Alexander Roda Roda
Russenjagd
Alexander Roda Roda

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Erster Teil

Die Schlachten von Lodz und Limauowa hatten (um den 1. Dezember 1914) Keile vor die russische Dampfwalze geschoben.

Die Front des Feindes blieb monatelang an der Pilitza, Nida, am Dunajetz, der Biala und längs dem Karpatenkamm.

Durch unsre Siege war den Russen die Straße nach Berlin und Wien verlegt. Sie mühten sich nun, über die Karpaten nach Budapest zu kommen; rannten Monate hindurch an – mit nie erlebter Gewalt; rauften bis zum Weißbluten.

Oesterreicher, Ungarn, Deutsche hielten stand. »Die Karpaten sind die Grabhügel des russischen Heers geworden.«

Da brach anfang Mai 1915 Generalfeldmarschall v. Mackensen in Westgalizien durch; die ermatteten Linien des Zaren wurden aufgerollt; ein Siegessturm fegte die Russen zurück bis an den Bug.

Damals schickte mich der Krieg, den ich begleiten und beschreiben sollte, wieder einmal weit nach Osten – und ich durchzog das Gebiet von der Biala an, die Ostschlesien von Halbasien scheidet, bis ins wolynische »Festungsdreieck.« Vierhundert Meter vor den russischen Schützengräben endete die Fahrt. Hier mein Tagebuch.

Philippopel, 22. Juni 1917.        

 

Galizische Fahrt.

19. August 1915.

Ein freudeloser Morgen bei Dzieditz. Der riesige Königspalast Galizien hat die denkbar häßlichste Einfahrt; grade der Westen, diese Wirrnis von trüben Tümpeln und schmutzigen Fabriken sieht aus, als wollte sie den Eindringling absichtlich schrecken; das Gelände ist kahl; der Reichtum, die Flöze sind tief in den Boden vergraben.

Ende Juli stand in dem und jenem Blatt zu lesen, dem deutsch-österreichisch-ungarischen Angriff wäre ein neuer Verbündeter erstanden in furchtbaren Regenbächen, die sich von den Karpaten auf die podolische Ebene ergössen und den Russen die Rückzugslinien versperrten. Damals herrschte aber in Wahrheit dort noch Trockenheit. Erst eine Woche später neigte der Himmel seine Kannen wieder, und der östliche Hochsommer war da; man kann sich ihn richtig erst vorstellen, wenn man weiß, daß der August der regenreichste Monat des polnischen Jahres ist.

Die Bauern haben es geahnt und die Ernte hastig eingebracht. Die meisten Stoppelfelder sind 14 sogar gestürzt. Nur der Hafer steht noch in Halmen – so schütter und mager, daß er nicht auf viel Kornsegen schließen läßt. Dazwischen die schmalgebeetelten dunkelgrünen Kartoffeläcker, blühender Raps, Flächen von Weißkohl, die so charakteristisch für die galizische Landschaft sind. Die Saubohnen beginnen sich zu bräunen. Und Klee, viel Klee. Immerhin merkwürdig, daß Kriegsgefahr, Krieg und Leutemangel die Landwirtschaft so wenig gestört haben. Den Bauer treibt eben ein unbezwinglicher Drang, seine Scholle zu bestellen; er sät und mäht auch noch unter Schrapnellen.

Die Bahnen hierzulande sind nie sehr sauber gewesen, sie sind es nach einem vollen Feldzugsjahr erst recht nicht. Die kleinen Stationsgebäude stehen vernachlässigt; weiter im Land zeigen sich noch die Schießscharten, die man im vorigen Herbst, als die Russen nahten, durch die Ziegelwände gestoßen und seither noch nicht zugemauert hat. Das Heer erneuerte die Brücken, das alte Holz liegt morsch daneben als Denkmal der ehemaligen Landesverwaltung. Die Lokomotiven stehen zitternd unter Dampf wie abgehetzte Lasttiere, denen man keine Stunde der Erholung, der Pflege gönnt. Die Wagen kalkbespritzt. Viel deutsche und belgische Wagen darunter. Einer trägt die verwischte Kreideaufschrift »Valenciennes« und ganze Züge die auffälligen gelben Sterne der deutschen Feldeisenbahnleitung.

15 Auf diesen Trains ziehen gleichzeitig zwei Stämme nach Osten, immer nur nach Osten: kräftige, muntere Soldaten und eine bedrückte, blasse Bürgerschaft. Soldaten beider Heere; einzelne Offiziere, die vom Heimaturlaub, vielleicht aus den Spitälern des Hinterlandes kommen und nun, in Wien oder Berlin blitzblank ausgerüstet, unterwegs nach ihren Regimentern sind; oder neugebildete Ergänzungsabteilungen – Mann, Roß und Kriegsgut. Sie alle reisen und reisen – den Tag, die Nacht – fragen sich durch und reisen weiter auf das Ziel los, einen Truppenkörper, der sich ebenfalls stündlich weiterbewegt, den weichenden Russen nach, und eingeholt werden muß vor Brest-Litowsk, vor Kowel oder sonst irgendwo. Auf den Stationen sieht man Züge mit Kranken und Verwundeten von Osten kommen.

»Was Neues auf dem Kriegsschauplatz, Kamerad? Brest-Litowsk und Kowel schon genommen?« Das fragen die Blitzblanken voller Spannung und atmen auf, wenn der Verwundete verneint. Gott sei Dank, die Blitzblanken werden noch mittun können. Der Verwundete wieder streckt die Hände nach Zeitungen aus – er hat wochenlang keine gelesen.

Und die blassen Leute vom Zivil? Juden sind's in Plüschhüten und Lüsterkaftans; Frauen in schlumpigen Kleidern, mit Goldarmbändern; lockige Kinder mit runzligen Gesichtern, 16 rotgeränderten Augen – alle, alle Nomaden seit Jahr und Tag. Kleinbürger sind auf Reisen sonst gesprächig – diese hat das Leid stumm gemacht. Was sollten sie einander erzählen? Es hat jeder das gleiche durchgelitten. Sie pilgern nach der Heimatstätte und wissen doch, daß sie einen Schutthaufen finden, weinen und mutlos umkehren werden, um das Leben, wenn man es doch neu beginnen muß, wenigstens auf einem dankbarern Grunde aufzubauen.

In Oswjetschim, da sind die Ausläufer des Kohlenreviers, man sieht Bohrtürme im Nebel. In Trzebinja ragt eine Orgel von Schloten, Petroleumfässer türmen sich zu Bergen. Rauchende, erstickend fleißige Industrie. Neben ihr kommt die Landwirtschaft nur kümmerlich fort; stellenweis breitet sich eine ockergelbe Sandwüste, und darin ragen, als hätte man sie eben erst hineingesteckt, schief und wurzellos blutarme Birken und Föhren, die wie Pinien aussehen Die Zäune an den Gehöften sind zerrissen, Astern und Kapuzinerkresse entflohen der Haft und haben sich am Rain außerhalb der Gärten angesiedelt.

Je näher ich Krakau komme, desto häufiger gibt es Schützengräben. Sie mußten zum Glück nie besetzt werden, scheinen aber wie für die Ewigkeit gemacht und werden – nachlässig, wie das Volk hier ist – so bald nicht verschwinden. Ob auch ein Frühjahr, ein Sommer darüber hinging – man sieht noch heute deutlich 17 die Stellen, wo die Schanzarbeiter damals Rasenziegel ausstachen; denn auch die Natur nimmt sich hier keine rechte Mühe, die Wunden des Krieges zu verbinden.

In Krzeschowitze ist ein riesenhafter Steinbruch des Grafen Potocki. Der rotlila Porphyr geht in langen Eisenbahnzügen nach dem Osten, um dort die Straßen zu pflastern. Beton und Stein – dem Krieg sind sie so nötig wie Brot, Fleisch und Schießpulver.

Dann ist Krakau da. Der Kosciuszkohügel, ein andrer Turm von Babel. Die prächtige, gotische, barocke Stadt. Ich weiß, sie ist ausschließlich und seit jeher polnisch – und doch empfinde ich sie immer als deutsch. Wer da innig erfahren will, wie grundverschieden das polnische vom östlichen Wesen ist, wie nah verwandt es ist dem deutschen Westen, der muß Krakau aufsuchen und erleben, die verwitterten Wunder der kostbaren, köstlichen, königlichen Stadt.

In Krakau auf dem Bahnhof sah ich einige Dinge, die mich wie Vorboten des Friedens grüßten: es rollte ein Train an mir vorbei, nach dem Kriegsschauplatz zu, der kunterbunt durcheinander Geschütze und Säemaschinen trug, ganze Batterien von Säemaschinen. Und noch etwas: es stehen Wagen da, in denen sich die Familien flüchtiger Eisenbahner aus Ostgalizien angesiedelt haben; die Wagen sind von grellrot blühenden Bohnen über- und überwuchert, Bohnen, die im 18 Stockgleis wachsen . . ., die da in den Bahndamm gepflanzt worden sind, weil man wußte, daß der Wagen unbewegt den Sommer hindurch stehen bleiben wird . . .

In Krakau stieg ein junger Kaplan zu mir ins Abteil und fuhr mit bis Dembitza. Ich fragte ihn gleich um das Schicksal seiner Amtsbrüder in Tarnow – jener drei, die der Russe mit sich geschleppt hat. Pater Mroz von Kolbuschowa soll in Astrachan interniert sein, mit ihm der Hilfspriester Urbanski. Professor Rec, von dem es hieß, er sei erschossen worden, hat sich nie wieder gemeldet.

Der Kaplan hat die Russenzeit in Dembitza miterlebt und weiß davon hunderterlei Erschütterndes und Erheiterndes zu erzählen: von kindischen Kosaken, die in Damenhüten, mit Sonnenschirmen spazierten; von einem Kommandanten, der den Viertelschlag der Turmuhr für ein Signal an die Oesterreicher hielt – in seiner Heimat schlagen keine Uhren. Der Regimentspope verkaufte die Möbel, zuletzt sogar die Fenster seines Quartiers. Ein Tscherkesse schoß nach einer Frau und deren kleinem Kind, als sie ihm nicht zu willen war, und verletzte beide schwer; dem Kindchen mußte der Arm abgenommen werden.

Eines Tages rief der Arzt der Kosaken – jawohl, der Arzt – einen Faktor zu sich und bot ihm »ersparten« Hafer zum Kauf an. Der Faktor 19 hatte keine Lust, das kleine und doch so gefährliche Geschäft zu machen – wieviel Hafer konnte ein Arzt wohl zu vergeben haben? Es war aber eine ziemlich große Menge – 6000 Pud, fast 100 000 Kilogramm.

Einmal wieder kam ein donischer Reiter auf die Pfarre und sah sich prüfend darin um.

Dem Kaplan schwante nichts Gutes. »Was suchst du hier?« fragte er mißtrauisch.

»Herr Pfarrer, ich komme, dein Eigentum bewachen (warowatj).«

»Ich glaube, eher stehlen (zwarowatj). Scheust du nicht die heiligen Bilder?«

»Herr,« rief der Kosak, »ich bin ein frommer Christ – und wenn ich dir alles stehlen sollte – die Heiligenbilder rühre ich nicht an.« Er trottete aber dann gutwillig von dannen.

Als der Kaplan ausgestiegen war, in Dembitza, da war ein Unwetter erstanden, der Sturm blies den Eisenbahnzug vor sich her und jagte ihn mit der Peitsche seiner Blitze. Der Regen spülte des Abteils Fenster.

Das dauerte bis Rzeschow. (Rzeschow heißt die Stadt auf deutsch; wie mag sie sich erst polnisch nennen?) Dort führte mich in schwarzer, gießender Nacht eine Ordonnanz des Etappenstationskommandos durch Mäanderwindungen stockfinstrer Straßen in mein Nachtquartier, das Hotel Cracovic.

20 Wozu gibt es Teppiche, die zerrissen sind, Lampen, die nicht brennen, Klingeln, die nicht schellen?

Morgen um fünf Uhr wird mein Zug weitergehen.

 

– 20. August 1915.

Ich war mit Diener und Gepäck um fünf Uhr morgens zur Weiterfahrt nach Osten angetreten, doch mein Zug lief mir vor der Nase davon – mit einer Pünktlichkeit, auf die niemand, nicht einmal die Bahnbeamten gefaßt gewesen waren; mit einer fast betriebsstörenden Pünktlichkeit. Alles noch die Nachwirkung eines Hofzugs, der gestern Abend die Strecke durchflogen haben soll – ich weiß nicht, in welcher Richtung.

In Verlegenheit kann man durch Versäumen eines Zugs im Kriegsgebiet nicht kommen, wenn man mit dem militärischen Offenen Befehl reist: man wartet einfach auf den nächsten Mannschafts- oder Güterzug, der unfehlbar binnen einer halben Stunde gehen wird. Inzwischen sollte ich, riet der Bahnhofskommandant, auf der Verköstigungsstation frühstücken.

Die Bahnhöfe in Mittelgalizien sind allesamt zerschossen und verbrannt – man amtiert, wohnt, kocht, ißt in Bretterbuden. Ich saß mit drei deutschen Offizieren am Tisch, die aus den Gegenden von Brest-Litowsk, Cholm, Wladimir-Wolynskij gekommen waren und zu irgendwelchen Zwecken 21 nach dem Westen und Norden sollten, jeder mit einer andern Bestimmung. Alle aber hatten eben mit den Russen gekämpft und waren über unsre Aussichten im Osten einer Meinung: daß die Russen sich in diesem Krieg nicht mehr erholen werden; auch dann nicht, wenn sie aus dieser oder jener Richtung Munition, Kanonen, Männer bekommen sollten; auch dann nicht, wenn der Krieg noch Jahre dauern wird.

Denn das Rückgrat des russischen Heeres ist gebrochen, es fehlt der rücksichtslos tapfere, der vorzügliche russische aktive Offizier und ist nicht zu ersetzen. Die deutschen Herren hatten im stehenden Gefecht, Graben gegen Graben, mit freiem Auge bezeichnende Auftritte mitangesehen. Da war einmal drüben eine Schützenkette der Moskalen lässig und feig gewesen; ein Leutnant erschien mit der Nagajka, ging – im Gewehrfeuer der Deutschen – aufrecht die Schwarmlinie durch und knutete Mann für Mann; man sah Mann für Mann sich ducken und hörte sie winseln; solang der Leutnant bei ihnen blieb, rauften sie wie Berserker; kaum war er gefallen, ergab sich die ganze Schar.

Von Rzeschow fuhr ich eine Strecke weit mit einer bunten österreichischen Gesellschaft – einem Ulanenobersten, einem Flieger, drei Feldpost- und Verpflegsbeamten. Der Flieger wußte mir zu meiner heißen Freude zu berichten, daß sich einer seiner bewährtesten Kameraden aus der 22 Gefangenschaft befreit hat; einer, auf dessen Rückkehr jeder, der den entschlossenen Mann kannte, bestimmt gerechnet hatte. Der Gefangene war ins tiefste Rußland gebracht worden, in eine Stadt, die ihm von einer Friedenssendung her bekannt war. Dort bewog er eine Krankenschwester, ihm ihr Kleid und ihre Pässe abzutreten. Als Schwester vermummt, hat er sich durchgeschlichen und dieser Tage bei seinem k. u. k. Kommando vorgestellt.

Wenig Städte sind in diesem Krieg so hart mitgenommen worden wie Jaroslau. Ein kurzer Abriß der Ortsgeschichte, soweit sie mir gegenwärtig ist:

Die Sanstellung vor Jaroslau ist schon während des Krimkriegs befestigt worden, wenn ich nicht irre. Gewiß ist, daß man eine Zeitlang schwankte, ob man Przemysl oder Jaroslau ausbauen sollte, bis man sich endlich für Przemysl entschied und Jaroslau zum Außenwerk der Hauptfestung herabsinken ließ. In den ersten Wochen dieses Krieges verstärkte man die Stellung dort und wollte sie zwei Tage halten. Kommandant FML. v. Benigni. Die Russen (es handelt sich hier um die erste Berennung von Przemysl, etwa den 20. September 1914) rechneten mit der Räumung nach zwei Tagen und gingen den Feldmarschalleutnant gar nicht an. Was den Kommandanten wieder bewog, den Brückenkopf einfach nicht zu verlassen. Damals geschah es, daß ein russischer Gendarmerieoberst, ohne um die 23 Programmänderung zu wissen, im Auto nach Jaroslau einfuhr; er sollte da die Polizeigewalt übernehmen, fand aber die Oesterreicher und Ungarn im Ort und geriet in unsre Hände – samt all den Kisten schöner Damenwäsche, die der Herr Oberst unterwegs in Galizien gesammelt hatte. In den Kisten des Gendarmen tickte etwas. Man dachte an eine Höllenmaschine. I wo! Es waren gestohlene Uhren.

Die Russen mußten sich endlich wohl oder übel zu einer Entwicklung ihrer Kräfte bequemen, und FML. v. Benigni zog sich nach Erfüllung seiner Aufgabe, nach Sprengung der Werke, Brücken und Vorräte zurück. Der Feind rückte ein.

Für ganze drei Wochen; denn um den 10. Oktober wurde Jaroslau von uns genommen und bis Anfang November – während der Schlacht am San – gehalten. Die Stadt hatte also schon bis dahin zweimal russisches, einmal unser Feuer empfangen. Diesmal hielt der Granatenregen des Feindes fast einen Monat an. Ich habe Jaroslau eines Nachts während dieser Beschießung auf einer verdunkelten Lokomotive besucht und das bewegte Schauspiel des Bombardements mitangesehen.

Jaroslau blieb nach Abbruch der Schlacht am San russisch bis Mitte Mai. Da eroberten es die Verbündeten in hartem Kampf. Unsre Korps v. Arz, Kralicek, Roth, Kritek pflückten 24 Lorbeeren am untern San. Die Armee Mackensen trieb hier ihren Angriffskeil vor, um Przemysl von Norden zu umfassen. Es blieb kein Stein auf dem andern in jenen Bezirken.

Dennoch – so viel ich vom Zug aus sehen kann – Jaroslau ist aus all den Fährnissen glimpflich weggekommen. Von der schönen großen Kirche in Jesuitenbarock fehlt die nördliche Turmspitze, vom südlichen Turm das Dach. Jede Mauer, ja, selbst die Telegraphenstangen tragen Kugelnarben – doch die menschliche Natur und Menschenwerk sind zäh: die Mauern wie die Telegraphenstangen stehen. Der Friedhof hat sich ins Ungemessene vergrößert; mitten unter einer Bataillonsmasse neuer Kreuze sehe ich einen Propeller ragen: da ruht ein Flieger in ewigem Schlaf. Auch auf diesen Friedhof wieder schlugen Granaten, deren Trichter nun voll Wasser stehen. Tod auf Tod.

Auf dem Bahnhof von Jaroslau mußte ich mich entscheiden, ob ich über Przemysl und Lemberg weiterwollte oder über Rawa-Ruska. Meine Papiere wiesen mich nach Lemberg; ich wählte aber den andern Weg und tat sehr gut daran, wie sich später zeigte. Ich hätte das Kommando, zu dem ich sollte, das Wiener Korps v. Kirchbach, auf der südlichen Route schwerlich eingeholt.

Wiederum konnte ich mich einem deutschen Zug anschließen. Aeltester: ein Feldwebelleutnant. Er hielt eben Löhnungsappell ab – um 25 einen Tag zu früh. »Aber östlich von hier kriegen die Leute wohl nichts zu kaufen,« sagte er, »dann haben sie keinen Nutzen mehr von ihrem Geld.« Das ließ sich die Mannschaft denn auch zu Herzen gehen und brachte je 5 Mark 30 Pfennig, die Löhnung für zehn Tage, womöglich noch an Ort und Stelle an. Die Judenkinder standen mit Schokolade, rohen Eiern, Zigaretten, Zündhölzern bereit. Die Preise wurden gleich in der Markwährung gefordert und bezahlt, die Eier auf der Lokomotive gesotten. Die Mannschaft kriegte auch einen regelrechten Imbiß: schönes Brot, Wurst, norwegische Sprotten, Eidamerkäse. Ein russischer Gefangener stand stumm wartend mit runden, unverwandten Augen dabei und verfolgte jeden Bissen mit den Blicken. Nicht anders als ein bettelnder Hund. Kaum hatten die Deutschen sich erhoben, da stürzte sich der Gefangene auf die Käserinden, raffte sie armvoll zusammen und lief damit fort. In einem versteckten Winkelchen fraß er die Beute – genau wie Hunde tun – und maß knurrend einen Deutschen, der ihm nachgegangen war und ihn doch nur störte, um ihn zu beschenken.

Diese Russen sind nicht sattzukriegen. Und wenn sie unsre volle Soldatenration erhalten, Brotzubuße, am Abend noch einen Mehlbrei darüber – sie hungern. Die russischen Erntearbeiter zerreiben das rohe Korn auf den Feldern und verschlingen es. Man könnte Rudel von ihnen, 26 Heere, Hunderttausende nach Galizien bringen, damit sie das zerstörte Land wieder aufbauen helfen; aber wer kann sie verpflegen?

Der Feldwebelleutnant (mit dem ich nun ein paar Stunden fuhr) teilte sein Wagengelaß mit einem Sergeant, der im bürgerlichen Leben bei der Halleschen Pfännerschaft angestellt ist – jenen Halloren, die alljährlich beim König von Preußen vorsprechen, um ihm seinen Tribut zu überreichen; ähnlich wie die Juden von Preßburg unserm Kaiser zu Martini eine Gans bringen. Der Sergeant hat daheim sein gutes Auskommen, ist beinah sechzig, also längst nicht mehr dienstpflichtig, hat sich aber trotzdem seinem alten Regiment, einem norddeutschen Truppenkörper, freiwillig angeschlossen.

»Meine vier Söhne sind im Feld,« erklärt er, »und ich will nicht, daß sie einmal nach dem Kriege sich über den alten Vater erheben, mich uzen und mir ein X für ein U vormachen. Da habe ich mich sofort bei Kriegsausbruch gemeldet, bin aber erst jetzt eingestellt worden. Wenn nu die Bengels einmal heimkommen und wollen mir was flunkern, denn sage ich ihnen einfach: »Nee, nee, Kinder! So is es nich. Euer Vater war ooch im Kriege, er weiß ganz gut, wie es da zugeht.«

Er schmunzelt und lacht – und nun erkenne ich plötzlich, warum der Alte mir schon beim ersten Anblick so vertraut erschien: er ist das lebendige Ebenbild meines armen ehemaligen 27 Batteriekameraden, des Obersten Konstantin Dubail, der jüngst gefallen ist. Bei Stropko in den Karpaten, Mitte Februar, habe ich ihn noch – just in einem Gefecht – gesehen und nach so viel Jahren der Entfremdung freudevoll begrüßt. Mit dem gleichen verschmitzten Lachen, wie es der Hallore eben vorhin hatte, erzählte mir der Oberst damals, daß sein ältester Bruder, der französische Armeekommandant General Dubail, bei Soissons geschlagen worden wäre. Und freute sich mächtig, der arme Oberst Konstantin. . . . Ein erzkluger, grundgütiger Mensch, vorzüglicher Artillerist; die Verlustliste Nr. 226 bringt mir nun die Nachricht von seinem Heldentode.

Die Gegend um Jaroslau sieht aus, als wären Erde, Himmel und Bäume von jeher nur des Krieges wegen dagewesen: der Damm, um von Infanteristen als Deckung angeschnitten zu werden, die Pappeln, um in ihren Wipfeln Maschingewehre zu tragen, der San als Hindernis. Die Deutschen haben eine Brücke über den Fluß gebreitet und sie nach Kaiser Wilhelm benannt. Der Feldwebelleutnant wird nicht müde, seine Mannschaft an die Fenster zu rufen, um alles, was es irgend zu sehen gibt, zur Belehrung auszunutzen.

»Wir fahren jetzt die Nordfront von Pertzemiesel lang,« beginnt es. Mit ihren Feinden und dem galizischen Gelände werden unsre Verbündeten unschwer fertig; die polnischen Namen sind 28 für ihre Zungen Stolperdrähte. Der Feldwebel zeigt den Unteroffizieren fachmännisch Schützengräben da draußen, die richtig, und andre, die falsch angelegt sind. Er hat unzählige Merkmale zu nennen der feinsten Unterscheidung für gute und schlechte Gräben. »Leute, buddelt euch bloß nich am Waldrand in! Lieber rin oder hundert, hundertfunfzig Meter vor! Der Feind greift sonst auf der Karte die Entfernung, klabastert dir 'n janzen Wald ab und haut mit Jranaten rin.« Zwischendurch während der Fahrt büffelt der Feldwebelleutnant fleißig russische Vokabeln aus einem Handbuch.

Wenn man die Deutschen, die Oesterreicher, die Ungarn im Krieg sieht – die schlanken Reckengestalten unsrer Offiziere oder dieses Muster von einem Feldwebel oder den Halloren im weißen Haar – man fragt sich betroffen, wo denn die lächerliche kleine Menschheit des Friedens geblieben wäre? Der Pfahlbürger, der seinen Schoppen haben mußte, der Schulfuchs, der dummstolze Assessor, der politisierende Sattlermeister? Ja, es ist eine große Zeit! Schauspieler sind zu Roß gestiegen und streiten wie die Ritter, Schriftleiter stehen als Horchposten in finstrer Nacht, der Briefträger liegt als letzter Bedienungsmann sterbend über der zerschossenen Lafette. Die Klempner, die Studenten, Bauern, Bergknappen da im Zug singen die »Wacht am Rhein« mit einer Wärme, als sängen sie das Lied zum 29 erstenmal; und weil's doch zum Kampf nach Osten geht, haben sie den Wortlaut ein wenig umgedichtet:

So lang ein Tropfen Blut noch fließt,
Wird jeder Russe aufgefpießt . . .

Unbesiegte, unbewegliche Völker.

Und überall heilige Gräber in dem unheiligen Land, Gräber, die herrliche Menschen bergen, Erinnerungsstätten, die man vergessen wird. Auch für mich steckt dies Mittelgalizien voll von Erinnerungen. Mir ist, als hätte ich ein Leben hier verbracht. Ein Feldzugsjahr schließlich – es zählt doppelt für die Dienstzeit, hundertfach für die Erinnerung.

Da sind russische Hügel mit schiefen Doppelkreuzen, deutsche mit Helmen, liebevoll gepflanzte Birkenpfähle mit magyarischen Aufschrifttafeln. Schon beginnt der Pflug des Landmanns über die Male wegzuackern.

In Horynjetz sah ich eine besonders schön gezierte Stätte. »Hier ruht in Gott Musketier Lorenz des bayerischen Infanterieregiments Nr. 22.« Ein Achselstück der Uniform war an das Kreuzchen genagelt, ein weißblaues Fähnchen steckte dabei, eine rotweißgrüne Schleife mit einer Marienmünze und Dutzende von Feldpostkarten mit Grüßen von Kameraden, die vorbeimarschiert waren. Rund um das Grab ein grünumsponnener Zaun, der Hügel mit Pelargonien bepflanzt, Singrün und Agaven.

30 »Er ist hier zu uns eingetreten,« sprach ungefragt ein blondes Mädelchen mit Mandelaugen und wies auf die nächste Hütte. »War schwer verwundet durch ein Schrapnell von einem Patrouillengang gekommen.« Patrouillengang – Schrapnell, das sind den Kindern hier geläufige Begriffe. »Er hat noch einen Brief an seine Frau geschrieben, daß er sterben wird, hat ihr Bild geküßt – dann haben wir ihn begraben.« Gräßlich – diese frühe Bekanntschaft der Kinder mit dem Tod. – Du, bayerischer Musketier, schlummerst wenigstens unter Agaven; wie viele deiner Brüder modern in den Sümpfen!

An dem Hügel selbst noch traf ich einen Chevauleger-Oberleutnant aus München und setzte mit ihm die Reise fort. Der Eindruck von Horynjetz ließ uns nicht los, wir sprachen weiter von Gräbern. Ich nannte die Sitte so schön, das Kreuzchen mit dem Helm des Gefallenen zu zieren; man hat den Brauch leider abstellen müssen . . . aus Sparsamkeit . . . Da erzählte mir der Chevauleger-Offizier eine Geschichte, die er selbst in Ostgalizien erlebt hat:

Die vordringenden Truppen fanden dort ein von den Russen sorgsam angelegtes Grab. Der Inschrift nach mußte ein deutscher Kommandeur da liegen. Die Sache stimmte aber nicht: das Regiment hatte seinen Führer nicht verloren, einen Obersten dieses Namens nie gehabt. Man stritt, sah in den Listen nach, man depeschierte 31 – und endlich öffnete man das Grab. Stieß wirklich auf eine Leiche und wollte schon die Grube wieder schließen. Nur weil die Bekleidung der Leiche gar so mangelhaft war, rührte sich das Mißtrauen nochmals, und man forschte weiter. Fand ein ganzes Lager von Gewehrmunition, das die Russen auf den elenden Straßen wohl nicht mehr hatten fortschleppen können und auf diese Art vor uns zu verbergen suchten . . .

Lubatschow südlich der Bahn scheint erhalten geblieben zu sein; vom nördlichen Stadtteil stehen nur einige Schornsteine. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie so viele Obdachlose durch den nächsten Winter kommen werden. Sie beginnen, sich Flugdächer und Erdhütten zu bauen; man kann einstweilen von der Straße aus in die Zimmer sehen, wie die Leute darinnen ihre Bilder aufgehängt, die Betten hingestellt haben und auf Ziegelherden kochen.

Eine Strecke weiter hat ein Waldbrand gewütet. Kiefern mit verkohltem Fuß und braungerösteten Nadeln stehen da und – treiben neue Spitzen. Dort irgendwo war's auch, wo ich einen ganzen Haufen russischer Blindgänger und Handgranaten in einer Umzäunung sah. Eine Tafel warnte die allzu Neugierigen, überdies wachte ein Landstürmer als Posten dabei.

Dann waren wir in Rawa Ruska. Zum Glück lud mich Prinz Windisch-Graetz, Vorstand des ungarischen Roten Kreuzes, in einen 32 Schlafwagen. Anders hätte ich eine Unterkunft für die folgende Nacht in dem choleravergifteten Städtchen kaum gefunden.

 

– 22. August 1915.

Das Kriegspressequartier hat unlängst in einer amtlichen Darstellung geschildert, welche Mühe sich die Armee gab, die Cholera unter den Dorfleuten Ostgaliziens einzudämmen; von tausend Ortschaften um Lemberg waren (sagt jener Bericht) fünfhundert verseucht.

In einer solchen Brutstätte, einer der letzten, die es noch gibt, bin ich nun gewesen. Ich darf derlei ohne Gefahr tun: wie jedermann im Gefüge oder Gefolge der Feldarmee bin ich erst jüngst durch eine Impfung gehürnt worden, seit dem vorigen Sommer zum fünftenmal; und die Impfung hat sich als wirksam millionenfach erwiesen.

Oberstabsarzt Pawletschka hatte mich eingeladen, ihn zu begleiten. Wir stapften auf ein ruthenisches Dorf zu – durch einen Brei, den zu bezeichnen die deutsche Sprache nicht dickflüssiger Ausdrücke genug hat. Eine Suppe, nein, eine rutschige schwarze Butter von Erde – Erde, die keinen Halt hat nach der Tiefe und Breite zu. Ich will versuchen, dem Problem der Geländebeschreibung durch zwei Zahlenangaben geographisch-mathematisch beizukommen:

Die Spezialkarte der Gegend am obern Bug 33 zeigt Höhen von 195, 190 Meter. Will bedeuten, daß der Fluß von hier bis zu seiner Mündung in die Weichsel und die Weichsel wieder von Nowo-Georgjewsk bis Danzig mit allen Windungen und Verästelungen insgesamt nur ein Gefälle von 190 Meter haben. Dabei ist die Stromlänge unabschätzbar; sie beträgt, auf der Landkarte im gröbsten abgegriffen – mit einer Zirkelweite von 30 Kilometern, die also die kleinern Flußbogen gar nicht berücksichtigt – etwa 1000 Kilometer. Noch nicht eine Spanne Fall auf das Kilometer Flußlauf! Man kann sich denken, wie hier der Abfluß stockt.

Und die andre Zahl: der Herr Oberstabsarzt hat 110 Schritt des Dorfweges vom ärgsten Kot räumen lassen; die Arbeiter brachten 286 Fuhren weg.

Der Herr Oberstabsarzt tritt in die erste Hütte. Eine riegelsame, breithüftige Witwe herrscht hier über eine Kinderschar.

Wo es hier Cholerafälle gebe, fragt der Arzt auf Armeeslawisch, einem Gemisch aller tschechisch-kroatisch-polnischen Zungen und Mundarten Oesterreich-Ungarns.

Die Witwe laut und kurz: »Bei mir ist keine Cholera. Ich bin überhaupt nicht von hier, ich bin aus dem dritten Dorf. Aber mir haben die verfluchten Moskalen alles gestohlen, verwüstet und verbrannt. »Denjgi! Denjgi! Geld her!« gröhlen die Kosaken und schwingen die Geißel. Da 34 bin ich mit meinen Kindern losgezogen, hab' dieses Schloß« – sie deutet mit einer weitausholenden Gebärde rundum – »hab' dieses Schloß leergefunden und – j'y suis, j'y reste.« Sie drückt sich anders aus, aber sie meint dasselbe. »Die Kartoffeln aus dem Garten werde ich doch für mich nehmen dürfen?« setzt sie mit ein wenig sinkender Stimme und Entschiedenheit hinzu. »Das Vieh von einem Besitzer ist nämlich mit den Moskalen abgezogen.«

»Wo sind die Cholerakranken?« fragt der Oberstabsarzt.

»Nebenan.«

Die Stube war unratvoll, stickig, menschenleer. Die Fliegen summten darin wie ein zorniger Bienenschwarm. Auf einem Anger hinter dem Zaun krümmte sich die Kranke – aschfahl, mit sterbenden, bleigrauen Augen. Schmutz um sie und darin drei Kinder, die vor Hunger piepsten. Sie stöhnte stockheiser:

»Die eine Tochter ist mir mittags gestorben, die andre abends. Das sind ihre Kleinen. Wie kann ich sie verlassen? Wer wird sie nähren?«

Eine Krankenschwester hat sie genährt, die der Oberstabsarzt mit Mehl und Reis hinschickte.

In dem Choleradorf wollte ich nicht bleiben – das ist klar, überdies mußte ich weiter, wenn ich auch hätte bleiben wollen, denn der Befehl meines Kommandos wies mich ja an, mich beim Wiener Korps zu melden.

35 Keine allzu einfache Sache, einen Stab zu finden, der in Bewegung ist. Er konnte in A, in B, in E sein oder irgendwo dazwischen. Die Meinungen darüber bei allen, die ich befragte, waren geteilt, die Auskünfte verschieden. Gewißheit konnte ich wieder nur bei einem Stab bekommen, der in irgendeinem unmittelbaren dienstlichen Verhältnis zu meinem Bestimmungsstab steht. Eins war sicher: ich mußte nach Osten; und dazu ging ich auf die Eisenbahn.

Das Eisenbahnnetz hier ist auch auf den neuesten Karten nicht zutreffend dargestellt. Die Russen haben mancherlei zerstört und einiges auch wieder hinzugebaut: Umgehungsstrecken zum Beispiel, als Przemysl von ihnen belagert war und ihre Armeen in den Karpaten standen; die Russen legten angeblich auch eine neue Bahn von Kamjonka-Strumilowa nach Krystynopol, eine andre von Sokal nach Wladimir-Wolynskij, eine dritte von Rawa Ruska über Cholm zum Anschluß nach Lublin. Von der Hauptstrecke Lemberg-Przemysl sollen sie ein Gleis auf ihre Spurweite umgenagelt, viele Bahnhöfe vergrößert haben. Ich weiß das alles nicht genau, bin der Sache auch wenig nachgegangen, denn sie ist für mich bedeutungslos: die neugezogenen russischen Trassen sind abwaschbar; hungernde Gefangene haben die Schienen so leicht hingelegt, daß der erste Regen sie verschwemmte; die verbreiterten Schienenstränge sind von uns sicherlich längst 36 zurückgenagelt worden; und alles von den Nachhuten des Feindes Verdorbene haben wir, so gut es sich in der Eile machen ließ, wiederhergestellt. Genug, daß es Bahnen gibt, auf denen man Truppen und Verpflegsgut befördern kann – wenn auch langsam, weil die behelfsmäßigen Pumpen und Kunstbauten die Verwendung leichter Lokomotiven empfehlen.

Mit solch einem trägen Zug setzte ich meine Reise fort – in einem Wagen dritter Klasse, der durch eine Aufschrifttafel zu einem Wagen zweiter Klasse ernannt worden war. Gepolsterte Bänke gibt es im Kriegsgebiet aus hygienischen Gründen im allgemeinen nicht. Ich setzte die Reise fort, bis der Zug an einer unwirtlichen Haltestelle, sozusagen auf freiem Feld, einfach einschlief. Es war spät nachmittag. Ich merkte nicht gleich, daß wir nicht vorwärts konnten – ich wurde erst stutzig, als der Abend sank und wir noch immer standen.

»Was tun?«

»Nichts,« sagte der Hauptmann, der mit mir fuhr. »Der Krieg wird noch lange dauern – wir können warten. Dieses Abteil dritter Klasse ist auf Meilen im Kreis die weitaus bequemste und gesündeste Unterkunft.«

Ich empfand die Weisheit des Wartens, und wir machten's uns gemütlich. Konservenschlüssel legten Fische in Oel bloß, Pasten und Fleischbrocken Auch Mineralwasser hatten wir, 37 Wein und Zwieback. Der Hauptmann kam ins Erzählen. Geschichten aus der Front. Unter anderm, wie sie unlängst dort im Schützengraben den Geburtstag des obersten Kriegsherrn gefeiert haben: mit Tee, einem Hurra und vierundzwanzig Granaten auf den Gegner. Die Russen wußten voraus um das Fest, wollten die Fröhlichkeit stören und steckten vorbereitete Tafeln aus: »Isonzo geräumt – Franzosen in Köln.« Brüllendes Gelächter der Mannschaft war die Antwort.

Der Hauptmann offenbarte sich als Unterhaltungstalent ersten Ranges, als ein so beweglicher Geist, wie sie unter allen mir bekannten Armeen nur unsre hat – aber . . . der Zug rührte sich nicht vom Fleck. Noch mehr: plötzlich erschien ein Beamter und forderte uns auf, auszusteigen.

»Was, der Zug geht nicht weiter?« rief ich.

»Doch. Aber erst nach Friedensschluß,« antwortete der Beamte. »Einstweilen schießen die Russen noch, und wir sind knapp an der Grenze des Feuerbereichs. Die leeren Wagen laufen zurück.«

Nun gab es zwei Möglichkeiten; die erste – einfach in diesen selben Wagen mit zurückzufahren – war die bare Unmöglichkeit für mich, denn ich sollte ja grade vorwärts. Und der zweite Weg? Führt ins Ungewisse, in den dunkeln Abend.

Der Hauptmann, ich und unsre Diener schritten in den Abend aus. Die Diener schleppten 38 die Schlafsäcke und Handtaschen, wir Herren die Koffer.

»Wohin nun, Herr Hauptmann?«

»Auf das nächste trockene Plätzchen.«

Es war ein Schwellenstapel. Ganz trocken war er nicht. Dort legten wir zunächst mal das Gepäck hin und setzten uns darauf.

Als wir eine Weile die Daumen gedreht hatten, blickte ich ins Gelände aus, das nichts, nichts zeigte, als die Erde und den Himmel; der Himmel war dunstverschleiert, ohne Sonne, Mond und Sterne, nur blaulila Dämmerung; und die kahle Landschaft schien sich in dem blinden Spiegel des Himmels abzubilden. Ich sah zum Hauptmann auf und mußte lachen vor Hilflosigkeit.

»Lieber Herr,« antwortete der Hauptmann (denn mein Lachen war eine Frage gewesen), »kennen Sie die Geschichte vom Dulder Ibrahim? Ibrahim hatte in der Moschee predigen hören: der Mensch solle sich nicht das Herz schwer machen, sich um nichts kümmern – Allah sorge für alle Geschöpfe. Ibrahim beschloß, die Probe auf das Exempel zu machen, ging in den Wald, legte sich in eine Höhle und blieb da ganz hinten im Winkel liegen sieben Tage. Fast war er schon erfroren und verhungert. Da kamen plötzlich Räuber, zündeten ein Feuer an und brieten einen Schöps; zerteilten ihn und aßen. Ibrahim hätte sich gern gemeldet – aber soll nicht Allah für ihn 39 sorgen? Er blieb ruhig liegen, bis ihn die Räuber von selbst entdeckten. Sie hießen ihn aufstehen – er tat es nicht. »Er wird zu schwach sein,« sagten sich die Räuber – und zerrten ihn ans Feuer. Sie boten ihm ein Stück Fleisch an – er öffnete nicht den Mund; der Herr im Himmel soll ja für ihn sorgen. Als Ibrahim nun immer noch nicht zubiß, wurden die Räuber ärgerlich, brachen ihm mit dem Jatagan die Zähne auf und stopften, ja, stopften ihm das Essen in den Mund. – Allah sorgt für alle seine Geschöpfe; er wird auch uns zwei unterbringen.«

Der Hauptmann hatte es noch nicht gesagt, da hieß es: »Halt – wer da?« Eine Patrouille, sogar Offizierspatrouille. Sie ging die Strecke ab, um nachzusehen, ob der Panzerzug da rollen könne.

»Wenn die Herren einen Augenblick warten,« sprach der Leutnant, »können sie gleich mitfahren, bei uns zu Abend essen und prächtig schlafen.«

Der Hauptmann hob den Kopf und nickte Allah anerkennend zu.

* * *

Ich verdanke dem Gleichmut meines Begleiters mancherlei: die Bekanntschaft der schneidigen Offiziere des Panzerzugs – Männer, die mir Erlebnis bleiben werden; den Anblick eines wunderschönen Nachtgefechtes; endlich eine 40 Schlafgelegenheit, wie man sich sie feiner gar nicht wünschen konnte.

Wir hatten im Wohnabteil des Panzerzugs gegessen und geschwatzt, hatten Aschenbecher bewundert, die ein geschickter Schlosser aus Schrapnellverkappungen, und Armbänder, die er aus Führungsringen verfertigt hatte, sagten einander Gutenacht und wollten uns eben hinlegen, da ging draußen in der Ferne ein Gewehrgeknatter los.

»Die russische Infanterie greift an.«

Hui, waren wir aufgesprungen. »Vorwärts!« kommandierte der blutjunge, lebhafte Leutnant. »Vorwärts! Ich führe. Es ist nur eine Stunde weit.«

Es wurden zwei Stunden und eine darüber, wie ich gleich bemerken möchte, und das Springen, Rutschen und Glitschen in der Nacht war nicht angenehm; aber der Lohn vergalt uns fürstlich unsre Mühe.

Wenn wir nah genug zu sein glaubten und stehen blieben – der Leutnant war's, der uns immer fortdrängte. Er bettelte förmlich darum: »Nur noch dreihundert Meter! Nur noch eine Minute! Nur noch ein paar Schritte!« – bis wir 1400 Meter von den russischen Schwarmlinien angelangt waren. Das haben wir später bei Licht auf der Spezialkarte genau nachgemessen.

Das Schauspiel war einzig. Da wir so weit vorn standen, hatten wir den Feind überall längs des Horizonts, soweit er sich vor uns dehnte.

41 Und der Horizont flimmerte, flackerte und flammte von Flitter und Fünkchen – dem Mündungsfeuer der Gewehre. Es trommelte und sprühte und zischte. Ein Paukenschlag, ein großer Schein – das war eine Kanone. Ratatamratatam – Maschinen. Und Leuchtkugeln aus Pistolen: die russischen kamen hellgrünlich in hohem Wurf, strahlten das Land an, formten sich zu tropfenden Sonnen und starben; unsre schossen rosalohend entgegen in glühender Kometenbahn und fielen als doppeldreifache Brände hin. Bei jedem Leuchtschuß stand, aus dem Boden gewachsen, der tiefschwarze Schattenriß eines Hauses vor uns im hellen Himmel, des Hauses, das uns Deckung bot und später ermöglicht hat, unsern Beobachtungsstand auf der Karte aufzufinden. Bei jedem Leuchtschuß verstärkte sich auch das Wirbeln und Knattern.

Bis das alles gegen Mitternacht abflaute, ohne daß der Feuerüberfall zu einem Sturm gediehen wäre; der heisere Schrei tausendstimmiger kriegerischer Brunst blieb aus; ein Zeichen, daß beide Parteien in ihren Stellungen verblieben sind.

Schade. Die russischen Gräben überhöhen die unsern an dieser Stelle um einiges, bieten dem Feind also einen kleinen Vorteil. Ein Rückzug der Russen in der Stunde meiner Ankunft an der Front – es wäre mir ein frohes Vorzeichen gewesen. 42

 

Zwei Tage später, 24. August 1915.

Der arme, schneidige, blutjunge Leutnant vom Panzerzug, Soldat mit Leib und Seele, frisch und ritterlich – er ist gestern abend, höre ich, wieder an das schwarze Haus geschlichen. Eine schwere Granate schlug dicht bei ihm ein. Er kam mit dem Schrecken davon – das heißt, mit einem Nervenschock. Erst heute Mittag ist er zurückgekehrt von seinem Abenteuer – bleich, verstört, mit ruhelosen Augen. 43

 


 


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