Wilhelm Heinrich Riehl
Gräfin Ursula
Wilhelm Heinrich Riehl

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Zweites Kapitel.

Graf Johann Ludwig hatte durch seinen Uebertritt in Wien alles erkauft, was er begehrte, und noch viel mehr dazu wurde ihm unerbeten in den Schoß geworfen. Er war der gefeierte Mann, der einflußreichste, der Freund des Kaisers, dem keine Bitte fehlschlug, von allen Großen aufgesucht und mit Schmeicheleien überschüttet, von dem mächtigen Klerus bewundert, vom Legaten des Papstes wie ein Heiliger gepriesen: da waren mit einemmal all seine Träume von Macht, Glanz und Ruhm wirklich geworden, er spielte die ersehnte große Rolle in der großen Welt, und das stille Schloß zu Hadamar mit der bleichen, ernsten, frommen Frau ward ganz vergessen über diesen Herrlichkeiten; und wollte ja die Erinnerung an die Heimat gewaltsam aufsteigen, ein mahnender Geist aus frisch geschlossener Gruft, dann wurde sie ebenso gewaltsam zurückgedrängt im Taumel des bewegten Wiener Lebens. So ging es fort durch mehr als vier Monate bis tief in den Dezember hinein. Der Graf, sonst der liebevollste Gatte, schrieb in dieser ganzen Zeit keine Zeile an seine Gemahlin, halb aus Scham, halb aus Furcht, die Worte seines Weibes möchten ihn an sich selber wieder irre machen. Erst als er gegen Weihnachten die Abreise nicht länger verschieben konnte, meldete er der Gräfin in wenigen Zeilen, daß er zur katholischen Religion übergetreten sei; er wolle sie nicht zwingen, ihm zu folgen; der reformierte Privatgottesdienst in der kleinen Schloßkapelle durch ihren Hofprediger solle ihr unverwehrt bleiben, ja sie könne selbst die Töchter protestantisch erziehen; die Prinzen dagegen müßten gleich dem Vater und dem ganzen Land zurückkehren zur alleinseligmachenden Kirche. Zugleich ging ein Rundschreiben an alle gräflichen Diener nach Hadamar ab, worin ihnen befohlen war, sich bereit zu halten zum Eintritt in den neuen Glauben ihres Fürsten und Herrn oder der Verweisung vom Dienst und aus dem Lande gewärtig zu sein.

Der Brief an die Gräfin war in seiner schneidenden Kälte und Kürze noch unendlich verletzender gewesen als das fünfmonatliche Schweigen. Lange ging die entschlossene Frau mit sich selbst zu Rate, ob es nun nicht an der Zeit sei, den bis dahin so glücklichen, jetzt so peinlichen Ehebund aufzulösen. Aber der Blick auf ihre Kinder, der Blick auf ihr Land, welchem sie in den letzten schweren Monaten im vollen Sinne des Wortes Fürstin gewesen, bewog sie, auszuharren. Sie ward jetzt erst inne, wie fremd ihr die Kinderheimat an der Lippe geworden war, wie heimatlich dagegen dieses Land, dem die Jahre ihres Wirkens und Strebens und ihres Leidens angehörten. Sie hatte ein Buch, darein sie an jedem Abend ihr Haupttagewerk verzeichnete, mit Beifügung eines Verses oder Spruches, meist aus der Bibel oder einem Kirchenlied, der als Motto gleichsam den besonderen Charakter des Tages aussprechen sollte. Heute, wo die Gräfin nichts gethan, als mit sich gekämpft, schrieb sie auch nichts in das Buch als zwei Verse und zwar eines heidnischen Poeten, Verse, die Ovid aus der Verbannung geschrieben:

»Nescio qua natale solum dulcedine cunctos
Ducit et immemores non sinit esse sui.
«

und verfaßte dann selber neben den lateinischen Text folgende der Verskunst jener Zeit entsprechende Uebersetzung:

»Ich weiß nicht mit was Süßigkeit
    Des Vaterlands Anmütigkeit
Den Menschen zeucht, also daß er
    Solch's in Vergeß stell nimmermehr.«

Der Graf eilte nicht allzusehr auf seiner Rückreise. Wer mit bösem Gewissen heimfährt, dem ist der krummste Weg der nächste und der langsamste Fuhrmann der beste. In München gab es für Johann Ludwig willkommenen Aufenthalt, in Nürnberg nicht minder; allein so langsam er auch reiste, endlich kam er doch in Hadamar an.

Das Wiedersehen der Ehegatten war minder hart, als beide es erwartet hatten. Die Gräfin konnte sich der Thränen nicht erwehren, aber sie schwieg. Der Graf war liebevoll wie in den alten glücklichen Tagen; beredt und überzeugend stellte er seinen Glaubenswechsel als einen Akt der reinen politischen Notwendigkeit dar, zur Selbsterhaltung, zur Rettung der übrigen Grafen der nassau-ottonischen Linie, zur Erlösung seines Volkes von aller Bedrückung. Er war, wenn man ihn hörte, das Opferlamm geworden für alle nassauischen Lande und sein Uebertritt der höchste Akt patriotischer Selbstentsagung und Selbstverleugnung. Als der gewandte Herr wieder hier und da die Macht seiner Persönlichkeit entfaltete, drang diese Ansicht auch immer mehr im Volke durch, die alte Popularität des Grafen lebte wieder auf und in wenigen Wochen konnte die vorher aufgeregte Grafschaft wieder für völlig beruhigt gelten. In der That, es bewährte sich das Wort: Wo andere Herren ihr Land an Ketten weiterziehen mußten, da zog Graf Johann Ludwig das seinige an einem Haare nach sich.

Mit äußerster Klugheit und Vorsicht ward die Bekehrung der Grafschaft eingeleitet. Der Graf hatte nur zwei Jesuiten mitgebracht, die Patres Prack und Ringel. Allein beide reichten vorerst vollkommen aus. Sie gingen ganz sachte voran, wußten hier und dort einen einflußreichen Mann herumzukriegen, predigten dann im volkstümlichsten Ton, mit allem Salz örtlicher und persönlicher Beziehungen die Rede würzend. Bald satirisch, bald humoristisch, niedrig komisch, bald pathetisch und im großen Stil gehalten, erschienen die Predigten dem Volke unendlich kurzweiliger als die gleichförmig ernsten, feierlichen, überall mit Bibelsprüchen durchspickten Kanzelreden der reformierten Pfarrer. Da gab es dann immer ungeheueren Zulauf, wo ein Jesuit auftrat. Aber Schwärme von Zuhörern, die aus bloßer Neugierde gekommen waren, drängten sich am Schluß der Predigt zum Beichtstuhl, so daß binnen wenigen Monaten die zwei Jesuiten allein die halbe Grafschaft wieder katholisch machten. Als nun gar zwischen Hadamar und Elz plötzlich eine Mineralquelle sprudelte, die angeblich durch das Gebet der Jesuiten aus dem Boden gelockt war, und Hunderte von Kranken aller Art, die von dieser Quelle tranken, ihren Rosenkranz beteten, sangen und tagelang auf den Knieen lagen, geheilt zurückkehrten: da fehlte es auch nicht länger an einem Mirakel, und die Bevölkerung ging scharenweise zu den Jesuiten über.

Der Graf selber hatte in öffentlicher Versammlung der Bürger von Hadamar erklärt, daß das Land wieder katholisch werden müsse. Er ließ überall im Lande durch die Schultheißen auf öffentlichem Markte ausrufen, daß der reformierte Glaube abgeschafft und der katholische wieder eingesetzt sei. Vorerst seien die Unterthanen gehalten, den gregorianischen Kalender zu führen, die katholischen Fest und Fasttage zu respektieren, und wenn es zum Vaterunser läute, nicht bloß das Vaterunser, sondern auch den englischen Gruß zu beten.

Das riefen die Schultheißen aus wie eine Polizeiverordnung, und weiteres begehrte man noch nicht. Von der Lehre und den Sakramenten, vom Papst, vom Kultus war nicht die Rede. Man wollte sich, nach dem Plane der Jesuiten, ganz allmählich einschleichen mit dem römischen Glauben, und so gelang es auch ganz vortrefflich.

Inzwischen ward den protestantischen Predigern der Dienst gekündigt. Wo sie nicht wollten katholisch werden und eine politische Bestallung annehmen, sollten sie in kürzestem Termin ihre Pfarrhäuser verlassen. Die meisten gingen alsbald außer Landes. Einige wurden noch eine Weile geduldet, darunter auch Johann Jakob Niesener in Rennerod.

Am schwersten klagten die Jesuiten über die Gräfin, als die wahre Patronin der protestantischen Ketzerei im Lande, die das Bekehrungswerk unendlich erschwere. Allein der Graf duldete einmal und nicht wieder, daß die Patres hierüber ein Wort sprachen. Die Gräfin war immer eifriger geworden in der Ergründung ihres religiösen Bekenntnisses und in der Erfüllung ihrer sittlichen und kirchlichen Pflichten, je mehr der Katholizismus im Lande um sich griff. Die Jesuiten selber mußten ihr nachsagen, daß sie wie eine Heilige lebe. Täglich waren einige Stunden dem Gebet gewidmet und dem Bibellesen, an welchem alle Hofdamen teilnehmen mußten. Die ganze Sittenstrenge, Entsagung und Enthaltsamkeit, wie sie die reformierte Kirchenzucht in ihrer äußersten Härte gebietet, waltete von nun an am Hofe der Gräfin Ursula. Sie zog allmählich das ganze Hofgesinde, auch das katholische, in diese Strenge der christlichen Ehrbarkeit. Sieghaft bewährte es sich hier, daß die unerbittliche Moral und die strenge kirchliche Zucht zwar die rauheste, aber auch die stärkste Seite des reformierten Bekenntnisses sei. Jede Woche genoß die Gräfin das heilige Abendmahl; der Tag, wo dies geschah, war der eifrigsten Gewissensprüfung gewidmet. Kein Sonn- und Festtag durfte durch irgend ein weltliches Geschäft entweiht werden.

Bei dieser äußersten Strenge in der Durchführung der eigenen religiösen Ueberzeugungen war jedoch die Gräfin keineswegs schroff gegen Andersgläubige, am wenigsten gegen ihren Gemahl. Hier zeigte sich ihre edle vermittelnde Weiblichkeit, die Freiheit und Hoheit ihres Geistes in wunderbarem Licht. Der Graf merkte kaum etwas von der fast übertriebenen Strenge ihres religiösen Wandels. An Tagen, wo er fasten mußte, fastete sie mit, ja sie genoß dann nicht einmal auf ihrem Gemache eine Fleischspeise, um den katholischen Dienern keinen Anstoß zu geben. War der Graf verreist, so beobachtete sie dieselbe Rücksicht gegen die im Katholizismus erzogenen Söhne. Nie versuchte sie ihre religiöse Ueberzeugung dem Manne aufzudrängen, denn sie wußte, daß er, wenn auch aus ganz anderen Gründen als sie, nunmehr ebenso festgewurzelt in seiner Ueberzeugung stand. Aber nie duldete sie auch den leisesten Angriff auf ihr Bekenntnis. So gelang ihr das unendlich schwere Werk, einträchtig mit ihrem Ehegatten zu leben. Ja sie gewann ihn dergestalt durch ihre Milde und Sittenreinheit, daß er zum großen Entsetzen des Pater Prack diesem einmal ins Gesicht behauptete, seine Frau werde selig werden, ohne der alleinseligmachenden Kirche anzugehören; denn eine solche Ketzerin wiege vor dem allwissenden Gott wohl manches Dutzend guter Katholiken auf.

Es war überhaupt eine seltsame Mischung katholischen und protestantischen Wesens an dem gräflichen Hofe. Dies zeigte sich namentlich bei der Tafel, die früher für gewöhnlich fast nur ein Familientisch gewesen, seit des Grafen Rückkehr von Wien aber sich bedeutend erweitert und eine gewisse politische Bedeutung gewonnen hatte. Zwar war die Familie, bis zu den vier- und sechsjährigen Söhnen und Töchtern abwärts, nicht verdrängt: dem hatte sich die Gräfin entschieden widersetzt. Allein die Tafel war jetzt eine öffentliche und die Tischreden, die man dort pflog, oft entscheidender für das Regiment als die längsten Verhandlungen im gräflichen Kabinett.

Der Graf lud nämlich alle seine höheren Diener, ja auch die vornehmsten Bürger der Stadt, die Reihe um an seinen Tisch, um sich dieser Leute zu versichern, um sie herüberzuziehen zu den Jesuiten, um ihnen den Feuereifer für die Katholisierung des Landes, der ihn selbst beseelte, gleichfalls einzuhauchen. Selbst die hervorragenderen protestantischen Geistlichen wurden zu der Zeit, wo sie bereits ihrer Stellen entsetzt waren, immer noch zur gräflichen Tafel gebeten, weil man es doch noch nicht ganz aufgab, die Seele des einen oder anderen zu gewinnen, oder auch, weil der Graf die Pfarrer zur Würze seiner Tischunterhaltung, nämlich zum Disputieren, nicht entbehren konnte. Denn die regelmäßigen Stammgäste des herrschaftlichen Tisches waren andererseits die beiden Jesuiten Prack und Ringel, und da machte es nun dem Grafen eine kindische Freude, die Jesuiten und die reformierten Pfarrer hintereinander zu hetzen. Allein die letzteren waren meist so klug, einen Kampf nicht anzunehmen, bei dem sie mit gefesselten Armen fechten mußten. Ließ sich ja einer fortreißen, dann hatte er jedesmal verlorenes Spiel, da wohl der Gegner, nicht aber er selbst, das letzte entscheidende Wort aussprechen durfte, und die unbehilflichen Landpfarrer auch ohnedies rasch gefangen waren von den in allen dialektischen Künsten gewiegten Jesuiten. Die Freude aber, die der Graf über einen solchen Kampf und über den Sieg seiner Patres hatte, schrieb er allezeit auch dem armen geschlagenen Pfarrer zu gut und wandte den hitzigen, unklugen, streitfertigen Geistlichen, die ihm den Hofnarren ersparten, seine volle Gunst zu, während er die vorsichtigen und schweigsamen nicht ausstehen konnte.

Zu den letzteren gehörte der Pfarrer Niesener von Rennerod, der heute mit dem gräflichen Rat Sprenger und den beiden Jesuiten zu der ausnahmsweise kleinen herrschaftlichen Tafel geladen war. Der Graf hätte ums Leben gern gehabt, daß Niesener, den man den gescheitesten und bibelfestesten Pfarrer im ganzen Lande nannte, einmal angebunden hätte mit den Jesuiten. Gleich nach dem Tischgebet mußte Pater Prack den Satz zur Verhandlung bringen: Wer Herr über das Land ist, der ist auch Herr über den Glauben des Landes – cujus regio ejus et religio. Es war dies ja der Satz, kraft dessen Johann Ludwig eben mit List und Gewalt das Land katholisch zu machen sich berechtigt glaubte, weil er selber katholisch geworden war, ein Satz, den bis dahin im alten Glauben an die von Gott gesetzte Macht der Fürsten nur wenige anzutasten sich erkühnt hatten, während gegenwärtig der Wendepunkt eingetreten war, wo man da und dort Zweifel zu erheben und über den berühmten Satz heftig zu streiten begann.

Prack hielt Niesener geradezu dieses politische Dogma vor und fragte den Pfarrer, wie er es denn mit seiner Unterthanenpflicht vereinbaren könne, reformiert zu bleiben, da doch sein Fürst und Herr zur katholischen Kirche zurückgekehrt sei? Auch auf den Rat Sprenger, von dem man nicht recht wußte, war er noch reformiert oder war er bereits katholisch, ward dabei ein verdächtiger Seitenblick geworfen.

Niesener erwiderte trocken: »Im Evangelium stehet nirgends geschrieben: cujus regio ejus et religio. Wenn die Obrigkeit von uns fordert, daß wir thun sollen wider Gott und unserer Seelen Seligkeit, daß wir das reine Wort nicht hören und bekennen sollen, daß wir das Sakrament nicht nehmen sollen nach Christi Befehl, dann mögen wir kurzweg antworten: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen. Warum sonst hätten sich die Märtyrer totschlagen lassen? Die Gewaltigen, die Sankt Paulum enthaupteten und Sankt Petrum kreuzigten, hatten auch wohl ungefähr so einen Satz im Sinn wie cujus regio ejus et religio. Hätten darum Paulus und Petrus der Obrigkeit folgen und heidnisch werden sollen?«

»So bestreitet Ihr also die Rechtsgültigkeit des Satzes cujus regio ejus et religio?« rief der Jesuit, rot vor Eifer, denn er glaubte schon, der Pfarrer habe jetzt endlich einmal angebissen.

»Ich habe gesprochen, um mir nur ein klein wenig Luft zu machen, daß ich meine Suppe zu Ende essen und verdauen kann,« sagte Niesener gelassen. »Jetzt werde ich schweigen.«

Der Graf warf Niesener einen zornigen Blick zu und rief: »Seht da, Niesener, Ihr habt, als Ihr Euch Luft machtet, das Salzfaß mit dem Aermel umgeworfen. Das ist ein schlechtes Zeichen: es bedeutet Streit, Streit des Gastes mit dem Wirt.«

»Das wolle Gott verhüten, daß ich mit meinem gnädigen Herrn jemals in Streit geraten könne,« sagte der Pfarrer bescheiden, und die Unterhaltung verstummte.

Der Graf wandte sich leise zu dem Pater Ringel und flüsterte mit zornig zusammengezogenen Brauen: »Es ist eine Feindschaft der Natur, des Instinktes zwischen mir und diesem Niesener wie zwischen Kröte und Spinne. Er hat mir nicht mehr zuleid gethan als die anderen. Aber ich mag das Gesicht dieses Menschen nicht sehen! Wir müssen ihn heute noch auf den Sand setzen.«

Als der mächtige Rindsbraten kam, trank der Graf seinen Gästen die Gesundheit zu. Dem Grafen kam die Lust, Niesener wieder anzuzapfen. »Ich sehe, lieber Pfarrer, auf eine Gesundheit anzustoßen, läuft nicht wider Euern Glauben. Da Ihr nun bloß thut und glaubt, was in der Bibel steht, so möchte ich Euch doch bitten, mir zu sagen, wo es in der Bibel erlaubt wird, eine Gesundheit auszubringen oder darauf anzustoßen?« Der Graf glaubte aber, vom Gesundheittrinken stehe gar nichts in der Bibel.

Allein da war er bei Niesener übel angekommen. Derselbe erhob sich und lächelte gar vergnügt in sich hinein und sprach: »Im Propheten Jeremias lesen wir, daß die Juden beim Leichenschmaus sich gegenseitig einen Becher Weins zugetrunken und dabei untereinander getröstet haben. Und zwar haben sie nach der ältesten Ausleger Meinung sich Gesundheit und ein langes Leben gewünscht. Nehemias war Schenke des Artaxerxes, und so oft er dem König den Becher kredenzt, sprach er: ›Gott gebe dir, König, ein langes Leben!‹ Heißt das nicht auch Gesundheit zutrinken? Gott der Herr selber trinket gleichsam allen Frommen die Gesundheit eines geheiligten Lebens zu, wenn er, wie der 75. Psalm sagt, einen Becher in der Hand hat, mit starkem Wein voll eingeschenkt, davon er auch den Frommen zu trinken gibt, während die Gottlosen die Hefen aussaufen müssen. In diesem Sinne will auch David im 116. Psalm den heilsamen Kelch nehmen, aus welchem er sich selber eine geistliche Gesundheit zutrinkt. Und ist nicht, wenn wir das Unheilige mit dem Heiligsten vergleichen dürfen, der Kelch von Christi Nachtmahl selbst ein Gesundbecher gewesen, den er der ganzen sündigen Menschheit zugebracht, daß sie genese?«

»Unser Pfarrer weiß die Schriftstellen wohl zu wenden, bis sie sagen, was er wünscht,« rief der Graf lächelnd gegen die Jesuiten. »Doch das muß man gestehen, in seiner Bibel ist er zu Hause.«

Dann wandte er sich an den Rat Sprenger, einen gewandten, im Dienste grau gewordenen Hagestolzen, der spöttisch alle Dinge kritisierte und aus dessen Charakter niemand klug werden konnte, einen echten Diplomaten, in politischen und Rechtsgeschäften vielerprobt, den unentbehrlichen Diener seines nach staatsmännischen Ehren geizenden Herrn. »Ihr seid so still, lieber Rat, Ihr denkt wohl, wo die Theologen reden, da müssen die Laien schweigen.«

Der Rat antwortete in seinem satirischen Tone. »Freilich schweigen die Laien, wo die Geistlichen reden. Ich will Euch einen Vers darauf sagen:

Presbyteri »labiis orant,« Laicique »laborant
Plebs, dum pro populo Presbyter »orat,« »arat
Dieses Distichon ist geradezu unübersetzbar, da seine Spitzen in Wortspielen bestehen, die im Deutschen nicht wiederzugeben sind. Dem Sinn nach besagt es, daß die Laien mit den Händen schaffen, während die Pfaffen ihre Lippen bloß betend exerzieren.

»Ei, lieber Rat, man hat mir immer Eure Kunst gerühmt, lateinische Verse aus dem Stegreif zu machen,« rief der Graf, »aber daß Ihr sie im Augenblick so spitzig und witzig und doch so elegant herausbrächtet, das hätte ich nicht gedacht.«

»Diese Verse, gnädigster Herr Graf, sind auch nicht beim köstlichen Wein improvisiert worden. Es ist vielleicht gerade umgekehrt der Hunger gewesen, der sie so spitzig und witzig gemacht hat. Sie gehören nicht mir, sie sind bloß ein Citat. Ein englischer Schulmeister, der vor ein paar Jahren in Armut und Elend gestorben ist, John Owen, hat sie gemacht, ein Mann so voll Geist und Witz in seinen Epigrammen, daß sie jetzt, nachdem der Dichter jämmerlich verkommen, in allen Ländern gedruckt werden. Hätte der Mann bei Lebzeiten nur die Hälfte von dem gehabt, was jetzt die Buchbinder an seinen Büchern verdienen, er wäre gewiß nicht Hungers gestorben. Aber ob seine Epigramme so ergötzlich beißend geworden wären, wenn seine Zähne mehr zu beißen gehabt, das ist eine andere Frage.«

Der Graf hörte den Schluß von des Rates Bemerkungen nicht mehr. Es war ihm ein Brief übergeben worden, der seine ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm, und, wie es schien, nicht in erfreulichster Weise, denn seine Stirne ward gewaltig finster über dem Lesen. Er stampfte mit dem Fuß und warf das Schreiben zornig auf den Tisch, als er zu Ende gekommen. Sein erster Blick begegnete dem Pfarrer Niesener; es war ein Blick wütender Erbitterung und tödlicher Feindschaft.

In abgebrochenen Sätzen, in einem Tone des atemlosen Zornes, welchen man sonst an dem durch seine Selbstbeherrschung glänzenden Manne nie gehört hatte, rief der Graf: »Es muß ein Exempel statuiert werden an dem Verräter im eigenen Lande! – Ich bin umgeben von falschen, meineidigen Gesellen. – Der Kopf muß dem Schurken herunter, der diesen Verrat geübt. Ich kenne ihn! Mit meiner Gnade habe ich ihn sicher gemacht! In mein Haus habe ich ihn gezogen, arglos kein Geheimnis vor ihm zugedeckt, und das hat der Judas genützt, um dem Feinde landesverräterischerweise mitzuteilen, was er nur durch mein Vertrauen auskundschaften konnte. – Pfarrer Niesener! Ihr seid mein Gast nicht mehr; Ihr seid arretiert. Schweigt! Antwortet, wenn ich Euch frage! Es geht Euch an den Hals, Niesener! Regt Euch nicht von der Stelle, bis man Euch in den Turm führt!«

Eine peinliche Pause folgte. Die Tischgenossen saßen wie versteinert, selbst die beiden Jesuiten sahen sich erstaunt und fragend an.

Die Gräfin gewann zuerst die Besinnung und das Wort wieder. Sie wandte sich an den Grafen. »Du redest schrecklich, die Gedanken zerstückend wie ein Fieberkranker. Sammle dich. Was ist vorgefallen? Erzähle uns den Hergang, wofern er kein Geheimnis ist, und indem du ruhig erzählst, wirst du auch noch einmal ruhiger den Zusammenhang prüfen.«

Der Graf schaute auf, als sei er bisher mit seinen Gedanken ganz wo anders gewesen und erkenne jetzt erst, in welcher Gesellschaft er sich befinde. Völlig gesammelt, mit der Ruhe und Glätte, die ihm sonst stets gleich blieb, doch immer noch mit schwerem Ernste, sprach er: »Du weißt, Ursula, seit Wochen setzen die holländischen Streifcorps, die der Baron von Gent von Soest aus über den Westerwald herüberschickt, unser plattes Land in Schrecken. Wo sie einen katholischen Priester, ja nur einen Mesner, Küster oder Schulmeister wittern, da machen sie Jagd auf denselben, gieriger als der heftigste Jäger auf einen Zwanzigender. Am liebsten möchten sie mir hier meine beiden Patres wegfangen, aber es glückt ihnen nicht, weil ich den frommen Männern allemal zwölf Reiter Bedeckung aufs Land mitgebe. Hölle und Teufel! Ist das eine Zeit! Nicht mehr Herr zu sein im eigenen Hause! Drüben im Braunfelsischen haben' s die Ketzer nicht besser gemacht mit der Pfaffenhetze. Sprenger, habt Ihr nichts Neues von drüben gehört?«

»Mit Verlaub, gräfliche Gnaden, im Braunfelsischen sind es nicht die Holländer gewesen, sondern eigentlich der kaiserliche Kommandant von Braunfels, der mit der Jagd auf die Pfaffen angefangen hat. Um den Grafen von Diez zu vexieren, ließ er den reformierten Pfarrer von Dauborn am Ostermontag aus dem Bette holen und nach Braunfels führen und forderte neunhundert Reichsthaler Lösegeld. Da waren die Holländer auch nicht faul, den ihrem Feldmarschall, dem Grafen von Diez, zugefügten Schimpf zu rächen, brachen ins Kloster Altenburg, nahmen den Prior weg und forderten gleichfalls neunhundert Reichsthaler. Was war zu machen? Man verglich sich, und es gab eine kuriose Abrechnung. Jede Partei zahlte der anderen neunhundert Reichsthaler und gab der anderen ihren Pfaffen zurück. Da hatten also beide schließlich wieder ganz das Gleiche, was sie vorher gehabt. Das war viel Müh' um nichts. Allein der kaiserliche Kommandant hatte nun einmal den Holländern gelehrt, wie bequem und einträglich es sei, Pfaffen zu fangen und dann Lösegeld zu fordern, und jetzt legen sich diese Krämersoldaten auf den Pfaffenfang wie ihre Brüder daheim auf den Heringsfang, und sind vor lauter Jagdlust zu gar keinem ordentlichen Kriegsdienst mehr zu bringen, und was das Schlimmste ist, ganze Scharen von gaunerischem Gesindel laufen als Wilderer neben jenen Jägern her und ziehen mit Hörnerklang durch den ganzen Westerwald und den Lahngrund, um Jesuiten zu jagen.«

»Genug!« rief der Graf, etwas aufgebracht über die allzu humoristische Ausführung des Rates. »Schon haben wir die Schmach auf uns nehmen müssen, die katholischen Weltpriester, die ich zur Vollendung des Werkes dieser frommen Patres unlängst ins Land gerufen, aus den Pfarrhäusern zu quartieren und in Bauernhäuser zu verstecken, damit sie nicht geradezu aufgehoben würden. In Bauerntracht vermummt gehen sie von einem Dorf zum anderen, um ihres Amtes zu walten. Wo sie öffentlich Kirche halten, muß eine starke Mannschaft vor der Kirchenthüre aufgestellt werden. Nun wird mir eben geschrieben, daß trotz aller Vorsicht den Holländern die Verstecke der Priester in den Bauernhäusern dennoch sind verraten und die Priester selbst in ihrer Bauerntracht kenntlich bezeichnet worden, und zwar im ganzen oberen hadamarischen Land – in der ganzen Gegend von Rennerod, Pfarrer Niesener! – Daraufhin sind die Räuber gestern nacht ins Land eingebrochen und haben mir alle meine kaum erst aus Wien verschriebenen Priester aufgehoben und nach Soest abgeführt und fordern ungeheures Lösegeld für die vielen Pfaffen. Sprenger! ist denn an Euch noch gar keine Nachricht eingegangen über den verteufelten Streich?«

Der Rat schien sehr zerstreut. »Eine Nachricht? Nein, gnädigster Herr. Ueber das, was Ihr vom Jesuiten Holthausen erzähltet, habe ich wohl ein Gerücht vernommen –«

»Was ist das?« rief der Graf. »Ich weiß nichts von dem Jesuiten Holthausen.«

Der Rat erschrak, doch faßte er sich rasch. »Nun, den Jesuiten haben sie auch weggefangen und ihm einen Soldatenrock angethan und weite holländische Hosen und ihm ein Gewehr auf die Schulter gelegt – ach, der dicke Mann soll zum Erbarmen ausgesehen haben in der Maskerade, denn an dem Rock waren alle Nähte geplatzt, weil, glaub' ich, in der ganzen holländischen Armee kein Rock zu finden ist, der ihm paßt. Und als der arme Jesuit gar im Geschwindschritt in der Reihe marschieren mußte, da soll er nach zehn Minuten schier umgesunken sein – kurzum, sie haben ihn unter die Soldaten gesteckt.«

»Wie? und das meldet Ihr mir jetzt erst?« rief der Graf zornig.

»Verzeihen, gräfliche Gnaden, ich erfuhr es unmittelbar vor Tafel und, wie gesagt, nur vom Hörensagen, nur als ein Gerücht, und da hielt ich's für unerlaubt, Euch das Essen zu verderben mit dem Klatsch, und wollte mit der Meldung warten, bis abgespeist wäre.«

»Also Ihr glaubt, zur Beorderung der Verdauung eigne sich eine schlechte Nachricht besser als zur Anregung des Appetits? Doch bei Gott, jetzt ist nicht Zeit zu scherzen! Der Verräter muß bestraft werden. Nur ein Mann, der in allen Stücken volles Vertrauen genossen, kann den Holländern die Priester und ihr Versteck bezeichnet haben; denn nur ganz wenige der sichersten Leute wußten um das Geheimnis. Es kann aber auch nur ein Mann gewesen sein, der in der Gegend von Rennerod, in allen Dörfern und Häusern der Nachbarschaft so bekannt ist wie in seinem eigenen Hause. Pfarrer Niesener, seht Euch für, es geht Euch an den Hals, wenn die Sache auf Euch herauskommt. Augenblicklich muß der Verräter entlarvt, augenblicklich muß er gestraft werden. Da ist nicht Zeit, umständlich den Prozeß zu machen; es gilt ein Exempel zu statuieren. Niesener, Ihr werdet vor ein Kriegsgericht gestellt – noch heute nachmittag – und wenn Ihr heute abend dem Henker nicht verfallen seid, wenn Ihr wirklich wider Vermuten freigesprochen würdet, dann packt Ihr Euch dennoch morgen aus den hadamarischen Landen, denn nun will ich keinen reformierten Pfaffen mehr sehen, ich will keine Leute mehr hegen, die, wie Ihr vorhin vor meinen Ohren gethan, mir das Recht bestreiten, mein Land wieder katholisch zu machen, die sich täglich durch ihr Gewissen können verpflichtet fühlen, an mir zum Verräter zu werden, und, wenn sie mir ungehorsam sind, am Ende noch glauben, sie hätten gethan, wie Sankt Peter und Paul, die heiligen Apostel und Märtyrer, gegen das heidnische Regiment in Rom.«

Niesener erwiderte kein Wort. Sein Auge hing an dem Gesichte der Gräfin, als ob er von ihr allein noch Rettung erwarte.

In der That nahm nun, da alle verstummten, die Gräfin das Wort. »Du sprichst jetzt recht wie ein Gewaltiger dieser Welt, lieber Mann. Aber vergiß nicht des Wortes, daß einst die Gewaltigen auch gewaltig sollen gerichtet werden von dem Herrn. Es sind heute schon so manche Neuigkeiten hier erzählt werden: erlaube mir, daß ich auch eine höchst merkwürdige Kunde mitteile, die mir in der Frühe von einem Manne von der Weil berichtet ward; und jetzt erscheint es mir als eine rechte Fügung Gottes, daß ich die Erzählung dieses Bauern gerade am heutigen Tage vernommen und in dieser Stunde dir wieder erzählen kann. Es lebte vor ungefähr zehn Jahren ein Edelmann, Henn von Wehrdorf, zu Essershausen an der Weil, ein einsamer Mann ohne Verwandte, ohne Freunde. Der war eines Tages spurlos verschwunden. Niemand wußte, wo er hingekommen. Da wurde vor etwa zwei Monaten dem Gerichte heimlich die Anzeige gemacht, ein gewisser Johannes Schütze aus Kröfftelbach, ein übel berufener Mann, habe jenen Henn von Wehrdorf im Walde nahe bei Essershausen umgebracht. Schütze wird eingezogen. Er leugnet. Aber die Folter preßte ihm doch zuletzt das Geständnis aus. Nun führt man ihn in den Wald, damit er zeige, wohin er den Gemordeten verscharrt. Er kann den Platz nicht finden; aber aus Furcht vor Wiederholung der peinlichen Frage behauptet er, weil es schon so lange her, könne er sich des Platzes nicht mehr entsinnen. Er wird zum Tode verurteilt. Der Gerichtsherr unterschreibt ohne Besinnen das Urteil. Man war seiner Sache so gewiß, daß man keinen Tag Aufschub gab. Alles ward übereilt. Es sollte wohl auch ein Exempel statuiert werden. Vor acht Tagen war es, da stand Hans Schütze auf dem Blutgerüst und der Henker hinter ihm. Da sagte der arme Sünder mit fester Stimme zu allem Volk ringsum: ›Ich muß jetzt sterben, weil ich den Henn von Wehrdorf soll ermordet haben; aber ich will es auf meinen Teil Himmelreichs nehmen, daß ich denselben mein Lebtage nicht gekannt, ja wenn ich ihn Zeit meines Lebens einmal gesehen habe, will ich nimmermehr selig werden.‹ Und als er schon vor dem Block kniete, rief er noch einmal, er hoffe, seine Unschuld solle an den Tag kommen, und der Edelmann werde, so Gott wolle, lebend wiederkehren, noch ehe die Raben seinen Leichnam würden gefressen haben. Drauf legte man ihm den Kopf vor die Füße. Vorgestern ist Henn von Wehrdorf wiedergekommen; er war vor zehn Jahren in den Krieg gegangen, hatte dort sein Glück probiert, wie tausend andere, und hatte es auch gewonnen, wie wenige von den Tausenden. Denn er kehrte als ein reicher, mit Ehren bedeckter Offizier heim. Sieh, der Gerichtsherr und sein Richter haben auch gewaltig und rasch gerichtet, als die Gewaltigen dieser Welt. Aber bedenke, wie es ihnen jetzt zu Mute sein mag! Und doch haben sie nach allen Formen Rechtens verfahren, und Schütze war ein übel berufener Mann. Allein sie wollten ein Exempel statuieren. Sie haben es statuiert, doch nicht an dem armen Sünder, sondern an sich selbst.«

Der Graf biß sich in die Lippen und schwieg.

»Man führe den Pfarrer Niesener in den Turm!« rief er dann – und die Tafel, wie noch keine im Schlosse gehalten worden, war aufgehoben.


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