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Jetzt schlug es zwölf. Die Knaben packten ihre Bücher zusammen, denn mit dem letzten Schlage trat Christel in das Zimmer, um den Tisch zu decken.
»Mutter!« rief August lebhaft, »jetzt ist die halbe Stunde vorbei, nun kann doch Mignon aus der Ecke vorkommen, nicht wahr?«
»Mine heißt sie,« verwies ihm die Mutter. »Geh jetzt hinaus in die Küche,« sprach sie zu Mignon, »dort ist dein Platz. Nur wenn du gerufen wirst, darfst du in die Stube kommen, denn du gehörst nicht zu uns.«
»Nein, Frau,« sagte Herr Butz, »so habe ich es nicht gemeint. Wir haben das Kind in die Familie aufgenommen, da soll es auch mit uns an einem Tische sitzen.«
Christel mußte nun zwischen August und Bruno einen Teller für die Kleine aufstellen.
»Da setze dich hin,« forderte Herr Butz Mignon auf, »das soll von nun an dein Platz bei jeder Mahlzeit sein.«
»Immer besser wird es!« eiferte die Bäckerfrau, »jetzt sitzen gar Bettelkinder mit am Herrentische!«
Bruno stieß seine Mutter, die neben ihm saß, mit dem Ellbogen an und schnitt ein Gesicht hinter seines Vaters Rücken. Dann rückte er, soweit als es ging, von der Kleinen ab, aus Furcht, daß er sie berühren könne, – aber heimlich, ganz heimlich, versetzte er ihr einen Tritt mit seinem Stiefelabsatz, und als sie aufschreien wollte, machte er ihr ein so böses, drohendes Gesicht, daß sie vor Schreck verstummte.
»Iß doch,« redete ihr August zu, als sie die Suppe unberührt ließ, aber sie aß nicht.
Ihr würdet es auch nicht getan haben, Kinder, auch euch würde vor Kummer der Appetit vergangen sein, wenn ihr an einem kurzen Morgen so viel Herzeleid erfahren hättet wie das Kind.
Als das Mittagsmahl vorüber war, wurde Mignon von Christel auf die Rumpelkammer geführt, damit sie, wie die Frau befohlen, dort kehre und Ordnung mache. August wäre gar zu gern mitgegangen, aber bei harter Strafe verbot es ihm die Mutter. Bruno rief ihr hämisch nach: »Etsch – Geigermine,« so hatte er sie getauft, »muß auf der Rumpelkammer schlafen, da fressen sie die Mäuse auf!«
Mignon sah sich in der Kammer um und wußte nicht, was sie machen sollte.
»Kehre nur aus,« hatte Christel gesagt – »nachher hole ich dich.«
Sie ergriff den Besen und versuchte zu kehren, aber der Stiel war zu lang, sie konnte ihn nicht meistern. Bald stieß sie oben an die niedrige Decke, bald blieb sie hinter einem Stuhlbeine oder an irgendeinem andern Gegenstand hängen. Zuletzt war ihr der Besen entfallen und lag nun eingeklemmt zwischen einem alten Reisekoffer und einer Kiste, sie konnte ihn nicht wieder hervorziehen.
Ein Weilchen quälte sie sich nutzlos mit ihren kleinen Fingern, sie tat es aus Furcht vor der bösen Frau, dann ließen ihre Kräfte nach. Ermüdet setzte sie sich auf eine alte dreibeinige Fußbank, fing an zu weinen, und es dauerte gar nicht lange, so hatte sie sich in den Schlaf geschluchzt.
So fand sie Christel, die erst gegen Abend Zeit hatte, nach ihr zu sehen. Kein Mensch hatte sich bis dahin um das Kind gekümmert. Frau Butz natürlich nicht, die Knaben, die mit dem Vater ausgegangen, auch nicht, und wenn Mignon gestorben und verdorben wäre, die Frau hätte sich nicht gerührt. Christel weckte das schlafende Kind, verließ mit ihm die Kammer und nahm es zu sich in die Küche.
Auf einen Stuhl, dicht an den warmen Ofen, setzte sie es nieder, denn es war ganz durchfroren.
»So, Minchen,« Christel konnte sich nicht entschließen ›Mine‹ zu sagen, es klang so hart und grob, »nun wärme dich erst. Hier hast du auch Kaffee und Semmel, du wirst wohl Hunger haben.«
Diese herzlichen Worte erweckten Mignons Zutrauen. Sie aß und trank, und Christel sah wohlgefällig zu und freute sich, wie es der Kleinen schmeckte.
Das Abendbrot sollte sie wieder im Zimmer einnehmen, aber sie aß nichts. Aus Furcht vor Bruno und Frau Butz wagte sie nicht, die Hand zu erheben. Selbst die guten Worte Augusts gaben ihr keinen Mut.
Als Christel den Tisch abräumte, sagte Frau Butz: »Geh hinauf in deine Kammer und leg dich zu Bett, Mine. Morgen stehst du um sechs auf und hilfst Christel Stiefel putzen. Faulenzer können wir nicht gebrauchen. Licht nimmst du nicht mit, du kannst im Dunkeln dich zurechtfinden.«
»Jetzt fressen dich die Mäuse, Geigermine!« rief Bruno höhnisch lachend. Sein Vater war nämlich nicht im Zimmer, da konnte er es wagen, sie zu quälen. »Große Spinnen sind auch oben, die kriechen dir in den Mund und in die Nase – ha, ha, ha! Geigermine! Du hast ein schönes Nachtquartier!«
»Mutter,« bat August, – bei Brunos Schilderung überlief ihn eine Gänsehaut, – »laß doch Christel mit der Lampe sie hinaufbringen. Nur heute, Mutter! Es ist so dunkel auf der Treppe, sie findet sich nicht zurecht.«
»Schweig!« fuhr ihn die Mutter an. »Sie geht allein! Bediente halten wir nicht für solche Leute!«
Aber ... sie ging nicht allein!
Als das Kind, verlassen und ausgestoßen, zitternd vor Furcht, unten an der finstern Treppe stand, war Christel plötzlich an seiner Seite. Kein Wort sprach sie, sie ergriff Mignons Hand und führte sie die Stufen hinauf.
Als sie vor der Rumpelkammer stand, – ging sie hinein, denkt ihr? O nein, noch eine Treppe höher ging sie hinauf, bis in den zweiten Stock. Leise öffnete sie dort eine Tür und trat mit Mignon ein.
Als sie ihre Lampe angezündet hatte, – denn die hatte sie dunkel in der Hand hinaufgetragen, – da sah sich Mignon erstaunt um; anstatt in der unheimlichen Kammer befand sie sich in einer kleinen, behaglichen Stube. Nicht schön und glänzend, aber sauber und aufgeräumt war es darin.
Sie erblickte ein Bett, eine Kommode, mit einer bunten Decke darauf und Photographien darüber gehängt; an der Seite, dicht am kleinen Ofen, stand ein Tisch mit zwei Stühlen daneben, und hinten an der Wand Mignons Bett.
Ihr fragt, wer dasselbe dorthin gezaubert habe, da es doch vor kurzem noch auf der Kammer stand, – Christel hieß die gute Fee, – sie hatte stillschweigend, während die Herrschaft beim Abendbrot saß, das kleine Bett in ihre Stube geschafft.
»Das Kind kann nicht allein schlafen in der alten Kammer, es fürchtet sich zu Tode, wenn die vielen Mäuse dort Lärm machen,« hatte sie am Nachmittage zu Frau Steinbach gesagt, die noch einmal gekommen war, um ein getragenes Kinderkleid, eine warme Jacke, wollene Strümpfe, zwei Schürzen, etwas Wäsche und eine Kapuze, lauter Kleidungsstücke, die sie sich von ihren Kunden für die Waise erbeten hatte, zu bringen.
»Ich nehme sie zu mir in meine Stube.«
»Und wenn es die Frau merkt, was dann?« fragte Frau Steinbach.
»Das wird sie nicht, fast niemals kommt sie da oben hinauf, aber wenn sie es täte, meinetwegen! Ich will es vor meinem Gott und meinem Gewissen verantworten, daß ich sie hinter das Licht führe,« sagte Christel.
Sie half nun Mignon beim Auskleiden und legte sie in das Bett. Wie anders sah dasselbe aus, als heute früh!
Über die alte wollene Matratze war eine Decke gelegt und darüber ein schneeweißes Bettuch gebreitet. Auf dem harten Keilkissen lag ein frisch überzogenes Kopfkissen, und wahrhaftig, da deckte auch Christel die Kleine mit einem schönen, warmen Federbett zu.
Und ihr fragt wieder, wer das behagliche Nest dem Kinde bereitete? Nun, Christel, niemand weiter!
Es war noch nicht lange her, da war ihr die Mutter gestorben, und sie hatte von derselben auch ein Bett geerbt. Sie nahm es nicht in Gebrauch, schlief sie doch in ihrer Herrschaft Bett; heute aber hatte sie den großen Koffer, in dem sie die Bettstücke verwahrte, aufgeschlossen und einige herausgenommen.
Mit welcher Freude hatte sie es getan und wie beschämte die arme Dienstmagd ihre reiche Frau!
Als Mignon im Bette lag, sagte Christel: »Nun sage dein Nachtgebet, Minchen. Du kannst doch beten?«
Fromm faltete das Kind die Hände und betete, wie sie es bei dem Vater gewohnt war. Zum Schluß setzte es in andächtigem Tone hinzu: »Lieber Gott, laß meinen Papa bald zu mir kommen und gib mir meine Geige wieder! Amen.«
»Schlaf nur ein, mein Minchen,« sagte Christel gerührt, »und gute Nacht. Bald komme ich auch und lege mich dort in das Bett. Aber du darfst es keinem Menschen erzählen, daß du hier schläfst, auch August nicht, hörst du?«
Sie deckte noch einmal Mignon fürsorglich zu und ging dann hinunter in die Küche.
Still und mit demselben mürrischen Gesichte, wie es die Leute stets an ihr gewohnt waren, verrichtete sie ihre Arbeit. Kein Mensch würde ihr die warme, gutherzige Tat, die sie eben vollbracht, zugetraut haben!