Franziska zu Reventlow
Autobiographisches / Briefe
Franziska zu Reventlow

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Altenburg

1886/87

Das einzige was in der ganzen StiftseinrichtungDen tagebuchartig niedergeschriebenen Erlebnissen fehlen die ersten Seiten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben diese – das ergibt sich aus dem Inhalt der gesamten Aufzeichnungen – nichts Wesentliches enthalten. In dem Roman »Ellen Olestjerne« hat Franziska Reventlow dieses Pensionsjahr in dem Freiadligen Magdalenenstift Altenburg anschaulich geschildert. nicht schwierig war, war eben, daß das Anzeigen untereinander sehr verpönt war. Trotzdem war es sehr an der Tagesordnung. In diesem Falle war ich sehr in Wut, eine andere sagte mir, zeig sie doch an und ich tat.

Die Pröbstin war natürlich sehr zufrieden mit mir und sagte, es wäre sehr richtig, daß ich zu ihr gekommen wäre. Da fing meine Reue an. – Nachher bekam die andere vor allem Volke einen rasenden Segen und mein passendes und richtiges Verhalten wurde hervorgehoben. Da wuchs meine Reue entsetzlich, ich wußte nicht, wohin ich sehen sollte und wagte nicht, die Augen aufzuheben.

Als ich es tat, sah ich die Pröbstin gerade in der Tür verschwinden, Hildegard A. mit trotzig verbissenem Gesicht an ihren Platz zurückkehren, alle Gesichter sich mir zuwendend, mir Fratzen schneidend, die Zähne fletschend (was als Verachtungszeichen sehr gebräuchlich war), und ich fing an, meine Tat zu begreifen, mit Entsetzen! Kaum war die Stunde aus und wir auf dem Korridor, als die Flut der allgemeinen Entrüstung und Verachtung sich über mich ergoß. Das ganze Stift sammelte sich um mich und brüllte aus vollem Hals, was sie an französischen Schimpfworten wußten, am ärgsten die 3te Klasse, meine sonstigen Freundinnen. Die erste Klasse erschien auch und fragte, was es gäbe, und stimmte dann mit ein. So wenig vom sogenannten Ehrgefühl ich auch damals besaß, überhaupt jemals besessen habe, diese Erfahrung brannte sich mir für immer ein. – Es wurde von mir verlangt, jene Hildegard Asseburg um Verzeihung zu bitten. Ich tat es nicht, obgleich damit alles wieder gut gewesen wäre. – Da ich die Gemeinheit einmal begangen, wollte ich sie nun auch in allen Konsequenzen durchführen. Erst nach den großen Ferien wurde die Geschichte vergessen. Hildegard A. und ich sind später die besten Freundinnen geworden und geblieben.

So kamen die ersten Sommerferien heran. Kurz vorher passierte noch eine große »Geschichte«.

Es war streng verboten, im Garten irgendwelche Früchte zu essen. Da wir in dieser Zeit öfters in den Garten kamen, erst arbeiteten, dann Umhergehen oder Croquet erlaubt war, so war natürlich bald eine große Verwüstung aller Stachel- und Johannisbeersträucher bemerkbar »trotz des Verbotes«!

Großes Verhör folgte. Die Erste jeder Klasse zog mit einem Bogen umher und notierte sich nach Ausfrage die Täterinnen. Von unserer ganzen Klasse, die 18 zählte, meldeten sich 6. Die anderen logen sich heraus. Ich wurde, da ich aus besonderer Liebhaberei gelbe Wurzeln roh gegessen hatte, unter einer besonderen Rubrik notiert. Die Stachelbeeren hatte ich – da sie mir zum Essen viel zu sauer waren – nur für meine damalige Flamme Leonie Massow, die sie aus Gesundheitsrücksichten massenhaft verschlang, gepflückt. Diese zog sich gewandt aus der Sache, und ich fiel natürlich wieder doppelt und 3fach hinein. Und kam mit dem anmutigen Zeugnis zu Hause an, daß ich mich an einem Diebstahl beteiligt hätte.

Der Abend vor den Ferien verlief sehr tumultuarisch. In jedem Schlafsaal schlief in einem abgetrennten Raum eine Lehrerin. Wenn diese, wie meist geschah, einen Tag früher fortfuhr, wurde dort ein Besen einquartiert, der uns beaufsichtigen sollte.

Natürlich von einer »Aufsicht« keine Rede. Ich habe selten etwas so wahnsinnig Wildes erlebt wie diese letzten Nächte vor den Ferien. Die ganze Nacht durch flogen Bettkissen, Pantoffeln und die zu diesem Zwecke sich famos eignenden blechernen Waschkannen durch die Luft und das Geschrei der Getroffenen ertönte dazu, andere balgten sich zu fünfen und sechsen in einem Bett herum, noch andere schlichen sich an die Betten, wo ruhigere und schlafbedürftige Individuen drin lagen, mit einer Wasserkanne bewaffnet, zogen den Unglücklichen die Bettdecken fort, spendeten ihnen einen kräftigen Guß Wasser und deckten sie freundlich wieder zu und gingen zum nächsten Bett. Die so Behandelten gerieten entweder in Wut und es entstand eine Prügelei, oder in Verzweiflung und sittliche Entrüstung, da trockne Wäsche nicht zu erreichen war.

Zuletzt war dann glücklich kein Mensch mehr im Bett, alles tobte durcheinander, der zur Wache befohlene Besen wollte aus seiner Höhle heraus, Ruhe stiften oder uns verklagen, wurde aber bei jedem Versuch so bombardiert, daß er schimpfend in seine Höhle zurückkroch.

Wenn es hoch kam, schlief man gegen Morgen noch einige Stunden. Der Schlafsaal sah am nächsten Morgen wie mehrere Schlachtfelder aus. Es folgte noch eine Andacht, wobei das Knien beim Vaterunser zur allgemeinen Prügelei ausartete und die Pröbstin wütend wurde, daß wir uns am letzten Morgen so betrügen. Aber keine hatte Ohren für irgendetwas, die Freude über die bevorstehende Befreiung war zu mächtig. Gegen 9 zogen wir truppweise zum Bahnhof. Wir, unsere 5, die beiden Asseburgs, ich und noch einige andere wurden von einer Lehrerin nach Magdeburg eskortiert. Es war glücklicherweise keine eigentliche, sondern eine Musiklehrerin, die wenig zu sagen hatte und an die man sich nicht kehrte. Wir waren demnach unterwegs wie die Wilden.

An der ersten Station ließen wir trotz Widerspruchs uns Bier ans Coupé bringen und bandelten zur Verzweiflung unserer Lehrerin mit dem Kellner an. In Magdeburg trennten wir uns.

5 Wochen Ferien, ich wurde zu Hause trotz meiner Obstsünden ziemlich gnädig aufgenommen, und mit Besserungsgelübden schied ich wieder, um in Magdeburg mit den anderen zusammen zu treffen.

Diese Rückreise nach Altenburg war sehr lustig. Wir nahmen mit unserer Lehrerin ein doppeltes Coupé ein, das durch eine offne Tür verbunden war. Sie saß mit 3en in der einen Hälfte, wo sich noch ein ziemlich schäbiges Ehepaar befand, ich mit den beiden Asseburgs in der 2ten kleineren Hälfte. Die 2 hatten eine Flasche Rotwein mit, die wir unbeobachtet mit Geschwindigkeit leerten und nun sehr lustig wurden.

Der im anderen Coupé befindliche Ehemann hatte sich eine Zigarre angezündet, ich ging nun hinein und sagte mit lauter Stimme zu unserer Lehrerin, Fräulein Bergt genannt, »Sagen Sie dem Kerl doch, daß er nicht qualmt.« Die Gattin des Angeklagten erhob sich entrüstet und sagte zu mir: »Mein Fräulein, sagen Sie bitte nicht, der Kerl qualmt, sondern der Herr raucht. Sie sind noch sehr jung!« Ich zog mich mit der Bemerkung, ich wüßte ganz genau, wie alt ich wäre, zurück.

Bei der nächsten Station stiegen 2 Herren, ein Offizier und ein Zivilist, ein. Als sie die Tür öffneten, schrie ich ihnen entgegen: Herr des Himmels, wer kommt denn da nun, worauf sie lachend fragten, ob sie nicht zu uns einsteigen dürften. Natürlich sagten wir ja. Statt sich nun in das anstoßende, größere Coupé zu begeben, blieben sie bei uns dreien und in 5 Minuten waren wir die besten Freunde. Sie wollten durchaus wissen, wer wir wären und lasen die Adressen von Postkarten, die wir nach Hause geschrieben hatten. Darauf stellte sich heraus, daß es Vater und Sohn namens v. Mellentin waren, die mit den Eltern der 2 Asseburgs gut bekannt waren. Als sie meinen Namen erfuhren, behauptete der Vater, der übrigens nicht sehr alt war, er kennte meinen Vater und ließ sich nicht ausreden, daß dieser in Pommern wohne. Auf meine gegenteiligen Versicherungen behauptete er, er wüßte es besser. –

In Leipzig stiegen die beiden aus. Wir trennten uns mit großem Bedauern, in fröhlicher, tumultuarischer Freundschaft. Nun erst stürmte Fräulein Bergt zu uns herein und wollte uns ganz rasend vorkriegen. Aber wir erzählten ihr, es wären »alte Freunde« unserer Eltern gewesen. – Dann ging das Stiftsleben wieder an. Ich arbeitete jetzt zum erstenmal mit großem Fleiß, um in die erste Klasse zu kommen. Übrigens stand mein Schicksal einmal sehr auf der Kippe. 3 Wochen nach der Rückkehr kam meine Cousine, Frau v. Asseburg, nach Altenburg, nahm ihre beiden Kinder und mich mit in die Stadt für den ganzen Tag. Ich hatte am Abend vorher 2 Briefe an meine Brüder geschrieben – die Briefe, die wir erhielten und die wir schrieben, wurden immer von der Pröbstin gelesen – und steckte dieselben am folgenden Tag in der Stadt ein. Dies kam durch eine Äußerung im nächsten Brief von zu Hause heraus. Am Sonntag mußten wir vor der Kirche einzeln zur Pröbstin hereinkommen, und sie beurgrunzte dann unsere Zeugnisse. Ich bekam einen ganz netten Schrecken, als sie mir eine donnernde Rede über den Betrug mit den Briefen hielt. Nur der Rücksicht auf meine Eltern hätte ich es zu danken, daß ich nicht sofort geschwenkt würde. Auf das heimliche Fortschicken von Briefen stand nämlich die Strafe sofortigen Entlassens. Ich war ziemlich paff und beschloß, mit Ernst in mich zu gehen.

Dann kam eine zweite Obststehlgeschichte. Gott sei Dank hatte ich mich diesmal nicht beteiligt. Es waren zumeist die Kleinen. Zwei von diesen hatten des Guten zuviel genossen und gaben es eines schönen Nachmittags auf dem Korridor wieder von sich. Erst wurden die armen Kinder sehr bemitleidet. Dann kam der Sachbestand durch die Klatscherei der Krankenwärterin, genannt Antonie, ein infames Wesen, das die Rolle der Sonne spielte und alles an den Tag brachte, heraus. Das gewohnte Strafgericht folgte. Sie bekamen abwechselnd Katzentisch und silence. (Einen Tag niemand sprechen dürfen, tat man es doch, so wurde man von jeder ersten, die es hörte, angepetzt und die Strafe wurde verlängert, ging auch auf jede über, die eine mit silence Behaftete anredete.) Natürlich amüsierten sich die Gören königlich, wenn sie am Katzentisch saßen und der Kandidat mit niedergeschlagenen Augen an ihnen vorbei ging, um nur nicht zu lachen und die Pröbstin dann über den ganzen Tisch mit lauter Stimme schrie, daß sie nur Wasser und Brot zu essen bekommen sollten, wobei der Kandidat erst recht verlegen wurde.

Die Strafen waren überhaupt mehr wie genial. Die beiden erwähnten kamen eigentlich nur in der 3ten Klasse vor, das heißt, ich habe es fertig gebracht, einmal in der 2ten Klasse und einmal in der 1ten, als Konfirmandin silence zu bekommen und war sehr stolz darauf.

Die Erste jeder Klasse war verpflichtet, auf alles aufzupassen; wegen kleiner Vergehen wurde man notiert, z. B. wenn man cochon zu einer anderen gesagt hatte, wenn man in einem statt in zwei Unterröcken durch den Schlafsaal ging (eine wurde für diesen Fall vom Pastor auf Befehl der Pröbstin ver . . . »weil sie es sonst doch wieder getan hätte«), wenn man um ½7 Uhr im Bett lag etc. pp. Sprach man deutsch, so bekam man »die Kette«, eine schwarze Kette, die jede Erste und die 3 Ersten der ersten Klasse besaßen und zu verteilen hatten. Abends nach der Andacht mußte man sie mit tiefen Knicks der Pröbstin überreichen, wofür sie einem 1 M vom Monatsgeld abzog. (Ich habe meistens überhaupt keins zu sehen bekommen, weil es für lauter Strafen weggegangen war.) In jedem Schlafsaal (es gab 4 für die 50, die wir waren) herrschte ebenfalls eine Erste. Morgens ging alles gewöhnlich, doch ziemlich ruhig zu, aber abends war es oft für die Erste sehr schwierig. Es war eine bestimmte Ordnung, nach der Waschen, Ausziehen etc. vor sich ging, und diese wurde auf eine lächerliche Weise inne gehalten. »Aus Anstand« durfte es natürlich ja nicht zu gründlich gemacht werden. Dafür wurde man alle 14 Tage in ein warmes Bad gesteckt, wo man sehr viel Seife und ein paar Stunden brauchte, um einmal rein zu werden.

Dagegen fiel es keinem Menschen ein, Kleine und Große in den Schlafsälen von einander zu sondern, sondern alles wurde bunt durcheinandergeworfen, was zur Folge hatte, daß die Älteren sich abgewöhnten, auf die Kinder als solche zu achten, diese wiederum sehr scharf auf die Großen achteten und dabei herauskam, daß es in dem freiadeligen Magdalenenstift zu Altenburg eigentlich überhaupt keine Kinder gab. (Viele kamen mit 8, 9 Jahren dorthin.)

Auch untereinander, wie es wohl immer ist, pflegten die zarten jungen Mädchen alle sogenannte Scheu abzustreifen, um im ganzen mit recht herzlicher Rohheit miteinander zu verkehren.

Nicht mit andern aufgewachsen, wußte ich, bis ich mich daran gewöhnte, oft nicht, was ich hörte und mag dann etwas erstaunt ausgesehen habe. Denn sie neckten mich zuerst sehr mit meiner »Unschuld«, was mich tief beschämte. Indessen ein unwissendes Kind war ich damals längst nicht mehr, mit fehlte nur die Fähigkeit, über Sachen, die mich tief beschäftigten und ich eher zu verbergen suchte, mich mit einer gewissen Freiheit oder Offenheit auszusprechen. Allerdings konnte man diese Fertigkeit da lernen und noch vieles mehr. Ich zog mich nicht grade von den anderen zurück, war aber zu größerer Annäherung viel zu verlegen und unbeholfen, bis mich eine andere namens Leony Massow zu glühender Verehrung begeisterte. Nun fand ich meinen Lebenszweck darin, dieser Flamme zu dienen auf jede nur erdenkliche Weise, ich machte ihr die Arbeiten, nahm ihre Medizin ein (was mir oft heftiges Bauchweh eintrug, das mich aber in dem Gedanken »für sie« beseligte) und ließ mich dafür von ihr auf die elendste Weise behandeln. Sie nutzte mich auf jede Art aus und dankte es mir mit großer Verachtung. Das dauerte den ganzen Sommer. Im Herbst war die große Examenswoche, wo 8 Tage lang schriftlich und mündlich mit allem examiniert wurde. Ich bestand mit Glanz und kam in die erste Klasse, brouillierte mich bald darauf mit Leony M. und lag einer anderen Flamme zu Füßen, diesmal noch viel schlimmer. Sie hieß Editha Wartensleben, war sehr schön, wild, und ich brannte für sie in hellem Feuer. Alles, was ich an Leidenschaft in mir fühlte, konzentrierte sich auf sie, und diese eigentlich völlig unnatürliche widersinnige Schwärmerei weckte einen wahren Sturm in mir auf, dem ich mich willenlos hingab. Ich sonnte mich förmlich in jedem Wort und Blick von ihr, machte 39 Gedichte auf sie und versuchte, durch die dollsten Streiche ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Später habe ich mich noch oft sehr heftig für Mädchen begeistert, aber nie so.

Bald nach Michaelis, im November, gab es eine große Geschichte, nach Aussage Sachverständiger die größte, die jemals in Altenburg passiert ist.

Die Erste unseres Schlafsaals, Hedwig Siegsfeld, war bei der Pröbstin, was zuweilen passierte, zum Tee eingeladen. Editha war die Zweite und sollte sie vertreten. Sie gab aber völlige Freiheit im Schlafsaal. Sobald das Mädchen die Nachtlampe angesteckt und den Schlafsaal verlassen hatte, ging der rasanteste Radau vor sich. Alles tobte herum, wir stellten lebende Bilder, tanzten, bliesen auf einer Mundharmonika etc. Dann fiel es uns ein, eine Entdeckungsreise zu machen. Hinter unserem Schlafsaal waren verschiedene Räume, wo Schränke standen etc. Mit der Nachtlampe bewaffnet zog ich voraus, 7 andere hinterher. Einige waren in den Betten geblieben. Wir leuchteten überall herum, fanden nichts besonderes, wurden aber immer wilder. Wieder in den Saal zurückgekehrt, schoben wir dann den vor der Tür befindlichen Schirm zurück, wo eine Wache gestanden hatte. Im letzten Schlafsaal, wo eine Gabriele Pfeil, Feindin von meiner Flamme, Erste war, hörten wir Lachen und Sprechen. Es herrschte dort immer eine wüste Wirtschaft, da sie alles durchließ und es selbst, obwohl sie schon 18 Jahre alt war, am schlimmsten machte. Editha und ich schlichen also, Nachthemd bekleidet, mit bloßen Füßen über den langen Korridor an die anderen Schlafsäle, bliesen auf unserer Harmonika und warfen in den letzten einen Stiefel. Kein Mensch begriff, was da los wäre, dann liefen wir zurück, tobten noch, bis die Lehrerin und Erste heraufkamen und lagen dann schwer schnarchend in den Betten. –

Der selbe Witz wiederholte sich im Laufe einiger Wochen 3 mal. – Dann zeigte Gabriele Pfeil, die schon erwähnte Erste des 4ten Saales, uns an. Nun folgte ein nicht zu beschreibender Aufruhr. Editha W. wurde gerufen und blieb eine halbe Stunde drin, mußte alles gestehen und haarklein erzählen. Am nächsten Morgen kam ich dran, dann Gabriele Pfeil. Alles kam heraus. G. Pfeil hatte indessen sich selbst schmählich hereingeritten, aus ihrem Schlafsaal kamen die haarsträubendsten Geschichten zu Tage, die man jedoch nicht annähernd so schlimm wie unsere Taten fand! Sie und ihre Sippe kamen mit einem Verweis davon, während an Edithas und meine Eltern Briefe abgingen und es drauf und dran war, daß wir beide abgeflogen wären.

Die Worte der Pröbstin weiß ich leider nicht mehr, ich war indessen sehr erstaunt, daß sie mir vorwarf, ich hätte mit dem Spaziergang im Nachthemd über den Gang eine »Unsittlichkeit« begangen, während es weniger unsittlich war, daß die im 4ten Schlafsaal stets zu mehreren in einem Bett geschlafen und ähnliche Sachen gemacht hatten; ferner, daß es »unglaublich« wäre, daß wir 6 ein paar Stunden in eben demselben Kostüm getobt hätten, wo wir uns doch jeden Tag beim Zubettgehen und Aufstehen gemeinsam bewegten und uns mit sehr viel weniger Bekleidung zu sehen bekamen. Die Logik dieses Verfahrens war mir nicht ganz klar. Die anderen umstanden sämtlich die Tür der Pröbstin und erwarteten mich in Tränen schwimmend wiederzusehen und waren sehr erstaunt, als ich mich noch lange vor Lachen nicht zu fassen wußte.

Bis auf den Punkt »zu Hause« machte mir die Sache den rasendsten Spaß, die ganze Aufregung, die Komik der ganzen Mordgeschichte mit ihren Einzelheiten, das alles war so himmlisch erheiternd. Editha und ich waren unzertrennlich und genossen es immer wieder von vorne an und vergingen beinahe vor Übermut. Der Pastor mußte uns in der Klasse ausschelten, was unwiderstehlich war, zuletzt lachte er selbst mit.

Dann kam die Olle noch einmal in die Klasse und forderte die Mundharmonika. Dabei sagte sie, mich scharf ansehend: »Die Sünde ist unter Euch wie ein fressender Eiter.« –

Das Sonderbare war überhaupt, daß ich ⅔, Editha ⅓ von der Schuld bekam und die übrigen (ich war die allerjüngste) nur die Verführten waren. E. hatte sich von mir beeinflussen lassen, und es war nach dem Ausdruck der Pröbstin ein teuflischer Geist in sie gefahren. E. war nämlich ein großer Günstling, da sie schon 7 Jahre im Stift war.

Nach der nächsten Konfirmationsstunde redete mir der Pastor noch einmal unter vier Augen ins Gewissen, so nett, vernünftig, sogar mit Humor, daß ich von da an eine große Liebe für ihn faßte. Dann kamen die Briefe von zu Hause, oh weh, oh weh! Es war dies das zweite Mal, daß ich beinahe herausgeworfen wurde, wie bald würde es nun wirklich so weit kommen. Wir waren indes so frivol, daß wir alle unsere Briefe von zu Hause miteinander verglichen, welcher der dollste wäre, und ich sehr stolz war, daß meiner einstimmig für den dollsten erklärt wurde. Dann lachten wir wieder über alles und tobten weiter, von einer Geschichte zur anderen, ich fiel immer tiefer, zuletzt wurde Editha der Umgang mit mir verboten. Sie war inzwischen auch mehr zu ihren früheren Freundinnen zurückgekehrt.

Weihnachten zu Hause war es infolgedessen nicht sehr heiter. Ich fühlte mich sehr bedrückt und war froh, als ich wieder nach Altenburg zurück mußte! Am Neujahrsabend in der Kirche war ich so verzweifelt über meine Schlechtigkeit, wie selten vorher und faßte die schönsten Vorsätze.

Die ersten Wochen ging es denn auch, aber dann kam der letzte Krach, der mir den Hals brach. Es war Anfang Februar, meine Schwärmerei für Editha Wartensleben hatte damals einen solchen Grad angenommen, daß sie mich völlig beherrschte. Ich war den ganzen Tag in einer fieberhaften Aufregung! Kam sie in meine Nähe, so zitterte ich vor Erregung (ich war um diese Zeit noch ziemlich viel mit ihr zusammen, sonntags die ganzen Tage). Ich wollte ihr nun brennend gern etwas zur Konfirmation schenken, pumpte mir zu dem Zweck von anderen 6 M zusammen und ließ ein Gedichtbuch, namens Edelweiß, von einer anderen bestellen, da, wenn ich es selbst bestellt hätte, die Pröbstin gewußt hätte, daß ich kein Geld mehr besaß. (Wir mußten ihr jeden Monat unsere Rechnung vorlegen.) So weit ging alles gut, ich bekam das Buch, legte es Editha mit einem Widmungsgedicht zu Füßen und war berauscht von ihrer Freude darüber. An demselben Tage hatten wir Turnstunde. In derselben sagte mir Editha, sie hätte nachher keine Lust zum Arbeiten, ob wir nicht zusammen uns in irgendeinen Schlafsaal verkriechen wollten und lesen. Ich war natürlich nur zu selig über den Vorschlag. Es war nebenbei gleich abzusehen, daß wir hereinfallen mußten, denn Editha sollte in der folgenden Arbeitsstunde die Erste vertreten. Natürlich würde die aufsichthabende Lehrerin nachfragen. Das bedachten wir auch noch und sagten der nächstfolgenden, Martha Zanthier hieß das Monstrum, sie möchte sagen, wir wären beide nicht wohl und hätten uns mit Erlaubnis der Pröbstin hingelegt (was zuweilen vorkam). Wir holen uns also nach der Turnstunde unsere Plaids und Bücher und entweichen in den Schlafsaal. Dort wird noch reingemacht; in einem Augenblick, wo der Besen herausgegangen war, stürzen wir durch den Saal und verstecken uns in eine der Abseiten. Wir wollten abwarten, daß das Reinmachen vorbei wäre und uns dann auf die entlegensten Betten legen und lesen: da saßen wir auf der Erde und warteten, hörten aber immer mehr Geräusche im Saal. Miss Collins tobte in ihrer Kabine, bürstete sich die Zähne (weshalb weiß ich nicht, da sie es sonst meines Wissens nie tat), dann wurde es still. Sollen wir herausgehen? Lieber noch warten! Da hören wir plötzlich Tritte, Stimmen, Rufen: Editha, Editha etc. Wir kriegen indessen einen Mordsschrecken, erkennen die Stimme von Edithas Freundin Paula K. Ich halte mit aller Gewalt die Türe zu, und wir denken, uns wird wohl gerade hier niemand suchen.

Schließlich, als es nicht aufhört, öffne ich die Tür ein wenig. Das steht Mademoiselle Ménégaux mit der Krankenwärterin und ca. 12 von uns. Wir kriechen mit furchtbarem Gelächter heraus. Die anderen konnten aber nicht mehr lachen und Madame M. war einfach kreideweiß. Sie hatte geglaubt, wir wären fortgelaufen und tobte nun los, daß wir ihr solche Angst gemacht hätten. Folgte großes Verhör; Editha und ich immer uns noch windend vor Lachen, antworteten mit der größten Frechheit, weil wir unsere Sache nun doch für verloren hielten. Ich hatte mein Buch in die Tasche gesteckt, Edithas – das von mir geschenkte – wurde konfisziert und zur Pröbstin gebracht. Diese erkennt es natürlich als dasjenige, das eine andere tags zuvor bei ihr bestellt hat und durchschaut den Betrug. –

Inzwischen gingen wir in die Arbeitsstunde. Ich fühlte mich so toll übermütig, daß ich, statt zu arbeiten, alle möglichen Allotria trieb, was bei dieser Lage der Dinge nicht sehr angebracht war. Die Mademoiselle war währenddem bei der Pröbstin gewesen. Nach der Stunde beschlossen Editha und ich, die Olle anzuöden, indem wir zu ihr gingen und ein freies Bekenntnis ablegten, wir dachten, dann ginge es vielleicht noch gut ab.

Die Tür war verschlossen, nachher versuchten wir es noch einmal, als wir beide vor der Pröbstin standen, platzten wir aus, aber fürchterlich. Sie, wütend, schmeißt uns heraus, »Sie wolle uns nicht in ihrem Zimmer haben und würde nachher mit uns sprechen.« Oh weh! Das ganze Stift versammelt sich um mich und sagt, ich würde zweifellos geschwenkt, und mir sank der Mut. Die andern, von denen ich das Geld gepumpt hatte, und die, welche das Buch für mich bestellt hatte, fielen auch herein. Sie wurden gerufen und kamen heulend heraus, ich war verzweifelt, daß ich sie mithereingezogen hatte. Es wurde an ihre Eltern geschrieben, daß sie mitbetrogen hätten etc.

Nachmittags war Arbeitsstunde. Da erschien die Pröbstin in der Klasse und machte mich vor versammeltem Volk auf das rasendste herunter. Sie alle würden mich von jetzt an als ehrlos betrachten etc. Die Gegenwart der anderen befähigte mich, völlig ruhig zu bleiben. Ich steckte die Hände unter die Schürze und sah die Olle unentwegt an. Als sie ausgetobt hatte, tanzte sie ab. Gearbeitet habe ich an dem Tag nicht mehr viel.

4 Tage vergingen in höchster Spannung. Als ich dann Sonntag gelegentlich der Zeugnisse zur Pröbstin hereinkam, verkündigte sie mir, ich müßte Ostern fort, sie könnte so schlechte Elemente nicht behalten. Wenn ich nicht Konfirmandin wäre, wäre ich von einem Tag zum andern herausgeschmissen worden. Ich hatte das doch nicht geglaubt und wußte nicht, wo mir der Kopf stand, ich taumelte förmlich hinaus. Die anderen umringten mich, sie hatten es durch die Tür gehört, aber ich hörte kein Wort, ging so zu Editha und sagte ihr, ich wäre fortgejagt. Dann ging ich fort, hinauf auf den Korridor, um mich zu besinnen. Editha und eine Camilla B. kamen mir bald nach, erstere in heller Verzweiflung, weil sie sich die Schuld – nicht ganz mit Unrecht – zuschrieb. – Sie darüber weinen zu sehen, machte mich so froh, daß ich das andere gleich vergessen hatte und wieder oben auf war.

Editha und ich waren den ganzen Tag zusammen und es war einer der schönsten, die ich je erlebt habe. Mir war alles einerlei, nur vor zu Hause hatte ich eine dumpfe Angst. Da kamen dann auch bald die Briefe, Zorn über mich, vor allem aber Furcht vor der Schande, die ich dadurch über sie brächte! Ich hatte ja nach den Worten der Pröbstin gelogen, gestohlen und betrogen. Diese Briefe erfüllten mich mit sehr gemischten Gefühlen, sie machten mir das Herz weich und dann wieder brachten sie mich in eine ganz rasende Wut. Sie hätten es ja doch einsehen können, daß Altenburg eine verfehlte Sache für mich war. Ich kannte es, sie kannten es nicht. Warum die Sache so aufbauschen, es waren ja doch die reinen Kinderstreiche. –

Die Zeit von da an bis Ostern war eine furchtbare. Erstmal der Druck, der wegen meiner Eltern auf mir lastete und wöchentlich durch ihre Briefe verstärkt wurde. Im Stift wurde ich von der Pröbstin etc. ignoriert, d. h. sie sprachen nur mit mir, wenn ich was pecciert hatte und verboten allen anderen den Umgang mit mir. Einige kehrten sich nicht daran, eine von den Kleinen, Charlotte Kutzleben, schloß sich gerade jetzt sehr an mich an und Luise Bodenhausen, die selbst im Stift und zu Hause schwarzes Schaf war, ebenfalls. Die anderen ließen sich nicht gerne mit mir sehen, was ihnen bei dieser Sachlage nicht zu verübeln war. Nur daß Editha sich den Verkehr mit mir verbieten ließ, brachte mich in eine düstere Verzweiflung. Meine Gedanken drehten sich fast ausschließlich um sie, und ich litt darunter ganz namenlos. Dazu kamen noch die Konfirmationsstunden, die mich sehr mitnahmen. Ohne alle die anderen Geschichten hätte ich sie wohl viel leichter genommen, aber nun machte es mir sehr viel zu schaffen. Ich gewann unseren Pastor sehr lieb, er war der einzige Mensch im Stift, von dem ich mich mit Liebe verstanden fühlte, und der sich gerade jetzt um mich kümmerte. Er legte sonderbarerweise eine Art Vorliebe für mich an den Tag und das tat mir gut. –

Ich fühlte mich sonst entsetzlich allein und von allen guten Geistern verlassen. Die Folge war, daß ich noch einmal ganz toll wurde, einen Streich nach dem anderen machte. Ich wurde jeden Tag mehrmals angezeigt, hatte die schlechtesten Zeugnisse und trieb es auf die ärgste Weise. Der Pastor, der geglaubt hatte, ich wollte mich bessern, wurde auch an mir irre.

Besonders war die Tanzstunde, die wir 2 mal wöchentlich bei einem gänzlich versoffenen Tanzlehrer hatten, eine Gelegenheit, Geschichten zu machen. –

Diese Tanzstunde war übrigens eine der größten Irrsinnigkeiten des Stiftes. Wir hatten immer nur 8 von uns auf einmal Stunde, unter Aufsicht einer Lehrerin, während nebenan die andere Hälfte arbeiten mußte. Es kamen eigentlich immer Geschichten dabei vor. Editha z. B. warf einmal dem Geiger, einem sehr schönen Jüngling, eine Rose zu, wofür sie beinahe geköpft wurde!

Befanden wir uns in einem das Tanzen nicht erlaubenden Zustand, so durften wir deshalb nicht fortbleiben, wir mußten die Übungen mitmachen und während der Rundtänze dabei sitzen, äußerlich dadurch gekennzeichnet, daß wir keine Tanzschuhe anhatten. Der Lehrer pflegte uns dann jede einzeln zu fragen, was uns fehlt, und es entstand ein allgemeines Gelächter. Die wachhabende Lehrerin freute sich natürlich im Innern ihrer Seele mit.

In einer dieser Tanzstunden wurde mir Gabriele Pfeil, mit der ich seit der Schlafsaalgeschichte nicht gesprochen hatte, zugewiesen. Ich weigerte mich, trotzdem großer Skandal entstand, hartnäckig, mit ihr zu tanzen, und wurde erst vor die Pröbstin und dann vor den Pastor gefordert, der diesmal sehr ernstlich böse war. Ganz zuletzt habe ich mich mit ihr wieder versöhnt. 8 Tage vor der Konfirmation war Kaisers Geburtstag, der sehr gefeiert wurde, mit Gottesdienst und allgemeinem Überfressen. Am Abend vorher waren wir sehr patriotisch gestimmt und übten uns beim Zubettgehen darin, Vaterlandslieder zu gurgeln. Als die Erste einen Augenblick fort war, entstand großes Toben, Gesang, Tanz etc. Da kommt sie herein, hat es gehört und will den ganzen Saal anpetzen. Mir war es ziemlich schnuppe, hereinzufallen, und ich meldete mich, wodurch die anderen freikamen, und wurde zur Strafe mit meinen 2 Freundinnen Charlotte Kutzleben und Luise Bodenhausen zusammen eingesperrt in die Krankenstube, wo wir einen Mordsskandal machten und sehr vergnügt waren. Zum letzten Mal für lange Zeit war ich ausgelassen lustig. In den folgenden letzten Tagen brach ich gänzlich zusammen, meine Nerven waren ganz fertig, und ich hatte das Gefühl, als ob für mich überhaupt alles aus sei. Am Freitag Nachmittag verkroch ich mich in das letzte Bett des einen Schlafsaals, und lag dort stundenlang vor Kopfweh halb ohnmächtig. Charlotte Kutzleben fand mich schließlich, saß dann neben mir und legte mir Umschläge auf den Kopf. Abends wankte ich auf sie gestützt mühsam hinunter zur Andacht. Den nächsten Tag kam meine Mutter, sie war erst eine Stunde bei der Pröbstin, die ihr meine neusten Sünden noch schnell mitteilen mußte. Sie nahm mich dann mit in die Stadt. Wie das erste überstanden war, fing ich doch an, mich unbändig auf das Zuhausekommen, auf Husum und auf meine Brüder zu freuen. Abends wieder ins Stift zurück, ich packte mit Charlotte K. meine Kisten etc., war sehr elend und in schändlicher Stimmung. Der Pastor kam noch ins Stift, zog mich in eine dunkle Klasse und sprach noch einmal mit mir. Er machte mich darauf aufmerksam, daß ich meinen Widerspruchsgeist, der die Quelle davon sei, daß es mir immer schlecht erginge und ich immer mißverstanden werde, besiegen müsse. Er selbst habe mich nie mißverstanden und vertraute mir, daß ich mich zum Guten ändern werde. Er hätte mir doch noch alleine Adieu sagen wollen.

In der Nacht habe ich kaum geschlafen und war den folgenden Tag nicht gerade in »Feststimmung« wie die anderen. Wir mußten vor der Kirche einzeln zur Pröbstin hereinkommen! Sie erteilte dann ihren Segen, meistens mit den Worten »Du bist mir eine liebe Schülerin gewesen. Der Herr segne dich«. Mir gab sie keinen Segen sondern sagte mir: »Sieh die verweinten Augen Deiner Mutter an.« In dem Augenblick packte mich eine solche Wut, daß ich mit den Zähnen knirschte und ohne, wie sie erwartet hatte, sie um Verzeihung zu bitten, aus der Tür ging. Dann gingen wir hinunter im feierlichen Zuge zur Kirche. Wir hatten sämtlich weiße Kleider mit langen Schleppen, stolperten natürlich eine über die andere oder rissen uns daran, bis wir in die Kirche kamen. Nun fing ich an, mich gehoben zu fühlen und die anderen Gedanken traten vor der Feierlichkeit des Augenblicks zurück. Wie ich am Altar kniete kam es mir vor, als ob der Pastor in ganz besonderem Tone und ganz allein zu mir spräche. Ich fühlte die Gegenwart Gottes und eine Welt von guten Vorsätzen, ein anderes Leben anzufangen, stieg in mir auf. Das ganze dauerte eine Stunde. Dann fand ein großes Frühstück statt, das uns schon wochenlang als Glanzpunkt vorgeschwebt hatte. Danach ging man wieder mit den Eltern in die Stadt. Edithas Vater, Paula K.'s Verwandte, meine Mutter und ich aßen zusammen. Nach Tisch war ich zwei Stunden bei Editha und ihrem Vater! Herrliche Stunden! Sie war nun zum Abschied noch einmal so freundlich und freundschaftlich gegen mich, daß alles andere vergessen und ich selig war.

Gegen 5 gingen wir ins Stift zurück. Um 7 sollte die Kommunion sein. Die Zwischenzeit wurde allgemein zu Versöhnungen benutzt. Man bat jede Lehrerin um Verzeihung und diese versicherten jedesmal, sie hätten nie etwas gegen die Betreffende gehabt. Ich habe mich an dieser Komödie nicht beteiligt, obwohl alle auf mich einstürmten, ich müßte es tun.

Leony Massow und ihre Schwester kamen noch zu mir und wir vertrugen uns nach halbjähriger Feindschaft wieder. Dann ging es wieder zum Segnen zur Pröbstin. Ich wurde von den anderen mit größter Mühe bewogen hineinzugehen, da ich es sehr unnötig fand, und sie erteilte mir mit großer Feierlichkeit eine Art Fluch – »Sie sähe ein, daß ich völlig verstockt wäre etc.!« Diesmal lachte ich, wie ich wieder herauskam. Es war mir ein Gefühl von Genugtuung, daß die Olle doch nicht mit mir fertig geworden war.

Um 7 die Kommunion. Dann schlief ich die letzte Nacht im Stift. Am anderen Morgen nahm ich von den anderen Abschied, sagte keiner von den Lehrerinnen Adieu, küßte der Pröbstin, die an der Treppe stand, ohne ein Wort zu sagen die Hand und zog ab.

Wir reisten bis Leipzig mit Editha etc. zusammen. Mich von ihr zu trennen wurde mir entsetzlich schwer.

Die übrige Reise war mir sehr wohltuend. Es war ein so angenehmes Gefühl von Ausruhen, und das tat mir sehr not. Ich machte endlose Gedichte an Editha und malte mir aus, wie anders ich von nun an zu Hause sein würde, vor allem mußte ich ja alles wieder gut machen.

So dachte ich damals, aber es ist aus alldem nie etwas geworden. – Es ging im alten Geleise fort. Ich kam mir so ganz anders geworden vor durch dieses eine Jahr, in dem ich so viel erlebt hatte und doch wollte ich es nicht erlebt haben. Ich dachte, ich hätte dort etwas gelernt. Gewiß hatte ich das auch, aber was! Meine Weltanschauung war noch eine sehr harmlose, als ich hingekommen war. Ich hatte gelernt, daß das Leben und vor allem die Menschen nicht so seien, wie ich es damals geglaubt. Es war jetzt so vieles im Leben, was bedrückend war. Außerdem hatte ich das Gefühl, daß mir sehr Unrecht geschehen wäre und daß ich jetzt noch mehr wie früher immer ungerecht, immer wie ein Stiefkind behandelt worden sei. Was hatte ich denn getan? Wenn ich vergnügt war, mußte ich toben. Konnten sie das nicht begreifen? Ich war kaum 15, als ich hin kam und sollte »vernünftig« sein. Aber ich war gerade damals in meiner größten »Wildheits«periode und hatte fortwährend das Gefühl, mich auslärmen, austoben zu müssen, das mit der Einschränkung nur wuchs. –

Jetzt wollte ich so ernsthaft werden, daß mich niemand mehr erkennen sollte, wenn das Lachen dann ja doch eine Todsünde war. Mit allen diesen guten Vorsätzen fuhr ich in Husum ein und sah mit Wonne den alten Kirchturm zwischen den Bäumen wieder hervorsehen und meine Brüder am Bahnhof. Ich versuchte es krampfhaft, Reue und Beschämung zu fühlen, oder wenigstens zu heucheln – es war zu schön, wieder zu Hause zu sein!



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