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Die liebe Sonne machte von ihrem alten guten Rechte, über Gerechte und Ungerechte zu scheinen, heute ausgiebigen Gebrauch. So ein recht warmer Apriltag wars, auf welchen diesmal der Palmsonntag fiel, den die Schwarzhausener zur Konfirmation ihrer Söhne und Töchter bestimmt hatten. Man kam vor Hitze beinahe um, trotzdem hatte jede Konfirmandin ihr neues »Schakett« an, nach dem Sprüchwort: »Hoffart muß Zwang leiden.« Eine Ausnahme machten zwei Kinder, die Älteste der Waschfrau Engelke, die überhaupt kein »Schakett« besaß, und Kerlchen, die es ausgezogen hatte, um »natürlich« wieder etwas Besonderes vorzustellen, wie Frau Kanzleirätin Pfotenhauer leise ihrer Tochter Dingelmann in Firma Schnabel und Sohn zuraunte.
»Wie gesucht einfach die Oberstentochter heute aussah!« kritisierte die Kanzleirätin innerlich weiter. Und sie sollte doch von dem jungen Fürsten eine kostbare Brosche bekommen haben. Das Kleid war geradezu lächerlich einfach gemacht, und der Stoff war wohl auch nicht viel wert, da er nicht von Schnabel und Sohn, sondern von auswärts stammte. Das schmale, goldene Kettchen, an dem ein altmodisches Herzchen hing, sah nach »garnichts« aus, es war ein altes Erbstück, mit dem wahrhaftig nicht viel Staat gemacht werden konnte, aber Kerlchen streichelte in einer ihm selbst ganz wunderlich scheinenden weichen Regung das Schmuckstück unauffällig: Großtante Hermine hatte es einst getragen, die heute so sehr, so schmerzlich vermißt wurde.
Noch jemand ärgerte sich beinahe »schlagrührend« in der Kirche, das war Fräulein Emerenzia. Zuerst darüber, daß der junge Fürst nicht selbst zur Konfirmation von Felicitas erschienen war; der Oberst, in seiner Sorge um die Gesundheit Fürst Elimars, hatte ihn gebeten, im wärmeren Klima zu bleiben, ohne auch nur zu bedenken, welcher »Lustre« dadurch der ganzen Feier verloren ging. Zweitens war es sehr ärgerlich, daß Kerlchen es sich ausgebeten hatte, mit der Tochter der Waschfrau Engelke zusammen vor dem Altar zu knieen, weil sich sonst niemand zur Partnerin des ärmlich gekleideten Mädchens hergab, – und der Oberst hatte natürlich in seinen volksbeglückenden Ideen dem unverständigen Kinde beigestimmt. Suse Engelke sollte heute sogar Gast bei Oberstens sein, weil Krankheit im Hause der Waschfrau herrschte, die jede Feier verbot. Also Tante Emerenzia ärgerte sich, und die Kanzleirätin ärgerte sich, und die liebe Frühlingssonne ärgerte sich auch über die Mißgünstigen. Sie warf ihre Strahlen zuerst so grell in die Augen der beiden Damen, daß sie Kopfschmerzen bekamen und immerfort blinzeln mußten. – Dann wandte sie sich plötzlich ab und wob ein Strahlenkränzchen um Kerlchens Kopf, das eben mit Suse Engelke vor dem Altar niederkniete und seinen Spruch empfing: »Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«
Der Oberst atmete tief auf und griff mit der Hand rasch nach der Stelle, wo das eiserne Kreuz saß, Onkel Liskow sah ihn besorgt an, fing aber einen beruhigenden Blick auf. Und dann war die Feier vorbei, die jungen Mädchen schritten paarweise unter hallendem Orgelklang aus der Kirche, und Frau Oberst Schlieden kam es so vor, als husche ein Sonnenstrahl noch einmal liebkosend zu ihrem Kerlchen hin. Als sie den tränenumflorten Blick von ihrem Kinde abwendete, traf er ein anderes Augenpaar, das Fritz von Rumohr gehörte. Der stattliche einjährig-freiwillige Artillerist nickte ihr ernst zu; es war, als ob er verstände, was in ihr vorginge. Sie hatten ihn alle lieb, den klugen, strebsamen Menschen, der solch' eine harte Schule durchgemacht, und nun mit seinen dreiundzwanzig Jahren schon ein ganzer Mann war. Herzliche Freundschaft verband ihn mit Erich, ihrem blühenden Jungen, der heute zum Ehrentag seines Schwesterchens zum ersten Mal in Leutnantsuniform erschienen war. Fritz und Erich traten jetzt gemeinsam auf sie zu, um sie hinaus zu geleiten, denn schon erhoben sich alle von ihren Sitzen, um das Gotteshaus zu verlassen, aber Schlachter Krone versperrte ihnen den Weg, er stand breit und gewichtig vor Kerlchens Mama, schüttelte ihr die Hände und wollte so gern etwas Liebes über das Kerlchen sagen, brachte aber vor Rührung nur die übermäßig laut gesprochenen Worte hervor: »Ich hoffe, der Hammel wird gut«, womit er den Festbraten meinte, der Oberstens Tafel zieren sollte. Draußen vor der Kirchthür sahen sich alle vergeblich nach Kerlchen um, und Suse Engelke berichtete schüchtern, daß Felicitas schon nach Haufe gelaufen sei, was Fräulein Emerenzia »shocking« fand. Wirklich, Kerlchen stand bereits auf der Terrasse, schlang die Arme innig um sein zartes Mütterchen und rief: »Wein' doch nicht, mein süßes Muusch, ich bin ja nicht tot und begraben, sondern bloß konfirmiert, es thut nicht weh.« Aber Kerlchen renommierte ein bißchen, es tat doch weh. Sie hatte ganz scheu an sich heruntergesehen, als das lange schwarze Kleid ihr angezogen wurde, und hätte es gern für »einfach scheußlich« erklärt, wenn nicht ihr liebes Muusch selbst daran genäht hätte. Auch hatte es bitter weh gethan, die dreiundzwanzig Puppen wegzupacken, wozu ihr die Mama liebevoll geraten hatte; die vierundzwanzigste, – Puppe Emmy ohne Kopf – wurde auch mit trotzigem Aufschluchzen dem Massengrabe wieder entrissen und in eine kleine Extrakiste gelegt, die man nicht zunagelte, sondern in ein Eckchen schob, wo kein fremdes Auge sie entdecken, und von wo man sie doch wieder leicht hervorholen konnte. Kerlchen wäre heute sehr gern allein geblieben, hätte sich am liebsten sein altes kurzes Feld-, Wald- und Wiesenkleid angezogen, in seinem Stübchen herumgekramt und »seinen Nachlaß geordnet«. Suse Engelke war recht langweilig und benahm sich so schüchtern in dem unbekannten, feinen Hause, daß mans ihr ansah, es war ihr keine große Wohlthat mit der Einladung erwiesen worden. – Aber Kerlchens rasches Temperament hatte nun einmal A gesagt, als gestern sämtliche Konfirmandinnen sich achselzuckend von der ärmlich gekleideten »Waschsuse« abgewendet hatten, so sagte sein mitleidiges Herz heute auch B; es nahm noch vor Tisch Suse mit sich hinauf in den »Jungfernzwinger«, wie der Oberst das duftige Mädchenstübchen nannte. Dort kramte es fleißig herum, ordnete hier und da, und Suse verließ schließlich mit einer kleinen Ausstattung unter dem Arm das gastliche Haus. Der Bursche Franz aber wurde von Kerlchen gebeten, »dieses da« rasch und still auf den obersten Boden zu schaffen, und der biedere Thüringer besah sich höchst verwundert und erschrocken die Puppenkiste, auf welche mit Tinte ein mächtiges Kreuz gemalt war, und in Riesenbuchstaben stand darunter: »Im Falle meines plötzlichen Todes von meinen Erben zu erbrechen!«
Still schlich Kerlchen die Treppe hinunter, es trat nicht in den Salon ein, aus welchem Lachen und lautes Sprechen tönte, sondern ging in Vaters Zimmer, wo die Geschenke aufgebaut waren und besah sich alles noch einmal seufzend und kopfschüttelnd. Da lag die kostbare Brosche vom jungen Fürsten, aber nur wenige Zeilen waren beigefügt, nur ein kurzer, wenn auch sehr herzlicher Glückwunsch. Kerlchen zog die Stirn in tiefe Falten, – oh wenn es an die lieben Briefe von ehemals dachte: »Mein geliebtes Kerlchen! Dein treuer Li!« Und nun: »Liebe Felicitas! Ihr herzlich ergebener Freund Elimar, Fürst von so und so!«
Ja, so hatte es der Papa gewünscht vor fast einem Jahr, und seitdem schrieb der Li nur ganz kurz und äußerst selten. Es war nicht schön, groß zu werden und lange Kleider zu bekommen, man war »beinahe« nicht mehr Kerlchen. Damit aber dieses »Beinahe« wenigstens Berechtigung hatte, bohrte Kerlchen mit seinem Zeigefinger sämtliche Thüringer Kräpfel an, die Dorette zur Feier des Tages gebacken hatte, – sie lagen locker und hoch aufgetürmt auf einer Schüssel inmitten des Festtisches. Der Schluß der eingehenden Prüfung ergab, daß Dorette abwechselnd Pflaumen- und Apfelmus verwendet hatte und abwechselnd leckte auch Kerlchen seinen Musfinger ab.
Der liebe Onkel Geheimrat hatte die heißersehnte Uhr gestiftet, Onkel Liskow die Kette dazu, Erich hatte ein »Tagebuch« gekauft, da aber Kerlchen sein altes, dickes Tagebuch unermüdlich weiter führte und sehr liebte, so beschloß es, unter dem Gelächter der Umstehenden, das neue Buch für »seine zukünftige Tochter« aufzuheben. Fritz von Rumohr hatte ein sehr sinnig zusammengestelltes Herbarium angelegt, ein großes, schön gebundenes Buch, worin jede Seite den Namen einer Stadt oder eines Dorfes trug, darin Kerlchen früher einmal geweilt, und aus jedem Städtchen und Dörfchen waren Blumen und Blätter gepflückt und sauber gepreßt worden.
»Du bist sehr gut, Fritz,« hatte Kerlchen ihm gesagt und kräftig eingeschlagen in seine große, gebräunte Hand.
Tante Emerenzia hatte etwas »Fürchterliches auskalmüsert,« wie Kerlchen sich ausdrückte und ihm dies Fürchterliche mit einer Salbungsrede überreicht:
»Gott möge in dir den Sinn für Ernstes, für Notwendiges und Praktisches immer mehr wecken, dich sittlich immer vollkommener machen.«
Sie hatten alle sehr unbehaglich auf das Riesenpacket geblickt, welches Kerlchen in die abwehrenden Arme gelegt worden war und dann mit Spannung zugesehen, wie Tante Emerenzia den Bindfaden aufknotete und schließlich ein Dutzend Handtücher zum Vorschein brachte.
»Wenn du dich verheiratest, Felicitas!«
Der Oberst hatte sich stark geräuspert und Onkel Liskow mit einem leichten Erstickungsanfall gekämpft, Kerlchen aber hatte ganz vergessen zu danken und sehr erschrocken ausgerufen:
»Ach, Tante Emerenzia, das hat doch noch Zeit und ein Dutzend ist ja viel zu viel. Wenn ich mal heirate, schickt mir Muusch schon alle Mittwoch und Sonntag ein reines Handtuch!«
Na, damit hatte es natürlich wieder angeeckt und sollte gleich nach Tische Tante Emerenzia um Verzeihung bitten, was ihm gar nicht recht paßte, Kerlchen seufzte wieder tief, es wäre am liebsten garnicht zu den andern gegangen, aber sein Hunger war zu groß, und dies Faktum hatte schon am frühen Morgen Anlaß zum Ärger gegeben.
»An solch' heiligen Tagen sollte ein Mädchen niemals viel essen«, hatte Tante Emerenzia erklärt, und während Kerlchen dann Toilette machte, eine lange Geschichte von einem wirklich feinen, adligen Mädchen erzählt, das am Hochzeitstage auch nicht einen Bissen zu sich genommen hätte, »vor lauter Ergriffenheit, Vornehmheit, Scheu und Bildung.«
»Phhh,« hatte Kerlchen mit beiden Backen kauend erklärt, »ich bekomm grad vom »Ergriffensein« Hunger und auf meine Hochzeit freu ich mich überhaupt nur wegen des Futterns.«
Dieser Ausspruch wurde auch durchaus an der Mittagstafel bestätigt, Kerlchen aß »für drei«. Zum Glück war der Schwarzhausener Seelsorger, welcher der Einladung zu Tisch gefolgt war, nicht nur ein echter Pfarrer, sondern auch ein echter Mensch, der dem Kerlchen von seiner Taufe an ein warmes Interesse entgegenbrachte und mit aufrichtiger Herzensfreude wahrnahm, zu welch' frischem, natürlichem, kerngesundem Persönchen sich das Provinzmädel entwickelte.
So legte er auch heute der Konfirmandin selbst die besten und größten Stücke auf den Teller, mit dem ermunternden Zuruf: »Essen und Trinken hält Leib und Seel' zusammen.«
Das verächtliche Nasenrümpfen von Fräulein Emerenzia bemerkte er nicht, oder wollte es nicht bemerken, er dankte innerlich seinem Schöpfer, daß er behaglich in Schwarzhausen unter schlichten, lieben Menschen saß und nicht »Hofprediger« geworden war, wie es der alte Fürst früher gewünscht.
Nach Tisch blieb der Kreis so recht urgemütlich beisammen. Der April hatte sich auf sich selbst besonnen, Frau Sonne, nachdem sie am Vormittag reichlich ihre Pflicht gethan, sich zurückgezogen, und nun jagte der launische Monat einen Hagelschauer nach dem andern gegen die Spiegelscheiben der Villa, und Johann legte Buchenscheite in den Kamin, die bald eine köstliche Wärme verbreiteten und glutroten Schein über das traute Zimmer warfen.
Ganz still saßen die Anwesenden und schauten in das leise knisternde Feuer. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Johann wollte den Kronleuchter anzünden, aber sie winkten ihm alle erschrocken ab und lehnten sich noch tiefer in ihre behaglichen Sessel zurück.
»Wo ist Kerlchen?« fragte der Oberst plötzlich und suchte mit den Augen umher, Fritz von Rumohr erhob sich gleichzeitig, um Felicitas zu holen. Aber da legte auch schon der Pfarrer bedeutsam den Finger an den Mund, still blieb Fritz an dem Rahmen der zum Musikzimmer führenden Flügelthür stehen, und nun klangen Akkorde herüber. Weich und zart quollen die Töne aus dem herrlichen Flügel, reihten sich perlengleich aneinander, rollten hin und her in neckischem Spiel, verdichteten sich wieder zu ernsten, schweren Akkorden, die so fest und energisch an das Ohr der Lauscher schlugen, als könnten sie niemals von einer kleinen Mädchenhand hervorgerufen sein. Und in der ganzen schlichten Phantasie lag neben jauchzenden, stürmisch jubelnden Kinderlauten ein ernstes Sinnen, eine leise, bange Frage, die immer wiederkehrte, und aus wehmütigen halben Noten, Septimenakkorden und kleinen herben Dissonanzen hervorlugte. Aber dann klang alles beruhigend aus, es war, als wollte die junge Spielerin heut' an dem schönen Tage auch nicht den leisesten Mißton hoch kommen lassen, ganz sacht verwebte sie bekannte Laute in ihr Tonbildchen, das Lieblingslied ihres Vaters, das ihr heute wie ein fester Zufluchtsort aus allen ungelösten Fragen dünkte:
»Ich weiß mir etwas liebes
Auf Gottes weiter Welt,
Das stets in meinem Herzen
Den ersten Raum behält.
Kein Freund und auch kein Liebchen
Verdränget es daraus:
Das ist im Vaterlande
Das teure Vaterhaus.«
»Kerlchen!« rief der Oberst leise und zärtlich in das Dunkel des Nebenzimmers, aber man hörte als Antwort nur sacht die Thür ins Schloß fallen. »Soll Felicitas dieses herrliche Talent nicht verwerten?« fragte Pfarrer Hollein leise, »sollte aus diesem echten Menschenkinde Kerlchen nicht auch ein echter Künstler werden?«
»Nein, nein!« unterbrach ihn der Oberst hastig. »Nicht, daß ich echtes Künstlertum unterschätzte,« fügte er begütigend hinzu, »hätte mein Junge ein hervorragendes Talent und wahrhafte Neigung dazu – – ich würde ihn ziehen lassen, – aber Kerlchen – unser Kerlchen« – – –
»Das fehlte noch,« eiferte Tante Emerenzia. »Eine Schlieden auf der Bühne! Ich begreife Sie nicht, Herr Pfarrer!«
»Nun, nun,« beschwichtigte der Pfarrer, »sie soll ja nicht Ballett tanzen, – verkleinern Sie mir die hehre Kunst nicht, mein verehrtes Fräulein! Es ist etwas Göttliches um die Musik, und eine hohe und schöne Aufgabe, mit dem Pfunde zu wuchern, das uns verliehen ist, etwas herrliches, Tausenden von Mitmenschen Sonnenschein zu geben – –«
Pfarrer Hollein redete sich in Feuer, brach aber plötzlich ab, denn Fräulein Emerenzia sah ihn strafend an. Augenblicklich dankte sie dem Schicksal, daß dieser Mann nicht Hofprediger in Amalienlust geworden war.
Onkel Liskow war schon eine Weile unbehaglich auf seinem Sitz herumgerutscht. »Ich meine, das Frauenzimmerchen soll heiraten,« sagte er jetzt in seiner derben, gemütlichen Art. »Dann kann sie ihrem Manne später vorspielen, so viel sie will, und das schöne Talent ihren vierundzwanzig Kindern vererben, die sie sich ja so sehr wünscht. Fallen Sie nicht in Ohnmacht, gnädiges Fräulein, es ist doch nun mal wahr.«
Fräulein Emerenzia fächelte sich erregt Luft zu, der Pfarrer lächelte still vor sich hin. Oberst Schlieden faßte die Hand seiner Frau und streichelte sie sanft. Fritz von Rumohr und Erich hatten gleich nach Kerlchen das Zimmer verlassen, man hörte ihre elastischen Schritte auf der Veranda hin und her gehen.
»Das alles hat ja noch gute Wege,« unterbrach der Oberst das plötzlich eingetretene, etwas peinliche Schweigen. – »Ich hoffe, unser Herrgott wird mich noch ein Weilchen mittun lassen, damit die teuren Stunden bei Johannsen weiter bezahlt werden können, die unserm Kerlchen so viel Nutzen und Anregung bringen.«
»Ist Meister Johannsen ein hiesiger?« fragte Onkel Liskow.
»O nein, er war in früheren Zeiten Klosterorganist in irgend einem kleinen, holsteinischen Städtchen und ist auf einer gelegentlichen Thüringer Reise hier »hängen geblieben,« erzählte der Oberst. »Er konnte sich nicht von unserer herrlichen Orgel trennen, auf der noch Johann Sebastian Bach gespielt hat, und die unser alter Fürst mit großen Kosten umbauen ließ. Johannsen ist ein Original, ein Gelehrter der alten Schule, mit feinstem Verständnis für alles Gute und Schöne in der neueren Musik. Wunderbar gut spielt der alte Mann, ich hab oft mit Kerlchen unter der Linde gestanden, die sein kleines Haus beschattet, und ihm zugehört. Kerlchen hatte es sich nun mal in den Kopf gesetzt von ihm unterrichtet zu werden, da ging ich denn eines Tages hinein zu ihm.
Das heißt, ich versuchte es. Aber ein Drache stand in der Thür, in Gestalt eines zahnlosen, spitznasigen, triefäugigen Weibes, der richtigen Pfefferkuchenhexe, die mir in keifenden Lauten erklärte, daß Herr Johannsen überhaupt mit niemand spräche, als mit ihr, niemals das Haus verließe und auch niemand Unterricht erteile. Ich verließ schleunigst die ungastliche Schwelle, und nach meinem Bericht war Kerlchen so kreuzunglücklich und niedergeschlagen, wie ich es noch nie gesehen hatte. Na, es war aber nichts zu machen, und wir wollten schon in den sauren Apfel beißen, Kerlchen wöchentlich ein- bis zweimal nach Weimar reisen zu lassen, was uns allen sehr gegen den Strich war. Unser guter Lehrer Voorde hatte erklärt, daß das Mädel ihm in der Musik bereits »über« sei, außerdem erhielt er ja den ehrenvollen Ruf vom Grafen Achterwehr-Westensee, sein Begleiter auf einer Forschungsreise zu sein, – kurz, Frau Musika schien hohe Opfer von uns fordern zu wollen. Da kommt eines Tages das Kerlchen hereingestürmt, atemlos, zerzaust, heiß, und ruft: »Papa, sechs Mark will der alte Johannsen für eine Stunde haben, – darf ich?«
»Ich war ganz baff,« fuhr der Oberst fort, hellauflachend in Erinnerung an jene Stunde, »und da erzählte denn das Mädel ganz aufgeregt, wie alles gekommen. Sie hatte wieder mal ganz verstohlen dem Spiel des alten Sonderlings zugehört und war zu diesem Zweck auf die Linde geklettert, von wo aus sie das Zimmerchen und den Spieler überschauen konnte. Der alte Johannsen hat gerade nur so in einer Bachschen Fuge herumgewühlt und Kerlchen geschwelgt beim Lauschen, da poltert die Wirtschafterin ins Zimmer, was der Alte auf den Tod nicht leiden kann, und er schließt auch richtig mit einem grellen Mißakkord. In diesem Augenblick ruft Kerlchen selbstvergessen und wütend aus der Linde: »Zum Donnerwetter aces!« und der Alte hat seinen Zorn vergessen und starrt wie verzückt auf unsern Kobold, lotst das Kerlchen herunter, läßt sich die Bachsche Fuge von ihm vorspielen, küßt es rundum ab, wie Kerlchen schaudernd berichtet, und es muß ihm haarklein seinen Lebenslauf erzählen. Nun giebt er ihm wöchentlich zwei Stunden, läßt mich ungerührt zwölf Mark berappen, und leistet dafür auch Ungeheures, Ihr habt ja gehört, was er aus dem Kerlchen gemacht hat.«
»Er ist ein Ehrenmann«, setzte der Pfarrer warm hinzu. »Ich wollte, wir hätten noch mehr solche Originale in Schwarzhausen. Ich gehe hin und wieder zu Meister Johannsen, nur Speise und Trank nehme ich nicht von ihm an, aus Angst, seine liebenswürdige Wirtschafterin könnte etwas hineingethan haben, um uns los zu werden; sie soll ja wütend über das veränderte Leben ihres Herrn sein«.
»Ein wunderbares Geschichtchen«, lachte Onkel Liskow, »es sieht unserm Hauptkerlchen ähnlich. Aber wo steckt es denn eigentlich, wir müssen doch wohl an Licht denken«.
Frau Oberst Schlieden, die ganz still dem Gespräch der Männer gelauscht hatte, erhob sich in ihrer ruhigen, geräuschlosen Art und klingelte dem Diener. Erst als Johann den Kronleuchter hell entflammt hatte, sah man leichte Thränenspuren auf ihrem feinen, aristokratischen Gesicht. »Wieder mal Schmerzen, Altchen?« fragte der Oberst zärtlich.
»Nein, Liebster, – nur Gedanken!« entgegnete sie leise und strich ihm über das volle braune Haar, durch das sich ein schneeweißer Streifen zog.
Der helle Lichtschein, welcher vom Zimmer nach der dunklen Veranda geflutet war, lockte auch die Jugend wieder herein. Fritz, Erich und Kerlchen traten zusammen in den Salon.
»Wollt Ihr noch etwas hören,« fragte Kerlchen rasch und fröhlich, küßte der Mutter die Hand und schmiegte sich eng an den Vater. »Fritz hat ein Konzert von Spohr, das ich vom Blatt spielen soll, darf ich?«
Aber ehe sie auf die fröhliche Bejahung aller hin die Noten zurechtstellte, flüsterte sie rasch dem Oberst ins Ohr: »Väterchen, ich hab Vorsätze gefaßt, richtige, dolle, unumstößliche Vorsätze, es ist doch ein schnurriger Tag heute, du sollst sehen, ich werde noch!«
Der Oberst drückte sein Kerlchen fest ans Herz, aber er sagte nichts, er sah ihm nur zärtlichen Blickes nach, wie das Mädel in dem ungewohnten, schwarzen Kleide davonhuschte, mit kühnem Satz über die Schwelle sprang, als gelte es, einen Graben zu nehmen, und gleich darauf so fest und sicher mit ernsthaften Augen den Noten folgte, zur rechten Zeit einsetzte und mit ihrem Partner, der seine Geige vollkommen und meisterhaft beherrschte, ein wundervolles Tongemälde entrollte. Und mitten in dem Gewoge der Töne, die eines echten Meisters Herz und Kopf entsprungen, hing jeder der Mitwirkenden und Hörer seinen eigenen Gedanken nach, die sich doch im Grunde um ein und dasselbe drehten.
»Ich will gut werden«, dachte Kerlchen, während seine Hände eine Fermate aushielten und aus der Amati des Fritz von Rumohr ein wahrer Goldregen reiner Harmonien sich ergoß. »Ich will gut werden und immer tapfer sein! Lieber Gott, hilf mir!«
»Ich will arbeiten«, dachte Fritz von Rumohr, »erst muß noch das Einjährige vorüber sein, dann – stramm ans Staatsexamen, dann noch zwei, drei Jahre – –«.
Ein perlender Läufer Kerlchens entriß ihn seinen Zukunftsträumen, – er mußte wieder einsetzen, sonst warf er das brillante Allegro um, der Spohr hatte manchmal seine Mucken, man mußte riesig aufpassen – – –
»Unverzeihlich, daß sie sich so garnicht für den »Hof« eignet«, dachte Fräulein Emerenzia; »mit diesem Talent dürfte sie eigentlich nirgends anders hin – unbegreiflich!«
»Gott segne dieses liebe Haus!« dachte der Pfarrer, »es ist ein Hauptmädel«, schmunzelte der Onkel Liskow.
»Ich will für die Fee sorgen!« gelobte sich Erich.
» Mein Kerlchen!« sagte der Oberst leise, ganz leise vor sich hin. »Oh, nur so lange noch auf dem Posten sein, bis es geborgen ist, – dann ab zur großen Armee!«
Kerlchens Mutter sah unverwandt ihr Kind an.
»Ich konnte ihm so wenig sein,« dachte sie in rührender Bescheidenheit, »ich will aber unsern Liebling hegen, wie meinen Augapfel, – Fee sieht heut so zart aus, – wie die Äderchen an der weißen Stirn hervortreten! Das viele angestrengte Musizieren wird sie doch nicht zu sehr angreifen und ermüden?«
Ein rauschendes Finale übertönte die leisen Seufzer des besorgten Mutterherzens, dann rief ein helles, gesundes Stimmchen ohne eine Spur von Müdigkeit und Angegriffensein: »Du bist ein Mordskerl, Friedel! Das haben wir wieder mal sehr gut gemacht!«
*
Aus Kerlchens Tagebuch.
Früher glaubte ich immer, alles, was gedruckt wäre, das wäre auch wahr. Ist aber längst nicht so! In Büchern steht immer von dem reizenden Übergang vom Backfisch zur erwachsenen Jungfrau, – in Wahrheit ist es Quatsch. Es kann vielleicht in anderen Ländern und Staaten so sein, bei uns in Thüringen merkt man nicht, daß dieser Übergang »reizend« sein soll. Man wacht eines Morgens auf und sieht zu seinem Schrecken, daß über Nacht jemand die Kleider und Röcke länger gemacht hat, (»de Stüfchen auslassen« sagt man hier in Schwarzhausen), und kommt man zum Kaffeetisch, dann sagen die Mütter, Tanten und Basen zur Erklärung: »Du bist nun zu groß, um so »springerig« herum zu laufen.« So wars bei mir, so wars bei Gretchen Döring, und andere haben mirs auch erzählt. Es ist wirklich eine sehr traurige Thatsache. Sobald nun festgestellt ist, daß man erwachsen ist, muß man noch mehr lernen, noch fleißiger üben und sogar in die Küche gehen und »helfen.« Das »Helfen« ist das Abscheulichste bei der ganzen Sache, ich will selbstständig alles gern thun, aber helfen, wie andere Dummheiten machen, das thue ich ungern. Papa erlaubte mir auch mal zu kochen, ich riegelte vorher die Küche ab, und Dorette mußte sich draußen auf einen Stuhl setzen und stricken, was sie unter lautem Geheul auch that. Freilich sah die Küche, die sonst ein wirklich behaglicher Raum ist, nach einer Weile wie ein Schlachtfeld aus, aber ich hatte doch ein sehr schönes Mittagessen zusammengekocht. Wenn Papa hinterher behauptete, er hätte die Bouillon für Emserpastillentee getrunken, die Ente für'n Hasen gehalten und den Königinnenpudding für Tapetenkleister, – so ist eben die ganze Veranlagung meines Herzensvaters daran schuld. Mein armes Muttchen mußte sich leider gleich nach dem Pudding fest ins Bett legen und behauptet heute noch, ich hätte ' was reingethan; freilich hatte ich das, lauter gute, schöne Zutaten, aber Muusch ist überhaupt so leicht schreckhaft. Na kurz, kochen soll ich fürs Erste nicht wieder. Es ist ja auch absolut nicht nötig, man nimmt ja doch eine Köchin, wenn man heiratet, und die läßt einen nie ran an den Herd. Mein Liebstes auf der Welt ist gleich nach Papa die Musik, dann kommt Mama und Erich, dann meine Blumen; die Calla hat eine neue Blüte und die große Fächerpalme ein neues Blatt, mein Myrthenbaum gedeiht köstlich und Dorette sagt, das sei ein sicheres Anzeichen für »alte Jungfer werden«; dann kommen meine Bücher, dann Onkel Liskow, dann eine ganze Weile gar nichts, dann – dann, na und dann kommt immer noch nichts – – aber Gretchen Döring hab ich doch recht von Herzen lieb, ich kann es ihr nur nicht so doll sagen, wie sie es mir sagt und dann wird sie so leicht ungeduldig und fängt an zu weinen. Es thut mir ja selbst leid, aber ich war so viel allein und wenn ich einem Menschen was wirklich schauderhaft liebes sagen möchte, dann ist es immer nur Papa.
Fritz von Rumohr ist als einjähriger Unteroffizier abgegangen, hat »famos abgeschnitten« wie Erich sagt und sich nun gleich zum Staatsexamen gemeldet. Nach bestandenem Examen will er zum Vizefeldwebel üben und sich zur Wahl als Reserveleutnant stellen, so hat es Papa ihm geraten. Der arme Kerl ist aber bös dran. Onkel Liskow hat viel Vermögen eingebüßt, irgendwo ist ein großer Krach gewesen, aber Fritz scheint es nicht viel zu kümmern, wenigstens sagte er so freimütig zu Onkel: »Um mich sorg dich nicht, Pflegevater, ich komm schon durch und später kann ich hoffentlich für dich sorgen, du Guter!«
Das gefiel mir von Fritz. Aber ich sehe auch hier wieder, in den Büchern ist alles anders. Da giebt es längst nicht so viel Steine, über die man stolpern kann, das Leben ist so glatt beschrieben, wie'n gut gerolltes Damasttischtuch. – Ich lese sehr viel, aber immer nur mit den Eltern. Von den Büchern, die mir Gretchen Döring gab, werde ich so unglaublich düsig und müde. Papa sagt, ich hätte sie nur so verschlungen und deshalb nicht richtig verdaut. Das ist gewiß richtig, denn ich hab die Goldelse von E. Marlitt in einer Stunde gelesen, dann hab ich geschlafen und dann war ich wieder munter. Ich weiß nicht mehr viel von der Geschichte, aber sie war wundervoll. Jetzt liest Papa die »Stromtid« vor, und wenn er das Buch zuklappt und singt: »Soldaten sollen zu Bette gehn«, dann sehen wir andern ihn immer so flehend an, und bitten um Aufschub, aber es nützt nichts.
»Wir andern«, das sind Muusch, Gretchen Döring und ich. Gretchens Vater ist Oberlandesgerichtsrat in Erfurt und noch von früher mit den Eltern befreundet. Deshalb schickten sie Gretchen so quasi in Pension zu uns, denn sowohl meine Eltern, wie auch Dörings sind gegen »eigentliche Pensionate«, Papa hält nun mal sein Haus für das geeignetste, mir alles zu geben, was notwendig für das Leben ist, auch den feinen Schliff. Deshalb muß ich ja so vernünftig werden und so doll streben, damit ich ihn nicht Lügen strafe. Und mein Muusch denkt ebenso wie Papa, sie hat auf ihrem Nähtisch ein Büchelchen, da liegt ein Lesezeichen drin, was ich ihr als ganz kleines Kerlchen gestickt habe, und dabei steht ein Spruch:
»Geh fleißig um mit Deinen Kindern, habe sie Tag und Nacht um Dich und liebe sie und laß sie Dich lieben einzig schöne Jahre.«
Das ist Muusch ihr Lieblingsspruch, oh – ich finde ihn auch so wunderschön und wenn ich erst Kinder habe, will ich auch immer und immer bei ihnen bleiben, ich freue mich jetzt schon darauf.
Gretchen Döring ist älter als ich, schon siebzehn und ein halbes Jahr alt. Sie klettert nicht mehr auf Bäume, streckt die Zunge nicht mehr raus, tritt keine Absätze schief und rekelt sich nicht auf dem Teppich. Dafür näht sie sich reine Rüschen von selbst und ganz allein ins Kleid und hat nie zerrissenes Zeug. Ich zwar auch nicht, aber bei mir flickt alles die gute Dorette und dann sieht mans trotzdem immer, wo die »Driangels« gesessen haben. – Gretchen Döring geht mit mir zur Tanzstunde, Herr Ballettmeister Poncet, ein älterer Franzose, der sonst in Erfurt lebt, giebt den Unterricht. Sie ist aber nie recht bei der Sache, nur wenn abends die alten Leute mit dazu kommen und uns herumschwenken, dann macht es ihr erst den richtigen Spaß.
Ich tanze furchtbar gern, aber am liebsten allein, oder mit Papa. Monsieur Poncet thut immer ganz verzückt und möchte mich am liebsten als Balletttänzerin sehen, er küßt seine eigenen Fingerspitzen und dreht sich auf seiner großen Zehe herum, grad' als wollte er verhimmeln: »'nädig Frrräulein tanzen superbe, magnifique, comme un papillon, wie ein 'auch!«
Unterhalten kann ich mich, glaub' ich, nicht sehr gut, was Vadding und Mudding sehr verwundert, weil mir doch zu Haufe der Schnabel nie stille steht. Aber die Mädchen und die Herren sprechen in der Tanzstunde ganz anders, als sonst, sie machen den Mund ganz klein und spitz, damit es besser aussieht, und flöten dann schnurrige Sätze heraus, und Fräulein Kiesewetter, die den ganzen Tag mit den Lehrjungen ihres Vaters schimpft, daß man es über den Marktplatz schallen hört, säuselt in der Tanzstunde ganz zuckersüß von »Blümlein, Vöglein, und erwachender Natur«.
Unsere Tanzstunde ist »sehr gemischt«, wie Tante Emerenzia sagt, aber auf »Höheres« allein konnte sich Monsieur Poncet nicht einlassen, er wäre damit nicht auf seine Kosten gekommen. Alles was in Schwarzhausen »höher« ist, hat keine Kinder, oder nur winzige, die noch nicht tanzen lernen, nur Landrat von Kauffungen schickt seine zehnjährige Dagmar, ein ganz süßes Ding, und wir haben Gretchen Döring importiert, wie Papa sagt. Na und die Herren! Beim Amtsgericht ist ein Referendar, von dem Monsieur Poncet sagt: »Die Grazien n'étaient pas an sein Wieg'«, ferner beim Postamt ein Eleve, der allerdings »schneidig« tanzt, wie alle sagen, dann Emil Dingelmann, der im Geschäft von Schnabel und Sohn ist und mich mit einem Male furchtbar gern leiden mag; er bringt mir öfters ein mächtiges Packet »Puppenlappen« mit, wenn »Restertag« im Geschäft gewesen ist, ich kann ihn aber nicht ausstehen, trotzdem ich Puppe Emmy ein süßes Kleid aus Emils Lappen geschneidert hab!
Dann haben wir noch Papas neuen Adjutanten, Leutnant von Kranich, welcher aber nur mit mir und der kleinen Dagmar tanzt, und den Doktor Hagelberg, den Gretchen Döring von Erfurt her kennt, und der eben nur mit Gretchen tanzt und dann wieder wegläuft oder weggeholt wird, denn er hat so viel zu thun.
Dr. Karsten ist Hofrat geworden und mit Frau und Kindchen nach Amalienlust gezogen, nun hat der Dr. Hagelberg die ganze Praxis übernommen, denn der alte Medizinalrat hat nur noch seine uralten Freunde in Behandlung, zum Beispiel Gretchen Dörings Großtante, die in »Villa Feddern« wohnt und da ein riesig behagliches Nestchen hat. Gretchen und ich sind oft bei ihr, sie ist so eine Art »Großtante Hermine«, aber noch sehr rüstig und lustig. Wir sind sehr gern in Villa Feddern, nur »vorlesen« ist schauderhaft. Sie liest nur Bücher von Henriette Paalzow und Walter Scott, alle andern, zum Beispiel von E. Marlitt und E. Werner, nennt sie »modernen Schwindel«, ich darf ihr auch nur das »Gebet der Jungfrau« und die »Klosterglocken« vorspielen. Manchmal ist es zum Auswachsen.
Heute ist Tanzstundenball, und gleichzeitig futtern wir Monsieur Poncet fort, das heißt, wir knabbern ihn nicht selbst an, nö, da ist er doch nicht appetitlich genug, aber wir geben ihm ein rauschendes Abendessen; Papa sagt, es wäre lukullisch und er liebe diese Orgien eigentlich nicht. Es giebt nämlich zuerst Kalbskeule und dazu Kartoffelsalat und Kompot. Dann einen Stärkepudding mit Himbeersauce. Vor mir auf meinem Bett liegt mein Kleid für heute Abend. Ganz zarter Tüll mit seidenen Sternchen und ein Unterkleid von Seide, eine lange weiße Schärpe, ein Heckenrosenkranz im Haar und Heckenrosen an der Schulter. Die gute liebe Muusch! Es ist ihr Brautkleid! Sie hat so geweint, als wir es auspackten, und es dann für mich zurechtgeschneidert wurde. Ich wollt's erst garnicht annehmen, aber sie sagte, sie weinte nur vor Freude, daß ich das liebe Kleid noch einmal anziehen könnte. Auch Papa war ordentlich bewegt, er drückte mich ganz fest an sich, dabei sehe ich meiner schönen Muusch garnicht ähnlich, sondern bin ganz und gar »der Papa«, der ja als Mann sehr schön ist, schon weil er so riesengroß und breit und stattlich ist, und ich – – ach du liebe Zeit! Sobald mich ein Bekannter der Eltern zum erstenmal besieht, sagt er gleich entschuldigend: »Na, sie wird sich schon noch machen, sie ist ja noch so jung.«
Weißseidene Schuhe hab ich auch, – Mamas Brautschuhe. Gretchen Döring hat heute den ganzen Tag noch keinen Bissen gegessen, so ein Fieber hat sie, wozu nur? Sie sieht mich immer entsetzt an, wie ich ein Butterbrot nach dem andern reinleire. Dabei läuft sie schon seit früh fünf Uhr in ihren blauseidenen Tanzschühchen herum, weil sie ihr zu eng sind, vorhin liefen ihr die Tränen nur so an den Backen hinunter, aber sie behauptete, sie weine nicht, die Schuhe drückten so doll, daß die Tränen von selber kämen. Papa ist vorhin nochmal nach Amalienlust geritten, ich aß gerade das vierte Schmalzbrot, und er rief mir zu, ich möchte noch ein Löchelchen für den Stärkepudding von heute abend freilassen. Na, das ist doch eine unnötige Mahnung, Pudding kann man doch zu jeder Tages- und Nachtzeit essen.
*
Der Saal in der »Thüringer Edeltanne« prangte wieder einmal im Festschmuck. Er war so recht zu »üppigen Festlichkeiten« geeignet, wie Frau Kanzleirat Pfotenhauer behauptete, die heute mal ausnahmsweise ganz früh erschienen war, um Plätze zu belegen für sich und Familie Dingelmann. Sie hatte auch im weitesten Umkreis »belegt«, so weit man auch blickte, auf jedem Stuhl lag irgend etwas »Pfotenhauersches«, bis der Oberkellner »Schang« sie höflich aber fest darauf aufmerksam machte, daß jede Familie nur aus sechs Köpfen bestehen dürfe, es sei denn, daß alle an der Kalbsschwelgerei teilnehmen würden, und setzte hinzu, daß Kindern unter einem Jahr und solchen, die nicht stubenrein seien, der Eintritt überhaupt versagt sei. Die Kanzleirätin war empört, sie fand den Nachsatz sehr überflüssig, da sich in ihrer ganzen Familie keine Säuglinge befanden, aber sie fügte sich ziemlich stillschweigend, ich sage »ziemlich«, denn Schang zog trotzdem mit zwei »Schafsköppen«, drei »Unverschämtheiten« und vier »Flegeln« ab. Sie räumte die Stühle im weiteren Umkreis, und begnügte sich mit sechs Sitzgelegenheiten, da niemand von ihrer Familie mitessen wollte, mit Ausnahme ihres Enkels Dingelmann, der nun mal einen Narren an der hochnäsigen Oberstenfamilie und -Tochter gefressen und heute sein ganzes Erspartes in einem Strauße für das schreckliche Mädchen, die Felicitas, angelegt hatte. Frau Kanzleirat strickte mit hochroten Wangen, sie war nie müßig, und überlegte dabei, ob der Oberst wirklich »nein« sagen würde, wenn Emil Dingelmann vielleicht in drei oder vier Jahren um seine Tochter anhielte, d. h. wenn sich bis dahin für Emil nichts Besseres, vor allen Dingen Reicheres, fand. Sie hatte deshalb gestern einen erbitterten Streit mit Schlachter Krone gehabt, der ihr wütend nachgerufen hatte, das Kerlchen kriegte noch mal 'en Grafen.
»Na ja, vielleicht en Telegraphen!«
Das war ihr Schlußtrumpf gewesen, aber sie war noch ganz empört über den »Sums«, den alle mit diesem Kerlchen machten. Auch der Saal wurde heute nur deshalb so »fürstlich« geschmückt, weil möglicherweise der junge Fürst Elimar auf eine Stunde von Amalienlust zum »Zusehen« kam, – zum Zusehen, wie Kerlchen tanzte, – so ein Unsinn! Daher dieser unerhörte Aufwand an Buchsbaumkränzen und Eichenguirlanden, sogar Gas hatte man legen wollen, aber Gott sei Dank, man lebte ja nicht unter Kaiser Nero (die Kanzleirätin wußte nicht, ob dieser Gas gebrannt hatte, nahm es aber an), die Üppigkeit erinnerte aber schier an jene Zeit. Hatte doch der Bürgermeister durchgesetzt, daß frischer Docht auf sämtliche Petroleumlampen kam, so daß Klempner Lämmerhirt nach Erfurt hatte schreiben müssen, weil er den Bedarf allein nicht decken konnte.
Na, es würde schon mal mit Riesenschritten bergab gehen, unkte die Kanzleirätin innerlich weiter, acht Petroleumlampen an den Wänden und ein Kronleuchter mit zwanzig Stearinlichtern in der Mitte über der Tafel, das konnte zu keinem gesegneten Ende führen, (sie rebbelte wütend einen Teil ihres Strumpfes wieder auf, denn sie hatte sich verzählt) und in früheren Tanzstundenbällen hatte es nie Pudding mit Himbeersauce gegeben, man sahs ja, es ging auf den hellen Ruin los.
Frau Kanzleirat ärgerte sich, doppelt sogar, denn »Schang« stand so recht hingeflegelt an einem Pfeiler, beide Hände in den Hosentaschen und that so, als ob ers garnicht gehört hätte, daß sie schon das zweite Glas Wasser bestellte.
Endlich fing der Saal an, sich zu füllen. Frau Bäckermeister Gärisch mit ihrer Tochter trat zuerst herein und steuerte gleich auf die Kanzleirätin zu, sie war eine dicke, runde, gemütliche Frau, die ein großes Mitleid mit allem hatte, was »Beamter« hieß, weil sie immer dachte, diese Sorte Leute müsse unbedingt hungern. Deshalb beachtete sie auch garnicht die hochmütige Zurückhaltung der Frau Kanzleirat, und als diese auf die sechs Stühle mit einem kurz und brummig hervorgestoßenen » Besetzt« zeigte, pflanzte sich Frau Gärisch gerade aus einen dieser Stühle hin und sagte gemütsruhig: »Ja, von mir!«
»Nee, nee, lassen Sie man«, setzte sie freundlich hinzu, als Frau Kanzleirat Miene machte, den Kellner zu rufen, »ich wollte Ihnen ja durchaus nicht ärgern, ich wollte Ihnen nur fragen, ob Ihr Enkel Emil glaubt, daß der Oberst Schlieden ihn mal zum Schwiegersohn nimmt. Abend wurde das mordjalsch große Pukett zu Oberstens getragen, was der Emil bestellt hat, ich hab' nämlich den Laufjungen von Gärtner Haage ausgefragt, – du grundgitige Neine, das Kerlchen ist doch noch so jung und so ganz ä Kind und so vornehm und fein und paßt doch so garnich –«
»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, rief die Kanzleirätin zornrot, und Frau Gärisch zog es vor, sich rückwärts zu konzentrieren, sie hatte ja auch nur mal fragen wollen – – – –
»So'n griener Jonge, so'n dommer Quatschjendolmes!«
Damit war Emil gemeint. Dieser trat eben in den Saal. Er zwängte sich noch in die engsten weißen Handschuhe, die er im Geschäft hatte bekommen können, und faßte dann Posto an der Thür, um den Oberst und seine Familie gleich abzufassen. Endlich, endlich kamen sie, und zwar Frau Oberst mit Felicitas und Gretchen Döring. Wie eigenartig das Kerlchen aussah! Wie es abstach gegen die andern jungen Mädchen, obgleich es nicht im mindesten prunkvoller gekleidet war. Aber der feine gelbliche Stoff des mütterlichen Brautkleides, das mit ausgesuchtem Geschmack neu bearbeitet war, gab einen entzückenden Rahmen für das braunlockige junge Menschenkind, dessen dunkelblaue Augen so lachend und zugleich so fragend in die Welt schauten. Es gab Leute im Saal, ja es waren wohl die meisten, die Felicitas Schlieden im allgemeinen für ein häßliches Ding hielten, besonders wenn man an die schönen Eltern dachte; woran lag es nur, daß man dem quecksilbernen Persönchen heute den Apfel des Paris zuerkannte. Dabei saß doch der Heckenrosenkranz bereits schief auf dem Lockenkopf, und von den langen, weißen Handschuhen waren schon drei Knöpfe auf Nimmerwiedersehen davongehüpft. Jedes der jungen Mädchen im Saale hatte einen Strauß in der Hand, nur Kerlchen nicht, aber hinter ihr tauchte der Bursche Franz auf mit einem wahren Ungeheuer von Blumengebilde, das ihm der Oberkellner »Schang« sofort abnahm und auf die Tafel stellte. Kerlchen ging unbefangen gleich auf Emil Dingelmann zu.
»Vielen Dank«, sagte es wie entschuldigend, – »es war wirklich zu schwer für mich und Mama meinte, es würde Sie freuen, wenn der Eßtisch damit geschmückt würde.«
Frau Oberst bestätigte freundlich nickend die Worte Kerlchens, und Emil Dingelmann verneigte sich und dienerte so ununterbrochen, daß Kerlchen mit einem starken Lachanfall rang. Sie wurde ganz rot bei dem Bemühen, ernst zu scheinen, und ihr Tanzstundenknix, den sie jetzt bei sämtlichen Damen im Saale anbrachte, wurde sehr windschief. Man nickte ihr jedoch mit wenigen Ausnahmen ganz freundlich zu und labte sich unverhohlen an dem hübschen Anblick, den die jungen, frischen Mädels gewährten, die da so vergnüglich auf der ersten Reihe saßen und mit glänzenden Augen dem ersten, wirklichen Ball entgegensahen.
Jeder neu eintretende Herr wurde mit einem Rippenstoß an die rechte und die linke Nachbarin signalisiert, und dann ging das Bekritteln los und auch das gegenseitige Necken, denn eine war doch immer darunter, die den Bekrittelten zum »Schwarm« hatte.
Nur Kerlchen stand etwas abseits und krittelte nicht und neckte sich nicht.
»Sie ist noch so ganz kindlich,« sagte Gretchen Döring liebreich von ihr, »es ist ihr so sehr schnuppe, wer mit ihr tanzt, und wie sie aussieht, – thatsächlich, sie weiß nicht, wie lieb sie ist, sie findet sich grundhäßlich.«
Die jungen Mädchen machten mehr oder minder gläubige Mienen und beobachteten nun das Kerlchen, das mit seltsam ernsten Augen immer dorthin sah, wo die Musik saß.
Aber nun kam der große Augenblick der Polonaise, sie wurde nur von Tanzstundenteilnehmern getanzt, die »Hospitanten« kamen erst viel später. Kerlchen sah sich seelenruhig nach Emil Dingelmann um, denn sie wußte, er war ihr unvermeidliches Anhängsel, sie hatten die Polonaise ja schon vorher einmal »geprobt«, damit die jungen Herren oder die Herrn Jungens keinen Schnitzer machten, bei den Mädchen war das überflüssig, die waren »geborene Tänzerinnen« wie Monsieur Poncet beteuerte.
Aber Emil Dingelmann kam nicht. Zuerst konnt Kerlchen ihn überhaupt nicht sehen, aber dann entdeckte sie ihn hinter den Stühlen seiner Mutter und Großmutter und wunderte sich, warum er sich so ängstlich verstecke. Sollte dieser »großmäulige Ladenschwungs«, wie ihn die erboste Bäckerfrau nannte, Ballfieber bekommen haben?
Alle Paare waren schon angetreten, eine ganz leise Röte stieg in Kerlchens Antlitz, denn sie wußte, wie später über »Mauerblümchen« hergezogen wurde, aber da huschte Dagmar von Kauffungen zu ihr heran von ihrem Tänzer fort und flüsterte eilig ihr ins Ohr: »Gräm dich nicht, Süßes, Dingelmann möchte wohl, aber er kann nich, ihm is was geplatzt«.
Damit huschte die Kleine wieder fort und Kerlchen lachte, lachte so laut und fröhlich, daß alle Augen, die nicht schon vorher beobachtet hatten, wie Oberstens Einzige »sitzen blieb«, sich jetzt zu ihr hindrehten, und Frau Oberst Schlieden war nun an der Reihe, rot zu werden über ihr ungeschliffenes Kerlchen.
Was war denn nur geschehen?
Aber schon kam Kerlchen zu ihr gelaufen, die neben der munteren Frau Landrat von Kauffungen saß und raunte ihr nicht allzu leise ins Ohr, daß Emil Dingelmann solches Pech gehabt hätte, – »du kannst es jetzt nicht sehen, Muusch, er sitzt drauf«.
»Kerlchen, aber Kerlchen!«
Das fröhliche Lachen des frischen Mädchenmundes hatte aber einem andern im Saale großen Mut gemacht. Es war der »Geselle«, wie er allgemein hieß, ein junger Mann im Geschäft des Herrn Schlachtermeisters Krone. Seinen eigentlichen Namen wußte niemand, er tanzte aber sehr gut, und so wurde er stillschweigend geduldet, seine große Bescheidenheit und Schüchternheit bewahrte ihn auch davor, irgendwie anzustoßen.
Tagelang vor diesem Balle hatte er sich schon passende Anfangsgespräche überdacht, aber er war noch zu keinem Resultat gekommen. Er fühlte mit Beschämung, daß sein nagelneuer Rock, den »Vater« heute Morgen aus dem Dorfe geschickt, ganz anders saß als die Fräcke und Röcke der jungen Honoratiorensöhne, er rückte und zupfte an sich herum und reckte sich gerade, aber das half nichts, im Gegenteil, es sah so aus, als rücke er immerwährend die Fleischmulde auf seiner Schulter zurecht, mit der er tagsüber ausging.
Sein Brotherr, Schlachter Krone, der viel von dem strebsamen jungen Manne hielt, hatte ihm zwar gut zugeredet und vortreffliche Lehren gegeben:
»Nur nich ängstlich, sprach der Hahn zum Regenworm, Du brauchst Dir nich zu schenieren, hast Dein Teil gelernt, hast Dir was gespart und noch was im Hinterhalt, sonne Leite sind rar. Weißte nischt anders mit den Mächens zu reden, dann sprich von Deinem Metier, 's kann den Gänsen nischt schaden, wenn de ihnen blausiebel machst, wo der Mirbebraten sitzt und wo's Roßbiff.«
Und nun stand der Geselle vor Kerlchen. Ein leises Flüstern ging durch alle Reihen, er bemerkte es und wurde glühendrot, aber sowie es Kerlchen sah, schämte sie sich eines ganz leisen Zögerns und legte ihren Arm in den seinen. Die Polonaise begann.
Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander her.
»Großer Gott,« dachte der Geselle, »ech kann doch nunne nich schonst mit das Roßbiff anfangen – –«
»Es war sehr nett von Ihnen, daß Sie mich holten,« sagte da ein fröhliches Stimmchen neben ihm. Er verzog seinen großen Mund zu breitem, gemütlichem Grinsen.
»Du liebe Zeit, – ech dachte, wozu soll das hibsche, kleene Mächen schimmeln.«
Sie lachte wieder hellauf.
»Beinahe wärs so gekommen. Warum hatten Sie eigentlich nicht vorher engagiert?«
»Ach Freilein, ech geheere doch eigentlich nich hierher. Gucken Se, bei mir uffn Dorf, da ham mersch erste Wort un jeder horcht, wemmersch Maul aufthut, aber hier bin ich der Garniemand. Mein Vater is Gemeindevorstand und hat'n großes Wirtshaus. Aber ich wollt nich egal zu Hause stecken, sondern mir ä Linschen de Welt besehn.«
»Das ist recht, Herr – Herr – Herr Geselle,« entgegnete Kerlchen freundlich.
»Nä nä, nich Geselle, »Bär« ist mein werter Name, wenn Se nischt dawider haben.«
Kerlchen lachte wieder hell auf und nickte ihrer Mutter zu, die mit etwas besorgten Blicken den Windungen der Polonaise folgte, »wäre sie nur erst zu Ende«, dachte Frau Oberst, »der Partner von Fee ist zu sonderbar, und dabei kommt er mir bekannt vor.«
»Ham die Werschtchen geschmeckt, die ich heite Morgen bei Sie zum Frihstück brachte?« begann Herr Bär von neuem das »Ballgespräch«
»Sie waren hochfein,« erklärte Kerlchen begeistert, »ich esse sie zu gern.«
»Das freit mich, das freit mich, Freilein! S'is so was solides in die Dinger, ä besonderes Rezept von meinen Vater, was mir immer in der Bärenkammer machen, – so heißt nämlich unser Wirtshaus: »Zur Bärenkammer«.
»Wie romantisch!« lachte Kerlchen.
»Nä, nich romantisch – s'is thiringisch, aber schad nischt, ich werde mir erlauben, Sie von nun an efters mit ä Paar Wirschtchen unter de Arme zu greifen.«
Die Polonaise war zu Ende, und das fröhliche Durcheinander, das jetzt entstand, überhob Kerlchen der Antwort. Gretchen Döring stürzte auf sie zu.
»Das muß ich sagen, Kerlchen, du hast deinen Bären gut an der Leine geführt, nicht Aug' noch Ohr hattest du für mich und hast nicht mal gesehen, wie Emil Dingelmann das Lokal verließ. Zum Totlachen wars! Ob er wohl wiederkommt?«
»Er thut mir leid«, meinte Kerlchen. »Ich kann ihn nicht ausstehen, aber er thut mir leid.«
»Na, mir nicht,« lachte Gretchen ungerührt, »er ist ein zu eingebildeter Patron, und seine Mutter und Großmutter haben sich in dieser letzten halben Stunde bereits mit dem ganzen Saale verkracht. Aber Fräulein Hassee thut mir leid. Denk dir, sie ist nicht engagiert worden, weil sie ein Waschkleid anhat. Himmel, was sind diese Menschen dämlich! Fräulein Hassee ist die Hübscheste von uns allen, sieh nur das sanfte, liebe Gesichtchen, die schönen Braunaugen unter den blonden Locken. Sie kann doch nichts dafür, daß sie eine Lehrerswaise ist, die sich nicht so aufdonnern kann, wie wir.«
Kerlchen lief unverzüglich auf das schlichte Mädchen zu, kurz vorher stockte ihr Schritt aber. Sie hatte noch nie ein Wort mit Fräulein Hassee gesprochen und wußte gar nicht, was sie in diesem Falle sagen sollte, sie konnte doch unmöglich von ihrem warmen Mitleid sprechen. Zum Glück hatte sie eine Bonbonnière in der Tasche, die ihr der Oberst von einer Reise mitgebracht, sie hielt der jungen, blassen Dame das Kästchen hin:
»Nehmen Sie bitte das größte,« bat Kerlchen herzbeweglich, und Fräulein Hassee drückte ihr die Hand, ohne ein Wort zu sagen, und schluckte mit den süßen Pralinées ein paar bittere Tränen hinunter, die ihr sacht über die Wangen gerollt waren.
Gleich nach der Polonaise ging man zu Tisch. Diese eigentümliche Anordnung geschah den älteren Honoratioren zu Liebe, die es nicht mehr vertragen konnten, sich eine Nacht um die Ohren zu schlagen, und die doch um des Ansehens willen an der Festtafel teilnehmen wollten, um so mehr, als heute die sparsamen Hausfrauen in anbetracht der abendlichen Schlemmerei mittags nur »Gewärmtes« auf den Tisch gebracht hatten.
Kerlchen saß zwischen ihrer Mama und Monsieur Poncet, sie unterhielt sich gern mit dem lebhaften, alten Männchen, und außerdem war auch kein Tischherr für sie da. Herr von Kranich war noch mit dem Oberst in Amalienlust, der Herr Posteleve hatte noch Dienst, und der Referendar war zum Juristenball nach Erfurt gefahren. Kerlchen war weder enttäuscht noch traurig, sie schaute fröhlich auf das muntere Geplauder der Anderen und – aß. Ab und zu wurde ihr Tüllärmel links gezupft, das war, wenn sie sich wieder eine gehörige Portion aufgelegt hatte, und Frau Oberst mit einem leisen Entsetzen kämpfte, aber dann begegnete sie immer ein paar erstaunt fragenden Augen: »Muusch, hab du mal solchen Hunger!«
Der Stärkepudding sättigte aber endgültig. Während seiner Vertilgung herrschte Totenstille im Saal, den die Münder waren samt und sonders verkleistert, so sehr man auch mit Rotwein, der stark nach Heidelbeeren schmeckte, nachspülte.
Endlich wurden die Stühle gerückt, und es sollte nun wieder nach einer kurzen Pause zum Tanz gehen, Schang und die übrige Bedienung räumten bereits im Sturmschritt den Tisch ab.
Herr Bär trat wieder zu Kerlchen. Er war rot und heiß vom ungewohnten Weintrinken, und heftiger Verdruß sprach aus seiner erregten Stimme.
»Ech geh fort, Freilein, s'is nischt dahier für mich, se machen sich alle lustig über mich. Ech bin das nicht gewehnt, mit Messer und Gabel zugleich zu essen un ich denk, wenn mer sonst ä ehrlicher Mensch is, kann mer sich ruhig en »Pfampf« von die Kartoffeln machen und Sose dribergießen. Nä, ich geh weg, Sie sin die Einzigste, die's gut mit mer meint, aber Sie sin mir zu zart un vornehm. Adje!«
Er kam nochmal zu Kerlchen zurück:
»Mit die Werschtchen bleibts dabei, ä Mann, ä Wort!«
Kerlchen gab ihm die Hand mit ein paar lieben, bedauernden Worten, dann schaute sie wieder unverwandt zu den Musikanten hin, wo sie etwas sehr zu interessieren schien. Das Vorspiel zum ersten Walzer wurde angeschlagen, Monsieur Poncet kam höchst eigenfüßig auf sie zu, um diesen Tanz mit ihr zu tanzen, eine Auszeichnung, die noch keiner anderen Dame je wiederfahren war. Wie ein weißes, duftiges Wölkchen schwebte sie dahin und ließ lachend die entzückten Ausrufe des lebhaften Franzosen über sich ergehen:
»Sie tanzen comme une poème, Ihr valse ist ein' 'ymne auf den Tanz.«
Aber als nach diesem Tanz noch ein anderer Herr auf sie zustürzen wollte, lief Kerlchen eilends davon, kroch möglichst unauffällig hinter die große Baßgeige und schmuggelte sich neben den Klavierspieler.
»Was fehlt Ihnen,« fragte sie rasch und energisch, wenn auch ganz leise, »kann ich Ihnen helfen?«
Musikus Scholz griff plötzlich ein paar falsche Akkorde, seine Brust hob und senkte sich in schweren Atemzügen. Scheu sah er seitwärts, wer es wohl sein möge, dem seine Privatverhältnisse so nahe angingen.
Er sah in ein freundliches, vom Tanzen rot und heiß gewordenes Kindergesicht, über dem ein Heckenrosenkranz möglichst schief schwebte, und ein kleiner, trotziger Mund raunte zum zweiten Mal: »Kann ich Ihnen helfen, so sagen Sie's doch!«
Wieder griff Musikus Scholz ein paar falsche Töne, und die erste Violine, welche die Oberaufsicht hatte, sah unwillig und scharf nach ihm hin.
»Das Kerlchen,« murmelte Musikus Scholz erkennend, und sei es nun, daß er aus alter Erfahrung wußte, daß Felicitas so lange fragte, bis sie die Wahrheit heraus hatte, oder dünkte es ihm in der That zu schwer, seinen Kummer zu verbergen, kurz er berichtete Kerlchen ganz leise mitten in den Wellen der »schönen blauen Donau«:
»Meine Frau, meine arme Frau! Sie ist so sehr krank und niemand bei ihr, wie der fünfjährige Jung', der wird aber auch arg müd' um die Zeit – ich mußte aber hergehen, hatte keinen Ersatz und das Verdienst brauche ich so nötig bei den vielen Doktorrechnungen, ach du mein Gott – –«.
Mit Kerlchen ging das Mitleid ganz und gar durch. Was kümmerte sie der langersehnte Tanzstundenball, oder das Gerede der Leute – sie sah immer nur das Gesicht einer blassen, kranken Frau vor sich. – –
»Schnell, laufen Sie nach Hause und sehen Sie nach Ihrer Frau«, flüsterte sie aufgeregt dem Manne zu, »Sie brauchen sich nicht zu beeilen mit dem Wiederkommen, ich, ich werde spielen, ich kanns und ich thu's gern! Fix, fix, sagen Sie nichts weiter, sie merkens sonst alle.«
Einen Augenblickchen nur, und der Platzwechsel war vollzogen, und auch nur ein Augenblickchen streichelte die große Musikantenhand dankbar ein kleines Mädchenhändchen, das kräftig auf die Tasten des altersschwachen Spinetts einhieb, wie es sich für einen Tanzaufspieler gebührte.
Und wahrlich, es ging noch einmal so gut wie vorhin. Die übrigen Musikanten ahnten, weshalb das »Oberstentöchterchen« ihren Kollegen vertrat, es waren lauter alteingesessene Schwarzhausener, die das Kerlchen aus dem ff kannten, so kam zu den vielen Beinamen, die sich Felicitas im Laufe der Jahre erworben, heute noch einer hinzu: Tausendsappermentsches Musikantenluderchen«.
In einer Pause lief Kerlchen schnell zur Mutter und erklärte dieser den Zusammenhang. Frau Oberst seufzte leise: »Ich wollte, der Papa wäre erst hier!«, aber sie legte ihrem Kinde bei seinem Samariterwerk nichts in den Weg, ja sie versprach sogar, morgen selbst einmal nach der Frau Scholz zu sehen.
Ein schneller Kuß, ein geflüstertes Kosewort: »Muusch, du bist ein Engel!«, und Kerlchen war wieder auf Posten, denn nun kam die Quadrille, und die erste Violine hatte schon zweimal mit dem Bogen das Anfangszeichen gegeben. Vor Kerlchen auf dem Klavier stand ein Riefenhumpen »Hiesiges«, und Schlachter Krone bekannte sich durch lebhafte Gesten nach Kerlchen hin als Spender.
»Trinken Sie, Fräuleinchen, Sie wissen ja, 'ne Musikantenkehle, die – –«
Aber kaum hatte Kerlchen die ersten Takte angegeben, als eine flehende Stimme an ihr Ohr drang:
»Einziges Kerlchen, – ich bins, Gretchen Döring! Oh was soll ich nur tun, ich bin halb ohnmächtig vor Schmerz, meine Schuhe drücken so furchtbar – immer und immer noch – ich wollte diese Quadrille garnicht tanzen, aber eben kommt Dr. Hagelberg – oh Kerlchen – was soll ich thun – – –«
»Nimm meine, – schnell,« rief Kerlchen, es sind Mamas Brautschuhe, sie sind furchtbar weit und groß und schlappen mir immer am Fuß, was brauche ich Schuhe, wenn ich Klavier spiele.«
Ein Ruck und die weißseidenen Schuchen lagen vor Gretchen Döring, welche hastig hineinschlüpfte.
»Tausend Dank, liebes, liebes Kerlchen!«
Sie lief eilends fort, und wenige Augenblicke nachher verneigte sich ein großer blonder Herr vor ihr und führte das liebliche Kind in die Geheimnisse einer Schwedischen Quadrille. Kerlchen aber spielte und spielte, als habe es nie etwas anderes gethan.
»Visite à droit, à gauche!« Monsieur Poncet schüttelte den Kopf, er begriff den Zusammenhang nicht und hätte gar zu gern das anmutige Kerlchen in den graziösen Wendungen der Quadrille gesehen, statt dessen paukte das es auf der Drahtkiste herum. »Impossible, – incroyable, unglaublich!«
Gerade beim Schlußakkord erschien Musikus Scholz wieder auf der Bildfläche.
»Gnädiges Fräulein, sie schläft,« berichtete er glücklich und schüttelte dankbar Kerlchens Hände, »habe auch den Jungen ins Bett gebracht, oh Fräulein Felicitas – – –«
Aber Fräulein Felicitas war schon aufgesprungen und wehrte mit herzigem Lächeln seine vielen Dankesbeteuerungen ab. Sie blickte sich um und sah Gretchen Döring versunken in einem Gespräch mit Dr. Hagelberg, sie schien den Schuhtausch ganz vergessen zu haben.
Kerlchen konnte aber unmöglich ohne Schuhe durch den Saal gehen, deshalb schlüpfte sie einstweilen in das sogenannte »Lesezimmer« der Thüringer Edeltanne, das neben der Garderobe lag. Aus dieser drangen scheltende, keifende Worte zu ihr herüber, dazwischen leises, bitterliches Weinen.
»So schämen muß mer sich, alle andern sin am Tanzen, und du schimmelst wie'n ver-
Text fehlt im Buch. Re
de freilich kein Mann zu dir ran, die wollen heutzutage en rotbackiges, gesundes, vergnügtes Weibsen.«
Kerlchen erkannte durch die klaffende Türspalte die stadtbekannte böse Frau Kalkulator Hassee, deren Nichte bei ihr sich zu Lehrerinnenexamen vorbereitete und wahrlich nicht auf Rosen gebettet war.
»Un nu nimmt'ch zesammen un bis lustig«, lautete der Schluß des Sermons, »mir gehn jetzt widder 'nein.«
Die Thür schloß sich hinter ihnen.
Kerlchen schaute sich in dem Raume um, der es umgab und von einer schlecht brennenden Lampe mühsam erhellt wurde. Ein großer Ledersessel, ein Tisch mit Büchern und in der Ecke ein verstaubtes Spinnrad. Kerlchen fühlte sich recht müde und abgespannt, außerdem fror es in den dünnen Strümpfen ohne Schuhe, es holte sich schnell aus der Garderobe seine Kopfhülle, wickelte sie um die Füße und setzte sich wartend in den großen Ledersessel; Gretchen Döring mußte ja jeden Augenblick kommen und sie suchen.
Frau Oberst Schlieden hatte indes auch wartend umhergeschaut. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas mit heißem Glühwein, das sie für Kerlchen bestellt hatte, damit sich ihr Kleines auf der zugigen Musikantentribüne nachher ein wenig erwärme.
Aber Kerlchen kam nicht. Dagegen eilten Damen und Herren an ihren Tisch, um sie zu begrüßen und sich nach dem Befinden zu erkundigen, und plötzlich ging ein Flüstern und Zischeln durch den Saal, der Wirt und Schang stellten sich in Positur, der Bürgermeister begab sich hoch aufgerichtet nach der Tür, die Musik ließ einen rauschenden Tusch ertönen und – der junge Fürst Elimar trat an der Seite des Herrn Oberst Schlieden, gefolgt von zwei jüngeren Offizieren, in den Saal.
Er grüßte verbindlich lächelnd nach allen Seiten, reichte dem Bürgermeister und dessen Frau die Hand, sprach ein paar freundliche Worte und ließ dann seine Augen suchend umherschweifen. Endlich entdeckte er Frau Oberst Schlieden, er ging raschen Schrittes auf sie zu und küßte ihr ehrerbietig die Hand.
»Also hier ist die Oase in der Wüste, meine verehrteste gnädigste Frau!« flüsterte er ihr leise zu und lachte. Es war noch ganz das alte Knabenlachen, und Frau Schlieden sah ihm mütterlich zärtlich in das schöne, blasse Gesicht, das so sichtbare Spuren eines tiefen Leidens zeigte.
Er richtete seine hohe Gestalt, die er gern etwas vornübergeneigt trug, stramm auf, als lese er in ihren Mienen die Gedanken, die sie bewegten.
»Wo ist denn mein alter Spielkamerad Kerlchen?« fragte er etwas hastig.
»Ich weiß es selbst nicht, Durchlaucht,« war ihre Antwort, und sie erzählte dem Fürsten, daß Kerlchen bis jetzt den Musikus Scholz vertreten habe, und daß seitdem dieses Glas Glühwein vergeblich auf Felicitas warte.
Der Fürst machte erstaunte Augen, ebenso der Oberst, dann lachten Beide laut auf.
»Also unverändert das alte Kerlchen!« rief Fürst Elimar, »ich schlage vor, die Äste und Zweige der ehrwürdigen Thüringer Edeltanne zu durchsuchen, es wird sich schon irgendwo verklettert haben«.
Bei der lauten Frage des Fürsten nach Kerlchen hatte sich Gretchen Döring aus der tiefsinnigen Unterhaltung mit Dr. Hagelberg gerissen, tiefbeschämt erinnerte sie sich plötzlich der aufopfernden Freundin, die sie so schnöde vergessen hatte.
Aber der Wirt hatte sich schon auf die Suche nach Kerlchen begeben, er öffnete die Türen zu den Nebenzimmern weit, – weit – und da bot sich den erstaunten Blicken der Festteilnehmer etwas sehr Liebliches.
Im großmächtigen Ledersessel saß eng und wohlig geschmiegt das süß und fest schlafende Kerlchen, der zarte Tüll bauschte sich anmutig um seine schlanken Glieder, der Heckenrosenkranz war vom Kopf gefallen und lag auf seinem Schoß, Großmutters Spinnrad in der Ecke gab eine anmutige Staffage.
»Dornröschen«, sagte irgend jemand im Kreise, gerade als der Fürst auf Kerlchen zuging. Ob er es hörte?
Er schritt wieder zurück, und blieb neben Frau Oberst Schlieden stehen, seine Hand strich etwas nervös über den braunen Spitzbart.
Da erwachte Kerlchen und stand in lieblicher Verwirrung vor all den fremden Augen.
»O, Li«, rief sie –und lief geradeswegs auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen, die er auch beide ergriff und herzhaft schüttelte. Aber auf einen mahnenden Blick ihres Vaters hin versank sie plötzlich in einen tiefen Hofknix, der Fräulein Emerenzias Entzücken erregt haben würde.
»Durchlaucht,« stammelte Kerlchen verwirrt.
»Das nenne ich eine Überraschung,« rief der Fürst fröhlich, »und schöne Geschichten habe ich inzwischen von Ihnen gehört, Fräulein Musikante. Haben Sie denn auch schon eingesammelt für Ihr schönes Spiel, oder darf ich den Anfang machen?«
Er entnahm seiner Börse ein paar blitzende Goldstücke und ließ sie in seine Uniformmütze gleiten, welche er dem Kerlchen überreichte. Dabei blieben seine Augen erstaunt und lustig fragend auf Kerlchens schuhlosen Füßchen hängen, die unter dem nicht sehr langen Tüllrocke hervorguckten.
Kerlchen errötete bis unter das Lockenhaar, nahm hastig die Goldstücke aus der Mütze, bedankte sich kurz, aber herzlich und verschwand mit Gretchen Döring in der Garderobe, wo ihr die Freundin beinah weinend und kläglich Verzeihung heischend um den Hals fiel.
»Ja, es war dumm,« sagte Kerlchen ehrlich, »aber du mußt nicht weinen, es ist solch schöner Tag heute, ich konnte so 'ne Menge Gutes thun. Ist Prinz Li nicht herrlich?«
Gretchen nickte und fuhr dann mit schmerzverzogenem Gesicht wieder in die engen Schuhe. »Sind wir nicht Dümmserte?« fragte da Kerlchen plötzlich, »behalte du doch meine Schuhe heute Abend, ich nehme deine, – ich hab ja so dumme Babybeinchen, aber heute sind sie mal zu was nütze.«
»Meine blauen Schuhe passen nicht zu deinem wunderschönen Kleide,« wehrte Gretchen ängstlich ab, aber Kerlchen zeigte auf ihre Stirn.
»Schafköppchen, als ob mich das kümmerte, wenn ich dir helfen kann!«
Die Garderobenfrau half noch schnell mit einem Stück Papier und einem Bleistift aus, Kerlchen machte ein kleines Packetchen und schrieb darauf: »Recht gute Besserung für Frau Scholz«, ließ sich schnell von Gretchen Döring noch mal küssen und verließ dann mit der Freundin die Garderobe.
Drinnen im Saal legte sie stillschweigend das Päckchen auf das Klavier.
Fürst Elimar war in heiterster Stimmung, der Wirt zur Thüringer Edeltanne hatte händereibend und schmunzelnd seine besten Marken kalt stellen lassen, und sah zu seiner großen Freude, wie eine nach der andern ihre natürliche Bestimmung erfüllte. Der Tanz hatte wieder begonnen, und Fürst Elimars Augen leuchteten freudig auf, als ein Straußscher Walzer ertönte.
»Durchlaucht«, sagte väterlich ermahnend Oberst Schlieden, »nicht wahr – nur ein Tanz!«
»Ich weiß, ich weiß, verehrter Freund,« entgegnete der junge Fürst, »diesen will ich aber auch auskosten.«
Er verneigte sich tief und ehrerbietig vor Kerlchen, aber dieses nahm seine Hand und, etwas verdeckt von des Vaters stattlicher Figur, hielt es dem Fürsten leise eine eindringliche, kleine Rede, die mit einem kindlichen: »Bitte bitte, lieber Fürst Li«, schloß.
»Sie sind ein närrisches, sonderbares, goldiges Kerlchen,« entgegnete Fürst Elimar seufzend, »aber ich kann Ihnen heute nichts abschlagen!«
Monsieur Poncet hatte inzwischen in rascher Geistesgegenwart den kleinen Tisch mit den Orden und Sträußen, die eigentlich erst im Cotillon verwendet werden sollten, in die Nähe des Fürsten geschoben, dieser nahm zwei duftende Sträußchen, überreichte eines davon Kerlchen und schritt mit dem andern durch die Reihen der Tanzenden und der Zuschauer, die ihm ehrerbietig Platz machten.
Das kleine, blasse Fräulein Hassee, das heute noch keinen Schritt getanzt hatte und ihr Leid, so verachtet zu sein, tapfer bezwang, wurde noch um einen Schein blasser, als die vornehme Gestalt des jungen Fürsten auf sie zukam. Sollte es denn möglich sein, daß sie, sie die Auserkorene war? Sie nahm mit zitternden Händen das Sträußchen und sah ein paar Augenblicke voll inniger Dankbarkeit in die ernsten Augen Seiner Durchlaucht, dann legte er den Arm um sie und tanzte mit ihr dahin. Oh, die Welt war doch unbeschreiblich schön! Was kümmerten Fräulein Hassee die spöttischen Mienen ringsumher, was das Flüstern und Zischeln? Als sie an der Hand des Fürsten an ihren Platz zurückschritt, sah sie in ein strahlendes Gesichtchen, das dem Kerlchen gehörte, und in ein paar fröhliche Blauaugen, die zu fragen schienen: »Habe ich meine Sache gut gemacht?«
»Sie tanzen vorzüglich, Fräulein Hassee«, sagte Fürst Elimar laut, »Monsieur Poncet kann stolz auf Sie sein.«
Und sie wurde unumstrittene Ballkönigin, die kleine, blasse Lehrerin, sie sah auch garnicht mehr blaß aus, die Freude des heutigen Abends hauchte eine liebliche Röte auf das zarte Gesichtchen, so daß die Tänzer es sich plötzlich garnicht verzeihen konnten, sie so lange unbeachtet gelassen zu haben.
Nach einem Viertelstündchen verabschiedete sich der Fürst mit seinen Begleitern, und da Dr. Hagelberg bereits wieder zu einem Kranken gerufen war, hatte auch Gretchen Döring nichts dagegen, als Frau Oberst Schlieden gleichfalls zum Aufbruch mahnte.
Die beiden Mädchen plauderten noch in ihrem Stübchen ein Weilchen über die Erlebnisse des Abends, dann faltete Gretchen Döring ihre Hände über der Bettdecke und sagte träumerisch: »Ach, es war doch himmlisch heute!«
»Gute Nacht!« entgegnete Kerlchen, herzhaft gähnend, »wir müssen ausschlafen, morgen steigt die Landpartie; die ist noch das beste an der ganzen Tanzstunde. – Aber du hast recht, Gretel, schön wars! Ich hab zwar immer gemeint, auf einem Balle müsse man tanzen, aber es ging auch so!«
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