Franziska zu Reventlow
Ellen Olestjerne
Franziska zu Reventlow

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22. Oktober

Wirklich, ich bin ganz verwandelt, mich erregt nichts, macht nichts mehr traurig, mich läßt alles kalt außer dem Arbeitsfieber, das in mir brennt. Ich kann mich nicht mehr teilen – aber ich bin froh, daß das endlich gekommen ist.

Durch die Dalwendt lernte ich noch zur Zeit unsres alten Ateliers ein junges Mädchen kennen, sie heißt Marie-Luise und ist sehr eigentümlich und schön mit ihrem gradlinig geschnittenen Gesicht und dem dichten, goldenen Haar. Sie lebt mit ihrem Bruder zusammen, er hat dieselben Züge, nur schärfer und etwas Leidendes drin. Beide leben ganz in Büchern und Gedanken – ich bin oft abends da und kann sie mir nur in diesem halbdunklen Zimmer mit der umschleierten Lampe und den vielen alten Sachen denken. Es kommen noch allerhand Menschen hin, die auch nicht zur übrigen Welt zu gehören scheinen und von denen man nie recht begreift, wer sie sind und was sie tun. Alle kommen spät abends, gegen elf Uhr, und meist gehen wir dann noch in der Nacht durch den Englischen Garten. Manchmal besuchen wir auch einen alten, verwachsenen Pfarrer, der in einer Dachstube wohnt und aussieht wie ein Waldmensch in seinem graugrünen kuttenartigen Schlafrock und dem mächtigen Bart. Er gibt uns schlechten Wein zu trinken – Maria-Luises Bruder liest »Zarathustra« vor und gibt es für ein apokryphes Buch der Bibel aus. Zuweilen fällt es dem Alten ein, eine Andacht zu halten, er kriecht in eine Ecke und brüllt zu dem verstimmten Klavier mit furchtbarer Stimme Choräle.

 

29. Oktober

Neulich abend wollten wir etwas erleben und gingen in möglichst verdächtige Gesindelkneipen, hatten Revolver mit, aber es passierte gar nichts. Es waren nur die beiden Geschwister und ich, wir gingen nachher noch zu ihnen hinauf und sprachen die ganze Nacht durch, ich erzählte ihnen von meinem Leben. »Und Sie glauben noch an Glück«, sagte der Bruder. – Ich dachte an den Sommer und sagte ja – aber ich fühlte wohl, daß er weiß, wie es in mir aussieht.

In der Morgenfrühe brachten sie mich nach Hause, und ich lag den ganzen nächsten Tag mit furchtbarem Kopfweh da. Es ist ein eignes Gefühl, so einen langen, hellen Tag im Bett zu liegen und sich nicht recht besinnen zu können. Ich wußte kaum, ob es Morgen oder Nachmittag wäre. Dann kam jemand herein, ich sah Marie-Luise neben mir stehen und konnte mir nicht recht klar werden. Sie beugte sich zu mir nieder, sagte irgend etwas, dann küßte sie mich auf die Stirn und war wieder fort. Gegen Abend wachte ich auf und merkte, daß ich etwas in der Hand hatte – ein Zehnmarkstück. Es fuhr mir förmlich durch die Glieder. Woher weiß sie, wie schlecht es mir geht. Vielleicht habe ich gestern abend selbst davon gesprochen, aber ohne an so etwas zu denken. Von andern würde ich nie etwas annehmen, aber hier lag etwas darin, was mich tief bewegte. –

Jetzt weiß ich auch, was mir gefehlt hat – sowie ich etwas Vernünftiges zu mir genommen hatte, war ich wieder gesund. Und ich war so stolz darauf gewesen, daß man ebensogut ohne Mittagessen leben könne. Und was nun? Nach Berlin gehen und mich füttern lassen – meine schöne Freiheit verkaufen? –

Reinhard darf nichts davon wissen, ich schreibe ihm nur, daß ich ganz gut auskäme.

 

5. November

Das Modellieren aufgegeben – wir sollten diese Woche Halbaktreliefs in Lebensgröße machen, aber ich habe kein Geld, um Modell zu nehmen. Darüber geriet ich gestern so in Wut, daß ich den Ton herunterriß, die Modellierhölzer in alle Ecken warf und tobend abging. Die Dalwendt sagte mir nachher, daß unser Lehrer sehr erstaunt gewesen sei. So habe ich mich jetzt ganz aufs Zeichnen geworfen. Nachmittags stehe ich der Dalwendt Modell, weil sie auch keins mehr halten kann, und sie muß mir dafür einen Kaffee zahlen.

 

8. November

Oben im Haus, wo unsere Schule ist, wohnt ein polnischer Maler, mit dem Baldern befreundet ist. Er nahm mich gestern mit hinauf. Ein junger Mensch, der Maxl genannt wurde, saß auf der Erde; Zarek, der Pole, lag im Bett, und sie stritten wütend über Shakespeare. »Entschuldigen Sie, daß ich liege in Bett, ich bin schrecklich krank, aber sind Sie ja freies Weib.« Dann meinte er, ich sähe noch zu jung aus für ein Bewegungsweib, und ich bestritt auch, daß ich eines wäre. »Aber die kurzen Haare?« Ich sagte, daß ich mir die noch zu Hause hätte schneiden lassen, um nicht immer so verrauft von meinen Rendezvous heimzukommen. Das war noch in der letzten Seminarzeit.

»Sie haben Schatz gehabt, Fräulein?« – worauf ich ihnen erklärte, daß ich jetzt verlobt wäre, und das erregte einen förmlichen Sturm von Empörung.

 

15. November

Jetzt bin ich alle Tage droben, in den Pausen und oft auch abends. Da kommen viele Maler hin, meist Polen und Russen. – Walkoff hat meine Studien in die Hand genommen, und ich lerne viel durch ihn, muß ihm alle meine Zeichnungen bringen. Es scheint, daß sie sämtlich nichts zu essen haben – wenn einer etwas Käse mitbringt, gibt es einen Aufruhr. Aber so habe ich noch nie über Kunst sprechen hören, sie sind alle wie toll, wenn sie davon anfangen.

 

Bei Zarek hatte sich abends eine Gesellschaft versammelt, die viel zu groß für das enge Atelier war. Dazu ein kalter Novemberabend, und man fror erbärmlich. Ellen versuchte, das Feuer in Gang zu bringen, und warf dabei ein paar Holzscheite auf den Boden.

»Kind, bist du ungeschickt«, sagte Zarek, »hast du Hände, wo alles fallt heraus. Wirst du miserable Hausfrau.«

»Laß mich in Ruh', dummer Onkel, dein Ofen taugt nichts. Außerdem bin ich noch lange nicht Hausfrau.« Sie konnte es nicht leiden, wenn immer auf ihr Verlobtsein angespielt wurde, und sah unwillkürlich zu Walkoff hinüber.

»Nennt sie mich immer Onkel«, sagte Zarek und ging an den Spiegel. »Schau' ich wirklich aus wie alter Onkel?« Er hatte eine rote wattierte Jacke an, eine Riesennase und struppiges Haar.

»Geben Sie Obacht, der Spiegel zerspringt, wenn Sie hineinsehen«, rief eine russische Studentin, die neben Baldern auf einer Matratze saß. – Außer den beiden war noch ein Bildhauer da mit einem rotblonden Mädel.

Der Maxl schlug vor, man sollte Glühwein machen, um endlich warm zu werden. So legten sie alle zusammen, und er ging zur Krämerin hinüber, um Wein zu holen. Dann gab es ein lautes Durcheinander, bis jeder sein Glas oder seine Tasse hatte. Zarek schnitt mit einem großen Messer Holzspäne, die als Löffel dienen mußten. Nun wurde es endlich gemütlich; weil nicht genug Platz war, zogen sie Polster und Kissen aus dem Bett und legten sich damit auf den Boden. Die Luft füllte sich mit Zigarettenrauch, und es war ein solcher Lärm, daß man sich kaum verstehen konnte. Baldern und die Russin hatten sich auf dem Bett niedergelassen, er spielte Gitarre und sie sang ein Lied nach dem andern. Der Maxl, der einzige, der immer nüchtern blieb, saß auf einem Stuhl, die Beine weit von sich gestreckt, und sprach über Rembrandt, Ellen neben Walkoff an der Erde und hörte zu. Sie hatte den Kopf an ihn gelegt, seine Hand glitt über ihre Haare und ihren Hals – zwischendurch sahen sie sich an und tranken aus demselben Glas. Das andre Paar flüsterte und küßte sich in der entferntesten Ecke. Dazwischen wanderte der Onkel unruhig umher und stolperte jeden Augenblick über ein paar Füße – er hatte ein künstliches Bein und hinkte stark; das machte seine schwerfällige, breite Gestalt noch unbeholfener.

»Seid ihr alle besoffen, pfui, liebe ich nicht Bacchanal.«

»Hab' ich kein Weib«, parodierte ihn Baldern, »komm her, du kannst abwechselnd bei uns hospitieren.«

»Nicht gemein werden«, sagte die Russin. »Warum ist die Dalwendt nicht hier, dann seid ihr immer so anständig.«

Zarek setzte sich neben sie und strich ihr eine schwarze Locke aus der Stirn.

»Fräulein, schauen Sie mich an mit glühenden Augen – ach, sind Sie schön, sind Sie wie Schmetterling.«

Dann wollte er sie fangen und küssen, irgend jemand löschte die Lampe aus, und nun kam eine verworrene Rauferei im Dunkeln – die Studentin schrie, der Onkel grollte mit seiner tiefsten Stimme, und das Paar in der Ecke lachte laut.

Walkoff beugte sich zu Ellen nieder und küßte sie auf den Hals, auf den Mund, bei jeder Bewegung durchrieselte sie ein heißer Schauer. Der Maxl sah ruhig zu, sein schmales Gesicht mit dem blonden, kurz emporgesträubten Haar blieb unbeweglich, während er immer weiter sprach.

Da wurde stark an die Tür geklopft, alle fuhren zusammen, blieben dann aber ruhig in ihrer vorigen Stellung, als eine lange Gestalt, die man nicht deutlich erkennen konnte, in der Tür erschien. Nur Zarek polterte dem Angekommenen entgegen:

»Ach, Fritz! Grüß Gott, Fritz.«

»Grüß Gott, Fritz«, schrien nun alle im Chor, niemand wußte, wer er war. – Zarek versuchte vorzustellen:

»Herr Bruhnert – Fräulein ...«

Der neue Gast verbeugte sich aufs Geratewohl ins Dunkel hinein, er war namenlos verlegen und wußte sich nicht hineinzufinden; obendrein konnte er niemand erkennen, und immer mehr Stimmen kamen aus dem Hintergrund.

»Mach' doch Licht, Zarek, man kann ja nichts sehen.«

»Ist auch besser, du siehst nicht. – Ist der Fritz noch sehr unverdorben«, erklärte er dann.

Der setzte sich ergeben auf einen Stuhl und schien peinlich berührt. Die andern kümmerten sich nicht viel um seine Gegenwart, schließlich wurde auch die Lampe wieder angezündet. Etwas mißtrauisch und halb amüsiert sah der Fritz über seinen Klemmer weg. – Er war sehr gut angezogen und machte einen wohlhabenden Eindruck.

»Du mußt etwas zu trinken haben, Fritzl«, sagte Ellen, »dann wird dir schon besser werden«, worauf er sie mit unbegrenztem Erstaunen ansah.

»Ja, wenn Sie so freundlich sein wollen.«

Sie goß den Rest in die Gläser, während Zarek es noch einmal mit dem Vorstellen versuchte, aber es war umsonst, und er gab es auf. Dann schlug er mit dem großen Küchenmesser an sein Glas und brüllte:

»Ruhe! – Sind wir alle Menschen, sind wir alle Brüder – sind wir alle Künstler – haben wir alle Rausch – wollen wir Brüderschaft trinken in Kunst!«

»Na, dann komm ich mal doch auch zu einem Kuß«, sagte der stoische Maxl, und das Bruderschaftstrinken begann; sie waren alle aufgestanden, legten die Arme ineinander, schwenkten sich im Kreise herum und küßten sich. Der Fritz küßte den Damen nur die Hand.

»Gehen wir jetzt ins Café, Fritz hat Geld.«

Im Café ließen sie sich an ihrem gewohnten Tisch nieder; man kannte sie dort schon und erschrak etwas, wenn sie kamen, denn für die andern Gäste war es dann unmöglich, noch ein Wort zu reden. – Ellen saß dem Fritz gegenüber und war in ihrer seligsten Laune.

»Schaut sie aus wie ein Kind«, sagte Zarek zärtlich. »Walkoff, nimm dich in acht vor Zuchthaus.«

»Nimm dich selber in acht«, ließ die ruhige Stimme des Maxl sich vernehmen. »Kuppelei ist auch strafbar.«

Der Fritz hatte bisher nur stumm in sich hineingelächelt, allmählich fing er nun an, etwas berauscht zu werden, sah plötzlich auf und nahm sein Glas.

»Still, still, will der Fritz Rede halten!«

Er lächelte noch mehr: »Ich glaube allerdings – nachdem – Sie werden mich nach dem heutigen Abend wohl alle für etwas –«

»Sie? – Wir haben doch auf du getrunken?«

»Ja, du hast recht – das wollte ich ja gerade sagen – also da Sie mich so in Ihren Kreis – aber es ist doch nicht so leicht, sich gleich – ich glaube, ich bin heute abend etwas aus der Rolle gefallen ...« Das wurde mit einem so schallenden Gelächter beantwortet, daß er alle der Reihe nach verzweifelt anlächelte. »Sie brauchen mich aber deshalb nicht – ich wußte nur nicht recht, ob es Spaß oder Ernst wäre –« er sah Ellen mit einem tiefen Blick an –, »also nachdem auch diese liebenswürdigen jungen Damen – na, zum Teufel, ich finde nämlich, wenn du Fritz sagst, kann ich auch Ellen sagen. – Dein Wohl, Ellen.«

Er sank ganz erschöpft wieder auf seinen Stuhl und wurde fast zerrissen vor Beifall und Händeschütteln. Baldern und die Russin stimmten einen Gesang an, Ellen hielt sich an Zarek fest und war nahe daran, vor Lachen ohnmächtig zu werden. – Aber nun mahnte der Wirt mit nachsichtigem Lächeln zum Aufbruch. Sie nahmen noch einige Bierflaschen mit, tranken sie draußen vor der Tür aus und warfen sie auf der leeren Straße in Scherben, daß es weithin klirrte. Zarek ging voran, sein Stock stieß dröhnend gegen das Pflaster, und er sang laut in die Nacht hinaus, während die andern das Trottoir entlang Galopp tanzten.

 

Bald darauf kam Zarek eines Abends, um Ellen abzuholen. Er war auffallend ordentlich angezogen und machte ein geheimnisvolles Gesicht.

»Hat der Fritz uns eingeladen in Ratskeller, mach' dich ein bißchen schön, Kind – Ratskeller ist nobel.«

Sie musterten Ellens ganze Garderobe durch und stellten mit vieler Mühe ein Kostüm zusammen, in dem sie zur Not auftreten konnte.

»Schenk' ich dir ein Kleid, wenn ich mein Bild verkauft hab'«, sagte Zarek, während er prüfend um sie herumging. »Sapristi! – kannst du nicht in alten Tanzschuhen gehen – wird der Fritz dir immer auf Füße schauen.«

»Der Fritz soll schauen, so viel er will«, und Ellen wurde ganz ungeduldig, »meine Stiefel sind entzwei, und ich kann sie mir diesen Monat nicht mehr machen lassen.«

Endlich waren sie fertig, und Zarek polterte an ihrer Seite die vier Treppen hinunter. – Im Ratskeller wartete Fritz, vornehm angetan und mit einer Blume im Knopfloch.

»Na, Zarek, das sieht dir ähnlich, so spät zu kommen.«

»Ach, der Onkel mußte mich ja erst anziehen«, sagte Ellen, während sie sich setzten. Fritz warf aus seinen tiefliegenden Augen einen mißtrauischen Blick auf den Onkel.

»Hab' ich noch nie solche Garderobe gesehen bei junger Dame. Sag' ich: zieh an blaue Bluse – ist halber Ärmel abgerissen. Hat sie nur weiße und reibt mit Kreide, daß man Flecken nicht sieht. Gürtel gibt's nicht, muß man Plaidriemen nehmen.«

Über des Fritz Gesicht glitt ein langsames Lächeln: »Mir bist du in jedem Anzug schön genug, Ellen.« Dann stellte er ein auserlesenes Souper zusammen und ließ Wein kommen.

Die Unterhaltung war anfangs etwas einsilbig und geriet mehrfach ins Stocken. Erst nach dem Essen, als sie beim Sekt angelangt waren, begann der Gastgeber allmählich aus seiner Korrektheit aufzutauen. Schließlich setzte er sich neben Ellen und sprach von Liebe, erst im allgemeinen – dann wollte er durchaus wissen, ob sie Henryk Walkoff liebte.

»Ach, keine Spur.«

»Aber warum bist du dann neulich abend so zärtlich mit ihm gewesen?«

»Das ist man bei uns immer, wenn wir alle einen Schwips haben. – Die andern waren doch auch zärtlich zusammen.«

»Ja, und dem Maxl hast du auch einen Kuß gegeben beim Schmollistrinken und Baldern. Gibt es denn bei euch gar keine Grenzen?«

»Doch, dir hab' ich ja keinen gegeben, Fritzl.«

»Ach, du bist schlecht, Ellen – bitte, sei einmal ernsthaft – wen liebst du denn eigentlich – deinen Verlobten?«

»Will ich dir Problem lösen, Fritz«, warf Zarek dazwischen, »mir liebt sie. Haben wir uns schon manchmal geküßt – sapristi! Denkst du noch, Ellen?«

»Ist das wahr?«

Sie nickte und der Onkel brach in ein unbändiges Gelächter aus:

»Schau den Fritz, wie er ist unglücklich!«

Aber der schüttelte den Kopf und starrte eine Zeitlang in sein Glas:

»Ihr seid doch sonderbare Leute. – Wollen wir jetzt ins Café?«

Im Café kam ein Blumenmädchen an den Tisch und Fritz kaufte Rosen für Ellen. Eine behielt er in der Hand und drehte sie nachdenklich hin und her, dann rückte er seinen Stuhl etwas vor:

»Siehst du, Ellen, die ist noch nicht ganz aufgeblüht – gerade das liebe ich so – halberblühte Rosen, und so kommst du mir auch immer vor.«

»Ach, Fritz, dann kommst du doch etwas zu spät.«

Er beugte sich noch etwas weiter vor:

»Wirklich zu spät? Schau nicht immer zum Onkel hinüber, schau mich an, Ellen, wir sind doch beide so jung, und ich habe auch noch nie geliebt. – Warum hast du dich denn verlobt, willst du wirklich heiraten? Du hast mir doch erzählt, daß er zehn Jahre älter ist als du. Dann kann er dich doch gar nicht verstehen – du wirst nur unglücklich sein mit ihm, und was dann?« – Er sprach fort und fort mit dem vergeblichen Bemühen, auch nur ein ernsthaftes Wort aus ihr herauszulocken. Ellen ließ ihm ihre Hand, die er dann und wann an seine Lippen zog.

Dann wurde es spät, und man mußte heimgehen. Die beiden versprachen dem Fritz, morgen vormittag auf sein Atelier zu kommen, er wollte ihnen etwas zeigen, was er gemalt hatte.

Ellen erschien denn auch frühmorgens bei Zarek, um ihn abzuholen, aber er lag noch im Bett und wollte nicht mit. »Mußt du allein gehen, Kleines.«

»Aber wenn er nun wieder von vorne anfängt, um Gottes willen.«

»Ach, ist nicht so heiliger Ernst – hab' ich ihm gesagt, du liebst ihn schon, und wartet er auf dich.«

Der Fritz wohnte weit draußen beim Kirchhof. Als Ellen kam, fand sie ihn mitten in einem fast leeren Zimmer vor der Staffelei, die Palette in der Hand, in jedem Knopfloch seiner Maljacke und über jedem Ohr steckten Pinsel, und einen hatte er quer im Mund. Auf dem Fensterbrett stand eine Schnapsflasche und zwei Gläser.

»Ja, da kommst du ja wirklich, Ellen – aber warum kommst du nicht lustig hereingesprungen, – warum lachst du nicht – gibst mir keinen Kuß zum guten Morgen?« Dabei machte er ein frivoles Gesicht und befreite sich von seinen Pinseln. Ellen wußte selber nicht, weshalb sie jetzt nicht wieder lachen konnte und statt dessen ein plötzlicher Zorn in ihr aufstieg. Sie ging ans Fenster und sah hinaus: da lag der Kirchhof mit seinen weißen Grabsteinen und kahlen Bäumen. Regen und Wind fegten darüber hin, alles sah so trostlos melancholisch und verlassen aus. Als der Fritz, immer noch mit einem leichtsinnigen Lächeln, auf sie zutrat, sah er, daß sie weinte.

»Aber Ellen, was hast du?«

Sie wußte es selbst nicht, sie fühlte sich nur todunglücklich. Man sollte nicht so mit ihr umgehen – ja, sie wäre schon leichtsinnig – aber was fiele dem dummen Onkel ein, solche Geschichten zu machen. Konnte sie sich nicht verlieben, in wen sie wollte? Aber deshalb brauchten sie sich nicht einzubilden, daß sie nun jedem von ihnen gleich in die Arme sänke.

Ratlos stand der Fritz neben ihr und wollte sie trösten, aber ihr fielen immer mehr traurige Sachen ein, alle glaubten, daß man mit ihr nur lachen und Tollheiten treiben könnte, aber sie brauchte auch Menschen, die gut gegen sie wären; wußten sie denn überhaupt, was alles für Kämpfe und Schmerzen hinter ihr lagen? Der Fritz ging ganz in Mitgefühl auf; daß Ellen auch traurig und empfindsam sein konnte, war so überraschend für ihn, daß er alles andre vergaß. Er streichelte ihre Haare und legte den Arm um sie wie ein guter Bruder, schließlich weinten sie beide zusammen helle Tränen über alles, was es im Leben Schweres und Trauriges gab, – bis zum späten Nachmittag blieben sie droben. Dann gingen sie in die Stadt zum Essen – und bei Zarek zerbrach man sich den Kopf darüber, warum die beiden sich den ganzen Tag nicht sehen ließen.

Aber von nun an hatte Ellen am Fritz einen treuen Freund gefunden, auf den sie sich verlassen konnte, und der nie mehr von Liebe sprach.

 

»Das taugt alles nichts«, sagte Walkoff – Ellen war bei ihm im Atelier und hatte einen Haufen Zeichnungen mitgebracht –, »du zeichnest wie verrückt drauf los, aber es liegt nichts darin – gar nichts. Deine Arbeiten sind ganz wie du selbst: du taumelst herum, fällst auseinander – ein Stück hierhin, eins dorthin.«

Sie sah ihn an. Ja, wenn sie reden könnte, warum sie so war, so geworden – alles, was sie drückte – aber davon wollte er nichts wissen – drängte alles in sie zurück.

»Hart sein, Ellen, nicht dies ewige Sichhingebenwollen. Nur in der Kunst, da gib dich ganz hin, aber im Leben halt dich zusammen. Ich will dein Freund sein, aber gerade deshalb mag ich dich nicht schwach sehen. Wenn ich dir helfen soll, darfst du kein Mitleid von mir wollen. – Leg einmal deine Hand dort hin.«

Er rückte die Lampe zurecht und fing an zu zeichnen: »Das soll nicht etwa nur wie eine Hand aussehen – das ist kein Kunststück und jeder kann es lernen, einfach etwas nachzumachen – aber fühlen muß man, wie es darin lebt und zuckt. Sieh mal, wie es da weich in den Schatten hinübergeht – das herausbringen, die Bewegung, das Leben. Wozu malst du überhaupt, wenn du nichts dabei fühlst? Eine Zeichnung kann noch so schlecht sein, wenn nur eine Linie darin Empfindung hat. Und arbeiten, Ellen, arbeiten! Den ganzen Tag davor hinsitzen ist noch kein Arbeiten. Lieber gar nichts tun, wenn du nicht fühlst, daß alles in dir zittert. Immer muß man daran denken und sich darauf einstimmen wie zu einer Andacht.«

Erst tief in der Nacht kam Ellen nach Hause und wie in einer großen inneren Erschütterung. Auf den Knien hätte sie dem Himmel danken mögen, daß sie diesen Menschen gefunden hatte, wenn er ihr auch noch so wehe tat. Erbarmungslos nahm er das Messer und legte ihre innersten Wunden bloß, schnitt alles hinweg, was darüber wucherte.

»Und nun sieh selber zu, wie du es wieder heil bekommst. Wenn du keine Kraft hast mitzugehen, so bleib nur am Wege liegen. Ich will nicht der sein, der dich aufhebt und tröstet.« Und dann lächelte er wieder, als wollte er sagen: »Ich weiß schon, was an dir ist, aber zeig es mir. Hart sein, stark sein, dann zeig ich dir den Weg. Sonst ist es mir nicht der Mühe wert.«

Fast alle Nachmittage war sie jetzt bei ihm, er ließ sie mit nach seinem Modell arbeiten und lehrte sie sehen. Bisher war sie nur wie im Finstern umhergetappt, hatte sich mit verbohrtem, hartnäckigem Fleiß gequält, durch den undurchdringlichen Nebel zu kommen, und es hatte nichts geholfen, bis er ihn mit seinem Zauberstab zerteilte und sich plötzlich eine lichte Weite vor ihr auftat. Sie saß zu seinen Füßen und ließ sich lehren.

Seit dem Abend bei Zarek war etwas Schwüles in ihr Beisammensein gekommen, das vorher nicht gewesen. Wenn das Modell fortging, blieb Ellen noch, bis es Zeit zum Abendakt war. Manchmal zog er sie dann auf seine Knie und sie küßten sich, aber plötzlich beherrschte er sich wieder: »Geh' jetzt, Kind, du kommst zu spät.«

Aber die bange Stunde kam jeden Tag wieder, und endlich ein Abend, wo es über ihnen zusammenschlug.

 

Ihre Zähne gruben sich tief in die Kissen hinein, um den wilden, seligen Aufschrei zu ersticken – ihr war, als läge sie in einem tiefen Abgrund und Sturmeswogen von ungeahnter Qual und ungeahnter Wonne brausten über sie hin, bis sie das Bewußtsein von allem verlor – wie tot in seinen Armen lag, die sie eben noch wie glühendes Eisen umklammert hatte. Henryk war tief erschrocken, es war auch ihm alle Besinnung vergangen, als er den jungen Körper in seiner Gewalt fühlte. Dann sahen sie sich lange an. Ihr war, als ob die ganze Welt leuchtete wie ein Weihnachtsabend. – Früher, in den Träumen ihrer Jugend, hatte sie sich feenhafte Umgebungen ersehnt: leuchtende Farben, schimmernde Gläser mit glühendem Wein – Schleier, durch die rotes Licht und Geheimnisse funkelten, wollüstige Musik in der Ferne. – Und jetzt lag sie mit weit offenen Augen da, ihr schien, als ob sie noch nie so deutlich gesehen hätte – das verwahrloste Atelier im dämmernden Abendschein – sein unschönes Gesicht mit dem wirren schwarzen Haar – und doch fühlte sie das Leuchten und Schimmern, und das rote Glühen war in ihr. Es hätte mehr nicht sein können – in keinem Märchentraum.

Er konnte so gut sein, Henryk, er sorgte für sie, ging im Atelier herum und brachte ihr Tee. Dann saß er neben ihr, und in seinen Augen war etwas, was sie noch nie gesehen hatte.

Als sie dann später gehen wollte, trennten sie sich mit einem ernsten langen Kuß.

»Ellen, und jetzt wollen wir beide arbeiten – schaffen – schaffen!«

 

Sie stand im Aktsaal vor ihrer Staffelei unter all den andern, sprach mit ihnen in der Pause auf dem Korridor und war abends mit den Freunden im Café – wie alle Tage, aber sie dachte nur, es müßte ihr jeder ansehen, wie es in ihr strahlte. Sie ging im Traume, wie in einer ganz andern Wirklichkeit – jetzt war der Schleier gerissen, der sie vom Leben und von sich selbst geschieden hatte, und was dahinter sich auftat, war nicht Enttäuschung, nicht Reue um etwas Verlorenes – es war, als wäre ihr ein großes Wunder geschehen, das ihr tiefstes Leben weckte. Und auch kein Rausch, der wieder in frostige Alltäglichkeit zerrann, ein unendlicher Reichtum drängte sich in jeden Tag zusammen und verwandelte das ganze Leben. Jetzt konnte sie mit ganzer Seele bei ihrer Arbeit sein und vergaß alle Entbehrungen. Ihre Kraft erneuerte sich in jeder Liebesstunde und in den langen Gesprächen mit Henryk, im Verkehr mit all diesen Menschen, die nur ihrer Kunst lebten.

Und doch war sie in dieser Zeit nicht eigentlich verliebt in Henryk; vor allem fühlte sie tiefe Bewunderung für ihn als Menschen und als Künstler, der ihr Meister war. Das andere gehörte wie von selbst dazu, und sie dachte nicht darüber nach, ob es Liebe war oder nicht, ebensowenig, wie man sich Gedanken darüber macht, warum die Sonne scheint.

Weihnachten sollte sie Reinhard wiedersehen, und nun kam ihr allmählich das Bewußtsein zurück, daß es noch eine zweite Welt gab, die wieder an sie herantrat. Das hatte sie alles vergessen, nur hier und da klang es wie eine ferne leise Mahnung an ihr Ohr, und dann rang sie mit dem Entschluß, ihm die Wahrheit zu sagen und sich von ihm zu lösen.

Aber als er kam, sie sich nach der langen Trennung wiedersahen, wurde sie wieder schwankend. Er war so strahlend froh, sie wieder zu haben, fühlte sich ihrer so sicher – und Ellen empfand seine tiefe, große Liebe wie ein Stück ihres Lebens, über das doch nicht so leicht hinwegzugehen war. Bei ihm überkam sie immer ein Gefühl von Schutz und Heimat, er war der, an den sie sich anschmiegen konnte, der alle weichen und sehnsüchtigen Saiten in ihr zum Klingen brachte. Und im Grunde fürchtete sie sich auch etwas vor ihm, vor seinem Zorn, seiner geraden, sicheren Klarheit, die solche Wege nie verstehen würde.

Für die Festtage fuhren sie zu Verwandten von Reinhard, dann waren sie noch zwei Tage zusammen in München. Ellen wohnte mit ihm im Hotel, sie hatte selbst den Anstoß dazu gegeben, denn sie empfand es wie eine Art Ausgleich, wenn sie jetzt auch ihm angehörte. Und diese Stunde, vor der sie gezittert hatte, kam und ging vorüber – ihm kam keinen Augenblick der Gedanke, daß Ellen ihn hintergehen könnte.

Als er abgereist war, ging Ellen durch die Winterfrühe vom Bahnhof ihrer Wohnung zu. Neujahrsmorgen – sie dachte an ferne Zeiten, wo sie diesen Tag mit guten Vorsätzen und frommen Gelübden begann – das war immer etwas Frohes, Klares, Anfangsfrisches gewesen, und jetzt alles so verworren in ihr. – Wie fingen es wohl andre an, um glatt durchs Leben zu kommen, und warum wurde es einem immer so schwer gemacht durch all dies Binden und Verpflichten. In ihrem eignen Gefühl war nichts, was dem widersprach, mit beiden das Leben zu teilen, weil jeder ihr etwas war, was der andre nicht sein konnte.

Henryk war auch über Weihnachten fortgefahren und noch nicht zurück. So lebte Ellen die nächste Zeit fast ausschließlich in ihrer Arbeit, die war und blieb doch das Erste und Größte und das, worin sie Ruhe fand vor allem, was in ihr stritt und wogte. Und darin wollte sie Reinhard keinen Schritt weichen. – Wenn er ihr auch noch so viel Freiheit zugestand, ehe sie wirklich imstande war, allein weiterzukommen, würde sie nicht von München fortgehen. Ellen hatte ihm deshalb auch ängstlich verschwiegen, wie es mit ihren Mitteln stand. Schon seit dem Herbst aß sie nur noch ein- oder zweimal in der Woche in einer kleinen Garküche zu Mittag, die andern Tage konnte man sich mit einem Stück Brot behelfen. Sie legte sich dann, wenn alle fort waren, auf dem Modellpodium schlafen, da merkte man es kaum, ob man etwas im Magen hatte oder nicht. Zufällig kam Zarek einmal herunter und fragte, warum sie nicht zu Mittag fortginge. Von da an teilten die beiden sich in eine Portion um vierzig Pfennige, die vom Wirtshaus herübergeholt wurde.

Von Woche zu Woche mußte sie auf neue Ersparnisse sinnen, nahm sich ein ganz kleines Zimmer, wo kaum das Bett Platz hatte, der kostspielige Morgenkaffee wurde abgeschafft, denn beim Onkel gab es ja schließlich immer Tee und Brot, wenn sie in der Pause hinaufkam. Ellen war überzeugt, daß sie sich ganz gut auf diese Art noch ein paar Jahre durchschlagen könnte; es waren ja manche unter ihren Bekannten, denen es ebenso ging, und keiner klagte darüber; sie lachten nur, wenn sie am Monatsende ihre leeren Taschen umkehrten und abends im Café zusammenkamen, um bei einem Glas Bier stundenlang wenigstens Licht und Wärme zu haben.

 

Wieder und wieder sprach Reinhard in seinen Briefen davon, daß er die Heirat jetzt endgültig auf Anfang des Sommers festsetzen möchte, und jedesmal schrieb Ellen zurück, sie könnte vorläufig noch nicht daran denken, sie brauchte noch Zeit, um nur sich selbst zu leben. Wollte er das nicht, so müsse er sie freigeben und ihren Weg gehen lassen. Er warf ihr den grenzenlosen Egoismus vor, mit dem sie ihrer beider Glück gefährdete, und hielt dennoch fest, in der sicheren Überzeugung, daß sich alles ganz wie von selbst ändern würde, wenn Ellen erst bei ihm war.

Aber in ihr hatte sich seit dem weihnachtlichen Beisammensein vieles gewandelt – das unbedachte Hineinleben in all die brausende Lebensfreude, die der erste Rausch und das erste Aufatmen in voller Freiheit mit sich gebracht hatte, war zur unerbittlichen Leidenschaft geworden. Seit sie nach wochenlanger Trennung zum erstenmal wieder in Henryks Armen lag, wußte sie, daß sie ihn liebte und daß es kein Entrinnen mehr gab. Sie wußte jetzt auch, daß die Liebe kein Sommerglück sein konnte, kein jubelndes Aufgehen in dem andern, – nichts von alledem, was sie früher darin finden wollte, – nein, die Liebe war eine blinde, wütende Sturmflut, die alle Dämme niederbrach, und da gab es kein Fragen mehr, kein Überlegen, was mit fortgerissen und was gerettet werden konnte. Es kam ihr nicht in den Sinn, Henryk für sich besitzen zu wollen, sein Leben mit ihm zu teilen; er war kein Mann, mit dem man an »Glück« hätte denken können. Das sah sie alles und wußte es wohl, aber ihre Liebe dachte nicht an Fragen und Verlangen. – Dabei lernte sie immer tiefer in ihn hineinsehen, fühlte all das zerrissene Schwanken, das auch in ihm war. Er konnte andern geben, was er selbst nicht hatte, wonach er in ewiger Unruhe rang und jagte.

Oft fuhr er mitten in der Nacht auf: »Jetzt muß ich arbeiten!« Dann stand sie ihm Modell, stundenlang –, er arbeitete wie ein Wahnsinniger und sprach von seinen Werken, die er schaffen wollte – mit immer glühenderer Phantasie. – Es war etwas Sinnloses, Ausschweifendes in seiner Art zu malen. Wenn er über die Skizze hinaus wollte, fing er an: »Diesmal soll es etwas werden, ich lasse nicht nach, bis es wird.« Dann wollte er malen, wie noch kein Mensch gemalt hatte, in unerhörten Farben, – und es gelang nicht, gelang nie –, immer wieder begann er von neuem.

Wurde er schließlich müde, so gingen sie zusammen ins Café. Dort war im Nebenzimmer ein Klavier, und da spielte er endlos –, manchmal wild und leidenschaftlich, dann wieder ganz leise, traurige Melodien. Ellen saß auf dem harten Ledersofa, in eine Ecke gedrückt, die Töne klangen in ihrer Seele nach, und sie sah ihn an, – er wurde fast schön, wenn er spielte. Sie lebte alles mit ihm durch, zitterte um jedes Bild und war stillglücklich, daß er das mit ihr teilte, sie in seinem Höchsten mitleben ließ.

Inzwischen kam sie viel mit den anderen Freunden zusammen, es gab Stunden, wo sie all der stürmischen Gefühle müde wurde und nur einmal lachen wollte. War sie nicht bei Henryk, so traf sie den Zarekkreis in seinem Stammlokal. Es gab kaum eine Nacht, wo man vor drei Uhr heimkam, und wollte Ellen einmal zu Hause bleiben, um auszuschlafen, so erschien gewiß die ganze Bande noch um Mitternacht unter ihrem Fenster, oder sie schickten den Pikkolo vom Café, dem sie ihren Signalpfiff beigebracht hatten. Und sobald Ellen den hörte, war es aus mit ihren guten Vorsätzen, sie fuhr rasch in die Kleider und war in ein paar Sätzen die Treppen hinunter.

In ganz München tobte jetzt der Karneval, und sie brannten alle darauf, etwas zu unternehmen. Aber keiner von ihnen hatte Geld, – Künstlerfeste und Redouten waren unerschwinglich, so gingen sie nur eines Nachts ins Café Luitpold. Ellen hatte sich ein Clownkostüm geliehen, die Russin war auch maskiert, die übrigen alle in ihren gewöhnlichen Kleidern. Für Ellen war es alles ganz neu, und sie stürzte sich Hals über Kopf hinein. Henryk war nicht mit, sie vergaß ihn, vergaß alles, trieb hierhin und dorthin und war völlig willenlos vor Freude. Ein paarmal fing Zarek sie wieder ein und brachte sie an den Tisch zurück. Aber da war es heute langweilig, Max und der Onkel gerieten immer wieder in erboste Kunstgespräche und betrachteten das ganze Treiben nur vom malerischen Standpunkt aus, das eine Paar saß weltvergessen in einer Sofaecke, das andere zankte sich – der Fritz wich nicht von Ellens Seite und suchte sie vor allen Anfechtungen zu behüten, wenn andere Masken herankamen.

»Seid ihr alle oberflächlich«, klang plötzlich Zareks müde Baßstimme. »Karneval ist abscheulich, gehen wir heim zu mir und machen Tee. Will ich euch Hamlet lesen.« Die andern schwankten nach, und Ellen erklärte, daß sie dann alleine dableiben wollte, – als eine Horde weißer Pierrots auf sie eindrang und sie mit fortziehen wollte. Zarek und Fritz hielten sie jeder von einer Seite fest, da sah der eine von den Weißen sie aufmerksam an.

»Ah, du bist's – ich hab' doch gleich gesagt, daß ein Mädel drin steckt.«

Ellen wurde neugierig. »Laß mich, Onkel, der gefällt mir.«

»Was hast du denn da für einen Onkel?«

»Gefällst du mir gar nicht«, sagte der. »Laß ihr – muß ich hüten bezechtes Kind.«

»Nein, ich will mit, weg da, Fritz!«

»Auch noch ein Fritz, mein Gott, bist du aber gut behütet.«

Ellen war schon auf den Tisch gestiegen und flog in seine Arme.

Gegenüber hatte sich ein Trupp Italiener niedergelassen mit Gitarren und Mandolinen, es war ein ohrenbetäubender Lärm. Ellen tanzte mit ihrem Pierrot um die Tische und dann oben auf dem Billard zwischen den Kaffeetassen, bis der Wirt kam und sie vertrieb. Dann brachte er sie an seinen Tisch: »Seht mal, was ich da gefangen hab! Ist das nun ein Bub oder ein Mädel?«

Die drüben brachen auf und winkten ihr.

»Bleib du nur bei uns«, sagte einer, »der Johnny läßt dich doch nicht wieder her.«

»Ja, Johnny, ich bleib bei dir, die andern wollen heimgehen und Hamlet lesen.«

Er schüttelte sich vor Lachen. Dann kam Zarek mit ernstem, verantwortungsvollem Gesicht und wollte sie mitnehmen. Aber Ellen lag in Johnnys Armen, er hielt ihr das Sektglas an die Lippen und ließ sie trinken:

»Bezechtes Kind bleibt bei uns, geh' du nur deinen Hamlet lesen.«

Ellen blieb und trank Sekt und Freude bis in den Morgen hinein mit vollen Zügen. Allmählich wurden die Räume des Cafés immer leerer, die Kellnerinnen standen gähnend herum zwischen umgestürzten Stühlen und verwüsteten Tischen, hier und da saßen noch vereinzelte Paare und umarmten sich immer bewußtloser. Johnny schlug vor, man sollte mit ihm auf sein Atelier gehen und dort Kaffee trinken, aber unterwegs fiel einer nach dem andern ab, sie waren alle müde und hatten genug. Ellen fiel jetzt erst ein, daß Zarek ihre Schlüssel eingesteckt hatte und sie nicht in das Haus hineinkonnte. So gingen sie langsam durch den weichen Schnee, der über Nacht gefallen war, die Straße hinauf, wo die Laternen noch müde in der Dämmerung flackerten, und saßen dann in Johnnys Atelier mit den vielen gemütlichen Ecken vor einem kleinen Tisch, auf dem die gelbumschleierte Lampe brannte und die kupferne Kaffeemaschine summte. Johnny zog sich im Nebenzimmer um und wickelte dann Ellen in einen schweren Seidenmantel – es war eine Atmosphäre von Behaglichkeit, die sie lange nicht mehr gewöhnt war, und sie dehnte sich vor Wohlgefühl.

Nun mußte sie ihm erzählen, wie sie lebte, manchmal lachte er, dann wieder schüttelte er den Kopf: »Ich habe das ja alles selbst durchgemacht, aber glauben Sie mir, die Boheme kriegt jeder einmal satt und Ihre Gesellschaft da gefällt mir nur halb. – Aber das allerverrückteste finde ich doch, daß Sie heiraten sollen.«

Es war jetzt heller Tag, und sie berieten, wie Ellen in ihrem Clownkostüm nach Hause kommen sollte – er brachte alle möglichen Dinge herbei, steckte sie zuletzt in einen Regenmantel von sich, schnürte ihr ein Paar unförmliche Bergstiefel an die Füße und drückte ihr einen Schlapphut ins Gesicht. Dann stand er da und wollte sich totlachen. So wateten sie wieder durch den Schnee zu einer nahen Badeanstalt, nahmen Zelle an Zelle ein Brausebad unter vielem Lachen – es war alles so lustig und morgenfrisch und dabei wie ein leichtes Spiel, das sich immer an der Grenze bewegte.

»Ich habe wirklich allen Respekt vor mir« sagte Johnny, als er sie im Fiaker nach ihrer Wohnung brachte, »nicht einmal um einen Kuß habe ich Sie gebeten, seit wir uns wieder in normale Menschen verwandelt haben – warum sind Sie auch verlobt? – Aber hübsch war es doch.«

 


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