Meusebach war achtundvierzig doch auch bloß Assessor wie wir, aber Du taugst zu nichts als zum Schreibtisch, und ich bin eine mißhandelte Frau und Deine Töchter werden alte Jungfern werden ohne eine standesmäßige Partie machen zu können!«
»Ihr habt ja jetzt den Fürsten Strabetzkoi!« meinte ironisch der Gatte.
»Ja, Gott sei Dank, es ist wenigstens eine Aussicht, denn bei Adelaide, fürchte ich, ist es wieder nichts mit dem Grafen Hollburg, er hat für heute absagen lassen, obschon er weiß, daß Adel ihr Trauerspiel liest!«
»Vielleicht eben deswegen!« meinte der Geheime Rat; Madame schien es glücklicher Weise zu überhören. »Aber Du wirst um so mehr begreifen, daß wir uns heute darum nicht lumpen lassen dürfen. Ich habe deshalb zwei Schüsseln bei Huster bestellt, aber – der Mann ist noch immer nicht Hoftraiteur, was er doch längst hätte sein sollen, und denkt so plebejisch, daß er schon das vorige Mal Umstände machte und an die Rechnung erinnerte. Ich fürchte am Ende, daß er den bestellten Hummersalat und den Rehrücken mit Champignons nur gegen bar dem Mädchen mitgibt. Auch der Weinhändler unten macht Schwierigkeiten – hast Du denn die Rechnung noch nicht bezahlt?«
»Wovon sollte ich sie denn bezahlen – zweihundertfünfzig Taler! Ihr habt ja alles Geld für Gerson und Wietzer in der Fastnachtszeit verbraucht, in der nicht einmal die allgemeine Landestrauer Eurer Putzsucht Schranken setzen konnte!«
»Ich und meine Töchter werden uns doch von der Halbtrauer der vornehmen Gesellschaft nicht ausschließen können? – Übrigens,« fuhr die Dame giftig fort, »wolle der Herr Gemahl sich gefälligst erinnern, daß der größte Teil der Rechnung wohl auf seine eigene Schlemmerei kommt; wenn man zum Frühstück und Abend unten in der Weinkneipe sitzt und sich und guten Freunden mit feinen Weinen und Champagner bene tut, was man Alles ankreiden läßt, sollte man seiner Familie wenigstens das nicht bereden, was sie zur Aufrechthaltung der Ehre des Hauses braucht und in Sorge für zwei heiratsfähige Töchter, für die der Herr Gemahl gar nichts tut. Kurz und gut, ich muß mindestens fünfundzwanzig Taler haben, denn wir können uns heute nicht blamieren.«
»Du hast Dein Wirtschaftsgeld richtig am Ersten erhalten, gebt keine unnützen Gesellschaften und richtet Euch mit Euren Depensen danach ein! Ich habe kein Geld und will von Eurer läppischen Soirée überhaupt nichts wissen und nicht gestört sein, denn ich habe hier dringende Arbeit – die Angelegenheit der … Eisenbahn-Konzession muß dem Minister vorgelegt werden.«
Die Geheimrätin wurde bei dieser Bemerkung ihres Gemahls auf einmal sehr süß.
»Lieber Himmel, die einfältige Eisenbahn, mit der Du Dich seit drei Monaten plagen mußt! Aber warum machst Du nicht ein Ende damit – das Konsortium des Kommerzienrats würde sich für Deine Empfehlung sehr dankbar beweisen, und wir wären aus allen Verlegenheiten. Die Linie ist doch die vorteilhafteste.«
Der Beamte fuhr von seinen Akten auf und warf einen mißtrauischen Blick auf die freilich bereits etwas welke Eva, die ihm diesen Apfel der Verführung reichte. »Höre, Charlotte,« sagte er ernst, »was verstehst Du von dienstlichen Entscheidungen und Eisenbahnfragen! Ich wiederhole Dir, laß mich nicht denken, daß Du das Vertrauen auf meine Familie gemißbraucht und meine Sorglosigkeit benutzt hast, anderen Personen Einsicht in meine Akten oder wenigstens Kenntnis von Dingen zu geben, die sie auf erlaubtem Wege unmöglich haben konnten! Weißt Du, was das heißt, ›Bruch der Amtsverschwiegenheit‹?«
Die beiden roten Flecken erschienen auf den Backenknochen der Dame, aber sie hatte sich im Augenblick gefaßt.
»Ich muß Dir noch einmal sagen, Karl, ich verbitte mir ernstlich dergleichen Insinuationen,« sprach sie heftig. »Als ob nicht die vielen Personen, durch deren Hand der Plan schon bei der Gegenpartei gegangen sein muß, einem guten Freunde davon gesagt haben würden. Der Kommerzienrat ist wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen und hat gewiß hundert Mittel, die heimlichen Pläne und Manöver seiner Konkurrenten zu erfahren, und daß ich mich für seine Bahn interessiere, wie die ganze Stadt, nun das liegt doch sehr nahe; denn er macht ein sehr anständiges Haus, gibt alle Winter zwei Bälle und gibt sich alle mögliche Mühe, die gute Gesellschaft dazu einzuladen, während Ihr die Bauern und Hungerleider in den Krähwinkeln protegiert, die höchstens alle Jahre einmal dritter Klasse fahren werden! Doch das ist vorläufig nicht meine Sache, ich hoffe, der Minister wird mehr Verständnis für die Interessen seiner adligen Standesgenossen haben, als mein Herr Gemahl für noble Verpflichtungen. Aber nun muß ich mein Geld haben, wenigstens zwanzig Taler, daß ich die Schüsseln und den Wein holen lassen kann; also rücke heraus, ich habe keine Zeit übrig, ein preußischer Geheimer Rat wird doch wenigstens über zwanzig Taler disponieren können! Du hast ja die lumpige Verwaltung der Felsingschen Stiftung, und die Kasse in Deinem Bureau!«
»Frau!« Die Stimme des Geheimen Rats hatte trotz der dicken behaglichen Natur des Rufenden etwas Drohendes, Erschreckendes. »Verlaß mich augenblicklich, ich habe zu tun. Wenn Du törichte Gesellschaften halten willst, so sieh zu, wo Du das Geld herbekommst.«
Die Geheime Rätin hielt es für zweckmäßig, ihren Rückzug anzutreten, denn vor diesem Ton ihres Mannes hatte sie doch Scheu; aber Zweck und Sieg gab sie deshalb doch nicht auf. So trat sie ins Nebenzimmer, wo die älteren Töchter bereits in fertiger Toilette saßen und die jüngste schaffend und ordnend ab- und zuging, und warf sich wie erschöpft in den Divan.
»Der Barbar!« stöhnte sie, das Tuch an die Augen führend – »uns so zu behandeln. Wenn er nur wenigstens zehn Taler herausgerückt hätte. Das wäre doch für zwei Flaschen Champagner und den Rotwein gewesen; mit dem Koch wären wir schon fertig geworden! Kinder, Euer Vater ist ein Geizhals, ein Tyrann, und wir brauchten gar nicht in Verlegenheit zu sein und könnten alle Sommer vier Wochen länger in Wiesbaden oder Reichenhall bleiben. Melani, laß das Staubputzen und Tellerordnen sein und komm hierher. Wenn wir nichts darauf zu brocken haben, nutzt alle Zierlichkeit nichts!«
Die alte Natur der Dame kam im Ärger zum Vorschein, Fräulein Adelaide klappte, sehr aigriert von diesen gemeinen Sorgen des Haushalts, das in roten Maroquin gebundene Exemplar ihres Trauerspiels zu, aus dem sie sich für die Vorlesung beim Tee, wohlüberlegt vor dem Abendbrot, vorbereitet hatte, und wandte sich mit einem Mais Maman! ab, Lodoiska aber wollte sich ausschütten vor Lachen, nur die jüngste Tochter kam teilnehmend zu der geärgerten Mutter.
»Der Vater hat sicher augenblicklich kein Geld, sonst hätte er Dir welches gegeben,« sagte sie beruhigend.
»Hast Du welches? Ich weiß, Du hast immer Sparpfennige, und der Teufel weiß, wo Du sie zusammenbringst. Darum essen wir auch für gewöhnlich so jämmerlich in der Wirtschaft, daß wir einen anständigen Menschen gar nicht zu Tisch laden können.«
Das junge Mädchen nahm die unverdienten Vorwürfe geduldig hin; sie allein mit ihrer rastlosen Tätigkeit und ihrer weit über ihre Jahre hinausgehenden Umsicht war es ja, welche die ganze Wirtschaft zusammenhielt. »Geld habe ich freilich nicht, Mama, Du weißt, daß der Monat bald zu Ende ist und daß Du mir ja nur die Hälfte von dem überläßt, was der Vater als Wirtschaftsgeld gibt.« Daß die Schwestern, die, wie die Geheime Rätin selbst, nie mit ihrem Taschengelde auskamen, noch sehr häufige Anleihen bei ihr machten, verschwieg sie. »Ich will selbst mit der Auguste bei Herrn Huster die Schüsseln holen.«
»Na,« murrte die in allerlei Gedanken vertiefte Dame, »ich meinte nur, weil Du immer einen Heckepfennig hast. Aber wahrscheinlich hast Du das Letzte wieder an irgend eine der Bettlerfamilien im Hofe weggegeben. Gott, daß man mit solchem ordinären Pack in ein und demselben Hause wohnen muß! Das kommt von der ungentilen Straße, aber Dein Vater hört nicht! Der Minister müßte es ihm wirklich befehlen, hier fortzuziehen.«
»Es würde in einer anderen Straße auch nicht besser sein, liebe Mutter,« tröstete das junge Mädchen. »Reiche und Arme gibt es überall, und Du weißt, wie Papa an dieser Wohnung hängt. Aber sage mir«, fuhr sie leiser fort, »wieviel brauchst Du notwendig noch?«
»Du hast es ja gehört, es sind mit uns, Dich ausgeschlossen, da Du in der Küche bleiben und die Aufsicht führen mußt, vierzehn Personen ohne den Vater.«
»Also fünfzehn mit dem Vater.«
Die Stimme des Mädchens schien einen leichten Vorwurf zu bergen.
»Nein, er ist, wie so häufig seit einiger Zeit, störrisch und will nicht in unseren Kreis kommen. Ich weiß gar nicht, Iska, was er für ein unpassendes Vorurteil gegen den jungen Fürsten hat. Das kommt wahrscheinlich, weil er so schlecht französisch spricht.«
Das Französisch der Frau Geheimrätin war womöglich noch mangelhafter.
»Aber, da fällt mir etwas ein – ich komme gleich wieder, Kinder. Arrangiert unterdeß den Teetisch und Du, Lanie, sorge für die Lampen.«
Die Dame nahm in Ermangelung eines näher zur Hand liegenden Umhangs eine mit falschem Hermelin gefütterte Sortie de Bal und verschwand im Vorflur.
Melanie, die längst die Lampen besorgt hatte, klopfte bei dem Vater an, um ihn nicht zu stören, wenn er etwa nicht Zeit hätte, und huschte dann in sein Kabinet, wo sie den Geheimen Rat den Kopf in die Hand gestützt zwar noch vor seinen Akten, aber doch mit ein Paar anderen Papieren beschäftigt fand, die dem Anschein nach Rechnungen waren, die er eben zusammenaddiert hatte.
»Ich wollte Dich bloß fragen, Väterchen, ob ich Dir vielleicht eine Tasse Tee herüber bringen soll und später etwas Abendbrot, wenn Du nicht hinüber kommst, oder ob Du ausgehst?«
Sie streichelte ihm das volle Gesicht und küßte ihm die Furchen von der Stirn, die sich unter ihren Lippen zu glätten schien. Der Geheime Rat legte die Hand um die Taille des Mädchens, zog sie zu sich nieder und küßte sie auf die frische Wange.
»Mein Herzenskind,« sagte er, »Du bist doch die beste von allen und mein Trost in diesem Treiben voll Leichtsinn und Unverstand. Gott beschere Dir einst ein zufriedenes glückliches Los, und Du wirst es finden, weil Du von früh an Dich an Tätigkeit und bescheidene Beschränkung Deiner Wünsche und Bedürfnisse gewöhnt hast. Glaube mir, meine liebe Lanie, das ist das beste Heiratsgut, was eine Frau ihrem Manne mitbringen kann – und viel anderes wirst Du ihm leider schwerlich mitbringen!«
Das junge Mädchen versteckte errötend den Kopf hinter dem des Vaters. Ob es der bloße Gedanke des Heiratens war, oder ob dem Mädchen dabei bereits ein bestimmtes Bild vorschwebte, wer hätte das so sicher entscheiden mögen, als sie jetzt lachend sagte: »Aber Väterchen, wie kannst Du solches Zeug reden, was würde die Mutter dazu sagen und die Schwestern, die mich doch alle noch als unreifen Knirps ansehen, obgleich ich doch im vorigen Monat sechszehn Jahre geworden bin und schon seit anderthalb Jahren eingesegnet und von den Ursulinerinnen mit Zeugnis Nummer Eins entlassen! Nein Papa, setz' mir nicht solch dumme Dinge in den Kopf, ich bleibe bei Dir, pflege Dich und die Mama und werde eine alte Jungfer, wie wahrscheinlich …«
Die kleine Plaudertasche hatte etwas auf der Zunge, aber sie besann sich noch zeitig genug und unterdrückte es.
Es war ein treffliches Mädchen, eine geistig und körperlich frische Natur, wie man sie manchmal in dem entnervenden Dunstkreis der Großstadt und unter den ungünstigsten Verhältnissen findet. Sie hatte keine Anlage zu der großen Statur der Mutter wie die älteste Schwester, ihre Figur war eher klein und von einer gewissen Fülle, entbehrte aber keineswegs der Zierlichkeit. Lachende hellbraune Augen unter eben solchem Haar, ein hübsches Stumpfnäschen und ein Mund mit frischen roten Lippen und weißen Zähnen, machten dies Gesicht überaus angenehm.
Eilig küßte sie nochmals den Vater, empfahl ihm, nur zu schellen, wenn er etwas brauche, und unter der Versicherung, daß sie noch sehr viel zu tun habe, huschte sie geschwind davon.
Aus den Familienzimmern aber eilte sie nach dem Separat-Kämmerchen, das sie neben der Küche bewohnte, packte dort hastig etwas zusammen, schlang ein schwarzes Flortuch um Kopf und Wangen und verschwand dann über die Hintertreppe nach unten.
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Das war's, was eine Treppe höher vorgegangen war, kurz bevor die Geheime Rätin den Agenten besuchte.
Die Dame fixierte Herrn Hirsch so scharf, daß seine Glotzaugen hinter dem Schutz der goldenen Brille unruhig hin- und herfuhren und ihr Besitzer auf seinem Fauteuil hin- und herzurücken begann.
»Wissen Sie auch, geehrter Herr Hausgenosse und Freund, was in diesem Augenblick passiert?«
»Bitte, meine Gnädigste!«
»Nun, mein Mann faßt den Schlußbericht in Sachen der … Eisenbahn und der zu erteilenden Konzession ab, der alsbald dem Minister vorgelegt werden soll. Sie wissen, durch welche Brille Exzellenz sieht.«
»Gott der Gerechte – so rasch!«
»Die Sache wird wahrscheinlich zu Ende gebracht werden sollen!«
»Gnädige Frau, es steht viel für uns auf dem Spiel, es darf nicht sein, die Gegenpartei darf nicht die Konzession erhalten.«
»Sie wissen, daß sie Freunde hat; ein Mitglied des Abgeordneten-Hauses interessiert sich lebhaft dafür.«
»Aber zwei Herren vom Herrenhaus haben ihre Güter an unserer Linie. Die Presse wird schreiben für uns. Gnädige Frau, Sie müssen bieten auf all' Ihren Einfluß auf Ihren Herrn Gemahl, daß wir bekommen die Konzession. Einer schönen Frau ist doch nichts unmöglich.«
»Wenn ich auch wollte, Herr Hirsch,« sagte die Geheime Rätin geziert; »ich kann mich jetzt wirklich nicht damit beschäftigen, ich habe so viele Sorgen und Verdruß – Haushaltungs-Angelegenheiten! Es ist jetzt vieles zu teuer und die Gehälter selbst der höchsten Beamten sind bei uns sehr kärglich zugeschnitten. Eben hatte ich einen Auftritt deswegen mit meinem Mann, wie ich Ihnen erzählte, der in der Tat zu genau ist, wenigstens uns gegenüber.«
»Aber gnädige Frau, wie können Sie wegen solcher Kleinigkeiten Ihren Herrn Gemahl belästigen, der doch zu denken hat ganz andere Dinge. Sie wissen ja, daß ein Freund Ihrer geehrten Familie stets bereit ist, zu helfen aus der Verlegenheit. Kann ich dienen mit hundert oder zweihundert Talern – bitte, befehlen Sie nur!«
»Ich muß gestehen, es wäre mir gerade in diesem Augenblick allerdings ein kleiner Vorschuß sehr erwünscht, und ich kam eigentlich herunter, Sie darum zu bitten. Ich fürchte nur …«
»Was?«
»Die Wiederbezahlung wird uns in der nächsten Zeit genieren. Nach Beendigung der Hoftrauer wird es gewiß große Festlichkeiten bei den Allerhöchsten und Höchsten Herrschaften und in den vornehmen Kreisen geben, und die Krönungsfestlichkeiten werden auch bedeutende Ausgaben für die Toilette fordern.«
»Aber was beunruhigen Sie sich um solche Dinge, gnädige Frau!« sagte der Agent, der zu seinem Bureau ging und zwei Hunderttalerscheine aus einer Kassette nahm, die er vor die von dem Anblick sehr erfreute Geheime Rätin niederlegte. »Ein kleines Scheinchen genügt, Sie können es mir wiedergeben, ganz nach Belieben; wenn erst der Herr Geheime Rat Mitglied ist vom Verwaltungsrat der … Bahn, wird die Tantieme sein alle Jahre so reichlich – vier, fünftausend Taler mindestens – daß Sie nicht kommen werden wegen solcher Lappalien in Verlegenheit.«
»Wie? also meinten Sie wirklich, daß …«
»Ich habe den Auftrag vom Konsortium, das bereits gewählt hat die Direktion, für den Fall es erhält die Konzession, den Herrn Geheimen Rat zu bitten, der Gesellschaft die Ehre zu erweisen und zu treten in den Verwaltungsrat, der sehr nötig hat eine Kraft von solcher Capacität und Erfahrung, die bewirken kann unendlich viel Gutes.«
»Aber bestes Hirschchen,« sagte die Dame sehr erfreut, »dann ist ja keine Zeit zu verlieren. Wäre es nicht gut, wenn Sie selbst einmal mit ihm sprächen, er ist jetzt grade allein – und« fügte sie bezeichnend hinzu – »bei der Arbeit.«
»Wissen Sie, gnädige Frau«, sagte der Agent, »es ist eigentlich gewesen meine Meinung, zu machen dem Herrn Geheimrat einen Besuch. Sie kommen meinen Wünschen zuvor, und Gott gebe, daß es hat einen guten Erfolg. Ich werde mir anziehen einen anständigen Rock und also gleich machen meine Aufwartung.«
Die Geheime Rätin reichte ihm die Hand und entfernte sich dann eiligst. Wahrscheinlich wegen dieser Eile hatte sie vergessen, dem Herrn Hirsch einen Schuldschein auszustellen, und Herr Hirsch war zu delikat, sie daran zu erinnern, »Schreiben wir's zu dem andern« sagte er vor sich hin, während er kurze Toilette machte. – – – – – –
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Die kleine Melanie war rasch die Treppe hinab und über den Hof gehuscht, wobei sie sich nicht enthielt, einen Blick nach der großen Schlosserei im Quergebäude zu werfen. Es war jetzt sieben Uhr und die Arbeit war eben eingestellt, nur die Handlanger und Burschen waren noch beschäftigt mit dem Auslöschen der Feuer- und Gas-Flammen und dem Wegräumen der Gerätschaften. Die Gehülfen waren schon gegangen und saßen meistens bereits oben in der Arbeiter-Versammlung.
Fräulein Melanie trippelte in eine der dunklen Seitentüren des Parterre, wo sie sehr gut Bescheid zu wissen schien, und schellte leise an einer von der Vorderseite in den Flur mündenden Tür.
Nach einer kleinen Pause schlürften Schritte herbei und man fragte von innen: »Wer ist da?«
»Mama Montmartin, ich bin's, die Lanie!«
»O mein Püppchen,« sagte die Stimme und die Hintertür wurde rasch aufgemacht und die Klopfende in die kleine Küche eingelassen. »Treten Sie nur ein, liebes Kindchen, ich habe Sie ja so lange nicht gesehen, und heute hoffte ich am wenigstens auf das Vergnügen, da ich von der Auguste hörte, daß die gnädige Mama heute Gesellschaft hat. – Das wird eine Freude sein für meinen Alten und noch einen gewissen Jemand. Sie sitzen beide im Laden und plaudern von Industrie und Politik, und wer weiß was sonst für Dingen, wovon ich nichts verstehe. Deshalb finden Sie mich hier beim Bereiten des Abendbrots, mein Goldkind. Treten Sie nur geschwind in unser Stübchen, die Lampe brennt.«
Es war eine alte überaus gutmütig aussehende Bürgersfrau, die das junge Mädchen so freundschaftlich empfangen hatte. Madam Montmartin war an die Sechszig, aber noch überaus rüstig und beweglich, sie konnte keinen Augenblick müßig sein, selbst während ihres Gesprächs mit dem jungen Mädchen. Gewisse Züge in ihrem Wesen, ja selbst in dem überaus gutmütigen Gesicht der Matrone zeigten, daß sie eine geborene Berlinerin war, trotz des französischen Namens. Und in der Tat war sie mit Spreewasser getauft, hatte aber ein Mitglied der französischen Kolonie, Herrn Montmartin, gelernten Posamentierer und später Tapisseriehändler, geheiratet.
Das alte Ehepaar hatte keine Kinder, das einzige Töchterchen war schon im vierten Jahre gestorben, und da Melanie, als ihre Eltern nach Berlin übersiedelten, fast eben so alt, und das frische, fröhliche Kind mit den plebejischen Spielgefährtinnen aus den Hinterwohnungen lange im Hofe umhergesprungen war, da es sich zu Herrn und Frau Montmartin immer sehr hingezogen gefühlt und fast seine halbe Zeit bei ihnen zugebracht hatte, bald dies, bald jenes in der kleinen Wirtschaft helfend und so den Grund zu seiner künftigen eigenen Wirtschaftlichkeit legend, hatte sich das alte Paar bald so an sie gewöhnt, daß es das Mädchen wie seine eigene Tochter liebte.
Dies Verhältnis befestigte sich nur mit den Jahren; während die beiden älteren Schwestern in eine Pension gebracht wurden, besuchte Melanie, aus einer katholischen Familie stammend, die Schule des nahen Ursuliner Klosters, und wenn dort auch die wissenschaftliche Ausbildung der guten Schwestern gar vieles zu wünschen übrig ließ – die guten Eigenschaften des Herzens wurden gehegt und gepflegt und dem jungen Mädchen Fleiß und Genügsamkeit in seinen Ansprüchen eingepflanzt. In eine vornehme Pension wie die Schwestern hatte die Mutter ihre Jüngste nicht gebracht, wahrscheinlich, weil es ihr damals schon so viel kostete, aber das war grade ein Segen für das Mädchen, das nun desto einfacher und natürlicher geblieben war. Den Umgang mit den Montmartins hatte die Rätin zwar etwas beschränkt, aber doch nicht verboten, da ihr der französische Name etwas imponierte und auch das Gerücht ging, die Montmartins wären bei der Auswanderung aus Frankreich und ihre Aufnahme durch den Großen Kurfürsten eine vornehme Familie etwa gar »Marquis« drüben an der Loire gewesen, und hätten mit dem bürgerlichen Gewerbe nur den bürgerlichen Stand angenommen. Auch wirkten später wohl noch einige andere Gründe mit, aber die Schwestern rümpften wegwerfend die Nase, wenn Melanie von der vortrefflichen alten Frau erzählte, die freilich keine Bildung hatte wie sie, und nicht einmal zu den höheren Bürgerkreisen sich drängte, sondern einfach und still mit dem kleinen Franzosen wirtschaftete und sparte. Und das Letztere tat sie redlich, denn im Hause ging das Gerede, die Montmartins seien eigentlich sehr wohlhabende Leute, hätten etwas hinter sich gebracht und sich längst vom Geschäft zurückziehen und Partikuliers spielen können, eine Zukunft, an der das Herz des Berliner Bürgers in alter Zeit hing. Doch wenn es auch Tatsache war, daß Herr Montmartin durch große Umsicht in seinem Geschäft und ausgebildeten Geschmack einen großen Umsatz in seinem Betrieb erzielte und namentlich mit schönen Stickereien und Mustern einen weit über die Grenzen Berlins, ja Preußens gehenden Handel trieb, so lebte das Paar doch unverändert in seiner Weise fort. Er gönnte sich kaum die Unterstützung einer Ladenjungfer, die außer dem Hause schlief, und Herr Montmartin hielt streng darauf, daß in seinem kleinen Laden der geringste Kunde, der ein Röllchen Garn forderte, eben so prompt und höflich bedient wurde, wie die vornehmste Dame, die in der Equipage vorgefahren kam, um eine zu drei Vierteln von kunstfleißiger, vielleicht ebenso aristokratischer Hand vollendete Stickerei auszusuchen, und mit der Grundfüllung des Canevas dann in Gesellschaft zu kokettieren und die vollendete Stickerei in einer der hundertfachen Formen, welche die Mode erfunden hat, Vater, Gatten oder Verlobtem zum Cadeau zu machen.
Es ist dies, die Vorbereitung solcher Stickereien und Handarbeiten, das heißt die Vollendung eines kleinen oder größeren Teils, nach der sich dann der Rest ohne Mühe und Kopfzerbrechen herstellen läßt, ein sehr bedeutender Industriezweig geworden, und Herr Montmartin hatte das Verdienst, diese Spekulation zuerst in Gang gesetzt zu haben. Viele Hunderte fleißiger Mädchen gewannen damit ihr Brot, und es ist eine bekannte Sache, daß im Stillen in Berlin und in der Provinz sich viele Töchter sogenannter guter Familien mit solchen Arbeiten für die Geschäfte großer Städte ihr Taschen- und Toilettengeld verdienen.
Melanie war rot geworden, als Madame Montmartin noch einer dritten Person erwähnte, die gewiß über ihren unverhofften Besuch sehr erfreut sein würde, schien aber nicht besondere Eile zu haben, diese Freude persönlich wahrzunehmen; vielmehr hielt sie die alte Frau zurück, als diese sie in die anstoßende Stube nötigen wollte und sagte: »Bitte, bitte, Mamachen, ich habe große Eile, und, wie Sie sagen, alle Hände voll zu tun; aber ich möchte gern Monsieur Montmartin einen Augenblick sprechen. Wollen Sie wohl die Güte haben, ihn aus ein Paar Minuten herausrufen?«
»I Herrje, Lanchen, was haben Sie denn so eilig, und noch dazu Geheimnisse mit meinem Alten, die der Gustav nicht wissen soll? Kann ich's nicht besorgen?«
»Bitte, bitte, Mamachen!« Ihre hübsche runde Hand streichelte das runzliche Gesicht der Alten. »Sie werden es nachher erfahren, denn Onkelchen sagt Ihnen ja doch alles, selbst in Geschäftssachen.«
»Na, ich wollte ihn auch, wenn er ein Geheimnis hätte vor mir! Merken Sie sich das Kind, das darf unter ordentlichen Eheleuten niemals vorkommen; was der Mann weiß, muß die Frau wissen, und so umgekehrt. Na – er soll gleich kommen. Er hat sich von der Mamsell eine Weiße holen lassen und da sitzen sie und schwatzen.«
Und – und bitte Mamachen, leisten Sie Herrn Wehrmann einen Augenblick Gesellschaft!«
Die Alte faßte sie unter's Kinn. »Gewiß; aber Herzenskind, Du kommst doch dann wenigstens einen Augenblick herein? Der arme Junge wird sich sehr freuen, Dir Adieu zu sagen – ja richtig! Sie wissen noch gar nicht, Lanchen, daß er am Montag früh schon fort muß!«
»Gustav – Herr Wehrmann!« verbesserte sie sich, und es klang wie ein Ruf des Schreckens. »Was ist denn geschehn? Wohin denn?«
»Na, das kann er Dir ja besser selbst erzählen. Jetzt will ich nur geschwind meinen Alten rufen, dann kannst Du um so länger bleiben. Komm her, Lanchen, und gib mir einen Kuß, Herzensmädel, machst Dich ohnehin jetzt so rar!«
Damit küßte sie das junge Mädchen auf die Stirn und lief in ihrer hastigen unruhigen Weise aus der Küche. Als sie allein war, preßte das Mädchen wie unwillkürlich die Hand auf's Herz und ein tiefer Atemzug hob die knospende schöngeformte Brust, dann aber wandte sie ihre Augen fest auf die Tür, als könne sie da hindurch blicken durch das Schlafzimmer der beiden Alten hinein in das kleine Wohngemach. Nach wenigen Augenblicken öffnete sich auch die Tür, und Herr Montmartin trat ein.
Der Nachkomme der Refügés war eine, nicht bloß in seiner Straße und seinem Stadtteil, sondern in halb Berlin damals wohl bekannte, und durch das Unglück, das ihn später traf, noch lange in der Erinnerung fortlebende Figur. Er zählte zu jener Zeit im Frühjahr 1861, bereits 62 Jahre, fünf Jahre mehr als seine Gattin, und war gleich dieser noch überaus rüstig, nur in anderer Art; denn wenn Madame Montmartin beleibt und stark war, so war ihr Gemahl gerade das Gegenteil, von kleiner zarter schmächtiger Figur, die noch zierlicher erschien durch den freilich etwas altmodischen, aber überaus saubern Anzug, den er trug und zwar vom Morgen ab, sobald er das Geschäft des Rasierens vollzogen und seinen Laden geöffnet hatte, was pünktlich um 9 Uhr geschah, bis zur Stunde, wo er sich zur Ruhe begab. Dieser Anzug bestand in einer Art braunem Roquelaure, früher mit kurzem Kragen über den Schultern, der jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten verschwunden war, während der bis an die Knie reichende Rock die großen Seitentaschen beibehalten hatte. Dazu trug Monsieur Montmartin stets schwarze Kniehosen, seidene Strümpfe und Schuhe, im Winter hohe Stiefel mit gelben Stiefeletten, weißes Gilet und weiße Binde mit sorgfältig gefaltetem Jabot, das von einer Smaragdnadel zusammengehalten ward, und außerordentlich feine und große Manschetten, unter denen die kleinen schmalen und wohlgepflegten Hände mit den vielen Ringen förmlich verschwanden. Obschon er seit mehr als vierzig Jahren keinen Haarbeutel und kein Toupet mehr trug, waren seine grauen Haare doch sorgfältig gekräuselt – ein Liebesamt, das Frau Montmartin versah – und sogar ein wenig mit Puder versehen. Sein feines Gesicht war lang und schmal, die Stirn desgleichen, die dunklen Augen echt französisch, noch immer blitzend und scharf und doch unverkennbare Herzensgute aussprechend. Jede seiner Bewegungen hatte etwas Zierliches, Feines, und es fehlte ihm in der Tat nur der Stahldegen an der Seite und der dreieckige plümierte Hut unter dem Arm, um einen französischen Seigneur des vorigen Jahrhunderts abzugeben. Daß er aus gutem Blute stammte, darüber konnte selbst dem oberflächlichen Beobachter kein Zweifel sein.
Monsieur Montmartin kam mit einem gewissen Menuetschritt auf das junge Mädchen zu, faßte ihre Hand und küßte sie mit gespitzten Lippen auf die frische Stirn. » Ah ma chère Mélanie – que je suis enchante, de vous revoir, böses Kindken, drei ganze Tag hab ik Sie nicht geschaut, vreiment, und mir doch so sehr gesehnt nach meiner mignon! Wo haben Sie doch gesteckt so lang, mon chèr enfant?«
»Ich hatte sehr viel zu tun in der Wirtschaft, Onkel Montmartin, und nicht einen Augenblick Zeit, sonst wäre ich gewiß gekommen. Sie wissen ja, wie gerne ich bei Ihnen ein Stündchen verplaudere.«
» Oui, j'en suis persuadé – ah ik weiß! Ma petite Mélanie – mein liebes Töchterken haben ein Herz so gut wie ein Engel. Aber ik seind ein alter Mann, ik und Madame Montmartin haben nur Mademoiselle Melanie als Kind, da uns le bon Dieu genommen haben unsrigen Kind so jung, so jung, daß Monsieur et Madame Montmartin immer haben die größte Sehnsucht, zu sehen ihre kleine Melanie. Aber ik vergesse ganz über das Vergnügen, Sie zu sehen, Sie zu bitten, doch einzutreten in unsere kleine, sehr kleine Salon, wo Monsieur Werrmann waren sehr erfreut, zu hören, daß Mademoiselle Melanie gekommen.«
»Einen Augenblick, Onkel Montmartin,« sagte das Mädchen, die Augen senkend. »Sie haben mich ja selbst das Sprichwort gelehrt: Erst das Geschäft! Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie die beiden Stickereien hier ansehen und mir sagen wollten, ob Sie sie brauchen können?«
Dabei hatte das junge Mädchen eine Papier-Emballage geöffnet, die sie bisher unter dem Arm getragen, und zwei wirklich äußerst kunstvoll gearbeitete Stickereien zu einem Kissen und einem Oreiller hervorgeholt, die sie nun ihrem alten Freunde entgegenhielt.
Es war nicht die erste Handarbeit, die sie dem Geschäft verkaufte, vielmehr hatte sie schon für dies gearbeitet und in ihrem Kämmerchen selbst während der Nachtstunden, oder, wenn sie allein war, Mutter und Schwestern vielleicht im Theater oder in Gesellschaft, von der Kunstfertigkeit, die sie im Kloster erworben, oder die sie sich durch die Ratschläge Herrn Montmartins, der selbst ein ganz vortrefflicher Zeichner und Kunststicker war, angeeignet, Gebrauch gemacht, um entweder die Eltern und Geschwister mit allerlei zierlichen Gaben zu erfreuen, oder durch den Verkauf das bescheidene Taschengeld, das man ihr gewährte, zu erhöhen; oft genug hatte freilich der kleine Erwerb noch als Zubuße zur Wirtschaft dienen müssen, obschon dies die Geheimrätin vornehm ignorierte und die Schwestern, denen dieser Fleiß unmöglich verborgen bleiben konnte, sich wegwerfende Bemerkungen über diese unpassende Industrie erlaubten. Einmal in einer großen Verlegenheit hatte die Geheimrätin Melanie sogar aufgefordert, Monsieur Montmartin, der ja doch Geld genug habe, um eine größere Summe als Darlehn zu bitten, die er ihr bei seiner Vorliebe für sie gewiß nicht verweigern würde; aber Melanie hatte sich so energisch gegen dies Verlangen gesträubt und erklärt, daß sie lieber den ganzen Verkehr mit dem alten Ehepaar lösen werde, daß die Geheimrätin gezwungen war, die Spekulation aufzugeben, und zur Revanche den Verkehr des Mädchens mit den »Bürgersleuten« sehr beschränkt hatte.
Der Posamentier betrachtete die Stickereien einzeln mit der Miene eines Kenners durch das Augenglas, das er aus seiner Westentasche gezogen hatte und schüttelte bedenklich den Kopf.
»Ach, Onkel Montmartin,« flüsterte betrübt das Mädchen, »ich sehe es Ihnen an, die Arbeit ist gewiß nicht viel wert! Und doch habe ich möglichsten Fleiß darauf verwendet, da sie eigentlich zu Papas Geburtstag bestimmt war. Aber sagen sie es nur gerade heraus – Sie können sie nicht brauchen, sie gefallen Ihnen nicht!«
» Au contraire,« rief der kleine Franzose. » Charmant! magnifique! Sagen Sie mir, Kind, wo Sie nehmen die Zeit dazu und den Gesmak? Aber ik alter Narr vergessen ganz, was betrifft den Gesmak, daß Sie gewesen sind schon als klein Kind die Schülerin von Monsieur Montmartin, dessen Gesmak und Urteil sein nicht ganz gering! Aber er sein sehr böse auf sein klein Melanie, daß si anstrengt ihre hübschen Augen allzusehr und sein zu fleißig, während Mademoiselles les soeurs tun gar nix, als zu gehn auf die Konzerts und auf die Bälle und Soireen, was zwar seien auch kanz schön, aber secondair, und es bleiben die Hauptsak immer die Arbeit und die solidité, wie mein Goldkind sie besitzen. Non, Mademoiselle Görling, das seien keine gewöhnliche Arbeit, das sein ein Kunstwerk in unserm Fach, das seind unbezahlbar, und Monsieur le vieux Marquis – wollt' ik sagen le vieux Montmartin muß protestieren, daß sein petit brechet verdirbt mit solcher Arbeit ihre hübschen Augen.«
»Aber Onkel Montmartin, meine Augen haben kein größeres Recht auf Schonung, als die anderer Mädchen. Sie wissen, daß Papa kein Vermögen hat, und daß ich zu meinen kleinen Nebenausgaben mir das Taschengeld verdienen muß. Also sagen Sie mir, aber Monsieur Montmartin, je vous prie comme marchand et pas comme oncle, was seien die Arbeiten in einem anderen Magazin wert?«
Der alte Posamentier, der immer herzlich lachte, wenn sein Liebling einmal das Deutsch-französisch ihm nachäffte, zog die Brauen hoch, spitzte den Mund und unterwarf die Stickereien eine nach der andern nochmals einer genauen Prüfung.
»Die Zeiten sind nicht günstig, Mademoiselle Görling, vor die Arbeiten für Plaisanteries. Wenn ik rechne vier Taler auf die ingrédients, kann ein Geschäft nicht mehr geben, als zwölf Taler für die broderies zusammen, aber da es ist von der Hand von ma petite …«
Die junge Dame hatte einen Seufzer unterdrückt bei der strengen Schätzung des alten Geschäftsmanns, aber nun unterbrach sie ihn rasch. »Nichts da, Onkel Montmartin, ich will nicht mehr als jede Andere. Sie dürfen meinetwegen keine Ausnahme machen. Also geben Sie mir die zwölf Taler, ich muß Ihnen nur gestehen, daß ich gerade in einer kleinen Verlegenheit bin, ich hab' all mein Taschengeld ausgegeben und – nun, ich muß heute Abend noch ein Paar neue Stiefelchen haben!«
Um Herrn Montmartins schmale Lippen zuckte ein leichtes Lächeln, als er auf die kleinen zierlichen Füßchen seines Lieblings bei der unbeholfenen Notlüge sah und ihr dann voll in das errötende Gesichtchen blickte. »So, so! c'est une autre chause! Voici, Mademoiselle Görling, da seien die zwölf Taler, aber Sie sollen nicht maken mehr so anstrengende Arbeiten, oder ik werde es sagen Monsieur le conseiller! Aber nun kommen Sie herein, wenigstens un moment zu Madame Montmartin und Monsieur Gustave, die Sie erwarten gewiß sehr sehnlik!«
»Aber nur einen Augenblick, Onkel, denn wahrhaftig, ich habe keine Zeit. Aber, bitte, bester Herr Montmartin, legen Sie zuvor die Stickereien fort, denn sonst müssen Sie sie drinnen zeigen – und da wissen Sie schon … aber sagen Sie mir, Onkel Montmartin, was machen Sie denn eigentlich immer mit meinen kleinen Arbeiten? Ich sehe ja nie, daß Sie eine derselben am Schaufenster oder in Ihrem Laden ausgestellt haben? Oder sind sie das wirklich nicht wert?«
Es war ein eigentümliches Lächeln, das über das Gesicht des alten Kaufmanns zog, als er sein »Goldkind« ans Kinn faßte. » Mais, Mademoiselle Görling, wie können Sie zutrauen einem alten Freund solche indélicatesse! Die hübschen Arbeiten dieser lieben kleinen Hände kommen alle weit, weit nach die Ausland, wo sie finden die verdiente admiration. Mais faites moi l'honneur, je vous prie« und er öffnete die Tür und zog sie halb mit Gewalt an der Hand nach dem vordern Teil der Wohnung.
Zwischen der Küche und dem Wohnzimmer, aus dessen halbgeöffneter Tür der helle Lichtschein der Lampe drang, lag das Schlafkabinet des alten Paares, die Betten durch eine Gardine, die von einer Wand zur andern ging, von dem Durchgangsraume geschieden. Fräulein Görling zupfte noch geschwind an Hausschürze und Kravatte Einiges zurecht, strich die hellbraunen Haare von der Stirn und trat dann an der Hand ihres alten Beschützers zögernd und mit niedergeschlagenen Augen in das Wohnzimmer, wo Madame Montmartin noch beschäftigt war, den Tisch für das einfache Abendbrod zurecht zu machen.
Ein junger Mann hatte auf einem Stuhl zur Seite des Kanapées gesessen und sich sofort erhoben, als er die Tür der Küche gehen und die Schritte der Eintretenden hörte.
Es war ein junger Mensch von achtzehn bis neunzehn Jahren, ziemlich groß und von kraftvoller Gestalt. Er hatte ein gerötetes Gesicht, wie es den Feuerarbeitern häufig eigen, das kräftige offene Züge und unter der gewölbten Stirn ein graues kluges Auge zeigte. Um Lippen und Kinn lag ein Zug von Festigkeit und Entschlossenheit. Dunkles etwas lockiges Haar umrahmte Stirn und Schläfe, und der Anfang eines kleines Stutzbärtchen schmückte bereits die Oberlippe.
Die Hände des jungen Mannes waren durchaus nicht zart und aristokratisch, sondern breit und muskulös, von schwerer Arbeit zeugend. Auch seine Kleidung war einfach, aber sauber. Die Blouse, die er in der Arbeitszeit trug, hatte einem dunklen kurzen Rock Platz gemacht, kurz, das ganze Äußere bewies, daß der junge Mann nicht zu der Klasse der gewöhnlichen in Gleichgültigkeit oder Lüderlichkeit verkommenden Handwerkergehilfen gehörte. Dafür sprach auch seine einfache, von Bildung zeugende Redeweise und sein ganzes Gebahren.
Gustav Wehrmann war der Sohn schlichter Leute, eines Briefträgers, der nach langem Militärdienst als Unteroffizier diese Zivilversorgung als ›Ruheposten‹, erhalten und ihn seit zwanzig Jahren in Wind und Wetter bekleidet hatte, mit kärglichem Gehalt und zahlreicher Familie.
Der alte Briefträger Wehrmann, der in seinem harten zwanzigjährigen Dienst, bis vor Kurzem mit 300 Talern Gehalt, Millionen an Werten dem Publikum treppauf treppab zugetragen, hatte mit seiner Familie gedarbt, um wenigstens den Kindern eine passende Erziehung zu geben und sie so viel wie möglich lernen zu lassen. Nachdem Gustav Wehrmann eine der Berliner Gemeindeschulen durchgemacht, wobei ihm der Vater, da der Knabe Talent zur Mechanik zeigte, besonderen Zeichenunterricht geben ließ, trat er bei einem tüchtigen Schlossermeister in die Lehre, der seinen schon zur Fabrik ausgedehnten Gewerkbetrieb in dem hier beschriebenen Hinterhaus unterhielt. Der Knabe, der junge Mann hatte hier Gelegenheit gehabt, die jüngste Tochter des Geheimrats von ihrem zehnten Jahre an aufwachsen zu sehen, und, da er durch sein kluges aufgewecktes Wesen und verschiedene Gefälligkeiten sich gleichfalls die Gunst des alten Montmartinschen Ehepaars erworben, auch manchmal das junge Mädchen in dessen Wohnung zu sehen und einige Worte mit ihm zu wechseln.
Nach beendeter Lehrzeit wollte Gustav Wehrmann, der jede freie Stunde benutzt hatte, sich weiter zu bilden, hinaus in die Fremde, um sich dort zu vervollkommnen, aber teilweise hatte wirklich der Umgang mit den alten Leuten und die stille Bewunderung für das heranwachsende Mädchen ihn veranlaßt, fast noch zwei Jahre in der Werkstatt seines alten Lehrherrn als Gehilfe zu bleiben, teilweise die Gelegenheit, die sich gerade in Berlin für theoretische Studien jeder Art bietet. Jetzt jedoch war die Zeit für ihn gekommen, wo er, wie er fühlte, hinaus mußte in die Fremde, wenn etwas Tüchtiges aus ihm werden sollte.
Der junge Mann trat bescheiden auf das Mädchen zu und sagte mit einer gewissen Ehrerbietung: »Verzeihen Sie, Fräulein Görling, daß ich Ihnen meine Freude darüber ausspreche, daß ich Gelegenheit habe, Sie noch einmal vor meiner Abreise sehen und Ihnen Lebewohl sagen zu können.«
Sie schlug die Augen, die jetzt einen ganz betrübten Ausdruck hatten, zu ihm auf und streckte ihm die Hand entgegen, die er achtungsvoll erfaßte.
»So ist es wirklich wahr, was Onkel Montmartin mir soeben erzählt hat, Sie wollen wirklich Berlin verlassen, Herr Wehrmann? O, es wäre abscheulich gewesen, wenn Sie von dem Umgang mit Monsieur Montmartin nichts profitiert hätten, als französischen Abschied zu nehmen, und wenn Sie davon gegangen wären, ohne mir Adieu zu sagen.«
»Ich – ich hätte es gewiß nicht getan,« stotterte der junge Schlossergesell, »aber ich mußte auf eine günstige Gelegenheit hoffen, Sie zu sehen, was jetzt so selten der Fall ist, besonders, da meine Abreise so schnell und unerwartet gekommen ist. Denken Sie, Fräulein Görling, ich habe durch einen Freund ein Engagement in dem großen Krupp'schen Etablissement in Essen bekommen, ein Glück, auf das ich kaum zu hoffen wagte.«
»Ja, und dann werden Sie nun den ganzen Tag von Sonnenaufgang bis in die Nacht feilen und hämmern und drehen oder vor dem Zeichenbrett sitzen und allerlei Raupen im Kopf haben, wie man die Menschen auf die schnellste Weise en gros aus der Welt schafft,« sagte Melanie, »statt sich, wie sich für einen ordentlichen künftigen Schlossermeister gehört, damit zu beschäftigen, wie man den Leuten am besten Haus und Wohnung vor der saubern Diebesgesellschaft schützen kann, oder gar vor gewaltsamem Einbruch und Mord! Aber ich will Ihnen doch aufrichtig gratulieren, Herr Gustav, da ich weiß, wie sehr es Ihr Wunsch ist, vorwärts zu kommen und was Tüchtiges zu lernen.«
»Gewiß ist es das, Fräulein, ich will etwas Tüchtiges lernen und werden, oder Sie sollen mich nie wieder sehen und nie wieder von mir hören, das habe ich mir gelobt!«
»Nun, Herr Gustav,« sagte sie mit kindlicher Offenheit, »wenn es Ihnen Freude machen kann, ich hoffe und wünsche, Sie als einen recht tüchtigen Mann wieder zu sehen. Sie sind ja noch jung – grade wie ich! Und vergessen Sie nicht, es wird mir stets Vergnügen machen, von Onkel Montmartin, dem Sie hoffentlich recht oft schreiben werden, von Ihnen zu hören! Und jetzt leben Sie wohl, denn ich muß wirklich eilig nach oben. Gute Nacht, Mama Montmartin, Gute Nacht Onkel!« Sie warf dem Paare eine Kußhand zu und war verschwunden.
»Geh ihr nach, Gustav,« gebot die alte Frau, »es ist heute wieder so ein Bummlerabend von die Nichtstuer und Krakehler bei Kuleken drüben; seh zu, daß ihr nichts passiert, bis sie die Treppe hinauf ist.«
Der junge Mann war rasch wie ein Blitz hinter dem Mädchen her und sah sie noch an dem Eingang des dunklen Hinterflurs stehen, zu dem die Küchentreppe aus den oberen Stockwerken niederführte. Hatte sie vielleicht absichtlich einen Augenblick gezaudert? Mit zwei Sprüngen stand er vor ihr.
»Fräulein, Madame Montmartin schickte mich hinterdrein, damit Ihnen auch nichts passiert. Fräulein Görling, Fräulein Melanie – leben Sie wohl, vergessen Sie einen armen Handwerker nicht ganz, und – Gott segne Sie!«
Sie hatte ihm nochmals die Hand entgegen gestreckt, er faßte sie und führte sie ehrerbietig an die Lippen. »Ich werde Sie nicht vergessen, Gustav, und ich werde auch für Sie beten, recht oft!«
Sie war die Wendeltreppe hinauf, ehe er ein Wort weiter sagen konnte; als er so traurig hinter ihr drein schaute und kaum die heraufdringenden Tränen zu unterdrücken vermochte, war es ihm, als höre er von dem Absatz des ersten Stockwerks herab noch die leise geflüsterten Worte: »Leben Sie wohl und kommen Sie als tüchtiger Mann wieder!« – – – – –
Oben in dem Korridor, der von der Küche zu den Vorderzimmern führte, begegnete Melanie der Mutter. Es war zum Glück ziemlich dunkel, so daß die Geheimrätin die Röte und Aufregung ihrer Jüngsten nicht wohl bemerken konnte. Vielleicht hätte sie dies überhaupt nicht getan.
»Hier, Mama, hier sind die zehn Taler!« Sie reichte ihr hastig das Geld.
»Unsinn! was sollen wir mit der Lumperei! Hier nimm diesen Hunderttalerschein und laß ihn unten beim Weinhändler wechseln und die Flaschen holen, die ich aufgeschrieben habe. Sie kann gleich vier Flaschen Champagner bringen, zwei sind gar zu pauvre!«
Aber sie hatte es doch für gut gefunden, die so sauer erworbenen zehn Taler der Tochter aus der Hand zu nehmen und in die Tasche zu schieben. – »Nun geschwind hinein und sieh zu, daß Alles in Ordnung kommt.«
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Wir haben bereits erwähnt, daß eines der Kammermitglieder in dem Hause wohnte. Frau Maneke im zweiten Stock, die Chambre-garnie vermietete und davon, wie so viele Witwen und separierte Frauen in Berlin, mit ihren beiden Kindern, einem Sohn, der auf dem Kölnischen Gymnasium die Quarta besuchte, und einer fünfundzwanzigjährigen Tochter, lebte, für die sich noch immer keine Partie hatte finden wollen trotz der zahlreichen jungen Mediziner, Referendare, Baustudierenden und sonstigen jüngeren und älteren Exspektanten und Reflektanten, welche die Jahre über bei Madame Maneke möbliert gewohnt hatten.
Es gibt in Berlin eine ganze Armee von Frauen, die vom möbliert Vermieten leben, und es gibt eine ganze Armee ›separierter‹ Frauen.
Was heißt ›separiert‹? Das Berliner Stadtgericht, Abteilung für Ehesachen, könnte darüber eine ganz besondere Auskunft geben. ›Separiert‹ heißt noch lange nicht ›geschieden‹, würde Dir der befreundete Gerichtsschreiber sagen, das heißt etwa im besten Fall: wegen unüberwindlicher Abneigung auseinander gegangen, er wohnt an diesem Stadtende, sie an jenem; das heißt: dem Mann davongelaufen, weil es mehr Schläge, als zu essen gab; das heißt: er hat sie sitzen lassen und ist in alle Welt gegangen, weil sie kokett und leichtsinnig war und ihm das Leben zur Hölle machte, die er endlich nicht mehr ertragen konnte! das heißt: es ist überhaupt nur eine Scheinehe gewesen, bei welcher der Mann auf Akkord genommen wurde, um den Aufenthalt der leichtfertigen Frau vor der Polizei zu decken, sodaß er nach der Trauung seiner Wege gehn konnte.
Genug, wir haben hier nicht zu untersuchen, ob und wie Madame Maneke Witwe war, Tatsache ist nur, daß sie sich als solche tapfer kämpfend durchs Leben geschlagen hatte und noch schlug, ohne mit dem Kriminalgericht jemals und mit der Polizei allzuhäufig in Konflikt zu kommen, und das ist überhaupt schon viel für eine ›separierte‹ Frau in Berlin. Wir haben es hier nur damit zu tun, daß der Abgeordnete Kreisrichter Behrend schon in der zweiten Kammersaison bei ihr möbliert wohnte und sich im Ganzen in seinem Quartier ganz behaglich zu befinden schien, da ihm Frau Maneke die Wohnung möglichst angenehm und nicht zu teuer zu machen bestrebt war, und selbst die Augen zudrückte oder höchstens mit einem verachtenden Nasenrümpfen schmollte, wenn den Vertreter von so und so viel tausend preußischer Seelen im allgemeinen Besten des Landes einmal eine menschliche Schwäche auf einen kleinen Abweg führte und die Besuche, die er in seinen Appartements, Stube und Schlafzimmer, empfing, nicht ganz nach ihrem Zensus waren. Kurz, Herr Behrend fühlte sich ganz behaglich in seiner Junggesellen-Wohnung zu monatlich zehn preußischen Talern, denn damals waren in Bezug auf Mietspreise in Berlin in der Tat noch goldene Zeiten.
Kreisrichter Behrend war einer der Hauptredner der oppositionellsten Fraktion im Abgeordneten-Hause und um so verbissener in der Opposition, als ihn die Aera Manteuffel in einem der obskursten Winkel Westpreußens gelassen hatte, während er nach seiner Meinung doch längst hätte weit voran sein sollen auf der Leiter zum Justizminister, und selbst das Ministerium Hohenzollern-Auerswald seine Verdienste noch nicht genügend anerkennen wollte. Er stammte zwar nicht aus der großen Zeit, in der sich die Präsidenten von barbarischen Konstablerhänden auf ihren Sesseln aus dem Saal des Schützenhauses unter Gottes freien Himmel tragen ließen – aus der Glanzzeit der Unruhs, Grabows und Jacobis – seine Demokratie datierte aus späterer Schule, was aber ihrer Bissigkeit keinen Eintrag tat. Er gehörte zu den Politikern, die sich zum Einreißen, das heißt zur Ruinierung des lang Bestandenen berufen fühlen, ohne die Prätension zu haben, bessere Institutionen erfinden zu können, war ein abgesagter Feind der Armee, der Examina der Beamten und der christlichen Kirche, oder besser gesagt, des christlichen Charakters des Staats. Der Himmel hatte Kreisrichter Behrend mit einer großen Suade begnadet, mittels deren er auch Herr der Wahlmänner seines Kreises geworden war, und die Machtvollkommenheit und Unfehlbarkeit der Juristerei ging ihm über Alles. Der glückliche Umstand, daß in dem Hause, in dem er wohnte, sich eine recht gute Wein-Restauration befand, versammelte fast allabendlich einen Kreis von gleichgestimmten Mitgliedern des Abgeordneten-Hauses um ihn, und es wurde im Hinterzimmer von Tambach ein großer Teil jener Chicanierungen gegen die Regierung und jener frevelhaften Unterwühlungen des monarchischen und christlichen Staatscharakters ausgeheckt, durch die sich jene Periode unseres konstitutionellen Lebens auszeichnete.
Die Hinterstube der Restauration Tambach war ein ziemlich langes Zimmer und wurde als »Reservirt« betrachtet. Herr Tambach selbst kam durch diese Exklusivität keineswegs zu kurz und, wenn auch viele Aristokraten der demokratischen Fraktion nur ausnahmsweise hierher kamen, fehlte es dem Gros doch keineswegs an Durst und Appetit, und es wurde allabendlich hier eine ganz hübsche Batterie von Moselwein und Rotspohn vertilgt.
Die Demokratie des preußischen Abgeordneten-Hauses war in jener Zeit noch eine doktrinäre, nicht spekulative; die jüdische Epoche des Konstitutionalismus war noch nicht entfaltet und höchstens durch die »Fraktion« Reichenheim in trefflichen Diners und Soupers in der prächtigen Villa im Tiergarten angebahnt. Führer wie Bockum, Kirchmann, Lette, Hoverbeck, Carlowitz, Waldeck, Harkort, Grabow, Schulze, Virchow und Vincke hatten damals noch das Wort – man begnügte sich, vorläufig das reaktionäre Ministerium gestürzt und ein möglichst liberales aus der Gothaer Partei erobert zu haben und beschäftigte sich einstweilen mit Plänklergefechten um die Portefeuilles; Militär-Etat und Grundsteuer, fakultative oder obligatorische Zivilehe, Aufhebung der Wuchergesetze und auswärtige Politik gaben einstweilen noch den Stoff zu den Attacken – aber schon bereitete sich der Sturmangriff gegen die alten Pfeiler des monarchischen Staates vor, und die drängenden Kräfte eben waren es, die sich in der Weinstube von Tambach kneipend zusammenfanden.
Daneben war die Fraktion der Polen ziemlich stark und äußerst rührig, auf die in russisch Polen ausgebrochene Bewegung sich stützend; ebenso war die katholische Fraktion unter Leitung der Gebrüder Reichensperger, von Malinkrodt und Krätzig stark herangewachsen und hatte sich zum bedeutenden Faktor konzentriert, mit dem die Regierung rechnen mußte, vorläufig noch als Verbündetem gegen den wachsenden Liberalismus.
Der Rauch der Zigarren füllte die Atmosphäre des langen Restaurationszimmers, die lange Tafel war ringsum besetzt, es waren außergewöhnliche Gäste, wenn auch zur Zahl der Abgeordneten gehörig, anwesend; denn die heutige Debatte in der Kammer war von hohem Interesse gewesen durch die Angriffe, die Harkot und Behrend gegen den Minister von Schleinitz wegen der Gesandtschaften in Cassel und Hannover gerichtet hatten, und durch den schlagfertigen Wortwechsel zwischen dem Freiherrn von Vincke und dem damaligen Vorkämpfer der Konservativen, dem Herrn von Blankenburg.
Am oberen Ende des Tisches saß ein Mann, der eine gewisse geistige Ähnlichkeit mit dem Doktor Lassalle hatte, und vielleicht dem später so wichtig gewordenen Abgeordneten Lasker den Weg vorgezeichnet hat; denn er hatte die Gewohnheit, möglichst viel zu reden und zwar über alles und jedes Thema, gleichgültig, ob er etwas davon verstand oder nicht. Die kurze Charakteristik wird genügen, um in der Person einen jener gelehrten Professoren zu erkennen, die der Wissenschaft allerdings große Dienste geleistet haben, aber nur bis zu einer gewissen Periode, wo die Eitelkeit der politischen Schönrednerei sie packte und sie für ihre hohe eigentliche Aufgabe verloren machte. Wir haben solche Erscheinungen in beiden politischen Hauptlagern zu registrieren, und die Namen Stahl und Virchow werden genügen. In späteren Epochen wurden derlei liberale Professoren in der Kammer Modesache und ihre Bedeutung schwand über der Vielrednerei – zu jener Zeit hatte diese aber noch ihre hohe Wichtigkeit.
Der Professor, der, wie gesagt, am oberen Ende der Tafel Platz genommen, zeigte eine gewisse nervöse Beweglichkeit. Seine Figur war eher klein, hatte aber etwas Zierliches, wozu das runde glatte Gesicht mit der goldenen Brille paßte; seine Rede hatte etwas Geglättetes, Porzellanartiges und bestach den Zuhörer, obgleich eigentlich nur die konsequente Bissigkeit seiner Opposition geistreich war. Als Minister mit einer gewissen Macht bekleidet, würde Professor Feminow sich sehr bald durch die Übertragung seiner negierenden Ideen in die Praxis unpopulär und lächerlich gemacht haben.
Ihm zur Rechten saß ein mittelgroßer Mann, ein nordischer Kaufherr, der sehr viel an der Finanzwirtschaft des preußischen Staates zu mäkeln hatte, seine eigenen Finanzen aber nicht in Ordnung halten konnte und schließlich Bankerott machte; zur Linken eine breitschultrige Figur mit starkem Kopf und dünnem blondem Haar. Das Gesicht war etwas gerötet, das Auge klein, aber der Ausdruck des Gesichts hatte etwas Biederes, Offenes. Der Mann, später Mitglied des Herrenhauses, war offenbar der ehrlichste Demokrat der ganzen Gesellschaft. Es waren noch viele da in der neuen Tafelrunde, die später bekannt geworden sind, aber es eigentlich doch zu nichts gebracht haben, mißvergnügte oder ehrgeizige Beamte, selbst alte Offiziere außer Diensten, die ihre Verabschiedung nicht verschmerzen konnten und Opposition machten gegen ihren König, verunglückte Staatsminister und wohlredende höchst behagliche Rittergutsbesitzer, kritisierende Pastoren, Doktoren und Juristen – wir wüßten kaum einen Stand, der nicht vertreten war, mit Ausnahme des ehrlichen verständigen Handwerkers, der überhaupt im damaligen Abgeordnetenhause nicht vertreten wurde und im ganzen konstitutionellen Treiben in den Hintergrund geschoben blieb, obwohl es an Kapazitäten in ihm wahrhaftig nicht fehlte. –
»Ich sage, das Ministerium tritt zu selbständig auf,« – rief ein noch ziemlich junger, kurzer Mann mit Brille und blondem Rundbart von dem andern Ende des Tisches herauf – »was sollte heute die Schutzrede für Sydow in Cassel? Was soll die liberale Partei in Cassel denken, wenn wir dergleichen so durchgehen lassen? Wäre es auf meine Stimme angekommen, ich hätte den Posten gestrichen.«
»Das wäre unbedingt falsch gewesen, lieber Kollege,« sagte eine Person mit bereits ergrauendem Bart und scharfen, klugen Gesichtszügen. »Wir müssen eine Handhabe in Hessen behalten.«
»Aber Blankenburg prahlte ordentlich mit unserer Inkonsequenz bei der Position der geheimen Fonds!«
»Vincke hat's ihm aber gegeben; das Wortspiel mit dem Vertrauen auf die Person war famos.«
»Es ist eine eigene Sache mit dem Vertrauen auf eine Person! Ich muß gestehen, ich habe selbst nicht viel Vertrauen auf die Person des ehemaligen Hagener Landraths.«
»Er ist und bleibt ein Aristokrat!« murrte eine sehr verbissene Stimme von der Mitte des Tisches her, denn das Gespräch war jetzt allgemein geworden. »Warum ist er nicht hier?«
Ein kleiner beweglicher Herr mit großem Vollbart meinte, er sähe überhaupt verschiedene Mitglieder nicht, die doch als Coryphäen der Demokratie gelten wollten, während es sich doch heute darum handle, die Grundzüge eines neuen Programms festzusetzen, auf Grund dessen man vereint gegen die Regierung vorgehen könne.
»Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, lieber Kollege,« sagte ein Mitglied, dessen Figur mit der breiten Brust und dem ruhigen, ernsten Gesicht die aristokratische Geburt zeigte, »es ist nicht Jedermanns Sache, so wichtige Dinge beim Schoppen zu besprechen. Männer wie Waldeck, Forkenbeck und wen Sie sonst meinen, werden in den bestimmten Fraktions-Beratungen sicher nicht fehlen.«
Der Zurechtgewiesene murmelte einige bissige Worte, wurde aber bald von einem schlanken hagern Mann mit klugem, schmalem Gesicht unterbrochen.
»Lassen Sie uns überhaupt zu der Aufgabe schreiten, die Punkte festzustellen, auf die wir unser Programm stützen wollen. Wir sind jetzt wieder unter uns und wollen uns nicht mit sozialen Träumereien befassen, wo die Wirklichkeit uns so viele näherliegende Aufgaben stellt. Zunächst beantrage ich die Erzwingung des Ministerverantwortlichkeits-Gesetzes als erste Grundlage alles Rechtes der Landesvertretung.«
»Sehr richtig! – Angenommen!«
»Verwerfung der neuen Armee-Organisation,« fuhr der Redner fort, »durch Streichung der Posten im Militär-Budget. Einführung der einjährigen Dienstzeit! Jede Kriegserklärung abhängig von der Zustimmung der Landesvertretung, Aufhebung der besonderen Militär-Gerichtsbarkeit!«
Der Professor am oberen Ende der Tafel klatschte in die Hände. »Bravo, bravo, lieber Rat! Fahren Sie fort! Ich bin ganz einverstanden mit der Beseitigung des Militärstaates. Wir müssen endlich die Axt direkt an die Wurzeln dieses feudalen Übels legen.«
Der Vorredner machte eine kürze Handbewegung. »Weitere Vorschläge dürften Ihnen zukommen.«
»Also, direkte Wahlen! Abschaffung des Herrenhauses oder Wählbarkeit desselben. Obligatorische Zivilehe! Konfessionslose Schulen und Beseitigung der geistlichen Kontrole über dieselben.«
Jedem der Sätze wurde lebhaft zugestimmt.
»Aufhebung der Zinsbeschränkung und der gewerblichen Prüfungen. Vollständige Gewerbefreiheit!« rief eine Stimme.
»Genehmigt!«
»Aufhebung jeder Religionsbeschränkung!«
»Änderung des Steuersystems. Wegfall aller indirekten Steuern, Einführung einer einzigen allgemeinen Einkommensteuer!«
»Preß- und Vereinsfreiheit, Selbstverwaltung der Kreise und Gemeinden!«
»Wahl aller Beamten!«
»Unsinn!« sagte die feste Stimme des ersten Redners. »Sie gehen zu weit, so weit sind wir noch lange nicht, überlegen wir lieber, wie wir unsere neue Fraktion zu dem deutschen Nationalverein stellen wollen. Die meisten von uns sind ohnehin wohl Mitglieder desselben.«
Es folgte ein etwas wüstes Durcheinander von Vorschlägen, während deren zwei Mitglieder sich vertraulich unterhielten.
Der eine war der Mann mit breitem, etwas fahlem Gesicht und gedrungener Gestalt, das andere seiner Aussprache nach ein Rheinländer – ein Mann von massiven verbissenen Zügen.
»Wir haben uns in Gegenwart des fatalen Juden, den Duncker mitgebracht, nicht verständigen können,« sagte der erstere. »Wie Sie aus den Vorschlägen ersehen, ist man auf dem besten Wege; aber das spezifische Preußentum erschüttern, das kann eben nur der Nationalverein, nicht unsere Kammer, die immer und immer wieder der Regierung unterliegen wird. Wir müssen uns dazu mit dem deutschen Ausland verbinden. Ich weiß bestimmt, daß eine Koalition der deutschen Klein- und Mittelstaaten gegen Preußen sich vorbereitet, Herr von Beust steht an der Spitze, auch von Hannover her wird die Sache sehr unterstützt und die Opposition wird binnen kurzem am Bundestag offen zum Ausbruch kommen. Der Nationalverein muß bei einer seiner nächsten Sitzungen ein deutsches Parlament und die Wiederherstellung der Reichsverfassung von Neunundvierzig mit den Grundrechten fordern. Der Nationalverein muß überhaupt eine Macht werden, die den Regierungen imponiert, und die sie als ebenbürtigen Faktor anerkennen müssen, während sie selbst mehr und mehr zur Seite gedrängt werden auch in der Meinung des Volkes, damit die allgemeine deutsche Revolution, meinetwegen nennen Sie es Reform –«
»Bitte – ich scheue mich keineswegs vor dem Ausdruck »Revolution«!«
»Gut denn, also Revolution vorbereitet wird. Die Vorbereitung, die war es eben, die uns Achtundvierzig fehlte. – Einstweilen wird die hessische Frage als Agitationsmittel dienen –. später läßt sich vielleicht an die schleswig-holsteinische Frage anknüpfen. Vor allen Dingen gilt es jetzt eine Form zu finden, wie man die preußische Demokratie mit dem Nationalverein in Verbindung und so zur leitenden Macht bringt, denn wir wollen uns nicht verhehlen, daß die Benennung »demokratische Partei« bei der großen Masse nicht rechten Boden hat.«
»Suchen wir denn einen anderen Namen, der die Unentschlossenen einfängt!«
»Es kommt viel auf die richtige Wahl an. Lassen Sie uns in die Debatte eingreifen. Also wir können auf die Gesinnungsgenossen am Rhein zählen?«
»Ich habe das Versprechen von Metz!«
»Gut denn! Meine Herren, ich bitte um's Wort!«
Der Professor am obern Ende sah fragend herüber. Der Sprecher winkte ihm zu, indem er sich weit hinüber lehnte. »Sie sollen zufrieden sein, nur unterstützen Sie mich! Ich habe eine gute Idee!«
»Dann vorwärts!«
»Wenn wir das Kind, unser neues Programm, aus der Taufe heben,« sagte der Redner, »dann müssen wir vor allen Dingen ihm auch einen neuen Namen geben! Meine Herren, der Name »demokratische Fraktion« zieht nicht mehr. Schlagen Sie einen andern vor.«
Es wurden verschiedene Vorschläge gemacht, aber keiner gefiel.
»Wir dürfen uns nicht nach einer bestimmten Person nennen! Jede Persönlichkeit hat ihre Gegner, jeder Mann ist überdies sterblich. Unser Programm muß einen allgemein packenden Namen haben, nach dem die Partei sich nennt, und zwar einen Namen, unter dessen Fahne sich alle sammeln können, die republikanisch, demokratisch, liberal sich nennen und denken, einen Namen, der vor dem Volk die Agitation von der Petition bis zur Barrikade deckt!«
»Aber wo einen solchen finden? Es wird schwer sein. Vielleicht: Volkswohl?«
»Allgemeine Volksrechte?«
»Zu lang – zu lang! – Ein Königreich für einen Namen!«
»Halt! ich hab's!«
»Heraus damit, würdiger Kreisrichter.«
»Wir nennen uns den › Fortschritt!‹«
Der Professor hob sein Glas. »Wahrhaftig! das tut's! Das faßt alles, was wir brauchen, ohne die Menge vor den Kopf zu stoßen. Wer wollte nicht vorwärts schreiten in unserer Zeit? Meine Herren, wer damit einverstanden ist, der hebe mit mir sein Glas. Die Demokratie ist begraben, der › Fortschritt‹ soll leben!«
Jubel und Gläserklingen! Jeder hatte im Nu begriffen, welche Macht und welche Sicherheit sich unter dem einfachen Namen barg.
Der »Fortschritt! – es lebe der Fortschritt!«
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»Herein!«
Die Tür öffnete sich, obschon der Klopfende an dem harten Klang sicher gehört hatte, daß die Störung nicht sehr willkommen war, und der lange Kopf des Herrn Hirsch schob sich herein. »Wenn ich nicht gar zu sehr störe, Herr Geheimrat, möchte ich wohl um ein paar Minuten bitten.«
Der Geheimrat atmete schwer auf. »Da es nun einmal geschehen ist, bitte, treten Sie näher!«
Er schlug die Akten zu, in denen er bisher gelesen und sich Notizen gemacht hatte, und schob einen Sessel mit dem Fuß einige Schritte von sich; der Agent war unterdes eingetreten.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Darf ich fragen, was mir so spät noch das Vergnügen verschafft?«
Herr Hirsch hatte sich mit einigen Komplimenten niedergelassen und holte jetzt eine Brieftasche aus dem Rock.
»Es ist mir gewesen in der Tat sehr unangenehm, Sie zu stören in Ihren wichtigen Arbeiten, Herr Geheimerat, von denen doch hängt so viel ab im Staat, aber Sie wissen als prompter Geschäftsmann selber, daß doch nichts ist unangenehmer, als eine unerledigte Sache. Sie haben doch so viele Dinge im Kopf, daß man nicht verlangen kann von einem Mann beim Staat, daß er sich gleich erinnert an alle Kleinigkeiten im Privatleben. Ich wollte mir bloß erlauben, daran zu erinnern, daß heute ist fällig gewesen der kleine Wechsel von Taler Sechshundertundfunfzig!«
Der Geheimerat fuhr mit der Hand über die krause Stirn. »In der Tat, ich erinnere mich, und muß für meine Nachlässigkeit um Entschuldigung bitten. Hätten Sie mir nur mit einer Zeile angezeigt …«
»Bewahre! wo werd' ich bei einem solchen Herrn daran mahnen oder ihm gar präsentieren zur Stunde! Bewahre, der Herr Geheimerat sind mir so sicher, als wie die Bank! Es kommt da nicht an auf die Minute, und ich habe d'rum gewartet, ohne Sie zu kompromittieren und gedacht, der Herr Geheimerat wird kommen, wenn's ihm beliebt. Hier ist das Papier!«
Der Beamte wand sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Gewiß, ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Freundlichkeit, mein bester Herr Hirsch, um so mehr, da … Sie hatten die Güte, mir damals zu sagen, daß es keine Eile haben werde mit der Einlösung, daß das Papier prolongiert werden könne!«
»Sie werden sich erinnern, daß es bereits ist prolongiert einmal!«
»Gewiß – gewiß! Ich war damals in einer kleinen Verlegenheit, und – ich muß Ihnen gestehen, daß es mir noch nicht gelungen ist, diese ganz zu beseitigen. Sie würden mir einen großen Dienst, ja, eine wahre Freundschaft erweisen, mein bester Herr Hirsch, wenn es Ihnen möglich wäre, die Sache noch einmal auf drei Monate zu verschieben. Was die Zinsen betrifft …«
Der Agent ließ ihn nicht aussprechen. »Das ist allerdings sehr unangenehm!« sagte er mit ominösem Achselzucken, »das Papier ist mir nur anvertraut von dem Geschäftsfreund, auf den es ist geriert, um dem Herrn Geheimerat zu ersparen jede Unannehmlichkeit. Ich muß es zurückgeben morgen früh, damit es alsdann wird präsentiert in der gewöhnlichen Form.«
Der Geheimerat fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Ich habe mich auf Ihr damaliges Wort verlassen, Herr Hirsch, und ich muß Ihnen wiederholen – es ist mir unmöglich, heute oder morgen zu zahlen.«
»Der Herr Geheimerat sind zu sehr Geschäftsmann, um nicht zu wissen, daß der Wechsel muß protestiert werden innerhalb von drei Tagen. Es wird sich ja vielleicht später finden ein Ausweg, aber er hätte verloren seine Wechselgültigkeit, wenn mein Geschäftsfreund wollte versäumen die gesetzliche Vorschrift. Was ist's weiter, wenn er auch wird protestiert? Die besten Häuser müssen lassen zuweilen protestieren ihre Papierchens, wenn ihnen steht das Messer an der Kehle. Lassen Sie's gut sein, ich kenne den Geschäftsmann, der den Wechsel hat als Eigentum und hat ihn so lange nicht gesetzt in Kurs. Er wird nicht gleich klagen auf Personal-Exekution.«
Der Beamte zuckte zusammen bei dem Wort, alle seine Folgen standen ihm lebhaft vor den Augen, und unwillkürlich streckte sich seine Hand nach der Seite des Bureaus hin, wo in wohlverschlossenem Schubfach die Kasse der Stiftung, die er verwaltete, sich befand. Aber es war, als ob die liebe Hand seines jüngsten Kindes sich auf die seine legte und ihn zurückhielte. Er ließ die Hand sinken.
»Ich wiederhole Ihnen,« sagte der Agent, »ich werde tun mein möglichstes, daß die Sache sich ausgleicht. Ich würde Ihnen leihen mit Vergnügen die lumpigen Paar hundert Taler aus meinen eigenen Mitteln, aber ich bin eben selbst jetzt sehr pressiert und habe meine Gelder hinterlegt für den Bau der neuen Eisenbahn. A propos, da fällt mir ein, daß ich einen Auftrag hab' von dem provisorischen Komitee, das ist zusammengetreten für die Realisierung des Plans und hat eingereicht seine Propositionen der hohen Staatsregierung. Man hat mir gegeben den Auftrag, da ich die Ehre habe, zu wohnen mit dem Herrn Geheimerat in ein und demselben Hause.«
Der Beamte sah ihn mißtrauisch an. »Bitte, von was reden Sie, vorausgesetzt, daß ich es hören darf?«
»Warum sollen Sie nicht hören dürfen einen bescheidenen Auftrag; es ist ja doch kein Zweifel, daß die hohe Staatsregierung wählen wird die Richtung über X…, die ist in jeder Beziehung vorzuziehen, da sie den Anschluß vermittelt an die Bahn von Polen und Rußland und den direkten Verkehr nach Böhmen und Sachsen. Es wird also erteilt werben die Konzession dazu an das Konsortium B… Nun hat man sich aber überzeugt in der letzten Sitzung des Komitees, daß darin noch fehlt eine Kapazität, welche vertritt die Interessen das Staats in der privaten Verwaltung der Bahn. Wir wollen nicht haben den Anschein, als machten wir aus der Bahn eine Spekulation, das Publikum muß haben seinen Anteil, seine Vertretung in der Direktion. Das kann nur geschehen durch den Eintritt eines hohen Beamten von Intelligenz und großem Ruf im Publikum, der hat Einsicht nach beiden Seiten. Wo hätte man finden können einen besseren Mann, als den Herrn Geheimerat? Gewiß, der Herr Minister wird mit Freuden geben seine Zustimmung, aber das Komitee darf sich nicht aussetzen einem Refus. Darum hat man mir den Auftrag gegeben, einmal so privatim – ganz unter uns – anzuhorchen, hochgeehrter Herr Geheimerat, bei Ihrer werten Person, ob Sie nicht geneigt wären, unbeschadet Ihres hohen Postens einzutreten als Mitglied in den Verwaltungsrat?«
»Aber, mein Herr, ich wiederhole Ihnen, es ist ja noch keineswegs entschieden, daß die Regierung Ihre Vorschläge über die Richtung und die Bedingungen des Baues genehmigt. Ja ich muß Ihnen sagen, daß ich keineswegs dafür …«
»Dafür sein würde, bester Herr Geheimerat«, unterbrach der Agent das entscheidende Wort, »wenn nicht eben kämen höhere Rücksichten ins Spiel, ich weiß das sehr wohl, die überwiegen die Petitionen von einem halben Dutzend kleiner Städte, die gern ausnützen möchten die Bahn für ihre Zwecke. Aber die Strategie, die Strategie, Herr Geheimerat, und am Ende geht doch das Wohl des Vaterlands über einen ganz untergeordneten Verkehr. Wir wissen, daß der Herr Baron von Budberg sich lebhaft interessiert für die Genehmigung unserer Proposition und hat schon konferiert deswegen mit Seiner Durchlaucht, dem Herrn Minister-Präsidenten. Das Komitee hat sich natürlich nicht erlaubt, dem Herrn Geheimerat zu bieten viel Gehalt, weil der Verwaltungsrat ist ein Ehren- und ein Vertrauensamt und nur partizipiert an der Tantième vom Überschuß für die Mühe und Sorge der Verwaltung, die wird betragen bei unserer Bahn nach dem Anschlag viertausend Taler zum mindesten für jedes Mitglied, was nur ist eine kleine Vergütung für die aufgewandte Zeit und Mühe; und es ist kein Zweifel, daß die Rentabilität sich wird steigern großartig, wenn die Aktionäre das Glück haben, solche Männer zu besitzen in der Verwaltung, wie den Herrn Geheimerat. Dürfen wir also hoffen auf eine günstige Zusage, daß wir können stellen den definitiven offiziellen Antrag an Sie, sobald die Gesellschaft ist konzessioniert?«
Der Beamte saß in schweren Gedanken und drehte die Daumen umeinander.
»Ich fürchte, es wird kaum angehen, Herr Hirsch, so dankbar ich auch bin für das freundliche Anerbieten. Ich bin so überladen mit Arbeiten.«
»Es ist doch bekannt, was der Herr Geheimerat besitzt für eine Arbeitskraft …«
»Und dann fürchte ich wirklich, daß es sich kaum mit meiner Stellung im Ministerium vertragen wird.«
»Gott der Gerechte! warum sollte es sich nicht vertragen mit der Stellung? Hat doch der Geheime Rat Weber bereits gegeben ein gleiches Versprechen an unsere Konkurrenten –«
»Wie? Kollege Weber hätte zugesagt …?« Der Geheimerat hatte plötzlich einen sehr roten Kopf bekommen, und seine Augen leuchteten eigentümlich – Herr Weber War ein steter Rival und Antipode am grünen Konferenztisch und in der Gunst des Chefs.
»Ich kann Sie versichern ganz bestimmt. Der Herr Geheimerat Weber würde zwar gewiß auch um der Sache willen unserm Konsortium die Ehre erzeigen, einzutreten in die Verwaltung, wenn die hohe Staatsregierung sich entscheidet für die östliche Richtung, aber ich darf sagen unter uns, daß wir alle haben größeres Vertrauen zu Ihnen, Herr Geheimerat, von wegen der Kapazität und der bekannten humanen Gesinnung. Nun, Herr Geheimerat, schlagen Sie ein, und lassen Sie mich bringen dem Konsortium die angenehme Botschaft.«
»Wenn ich auch wollte, Herr Hirsch, ich kann in einer so wichtigen und delikaten Sache doch keinen so raschen Entschluß fassen. Ich muß mir die Sache überlegen. Jedenfalls hat es ja Zeit, bis die Entscheidung der Regierung zwischen den beiden Anträgen erfolgt ist; dann wollen wir sehen; und, wenn es mir möglich erscheint …«
»So willigen Sie ein!«
»Ich werde mich dem allgemeinen Besten gewiß niemals entziehen, so lange meine Kräfte reichen. Also drängen Sie mich nicht, Herr Hirsch – erst muß die Entscheidung des Herrn Ministers erfolgt sein, Sie wissen, wir haben es mit schlimmen Gegnern in der Kammer und in der Presse zu tun.«
Der Agent hatte sich erhoben und rieb sich die Hände. Das »wir« in der Bemerkung des Geheimen Rats war ihm nicht entgangen.
»Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen, Herr Geheimerat,« meinte er mit wachsender Vertraulichkeit. »Die Presse wird sein für uns, und die Nationalzeitung wird auch sein klug und gescheut. Also, Herr Geheimerat, ich habe die Ehre zu wünschen eine vergnügte Nacht, da Sie, wie ich gehört, heute haben eine große Gesellschaft.«
»– Und der fällige Wechsel?« fragte zögernd der Beamte, der den Agenten bis zur Tür begleitete.
»Er bleibt in meinem Portefeuille. Wir finden ja später Gelegenheit, abzurechnen.«
Die Tür schloß sich hinter dem Agenten, der Geheimerat ging lange in dem Kabinet auf und nieder in tiefen Gedanken, die Hände auf dem Rücken. So traf ihn später die Tochter, als sie durch die äußere Tür eintrat, nach ihm zu sehen.
»Willst Du denn nichts genießen, Väterchen?«
»Ich? ja wohl! – Laß mir eine Flasche Burgunder holen, unten von Tambach, er kennt meine Sorte!« Er fuhr mit der Hand in die Tasche, zog sie aber rasch zurück. »Ja so! – Nein – bring mir ein Glas Tee und ein Butterbrot, wie Du es so zierlich machst! Ich habe noch lange zu arbeiten und will nicht gestört sein. Ist die Gesellschaft versammelt?«
»Die Stiftsdame ist da, und eben sind die beiden Leutnants gekommen.«
Der Hausherr lächelte höhnisch. »Sehr erklärlich! Die eine ist taub, und die beiden anderen haben wahrscheinlich Appetit! Nun, meinetwegen! Nun, Kind, bring mir dann den Tee und stört mich nicht weiter.«
Rat Görling arbeitete bis spät in die Nacht hinein, begeistert von dem trefflichen Burgunder, den Melanie von den zurückgehaltenen zwei Talern angeschafft und dem Vater mit einem Kuß statt des verlangten Tees gebracht hatte. Als der Rat nachts um 1 Uhr fertig war – es war eben Zeit, da man drüben in den Gesellschaftszimmern die Anstalten zum Aufbruch hörte, – klopfte er befriedigt mit der kurzen fleischigen Hand auf das Memoir. »Ich sollte meinen, die Arbeit ist trefflich gelungen, und wir wollen doch einmal sehen, was Kollege Weber dagegen einwenden könnte!«
Das Referat war ganz neu abgefaßt und das früher begonnene Gutachten in den Papierkorb gewandert.
Acht Tage später erfolgte die Entscheidung des Ministers über die neue Bahn und die Erteilung der Konzession an das Konsortium des großen Bankiers.
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Das Redaktionszimmer des Journals »Die Öffentlichkeit« grenzte Wand an Wand an das Arbeits-Kabinet des Geheimerats. Es hatte eigentlich den Charakter eines Expeditionslokals und wurde bei der Versendung des täglich erscheinenden, durch seine bissigen Artikel sich auszeichnenden Blattes auch dazu benutzt, denn quer durch das Zimmer zog sich eine Barrière mit breitem Aufsatz, die nur an einem Punkte von innen zu öffnen war, und die Schreibpulte des Chefredakteurs und seines Assistenten befanden sich auf der einen Seite, während die äußere verschiedene Sitzgelegenheiten vom einfachen Rohrkanapee bis zum sammetgepolsterten Fauteuil bot.
Ein von dem innern und äußern Teil des Zimmers zugängliches Seitenkabinet bot die Gelegenheit zu vertraulichen und sicheren Konferenzen.
Zu der letzteren Kategorie schien der Besuch nicht ganz zu gehören, der jetzt den äußeren Raum einnahm.
Es waren zwei Herren, welche in den Fauteuils Platz genommen hatten, während hinter der Barrière auf seinem Drehbock vor dem Pult sich der Redakteur der »Öffentlichkeit« befand. Er war allein mit den beiden Fremden.
Der Redakteur Dr. Heitel war in Berlin eine bekannte Persönlichkeit schon von Achtundvierzig her. Es tat ihm in der Praxis wenig Eintrag, daß er drei oder vier Mal die politische Farbe gewechselt, denn seine journalistische Unverschämtheit und Brüsquerie war bei jedem dieser Changements dieselbe geblieben; deshalb war er auch von allen Parteien gleich gefürchtet, und der Preis seiner journalistischen Leistungen für und wider ziemlich bekannt, sei es in Politicis, in Theater- und Kunstkritiken, oder handelte es sich um irgend eine spekulative Unternehmung, die der Empfehlung in der Öffentlichkeit nicht entbehren konnte.
Es war übrigens ein anerkannter Vorzug, vielleicht auch eine wohlberechnete Politik des Dr. Heitel, daß diese Brüsquerie sich bei allen Parteien, die sich um die Gunst seiner Meinung, das heißt seiner Feder bewarben, gleich blieb, sei es gegen einen Minister, der seine Politik vertreten wünschte, sei es gegen eine hübsche Schauspielerin, ein Artikel, für dessen Eigenschaften Dr. Heitel keineswegs unempfänglich sein sollte; – sei es gegen einen Entrepreneur oder ein augenblicklich mit dem Strafgesetz brouilliertes Individuum, und das verschaffte ihm, wie manchen Advokaten die Grobheit, manchen Wucherern der Schmutz Vertrauen und Zulauf.
Dr. Heitel war eine große hagere aber knochige Gestalt von etwa fünfundvierzig Jahren und hatte eine Art Bullenbeißer-Gesicht mit starken weißen Zähnen. Seine Hände und Füße waren groß und es war nichts Elegantes und noch weniger Aristokratisches an ihm zu finden.
Als geschickter Jurist wußte er sich mit dem Preßgesetz vortrefflich abzufinden, ohne deshalb seine Artikel an Schärfe und Bissigkeit verlieren zu lassen. Die großen Parteizeitungen scheuten sich, mit ihm anzubinden.
Die beiden Herren, die in diesem Augenblick dem Redakteur gegenüber saßen, zeigten ein sehr verschiedenes Äußere; der Jüngere, Kleinere, – beide trugen sehr saubere Toilette – war eine feine Gestalt, und das schmale Gesicht mit den blitzenden Augen und dem schwarzen Bart zeigte die dunkle Färbung des Südländers. Er sprach lebhaft und mit vielen Gestikulationen, und das mangelhafte Deutsch war mit französischen und italienischen Ausdrücken gemischt, aber dabei ganz verständlich, wenigstens verstand es Dr. Heitel, der sich nur seiner Muttersprache rühmen konnte, sehr gut.
Die zweite Person war ein Mann von mittlerer Größe, das runde etwas gerötete Gesicht von offenem Ausdruck, Haar und Rundbart braun, wenigstens durch die Kunst der Toilette, da beide sonst wohl schon stark meliert sich gezeigt hätten. In dem Knopfloch seines Rockes zeigte sich das rote Band der französischen Ehrenlegion, der eine Arm hing schwerfällig herab, und die steifen Bewegungen, die er damit machte, bewiesen dem schärfer Beobachtenden, daß es ein künstliches Glied war.
» Mais, mon Dien, Signor Dottore,« sagte der Kleinere hastig, »wie können Sie einen Impressario, der geboten hat Ihrer Kapitale stets so ausgezeichnetes, entgelten lassen, daß diese Direktor Cerf seind ein Lump und Sie beleidigt haben. Glauben Sie, daß er mir noch nicht beleidigt haben? O wie viele hundert Male! Sie wissen doch, was ich habe getan für Berlin, hab' ich Sie nicht gebracht die Trebelli und die Artôt? Hat mich gekostet gran danari, sehr viele Geld! Warum maken Sie mir slekt die Signor Rogero, der doch seind un cantatore illustrissimo!«
»Aber zum Teufel, was wollen Sie, Herr Lorini,« polterte der Doktor dem Impressario der italienischen Oper des Viktoria-Theaters entgegen. »Daß Monsieur Roger ein sehr berühmter Sänger – war, ich hab' ihn selbst oft genug gehört im Opernhaus, ist unbestritten. Aber fürs Gewesene gibt bekanntlich der Jude nichts! Sie können doch nicht verlangen, daß ich eine Ruine loben soll?«
Der heißblütige Franzose, – denn es war in der Tat der einstige Lieblings-Tenorist der Pariser Oper, der Sänger Roger, der nach dem Verlust seines Armes bei einer Jagd, und seines Vermögens beim Börsenspiel, sich genötigt gesehen, mit dem Rest seiner Stimme noch einmal auf Kunstreisen zu gehen, – rückte sehr lebendig hin und her. » Qu'est ce celà, que veut il dire Monsieur le Rédacteur avec cette expression? Ruines? moi, Roger, une ruine?«
Der Impressario hatte Mühe, den beleidigten Sänger zu beruhigen, indeß Dr. Heitel sehr gelassen mit seinem Bleistift spielte. »Sie seind ungerecht, Signore, wir seind immer gewesen buoni amici! Wir werden natürlich Alle alt, aber Signor Roger haben gesungen gestern die große Arie aus die Hugenotten magnifique, par Dio, ick versichere Sie! Sie waren nicht darin?«
»Man kann sich nicht zerreißen und in allen Theatern zugleich sein,« knurrte Dr. Heitel.
»Signor, Sie wissen, daß Monsieur Roger haben gehabt großes Unglück. Sie maken mir kroßen Schaden mit die schlimme Rezension. Monsieur Roger bittet Sie, zu sein freundlich mit ihm.«
»Das Publikum bezahlt mich, weil die ›Öffentlichkeit‹ unparteiische Rezensionen schreibt. Was hat die Zeitung davon, einen hergelaufenen Franzosen zu lobhudeln, der uns Deutschen bloß das Geld aus der Tasche spielt und nicht einmal auf die Zeitung abonniert hat.«
»O es ist dies ein Versehen! Monsieur Roger, der nur sehr slekt verstehen Deutsch –«
»Warum singt er dann den Erlkönig auf Deutsch?«
»Er haben das gelernt aus Achtung vor die große Deutsche Nation und ihren Poeten. Signore Rogero haben mich beauftragt, Sie zu bitten um Entschuldigung, daß er bei seinen Visiten haben vergessen Ihr Journal, und mir beauftragt, zu bezahlen das Abonnement.«
Der Impresario legte einen Fünfzig-Talerschein auf das Zahlbrett.
»Also – dreißig Exemplare«, sagte der Doktor kaltblütig, den Kassenschein in sein Pult legend. »Ich würde es meinem Expedienten sagen. Wohin soll die Zeitung gebracht werden?«
»O, bitte Signor Dottore, ick werden später darüber bestimmen. Einstweilen lesen wir Ihr Journal alle Morgen in die Konditorei. Wir wollen nicht länger beschränken Ihre kostbare Zeit! Sie werden kommen morgen in die Oper? Es seind ein Divertissement sehr interessant. Monsieur Roger werden singen mit Signora Artôt eine grande miscellanea in Kostüm, eine Szene aus die ›weiße Dame!‹«
»Ich werde kommen – A propos! Schicken Sie mir noch drei Logen-Billets!«
»Sie werden sie finden an der Kasse! A reviderci, Signor Dottore!« Auch der große Sänger – in der Tat eine große Ruine! – machte eine höfliche Verbeugung und schüttelte mit der gesunden Hand die des Journalisten. Als er hinausging, murmelte er zwischen den Zähnen: » Tout comme chez nous!« –
Die Gegenantwort, die Doktor Heitel brummte, während er zur Seitentür ging, lautete entsprechend: »Wenn so ein eitler Narr von Franzosen meint, die Reste einer metallarmen Stimme wären noch gut genug für die Tölpel von Deutschen, nun, dann mag er für seine Spekulation wenigstens besseres Metall bezahlen! – Kommen Sie nur wieder herein, Fräulein Adeline!«
Er hatte dabei die Tür des Kabinets geöffnet, eine junge Dame, sehr modern gekleidet, sehr kokett, sehr ungeniert, sprang heraus, schlug eine Pirouette, warf den linken Fuß in sehr starkem Winkel dem Doktor entgegen, blieb, sich an der Barrière festhaltend, einige Augenblicke in dieser Stellung schweben und sagte dann lachend: »Aber Doktor! Doktor! vor welcher Schönen haben Sie mich denn in Ihren Harem gesperrt? – Sie wissen doch aus Erfahrung, daß ich nicht eifersüchtig bin.«
»Unsinn, – Sie wissen recht gut, daß es keine Weiber waren!«
»Aber wie soll ich das denn wissen? Sie haben mich ja, als es klopfte, Hals über Kopf in Ihr Heiligtum spediert. – Da mußte ich mir doch Jalousie-Gedanken machen.«
»Sie müßten kein Frauenzimmer sein, wenn Sie nicht gehorcht hätten!«
Die Tänzerin lachte noch toller als zuvor. »Was Sie die Weiber gut kennen! Hören Sie, Doktor, Sie müßten eigentlich eine Theater-Agentur übernehmen. Sie haben mehr Geschick dazu als Röder. Mir überlassen Sie die Prüfung der jungen Schauspieler und Sänger, die Kolleginnen-Künstlerinnen können Sie kontrollieren. Topp, ich trete in das Geschäft!«
»Närrin! Male den Teufel nicht an die Wand! Was hast Du erlauscht?«
»Daß es Maëstro Lorini war, beiläufig ein hübscher Junge! und daß der gute liebe Maëstro auf eine fabelhafte Menge Exemplare der »Öffentlichkeit« abonniert hat, Du also sehr bei Kasse bist, was mir überaus willkommen ist, um meine Schneiderin damit zu bezahlen.«
»Hol' der Teufel die dünnen Türen und die Schlüssellöcher.«
»Der fromme Wunsch kommt zu spät. Also rücke heraus, Alterchen!«
»Wieviel bist Du denn wieder schuldig? Du bist unersättlich in Deinen Forderungen.«
»Brummbär! Ich kann doch nicht wie eine Schuhflickersfrau umherlaufen, und die Friedrich-Wilhelmstadt gibt so lumpige Gagen. Er steckt Alles der Moldauer zu, sie ist scharfsichtig genug trotz ihrer blöden Augen, an die Zukunft zu denken.«
»Woran Ihr Närrinnen gar nicht denkt, bis Ihr im Armenspittel endet!«
»Oder eine gute Partie macht. Aber, mein Bester, keine Predigt, dazu habe ich es nicht gewagt, Dich heute trotz des strengen Verbots hier zu besuchen. Ich brauche Geld, ich muß fünfzig Taler haben!«
»Fünfzig Taler?«
»Ja, fünfzig Taler. Es steht Ihnen aber auch frei, Signor Dottore, wie Maëstro Lorini sagte, mir hundert zu geben, dann komme ich so rasch nicht wieder.«
»Signora Aldine scheinen überhaupt für mich blos sichtbar,« sagte spöttisch der Doktor, »wenn Signora Geld brauchen.« –
»Oder eine Kollegin heruntergerissen wissen will,« schob die Tänzerin übermütig ein.
Er nahm den Witz übel auf. »Wo warst Du am Montag?« frug er streng. »Warum bist Du nicht zu Schreiber am Potsdamer Tor gekommen, wie ich Dir auf die Bühne sagen ließ?«
»Ich war so müde und angegriffen!«
»Lüge! Bei Klette bist Du gewesen mit dem Leutnant von Buxtorf, dem Hungerleider, der Dich höchstens mit einer Flasche Mosel traktiert. Aber ich sage Dir, es ist das letzte Mal, daß ich mich betrügen lasse, und wenn ich dahinter komme, ist es aus mit uns. Du weißt sehr gut, daß Dich Deichmann blos auf meinen Wunsch im Engagement behält!«
Die ziemlich talentlose Tänzerin wußte das sehr gut, aber es kränkte doch ihre Eitelkeit. »Bah – es gibt noch mehr Theater in Berlin und ich bin noch jung und hübsch genug. Der Prinz Bärenstein ist mir schon lange nachgestrichen und schickt mir Bouquets.«
»Aber ich glaube nicht, daß er über ein einziges Deiner Solo's eine lobende Kritik schreiben wird, und das Lob ist Euch Geschöpfen doch nötiger, wie's tägliche Brot.«
»Wie ist's, Doktor, wollen Sie mir die Fünfzig geben oder nicht? Ich habe keine Zeit!«
Der Redakteur zog mürrisch den Fünfzigtalerschein, den er eben von dem Italiener erhalten, aus der Kasse und warf ihn ihr hin. »Ich denke, Schatz, Du wirst wohl Zeit haben, wenn es mir paßt. Du bist ja heute abend nicht beschäftigt.«
»Das allerdings nicht – aber ich muß doch ins Theater, das neue Kostüm anzuprobieren für die ›Großherzogin‹.«
»Das nimmt keinen Abend in Anspruch. Ich erwarte Dich also ganz bestimmt um neun Uhr bei Schreiber, im Kabinet Nummer drei. Du brauchst nicht erst nach mir zu fragen. Aber merke Dir, ich versteh keinen Spaß! Halt – es klopft! Tritt in das Kabinet!«
»Nein, ich ziehe das vor!«
Sie war mit einer kecken Voltige rasch über der Barrière, zog den großen Shawl, den sie trug, fester um und setzte sich mit höchst ehrbarer Miene auf den Sessel, den vorhin der Maestro eingenommen hatte. Im nächsten Augenblick öffnete sich auch schon die Tür, ohne daß ein ›Herein‹ abgewartet worden, und ein Mann trat herein, dem man den alten Soldaten und den jetzigen Amtsboten gleich leicht ansah.
»Aus dem Ministerium des Innern. Gleich zu bestellen.«
Der Doktor sah ziemlich unwillig auf den Mann, der die Anwesenheit der Tänzerin nicht bemerkt hatte oder sie für gleichgültig hielt, und ein Kouvert mit großem Siegelverschluß übergab. »Er ist rekommandiert, und ich muß den Empfangsschein zurückbringen,« sagte er in trockenem Tone.
Doktor Heitel nahm den Brief, und wandte sich um, um bei dem Öffnen nicht beobachtet zu werden. »Sie sind wohl noch nicht lange im Dienst?«
»Nein! Barthels, der gewöhnlich diese Wege hat, ist krank, und ich vertrete ihn nur.«
»Das dachte ich mir!« Es lag in dem Kouvert ein zusammengefaltetes Blatt, das er öffnete, wobei er es nicht verhindern konnte, daß eine Banknote, von ziemlich geringem Betrage, herausfiel und auf die Erde flatterte.
»Ah – ein Inserat! warten Sie!«
Er hob den Schein auf, legte ihn fort und quittierte über den Empfang des Briefes. Ein flüchtiger Blick auf den Inhalt des Papiers hatte ihm von diesem Kenntnis gegeben. »Wieder die verdammte Pferde-Geschichte! wird sich und mein Blatt noch ruinieren!« brummte er, während er schrieb. »Sie haben einmal jetzt die Oberhand, und es ist nichts zu machen gegen diese Londoner Anschuldigungen, wenigstens vorläufig nicht, so albern sie sind! Später – ja dann!« Er stand auf und reichte dem Boten die gedruckte Empfangs-Bescheinigung, die er mit der Nummer des Briefes versehen. »Ah, Fräulein, Sie sind noch hier? – Nun, auf Wiedersehen.«
»Es wartet Jemand draußen,« sagte der Bote, die Quittung einsteckend und nach dem üblichen Biergroschenstück vergeblich ausschauend, »er bat mich, Ihnen diese Karte zu geben! Na Adieu denn!« – Er war höflich genug, der Dame den Vortritt zu lassen, die auf einen sehr ernsten Wink des Doktors sich endlich zum Gehen entschlossen hatte.
»Alfred von Bradnicki«, las der Doktor auf der übergebenen Karte. »Wie ist mir denn? schwebt gegen den nicht ein Prozeß wegen Bestechung? Was will die polnische Fraktion von mir?«
Es klopfte an der Tür. »Herein!«
Ein großer schlanker Mann trat ein und verbeugte sich höflich. »Herr Doctor juris Heitel? ich irre mich nicht, denn ich habe die Ehre gehabt, Sie damals im Polenprozeß mehrmals zu sehen, und mein Freund Nigolewski hat mir Sie als einen sehr geschickten, wenn auch nicht offiziellen Juristen empfohlen.«
»Sehr verbunden! Nehmen Sie Platz. Wen habe ich die Ehre zu sehen?«
»Mein Name ist, wie Sie aus meiner Karte ersehen haben werden, von Bradnecki. Ich komme eigentlich nicht in meinem Interesse, sondern in dem eines Verwandten. Sie haben vielleicht von der Anklage des Staatsanwalts in Posen gegen den Gutsbesitzer oon Bradnecki wegen angeblichen Versuchs einer Bestechung gehört?«
»An dem ehemaligen Probst, jetzigen vereideten Dolmetscher bei der Polizei in Posen, Post.«
»So ist es!«
»Um diesen zu verleiten, aus den Akten Papiere zu stehlen, die Beweise für die unwahren Anschuldigungen des Abgeordneten Nigolewski in der vorjährigen Kamrner gegen die Herren von Puttkammer und von Mirbach liefern sollen!«
»Sie urteilen nicht ganz richtig, Herr Doktor«, sagte der Pole höflich, »wir haben Beweise in Händen; das Bestreben, sie zu vervollständigen, ist keineswegs ein Verbrechen.«
»Warum hat Ihr Vetter oder Bruder dem Translateur denn da 500 Rth. geboten?« fragte der Doktor grob. »Die Sache ist faul! Was wünschen Sie eigentlich?«
»Der Prozeß läßt sich freilich nicht mehr unterdrücken«, meinte finster der Pole, »indes es ist nicht angenehm, ihn in der Presse breitgetreten zu sehen; die sämtlichen Berliner Zeitungen werden darin nobel handeln, nur Sie und die Kreuz-Zeitung stehen prinzipiell gegen uns.«
»Hm!«
Der Doktor überlegte in Gedanken, ob er dem Emissär der polnischen Fraktion entgegen kommen solle oder nicht. Er entschied sich rasch für das letztere.
»Selbst der Oberpräsident von Bonin wünscht die unangenehme Sache erledigt.«
»Ich begreife, daß Herrn von Bonin dergleichen störend sein muß. Glücklich die Provinz Posen, deren Verwaltungschef nach seinem Zirkulare an die Magdeburger Wahlmänner wegen seiner Wiederwahl ins Abgeordneten-Haus ›sehr wohl in Stand ist‹, vier bis fünf Monate von seinem Posten abwesend zu sein, um hier in der Kammer zu sitzen. Die Herren Polen dürften sich gerade in dieser Zeit, in der es so unruhig ist im Nachbarlande, gratulieren, einen so nachsichtigen Vorstand der Provinz zu haben.«
Der polnische Emissär hatte sich erhoben. »Ich sehe, daß meine Bitte vergeblich sein würde.«
»Sprechen Sie sie immerhin aus!«
»Nun, Sie begreifen, wir wünschen den Fall nicht in der Presse breitgetreten. Sie haben viele Verbindungen in ihr und wir hofften, da Sie sich Achtundvierzig unserer unterdrückten Nationalität annahmen …«
»Das Nationalitätsprinzip ist durch den Kaiser-Louis Napoleon und den König Viktor Emanuel etwas in Mißkredit gekommen. Ein neues Königreich Polen würde dem preußischen Staat wenig passen.«
Der Pole hatte seinen Hut genommen. »Sie stehen also entschieden auf Seite unserer Gegner?«
»Ganz entschieden! Die Erfahrungen, welche die Deutschen Ihrer Provinz nach der Amnestie in der Erhebung von Achtundvierzig und Neunundvierzig gemacht haben, war nicht so empfehlenswert für das Prinzip Ihrer Nationalität.«
»Daß eine auf's Härteste unterdrückte Nation sich, wenn die Fesseln endlich gesprengt werden, einige Ausschreitungen erlaubt, ist wohl zu entschuldigen …«
»Sie dürfen nur nicht so weit gehen, daß man schwangeren Frauen den Leib aufschneidet und Kinder und Greise mordet.«
Das Gesicht des Emissärs wurde dunkelrot. »Sie hätten unserer Dankbarkeit sicher sein können …«
»Ich kenne die polnische Dankbarkeit zur Genüge«, sagte spöttisch der Journalist. »Ich werde in dem Bericht über den Prozeß ›Post‹ meine Pflicht als Vertreter der öffentlichen Meinung, des Rechts und der Wahrheit tun. Bitte, sagen Sie das Herrn von Nigolewski und seinen Kollegen.«
Er hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, als die Tür von dem ohne Gruß Fortstürzenden heftig ins Schloß geworfen wurde.
Der Doktor rieb sich schmunzelnd die Hände. »Ich habe lange darauf gelauert,« sagte er bitter, »daß sie mir ins Garn gingen und ich den Lumpen ihre Dankbarkeit unter die Nase reiben könnte. Es ist doch bloß unruhiges, ewig unzufriedenes Gesindel, jede Parteinahme für ihre Sache könnte unter den gegenwärtigen Umständen die Zeitung nur mit dem Ministerium brouillieren. Nun, was ist das? – Ein Wortwechsel? Es wäre nicht übel, wenn der polnische Heißsporn angelaufen wäre.«
Er öffnete die Barrière und schob vorsichtig den Deckel des sogenannten Ochsenauges, des kleinen dunklen Glases, zur Seite, das an der von dem Gegangenen in der Hitze zugeworfenen Doppeltür angebracht war und zu sehen erlaubte, wer auf dem Flur stand und Einlaß verlangte.
In der Tat war es der eben hinausgestürmte Pole, welcher bei seinem hastigen Davonrennen auf der Biegung der Treppe mit einem Fremden stark zusammengerannt war.
»Tölpel!«
»Mein Herr!«
»Man rennt nicht wie ein Wahnsinniger die Treppe hinunter, ohne zu sehen, wer entgegenkommt!«
»Nur gemeine Leute schimpfen!«
Der Fremde hatte eben seinen Hut aufgehoben, den der andere bei dem Zusammenstoß heruntergeworfen. »Wenn Sie, statt die gebührende Entschuldigung zu machen, noch Verlangen nach einer weiteren Lektion in guter Lebensart tragen, so steht Ihnen diese zu Diensten. Hier meine Karte!«
Der Pole warf einen Blick darauf: »Ah, mein Herr, das erklärt Ihre Sprache! Aus dem steten Umgang mit Rekruten!«
Obgleich der Emissär das Deutsche in der Unterhaltung mit dem Redakteur ohne allen Accent gesprochen hatte, verriet dieser doch jetzt in der Aufregung unverkennbar die Nationalität.
»Gewiß, speziell mit polnischen! Bitte, mein Herr, ich habe jetzt keine Zeit zur weiteren Unterhaltung.«
Der Pole war unwillkürlich zur Seite getreten und der andere ging stolz und.hoch aufgerichiet an ihm vorüber, ohne weitere Notiz von ihm zu nehmen.
»Ich werde Dich finden wissen, Psia krew!« knirschte der Pole und eilte dann rasch die Treppe hinunter.
Der Doktor hatte den Wortwechsel der beiden Männer gesehen, aber ihn doch nicht hören können. Was er gesehen, genügte ihm jedoch, um vergnügt in den Bart zu lachen. »Wer es nur sein mag? Wahrhaftig, er kommt zu mir!«
Mit einer leichten, leisen Bewegung hatte er das Guckloch zugeschoben und war wieder hinter die Barriere getreten, nachdem er den Riegel der Tür zugedrückt hatte
»Herein!« rief er auf das feste Klopfen.
Der Fremde, der soeben das Renkontre gehabt, öffnete die innere Tür und trat ein, indem er beide Türen sorgfältig schloß.
Es war ein großer, schlanker Mann, noch jung, etwa dreißig Jahre. Das kurze dunkle Haar, das an den Schläfen etwas abgerieben war von dem Druck des Helmes, die grade und doch freie Haltung, der hübsche schwarze Schnurr- und kurze Backenbart deutete auf einen Militär, obschon der Fremde Zivil trug. Sein Gesicht hatte einen tief ernsten, fast finstern Ausdruck, der übrigens seine regelmäßigen Züge nicht übel kleidete, doch hatten in diesenr Augenblick die tiefblauen Augen einen eigentümlichen Blick von Ernst und Entschlossenheit, der dem Doktor Heitel, der ihn mit einer gewissen Neugier betrachtete, zu denken gab.
»Habe ich die Ehre, den Redakteur der ›Öffentlichkeit‹ in Person zu sprechen?«
»Ich bin Doktor Heitel.«
»Dann erlauben Sie mir eine Bitte und Frage. Ich komme in einer eigentümlichen und sehr delikaten Angelegenheit und bitte um Ihre Diskretion und ein wenig Vertrauen, da ich annehme, daß ich mit einem Mann von Welt, a5er auch zugleich von Ehre und Zartgefühl zu tun habe.«
»Zu dem verlangten Vertrauen,« sagte der Doktor zurückhaltend, »dürfte es zunächst nötig sein, daß Sie die Güte haben, sich mir vorzustellen.«
»Eben weil ich daran, wenigstens zunächst, verhindert bin, bitte ich um das Vertrauen. Ich bin preußischer Offizier, und dieser Umstand muß zunächst für mich bürgen.«
Der Doktor verbeugte sich zustimmend. Er erinnerte sich, daß er gesehen, wie der Fremde dem polnischen Agenten unbedachtsam seine Karte gegeben, daß er also immer in der Lage sein würde, seinen Namen ermitteln zu können.
Der angebliche Offizier hatte eine Nummer der ›Öffentlichkeit‹ aus seiner Tasche genommen und reichte sie dem Redakteur. »Ihr Blatt hat vor vier Tagen diesen Artikel gebracht.«
»Ah – er scheint Aufsehen gemacht zu haben – das ist bereits die siebente Nachfrage – selbst meine Herren Kollegen scheint die Sache zu interessieren.«
»Wir werden uns leichter verständigen«, sagte der Offizier, »wenn wir uns den Artikel speziell wiederholen. Wollen Sie die Güte haben, denselben vorzulesen, oder soll ich es tun.«
»Oh – es macht mir Vergnügen, es selbst zu tun.« Der Doktor setzte seinen Kneifer auf die Nase und bog sich mit dem Blatte näher zur Lampe.
Der Artikel, den er las und der in jenen Tagen allerdings Aufmerksamkeit erregt hatte, lautete:
Die »Oeffentlichkeit« wird im nächsten Quartal ihren Lesern einen höchst interessanten und spannenden Roman aus der vornehmen Gesellschaft bringen, in welchem sich alle sozialen Konflikte abspiegeln: die Macht des Herzens und der Natur in der Liebe einer jungen Dame von vornehmer Familie zu einem Bürgerlichen, ihr Kampf mit den schroff aristokratischen Vorurteilen ihrer Angehörigen die bis zur Tyrannei und dem Verbrechen führen; fürstlicher Frevel und Lüsternheit; die verkehrten militärischen Ehrenanschauungen, die lieber die natürlichsten Gefühle des Herzens opfern, als die Schranken des soldatischen Despotismus sprengen; den konfessionellen Haß und Fanatismus, unter dessen Druck zwei jugendliche Herzen verbluten; das geheimnisvolle Verschwinden, vielleicht gar die Opferung des freiwillig ungesetzlichen Pfandes jener Liebe: dies Alles in drastisch spannender Weise geschildert. Das interessanteste aber ist, daß alle diese, unsere Teilnahme packenden Schilderungen von Vorgängen und Persönlichkeiten nicht der Fantasie des Romanschriftstellers entsprungen, sondern auf wahre Ereignisse und Verhältnisse aus noch nicht lange vergangene Zeiten zurückzuführen sind, also Tatsachen bringen, wie die von einer in die Intrigen verwickelten Person dem Verfasser übergebenen Briefe und Papiere zur Evidenz erweisen.
»Sie sehen, mein Herr, das Programm des Romans, für den Sie sich zu interessieren scheinen, ist vielversprechend.«
»Und – wer ist der Verfasser?«
»Er wünscht anonym zu bleiben«, sagte der Doktor.
»Vielleicht – sind Sie es selbst?«
»Möglich – das sind eben Redaktions-Geheimnisse.«
»So wären dann jene Papiere bei Ihnen deponiert. Können Sie, wenn ich Sie darum bitte, mir keine näheren Andeutungen über die Persönlichkeiten oder Verhältnisse machen, welche unter der Form des Romans gemeint sind?«
»Ich werde mich natürlich hüten.«
»Aber, wenn ich Ihnen sage, mein Herr, daß dadurch eine hochgeachtete, hochgestellte Familie kompromittiert werden könnte? Ich muß Ihnen nämlich gestehn, daß viele der angedeuteten Vorgänge leider in eine solche Familie passen, die ich kenne, deren Ruf ich zu verteidigen habe.«
»Das Leben spielt oft sehr sonderbar«, bemerkte philosophisch der Redakteur. »Sie werden selbst schon gehört haben, daß kein Roman die Wirklichkeit erreicht.«
»Lassen wir das, mein Herr. Wenn der Schlußsatz jener Ankündigung richtig ist, würden Sie also in Besitz solcher Briefe und Papiere aus einer unglücklichen Familiengeschichte gekommen sein, wahrscheinlich durch Zufall.«
»Wenn es also wahr ist – dann darf jener Roman um so weniger erscheinen.«
»Warum nicht?«
»Weil er eine hochgestellte, mir nahestehende Familie nutzlos kompromittieren könnte.«
»Es werden natürlich nur fingierte Namen und Verhältnisse in dem Roman genannt. Ich weiß in der Tat keinen Grund, weshalb von einem Dritten eine solche Zensur geübt werden dürfte.«
»Aber begreifen Sie denn nicht, mein Herr –«, der Sprecher ging unruhig auf und nieder. »Doch was halten wir Debatten über eine so zweifelhafte Sache. Wollen Sie mir eine Gefälligkeit, einen sehr großen Dienst erweisen? Ich weiß, ich habe kein Anrecht an Sie, als das von Mann an Mann!«
»Was wünschen Sie? Ich muß zuerst wissen, was ich bewilligen soll.«
»Dann – dann lassen Sie mich jene Papiere, jene Briefe sehen, die Sie gekauft haben. Nur einen Augenblick, nur daß ich mich überzeuge!«
Der Doktor sann einen Moment nach, dann sagte er mit dem Anschein von Offenheit: »Ich tue es nicht gern, indes. Sie haben als Mann an den Mann appelliert. Genügt es, wenn ich Ihnen einen jener Briefe zeige? Erkennen Sie die Handschrift nicht, so kann die ganze Sache ja keinerlei Bezug auf Personen haben, die Ihnen nahe stehen.«
»Ich bin auch damit zufrieden.«
Der Doktor ging zurück zu seinem Arbeitspult, schloß ein Schubfach auf und nahm ein Päckchen zusammengefalteter Papiere heraus, aus dem er auf's Geratewohl eines derselben zog. Dann, ehe er das Blatt, das weniger ein Brief als ein Blatt vielleicht aus einem Tagebuche zu sein schien, dem Fremden vorlegte, schloß er die anderen Papiere sorgfältig wieder fort.
»Hier, mein Herr, nehmen Sie, ich vertraue dies, mein jetziges Eigentum, Ihrer Ehre.«
Er legte das Blatt vor den Fremden nieder, dann zog er sich zu seinem Pult zurück, wo er sich allerlei zu schaffen machte, den anderen dabei unbemerkt scharf beobachtend.
Der Fremde, der sich als preußischer Offizier bezeichnet hatte, achtete nicht auf die beobachtenden Blicke – er hatte hastig das Papier ergriffen und war damit näher an das Licht der Lampe getreten. Schon der erste Blick, den er auf die Schrift geworfen, schien ihn tief erschüttert zu haben! Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und ließ das Blatt auf die Barrière sinken – dann hob er es wieder auf, kehrte dem Doktor den Rücken, um ihm seine tiefe Bewegung zu verbergen und heftete wieder seine Augen auf die Schrift.
So vergingen wohl fünf Minuten. Endlich wandte sich der Fremde, als ob er einen Entschluß gefaßt habe, um, faltete das Papier zusammen und steckte es in die Tasche.
Seine Physiognomie hatte in den wenigen Momenten etwas Drohendes, Furchtbares angenommen – seine Augen hefteten sich mit einem fast schrecklichen Ausdruck auf den Redakteur, der indes sehr ruhig blieb.
»Wollen Sie die Güte haben, mein Herr, den ich nicht weiter kenne und nennen kann, das Ihrer Ehre anvertraute Papier, mein Eigentum! mir zurückzugeben?«
Der furchtbare Kampf spiegelte sich in dem Gesicht des jungen Mannes ab.
»Es wäre Torheit, Ihnen gegenüber leugnen zu wollen, daß ich diese Handschrift erkannt habe; es handelt sich um die Geschichte der Familie, von der ich Ihnen sprach – um meine Geschichte!«
»Ich habe es längst gesehen.«
»Der Roman, den Sie sich erlaubt haben anzukündigen, darf nicht gedruckt werden!«
»Wer wird mich hindern?«
»Ich! Sie werden mir sämtliche Papiere, die Sie in dieser Angelegenheit besitzen, auf der Stelle herausgeben und sich schriftlich auf Ihr Ehrenwort verpflichten, nie von der gewonnenen Kenntnis dieser unglücklichen Verhältnisse Gebrauch zu machen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»So werde ich Sie dazu zwingen!«
Der Redakteur zuckte die Achseln. »Gehen Sie doch – glauben Sie mit einem Kinde zu tun zu haben? Kommen Sie morgen wieder, wenn Sie verständiger geworden sind – dann wollen wir weiter reden. Meine Sprechstunden sind für heute längst vorüber, deshalb erlauben Sie mir, Sie allein zu lassen!«
Der Doktor wandte sich nach dem inneren Ausgang des Redaktionszimmers und tat einen Schritt dahin.
Er hielt mit dem zweiten inne, denn mit einem Satz, die Hand auf die Barrière stützend, war der Fremde über diese gesprungen und stand zwischen dem Doktor und der Tür zu seiner Wohnung.
»Sie werden nicht lebendig dies Zimmer verlassen, wenn Sie nicht zuvor meine Forderung erfüllt haben. Wählen Sie – hier sind tausend Taler zu Ihrer Entschädigung«, – er warf eine Banknote auf den Tisch – »oder – dies!«
Ein Revolver blitzte in der Hand des Mannes im Anschlag auf den Redakteur.
Dieser wiederholte kaltblütig die ihm eigentümliche Bewegung des Achselzuckens und lachte seinem Bedroher ins Gesicht.
»Echauffieren Sie sich nicht, mein Herr! Wir Berliner sind keine Duellanten oder Mörder von Profession, wie unsere Herren Kollegen in Paris, aber wir wissen doch – wenigstens was nicht die Judenjungen von Profession sind – unsere Stellung und unser Leben recht gut zu verteidigen, überzeugen Sie sich!«
Er ließ das Schnupftuch, das er vorhin über die rechte Hand geschlagen, fallen. Die erhobene Hand umspannte einen Revolver gleich dem des Offiziers.
Dieser war von der Kaltblütigkeit, mit der man ihm begegnete, offenbar etwas verblüfft, er ließ die Hand mit der Waffe aus der gehobenen drohenden Stellung sinken. »Das Leben gilt mir nichts!« sagte er endlich dumpf.
»Mir desto mehr, – ich habe Familie, und mache außerdem noch viele Ansprüche an das Leben. – Also lassen Sie die unsinnige Idee einer gegenseitigen Metzelei fallen und setzen Sie sich dort hin, auf jenen Stuhl dort, um uns wie vernünftige Männer zu verständigen. Das Schießen aufeinander bleibt uns immer noch!«
Der Offizier leistete widerstandslos der Aufforderung Folge – er schien die Lächerlichkeit eines weiteren Vorgehens zu begreifen und scheute sich vor ihr.
»Erlauben Sie mir eine indiskrete Frage«, sagte der Doktor, indem er wie absichtslos seinen Revolver auf den Seitentisch schob – »Sie sind der Leutnant oder Hauptmann ›Herrmann‹, wenigstens mit Vornamen? Den anderen Namen verlange ich gar nicht zu wissen.«
»Ich bin's!«
»Gut! mehr wollte ich nicht erfahren, das genügt, um uns die Verhandlung zu erleichtern. Sie fordern also –«.
»Zunächst die Auslieferung jener sämtlichen Papiere.«
»Das ist ein Handelsgeschäft, und läßt sich demnach besprechen. Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, daß ich sie selbst gekauft habe.«
»Von wem?«
»Von irgend einem Vagabunden und seiner Zuhälterin. Das Nähere denk' ich ist gleichgültig. Sie kamen mir interessant genug vor, um darauf eine Lockspeise für das Publikum meines Blattes zu gründen.«
»Wenn das der Fall ist und Sie keinen tendenziösen oder persönlichen Grund zur Veröffentlichung haben, werden Sie sich nicht weigern, die Papiere zu verkaufen und die darauf basierte Veröffentlichung zu unterlassen. Was ist Ihre Forderung?«
»Langsam, langsam, mein Herr. Was sind diese Punkt anbetrifft, so bin ich bereit. Ihnen die Papiere herauszugeben, weil Sie ein Anrecht dazu haben, und zwar zu den: Preis, den ich selbst dafür gezahlt. Das sind fünf Friedrichsd'or!«
»Mit Freuden das Zehnfache!«
»Mißverstehen wir uns nicht. Zunächst sind diese Papiere für das Publikum ohne Wert, und Sie selbst überschätzen vielleicht denselben. Ich übe nur eine Ehrenpflicht, wenn ich Sie schon im voraus darauf aufmerksam mache, daß kein einziger Name darin genannt ist. Nur durch die Kombination, welche dem Journalisten leichter als anderen Menschenkindern wird, und durch die Mitteilung des Verkäufers oder der Verkäuferin kann ich Näheres von den Personen und den Schauplätzen vermuten; ja ich habe es absichtlich abgelehnt, bestimmte Adressen zu erfahren.«
»Es ist gleichgültig – ob Namen oder nicht vorkommen, – mir handelt es sich um den Besitz der Papiere, um einem genugsam gequälten Herzen wenigstens die äußere Sicherheit wiederzugeben. Das zu tun, selbst auf Kosten meines Lebens, ist meine Pflicht – ich sage es Ihnen offen!«
»Das Zweite, was Sie fordern, ist die Unterdrückung des angekündigten Romans!«
»Er darf nicht veröffentlicht werden!«
»Das ist unmöglich, – ich würde dadurch meinem Abonnement und dem Ruf meiner Zeitung schaden.«
»Ich wiederhole Ihnen, ich muß es verhindern!« Der Blick des Offiziers kreuzte sich finster, drohend mit dem kalten Auge des Literaten.
»Aber ich will Ihnen einen anderen Vorschlag machen!«
»Sprechen Sie.«
»Die Ankündigung enthält nur allgemeine Andeutungen, die auf hundert Orte und Verhältnisse passen. Die ersten Kapitel sind zwar bereits geschrieben, aber ich bin bereit, sie zu kassieren, und das Ganze, Roman, Novelle, Erzählung – was Sie wollen in einer Weise umzuarbeiten und erscheinen zu lassen, die auch nicht den entferntesten Fingerzeig auf die wahren Personen und Tatsachen gibt. Wollen Sie damit zufrieden sein?«
Der Offizier dachte einige Augenblicke nach. »Ich fürchte, ich muß wohl!« sagte er endlich. »Aber was bürgt mir dafür, daß Sie Wort halten?«
»Zunächst der Besitz der bewußten Beweisstücke, mein Wort und, da Sie einmal dazu entschlossen waren, Ihr Revolver.«
»Es ist wahr! Ich würde Sie töten, wenn Sie Ihr Wort brächen.«
»Es versteht sich von selbst«, fuhr der Doktor fort, »daß bei einem solchen Handel ich meinen eigenen Nutzen nicht in alberner Generosität vernachlässigen kann. Sie zahlen für die Papiere nur den Preis, den ich selbst gegeben. Aber Sie vergüten mir das Schriftsteller-Honorar der doppelten Arbeit.«
»Wird dies genügen?« Der Fremde wies aus die von seinen eigenen hestigen Bewegungen zur Erde geflatterte Banknote.«
»Ah – ich weiß nicht … ich bin etwas kurzsichtig!«
Die ruhige kühle Antwort wies auss neue den Besucher in die nötigen Schranken. Er wurde rot, aber er erkannte, daß er hier an einen Mann gekommen, der sich dem militärischen Dünkel nicht beugen würde, und hatte Verstand genug, sein Unrecht einzusehen. Er hob die Banknote auf und legte sie auf den Schreibtisch.
Schluß des ersten Bandes.
Herroseé& Ziemjen, G. m. b. H., Wittenberg