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I.

Admiral Samuel Kirk hatte einen guten Tag. Kolonel Davison war aus St. Louis in einer militärischen Angelegenheit nach Washington gekommen, wo ihn Joe Fisher ins Kasino schleppte, so daß Kirk ein Opfer für seine Geschichte am Mississippi hatte, die sich von seinen Freunden schon keiner mehr erzählen ließ, da sie sie alle bereits hundertmal gehört hatten. Aber Kolonel Davison war ein Neuling in dem Kreis, und Samuel Kirk nützte das aus. Er trank erst zwei Whiskys, steckte dann eine entsetzlich schmierige Schifferpfeife in Brand, zwinkerte mit den winzigen blauen Äuglein, strich mit seinen mageren Fingern durch das kurzgeschnittene weiße Haar, zwirbelte den spitzen Kinnbart, schürzte die glattrasierte Oberlippe, so daß große gelbe Zähne sichtbar wurden, und legte los:

»Ob Sie damals überhaupt schon auf der Welt waren, Kolonel, das weiß ich nicht, bezweifle es aber. Im besten Fall lagen Sie noch Ihrer schwarzen Amme an der Brust – nein, widersprechen Sie nicht, Ihre Amme war schwarz, sonst wären Sie nicht so brünett ausgefallen. Ja, Ammen färben ab, mein Lieber, und das bedachten die Eltern von gestern leider zu wenig. Na, das bleibt sich schließlich für meine Geschichte gleichgültig, von der Sie, Sir, jedenfalls profitieren können. Also damals, nämlich während des Sezessionskrieges, befehligte ich als junger Kapitän die Fregatte ›Texas‹, einen tüchtigen Dreimaster. Was glauben Sie wohl, wem das Schiff gehörte? Den Nordstaaten? Ha, mein Lieber, da sind Sie auf dem Holzweg!« Die stacheligen Brauen Kirks sträubten sich, als hätte der Kolonel, der sich aber gar nicht muckste, widersprochen. »Ich war Südstaatler durch und durch, mit Leib und Seele, mit Leber und Nieren, verstanden! Mit der Bande da oben im Norden, die den Niggern gleiche Rechte wie den Weißen zuschanzen wollte, hatte ein anständiger Kerl nichts zu schaffen.«

Jetzt beabsichtigte Davison wirklich etwas einzuwerfen und begann ein bißchen geärgert: »Entschuldigen Sie, Herr Admiral ...« aber Joe Fisher versetzte ihm unter dem Tisch einen fühlbaren Tritt aufs Schienbein, den der Kolonel richtig deutete und rasch schwieg.

Samuel Kirk spuckte auf den Teppich und bestellte zwei neue Whiskys auf einmal, um dem Kellner später einen Gang zu ersparen. »Junger Freund, Sie wollen gewiß sagen, Ihr Vater oder Ihr Onkel habe dazumal unter Grant für die Nordstaaten gefochten und sei dennoch ein anständiger Kerl gewesen? Zugegeben, daß der eine oder der andere von euch gegen die Sklavenhalterei bei uns wahrhaftig aus Menschlichkeit protestierte – so wie zum Beispiel Euer Präsident Lincoln, ein smarter boy, der es nur nicht besser verstand –, aber die meisten, die unsere Nigger auch für Menschen hielten, taten das aus geschäftlichen Gründen, weil wir ihnen mit der billigen Sklavenarbeit die Konkurrenz sauer machten. Um unsere Konkurrenz zu unterdrücken, fing man den Krieg an und nicht etwa um der schönen Augen triefäugiger Nigger willen. Ihr da im Norden rechnetet, wir da im Süden würden bankrott, sobald auch der Schwarze ein freier Mann war und seinen Lohn fordern durfte. Sehen Sie, Kolonel, das war die wirkliche Ursache des Sezessionskrieges, aber ich will niemandem meine Meinung aufdrängen und sage bloß, was wahr ist.«

Fisher gähnte und fand, daß die Einleitung diesmal gar zu umfangreich ausfiel: »Samuel, du wolltest erzählen, was du auf der ›Texas‹ erlebtest.«

»Geduld! – Wir kreuzten also an der Mississippimündung, dear Sir, weil uns gemeldet war, das Linienschiff ›York‹ der Nordstaatler habe die Absicht, Neuorleans zu bombardieren. Die löbliche Absicht aber wollte ich den Krämern gehörig versalzen! Nach einer Woche Wartens segelte sie denn auch 'ran, doppelt so groß als mein Kahn und dreifach stärker bestückt. Als ob das auf mich und meine Jungens Eindruck machte! ›Klar zum Gefecht!‹ befahl ich, unsere Flagge stieg hoch, und meine lieben Kanonen donnerten zur ersten Begrüßung hinüber, ehe die Schlafmützen der ›York‹ noch recht wußten, was los war. Dann aber legten auch sie sich ins Zeug und gar nicht übel, um die Wahrheit zu sagen. Eine Granate sauste uns in die Takelung, und eine zweite platzte mitdecks, daß meinem ersten Leutnant die Mütze abhanden kam mitsamt dem Kopf darunter. War ein lieber Kerl, der erste Leutnant John Nowles und hatte daheim eine Farm, eine hübsche Frau, zwei Kinder und ein Dutzend Schwarzer. Schade um ihn. Nun flitzten wir hinüber auf die ›York‹, und die ›York‹ flitzte zurück, bis eine Granate in ihre Pulverkammer einbrach und das halbe Schiff in die Luft flog. Na, die ›York‹ war abgetan. Was noch auf der See herumschwamm, das hißte die weiße Flagge. Nicht wahr, man ist ein Christ und weiß, was im Evangelium steht, wenn auch nicht ganz genau. Ich ließ also beidrehen und fischte die Kerle aus dem Wasser. Den Kapitän grüßte ich höflich – will hoffen, er hätte dasselbe getan, wäre ich zu ihm gekommen –, bot ihm einen Schluck Whisky an und sagte: ›Nichts für ungut, Kamerad, es war mir ein Vergnügen, euch in die Luft gesprengt zu haben, aber es ist nur meine Seemannspflicht gewesen. Gut, daß Ihr noch rechtzeitig die Flagge strichet.‹ Und weil er mich in seiner armseligen Lage erbarmte, fügte ich noch freundlich hinzu: ›Aber das kommt davon, wenn ein anständiger boy, für den ich Sie halte, obwohl Sie wegen der schundigen Nigger mein schönes Neuorleans bombardieren wollten, auf den unrechten Weg gerät, wie ein tüchtiger Schluck Brandy in die falsche Kehle. Was gehen denn Sie die Schwarzen an, wenn ich fragen darf?‹ Da meldete mir mein Steuermann, der Jack – ein forscher boy – auch zehn Nigger von der ›York‹ seien da, was man mit ihnen anfangen solle. ›Nigger?‹ fragte ich. ›Was haben die da zu schaffen? Auf meinem Schiff dulde ich keine Nigger. Denen verdanken wir den ganzen verdammten Krieg! An die Raaen mit ihnen!‹ Zehn Minuten später baumelten die Kaffern. All right.« Befriedigt stopfte Samuel Kirk wieder seine entsetzliche Pfeife und erwartete vom Kolonel Davison ein paar beifällige Worte.

Aber Davisons Vater hatte wirklich unter den Fahnen der Nordstaaten gefochten, und außerdem gefiel ihm das Hängen nicht sonderlich, so daß er sehr ernst meinte: »Man kann die Sache von verschiedenen Seiten betrachten, Herr Admiral. Auf jeden Fall gab Ihnen der Ausgang des Krieges unrecht, die Südstaaten, die die Menschenrechte mit Füßen traten, unterlagen, und die moralischen Grundsätze obsiegten!«

Kirk spuckte dreimal auf den Teppich und grollte: »Freilich unterlagen wir, weil das Vernünftige in unserer verkehrten Zeit in der Regel unterliegt. Goddam. Kein Wunder, wo wir fünf Millionen mit zwanzig zu raufen hatten. Und ohne Euren General Grant hätte unser General Lee Euch schon die Hosen ausgeklopft. Verlaßt Euch darauf, Sir! Waren eben zu viel Hunde, die auf uns Jagd machten.«

Trotz eines neuerlichen Fußtrittes Joe Fishers unter dem Tisch fuhr Kolonel Davison diesmal zornig auf: » Wer waren die Hunde? Etwa die tapferen Nordstaatler, die euch Sklavenhaltern das Fell gerbten?«

»Ich dränge niemandem meine Meinung auf,« sagte, scheinbar belustigt über den Zorn des anderen, Samuel Kirk. »Und was die Hunde anlangt, von denen ich gelegentlich redete, so hab ich nur den Vergleich mit dem Hasen, den die vielen Hunde zu Tode hetzen, gebrauchen wollen. Das ist wohl noch erlaubt, Herr Kolonel, oder nicht?«

Fisher vermittelte: »Unser Kirk läßt mit sich reden, nicht wahr Samuel? Hast doch selbst später bei den endlich vereinigten Staaten Dienste genommen und die Vergangenheit vergessen und begraben.«

Aber der Admiral platzte mit gesträubten Brauen los: »Ich habe nichts begraben und nichts vergessen, ich habe auch keine Dienste genommen, sondern euer Präsident Johnson schrieb mir eigenhändig einen Brief, in dem er mir das Kommando über die ›Louisiana‹ antrug, die ein viel schöneres Schiff als meine alte ›Texas‹ war. Die Niggerfrage ist erledigt, ist leider so erledigt, wie Händler und Krämer eben solche Fragen abtun, so daß jetzt in Washington ein Nigger schon auf zwei Menschen kommt, aber die japanische ist noch da, und wenn die gelöst wird, möchte der alte Samuel auch dabei sein, damit man nicht ein zweites Mal vor Wilden die Segel refft, wie der Hund, der seine Prügel weg hat, den Schweif.«

»Spät ist es geworden,« meinte Joe Fisher und riß den Mund gähnend auf, um seiner Bemerkung Nachdruck zu geben. »Zeit zum Schlafen.« Er fürchtete, der Alte würde noch sein zweites Steckenpferd reiten und gegen die Gelben losziehen.

Kirk zahlte, verstimmt über den mißlungenen Abend, der sich so gemütlich angelassen hatte, brummelte, die Jugend schätze die Erfahrungen des reifen Alters spottwenig, drückte seinen Freunden und dem Kolonel kräftig die Hand, daß Davison, der dergleichen nicht gewohnt war, am liebsten aufgeheult hätte, und trollte sich.

Aber er ging nicht gradwegs heim, sondern schlenderte auf Umwegen durch die feuchte Mitternacht zum Marineministerium, um zu inspizieren, in der Hoffnung, da und dort eine Nachlässigkeit zu entdecken, die ihm dann Gelegenheit gab, seine schlechte Laune herauszuschimpfen. Bleich und kleinmütig leuchtete das Weiße Haus im Mondlicht. Der Wachposten vor dem Ministerium erwies dem Admiral die militärischen Ehren, und auf dem Gang, der zu seiner Kanzlei führte, fand er Jack, den alten Steuermann von der »Texas«. »Nichts Neues?« fragte Kirk.

»Nichts Neues, Sir.«

»Wer hat Dienst?«

»Kommander Duniphan und Leutnant Douglas.«

Samuel Kirk schritt an Tür 38, die ein Täfelchen mit dem Vermerk »Leutnant Leslie Mac Douglas« trug, vorbei und klopfte an Tür 39 mit dem Namen »Kommander Archibald Duniphan«. Es folgte kein »Herein«, und unwillig drückte er die Klinke nieder.

Über den Schreibtisch gebeugt, halb sitzend, halb auf der mit Leder überzogenen Platte liegend kehrte der Kommander dem Eintretenden den Rücken und rührte sich nicht. Kirk blieb wartend stehen, räusperte sich, und als noch immer keine Antwort kam, sagte er zum alten Steuermann: »Jack, sieh zu, was der hat.«

Jack näherte sich betroffen der stillen Gestalt und murmelte: »Kommander – Inspektion!« Aber kein Laut, kein Zeichen, daß der Angeredete es hörte. Der Alte blickte gebückt ins Gesicht des Regungslosen und schrie auf: »Herr Admiral ...«

»Hallo, was denn?« Auch Samuel Kirk näherte sich jetzt dem Schreibtisch und schaute in das fahle Gesicht seines Kommanders, dessen Augen wie erschrocken ins Leere starrten, dessen Mund weit offen stand und dessen Nase spitz und weißlich war. Der Admiral musterte die Umgebung: Vor dem Toten lagen beschriebene Blätter, durch ein mehrfarbiges Band zusammengeheftet – ein amtlicher Akt –, ein fast geleertes Glas Wein stand davor und daneben eine entkorkte Flasche, aus der anscheinend das Glas gefüllt worden war. Auf der mit schmalem Leder überzogenen Platte verstreute Splitter bronzebraunen Siegellacks, mit dem die Flasche versiegelt gewesen und das auch noch mit einem breiten Rand deren Hals umkränzte; am Fußboden lag der angebohrte Stöpsel.

Der alte Steuermann griff zu, den Bewegungslosen aufzurichten und zu untersuchen, ob noch Hilfe möglich war, aber Kirk faßte seinen Arm: »Weg da! Alles lassen, wie es ist! Nichts anrühren! Der Polizei telephonieren!«

Jack schlurfte hinaus zum Telephon, suchte verwirrt eine Nummer im Buch, rief endlich die Polizei an und bat im Namen des Admirals, eine Kommission zur Aufklärung eines sonderbaren Unglücksfalls zu senden.

Inzwischen stopfte sich Samuel Kirk seine entsetzliche Schifferpfeife und qualmte seelenruhig. Endlich meinte er gelassen: »Sichtbarlich ein Schlaganfall. Keine Ursache, sich zu erregen. Kommt alle Tage vor.«

Es klopfte, und der Admiral sagte »Herein!« aber es war noch nicht die Polizei, sondern im Türrahmen erschien Leutnant Mac Douglas. Eine seltsame Figur: Beinahe zwei Meter hoch, abgemagert, daß man glaubte, seine Knochen klappern zu hören, an denen die Uniform wie an einem Kleiderstock hing, das schmale ausgemergelte Gesicht grau und mit Höhlen in den Wangen, ebensolche Gruben hinter den Ohren; glattrasiert und das dunkelbraune Haar sorgfältig gescheitelt. Aber aus dem Grau der Gesichtshaut glosten große, stahlblaue Augen, die abwechselnd den Admiral, den Kommander Duniphan und den alten Jack anstierten. So blieb Leslie Mac Douglas bestürzt stehen und zitterte.

Kirk zog die Pfeife zwischen den gelben Zahnreihen heraus, spuckte und sagte: »Leutnant, unser Kamerad Duniphan ist plötzlich gestorben. Weiß der Teufel, heutzutage sterben die jüngsten und gesündesten Menschen wie die Fliegen im Winter.«

Fast ohne sich zu regen saßen oder standen die drei Männer um den stillen Körper am Schreibtisch und warteten.

Endlich kam die Polizei. »Eliot,« stellte sich der Polizeileutnant flüchtig vor, im Gedanken schon ganz mit der Angelegenheit, die er zu untersuchen hatte, beschäftigt. Hinter ihm schritt ein anscheinend junger Mann mit von der Sonne braun gebranntem Teint, hellen, kurzsichtigen Augen, die eine Brille verstärkte, und mit schlohweißem Haar, das merkwürdig von den jugendlichen Zügen abstach. Am Ausgang neben dem Leutnant Mac Douglas postierten sich ein paar einfältig aussehende Polizisten.

»Also, was gibt es?« fragte Eliot, aber er stellte die Frage nur an sich, hörte auf die knappe Erklärung Samuel Kirks, der berichtete, was er mußte, gar nicht hin und erkundigte sich bloß: »Ist alles noch so, wie es war?«

»Alles unverändert.«

Der Polizeileutnant, dessen Bewegungen und Ausdrucksweise etwas sehr Entschlossenes hatten, fühlte nach dem Puls Duniphans, der nach wie vor überhängend auf der Schreibtischplatte lehnte, dann untersuchte er das Herz, und zuletzt schoben seine Finger die Lippen des Kommanders auseinander. »Tot.« Hierauf führte Eliot das Glas mit dem Weinrest und schließlich auch die fast noch ganz gefüllte Flasche unter die Nase, lächelte und setzte Flasche und Glas wieder hin. »Gift.« Das erregte weiter kein Staunen, es war, als ob man derlei erwartet hätte.

Der Polizeileutnant nahm wieder seine aufrechte militärische Haltung ein und sagte höflich zu Samuel Kirk: »Wünschen Sie, Herr Admiral, eine Darlegung des Falls, der so einfach ist, daß er sich mir schon nach, einer kurzen Untersuchung, ohne Zweifel übrig zu lassen, offenbarte?«

»Bitte.« Kirk zwinkerte mit seinen winzigen blauen Äuglein. Er lümmelte, als ginge ihn die Geschichte blutwenig an, breit und bequem in dem einzigen Lehnsessel des Büros, während Leutnant Mac Douglas den Platz an der Tür besetzt hielt und der alte Steuermann unstet von einem Fuß auf den andern trat. Der junge Weißhaarige, der in Begleitung der Polizei gekommen war, näherte sich dem Toten und schaute durch seine scharfen Brillengläser auf das Schriftstück, das sich auf der Schreibtischplatte ausbreitete und für das noch niemand Interesse gezeigt hatte.

Eliot begann mit erhobener Stimme: »Wir haben davon auszugehen, daß sich der Commander Archibald Duniphan selbst entleibte, daß die Tat – nach dem Zustande der Leiche zu schließen – vor einer oder höchstens einer und einer halben Stunde, also zwischen ein und zwei Uhr, geschah. Um seinen Vorsatz, aus dem Leben zu scheiden, auszuführen, benützte er ein Gift, das uns Fachmännern nur allzu bekannt ist und das ich als spezifisch amerikanisches Mittel bezeichnen möchte, da seine Erfinder Indianer sind, von denen es gewissermaßen in den Allgemeinbesitz der Nation überging, die wahrlich damit Mißbrauch treibt.« Mit einer Gebärde wandte er sich an den jungen Weißhaarigen: »Lieber Herr Kollege, die Art des Giftes wird für Sie neu und interessant sein ...«, aber da unterbrach er sich: »Herr Admiral, hier stelle ich Ihnen Herrn Doktor Peter Florian, einen Deutschen, vor, der uns vom Auswärtigen Amt in Berlin empfohlen wurde und sich mit Kriminalistik beschäftigt. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie wertvoll uns seine Kenntnisse gerade hier noch werden können. Wir rauchten eben eine Zigarette in meiner Kanzlei, als man mich hierher berief, und Doktor Florian hatte die große Freundlichkeit, mich zu begleiten.«

Kirk nickte Florian freundlich zu, und dieser verbeugte sich.

Eliot setzte seine Erklärung fort: »Also, lieber Kollege, das Indianergift besteht aus dem besonders dafür zubereiteten Saft eines in der Union nicht seltenen Giftbaumes, des Rhus toxicodendron, und aus einem Stoff anorganischer Art, den die Chemie noch nicht mit Sicherheit zu benennen vermochte. Jedenfalls ist aber die Mischung, auch in den allerkleinsten Dosen verabreicht, unbedingt tödlich und wird von Verbrechern häufig verwendet, ebenso von Leuten, die dem Leben keinen Geschmack mehr abgewinnen können. Sie hat für die Polizei nur den einen unleugbaren Vorteil, daß sie an dem Objekt, das ihr zum Opfer fiel, in der Regel leicht nachweisbar ist. So auch hier. Nur besonders vorsichtigen und erfahrenen Verbrechern, die mit der Wissenschaft fortschreiten, gelingt es, durch Beimengung eines bestimmten Alkaloides, das ich nicht genauer bezeichnen will, die Entdeckung ziemlich zu erschweren. Selbstverständlich hatte der Kommander Duniphan, wie schließlich jeder Selbstmörder, kein Interesse daran, die Art des Giftes, das er einnahm, zu verheimlichen. Übrigens vermag auch ein Zusatz des erwähnten Alkaloides den Chemiker nicht lange zu täuschen und nur die Feststellung um einige Stunden hinauszuschieben – falls nicht irgendein unkundiger Arzt oder Beamter vorschnell eine natürliche Todesursache angibt, weil er das Indianergift nicht erkannte, so daß überhaupt keine weiteren Untersuchungen angestellt werden. Ein gar nicht seltener Fall bei der Nachlässigkeit mancher Ärzte und Beamten. Mir allerdings könnte es nicht passieren.«

Samuel Kirk sagte: »Das Gift, von dem Sie sprechen, kenne ich auch, denn ich lebte einige Jahre im Indianerterritorium und hatte oft mit Rothäuten zu tun, aber die Vermengung mit dem Alkaloid, um den Nachweis zu erschweren, ist mir völlig neu.«

»Was nur ganz verständlich ist«, bestätigte der Polizeileutnant höflich. »Den Indianern und so ziemlich auch jedem Gebildeten sind zwar die Grundstoffe bekannt, aber diese besonders zu verarbeiten, blieb der Verbrecherwelt und der Arzneiwissenschaft vorbehalten.« – Und zu Doktor Florian: »Lieber Kollege, nun riechen Sie bitte an dem Weinrest – es ist meines Erachtens eine gute Sorte Südwein. Nehmen Sie etwas wahr?« Gespannt betrachtete er den Gesichtsausdruck Peter Florians, der das Glas zur Nase hob.

Er roch eine Weile daran: »Ein seltsam süß-säuerlicher Geruch, der mir ganz neu ist.«

»In der Tat,« sagte Eliot, »süß-säuerlich, das ist die richtige Bezeichnung. Und es muß in dem Wein eine beträchtliche Menge Indianergift vorhanden sein, denn der Geruch ist durchdringend. Dem Kommander lag ja auch daran, eine schnelle und durchaus tödliche Wirkung zu erzielen. – Und nun kehren wir wieder zur Tat selbst zurück, die wir uns möglichst veranschaulichen wollen. Des Kommanders Absicht, aus dem Leben zu scheiden, datiert sicherlich nicht erst von heute oder gestern, sondern war das Ergebnis eines längeren Vorbedachtes, denn die Beschaffung des Saftes des Rhus toxicodendron bereitet immerhin einige Schwierigkeiten. Der Handel damit wird hinter dem Rücken der Behörden getrieben, und Kurpfuscher verwenden den Stoff zur Herstellung eines gesuchten Schönheitsmittels. Am leichtesten verschafft man sich das Indianergift von einer verkommenen Rothaut, wie sie ja zu Tausenden in unseren Großstädten arbeitsscheu herumlungern und mit allem mühelos zu verdienen suchen, was sie keinen Schweiß kostet ... Vielleicht schob der Kommander Duniphan die Ausführung aus irgendwelchen Gründen, die ich natürlich nicht erraten kann, von Tag zu Tag hinaus, bis ihn der Überdruß am Dasein plötzlich übermannte, denn sonst hätte er sich nicht im Dienst von dieser Welt, der er keine Reize mehr abgewann, empfohlen. Mitten im Studium eines Aktes holte er das Fläschchen mit dem Gift aus der – sagen wir – Westentasche und goß den vollen Inhalt ins Weinglas, um dies fast bis zur Neige auszutrinken. Sie müssen nämlich wissen, Herr Kollege, daß Indianergift flüssig ist und in festem Zustand nicht vorkommt. – Es ist anzunehmen, daß die vom Kommander erstrebte Wirkung sofort eintrat und er nach wenigen Augenblicken tot vornüber auf den Schreibtisch fiel, in welcher Stellung ihn der Herr Admiral antraf und die auch wir noch zu sehen Gelegenheit haben. So ungefähr, meine Herren, ja – genau so hat sich der Vorgang abgespielt.«

Kirk nickte: »Herr Polizeileutnant, meine Hochachtung und Bewunderung für so viel Logik und Wissen, Nachdenken und Scharfsinn. Ich, offen gestanden, wäre nicht daraufgekommen, doch schließlich ist es auch nicht mein Beruf, Rätsel zu raten.«

Eliot dankte für die Anerkennung und diktierte einem Polizisten das Protokoll, das ungefähr dasselbe enthielt, was er soeben in seiner Rede dargelegt hatte.

Der Admiral beauftragte den alten Steuermann flüsternd, um die Amtshandlung nicht zu unterbrechen, den Vater Duniphans in Pittsburg, U.-S.-A., Ice Company, telegraphisch von dem Vorgefallenen zu verständigen, und Jack schlurfte hinaus, den Leutnant Mac Douglas, der immer noch auf demselben Fleck bei der Tür stand, einfach beiseiteschiebend.

Der Polizeileutnant reichte Kirk die Hand: »Im übrigen mein herzliches Beileid zu dem Todesfall. Sie als unmittelbarer Vorgesetzter Duniphans werden davon in erster Linie berührt.«

»Danke«, sagte Samuel Kirk.

»Ein Wort!« bat Doktor Florian und legte seine Hand auf Eliots Schulter. Er redete eine Weile in ihn hinein, ohne daß der Polizeileutnant etwas erwiderte. Nur einmal zuckte er mit der Achsel.

Dann meinte er: »Wenn Sie glauben ...« Und drehte mit einem Ruck den Kopf zum Admiral: »Ich halte mich für verpflichtet, Ihnen von der Vermutung, die mein Kollege äußerte, Mitteilung zu machen, auch deshalb, weil ich Sie bitte, ihm ein wenig an die Hand zu gehen. Doktor Florian schloß aus verschiedenen Einzelheiten, deren Bedeutung abzuschätzen ich noch nicht genügend Zeit hatte, daß der Kommander Duniphan nicht freiwillig aus dem Leben schied, im Gegenteil, daß er einem Verbrechen zum Opfer fiel, daß er ermordet wurde.«

Samuel Kirk zwinkerte belustigt aus seinen winzigen Schweinsäuglein: »Hm, gut. Also das meint der Herr Doktor! Ja, die Doktores ... Aber nach Ihren sonnenklaren Erläuterungen, Herr Polizeileutnant, scheint mir eine solche Vermutung doch ziemlich kühn. Aber ich will niemandem meine Meinung aufdrängen.«

»Irrtümer sind nie ausgeschlossen«, erklärte Eliot bescheiden.

Mit zwei langen Schritten seiner unendlichen Beine stand Leutnant Mac Douglas vor Peter Florian: »Wirklich – Sie glauben ...?«

In Florians Stirn zogen sich Falten: »Herr Leutnant, von einem Glauben kann keine Rede sein. Immerhin lassen einige Tatsachen, die ich hier festzustellen Gelegenheit fand, die Möglichkeit offen, daß wir es mit einem von dritter Seite verschuldeten gewaltsamen Tod des Commanders zu tun haben.«

Mac Douglas öffnete schon den Mund zu einer zweiten Frage, als der Admiral ihm zuvorkam, aus dessen Stimme Ironie und Unglauben klangen: »Lieber Doktor, wollen Sie uns nicht verraten, welche Tatsachen Ihnen die Möglichkeit offen lassen, an einen Mord zu denken?«

Florian beachtete die spitze Ironie nicht, sondern erwiderte liebenswürdig: »Wenn Sie mir, Herr Admiral, gestatteten, meine Darlegungen zu einer gelegeneren Zeit zu machen, so wäre ich Ihnen wahrhaft verbunden. Man spricht nicht gern von Vermutungen, die sich nur auf flüchtige und vielleicht irrige Wahrnehmungen stützen, zumal wenn ein so hervorragender Praktiker wie der Herr Polizeileutnant Eliot, mir nicht beizupflichten vermag.«

Kirk knurrte etwas, und Eliot schlüpfte in seinen Mantel. »Gute Nacht«, sagte er und blinzelte zu Florian. »Guten Erfolg, denn ich nehme an, daß Sie hier noch einige Untersuchungen anstellen werden, gegen die der Herr Admiral wohl nichts einzuwenden hat.«

Der sagte gleichgültig: »Das Zimmer hier steht dem Herrn jederzeit offen ...«, und bevor er ging, wandte er sich nochmals um: »Lieber Doktor, darf ich Sie bitten, mich von allem auf dem Laufenden zu halten. Ich bin selbstverständlich auf Ihre Entdeckungen sehr begierig. Alle Tage wird kein Kommander im Marineministerium umgebracht.« Er verließ das Büro, und Mac Douglas, der einen suchenden Blick zurückwarf, folgte ihm.

Nun blieb auch Eliot nicht länger. »Um den Toten kümmern Sie sich besser nicht weiter, Herr Kollege, und ich glaube, er wird Ihnen auch nichts von Belang sagen können. Ich meine das nur deshalb, weil morgen die Geschworenenkommission mit dem Beschauer an der Spitze gravitätisch anrücken wird, wie es die Gesetze für alle nicht natürlichen Todesfälle vorschreiben. Nebenbei bemerkt, werden die Herren hier ein paar Stunden herumschnüffeln und zum Schluß die Richtigkeit meines Protokolls bestätigen. Dafür stehe ich gut. Was jedoch selbstverständlich nicht die Wahrheit dessen, was ich diktierte, irgendwie beweist. Auf Wiedersehen morgen in meiner Kanzlei. Ich bin auf das Ergebnis Ihres Scharfsinnes nicht weniger gespannt als Admiral Samuel Kirk und Leutnant Mac Douglas, wenn ich in den Mienen der Menschen zu lesen verstehe, was ich mir bisweilen einbilde. Auch der verflixte Steuermann wird jedes Wort, das Sie ihm sagen, mit gespitztem Ohr anhören.«

Peter Florian, allein im Zimmer 39, überlegte nachdenklich die Abschiedsbemerkungen Eliots, hinter denen er einen geheimen Sinn suchte, und da er ihn nicht gleich erriet, machte er sich an die Prüfung einiger, wie es ihm schien, an sich nicht wesentlicher Kleinigkeiten, die aber doch genügten, die Hypothese des Polizeileutnants abzuschwächen. Als er sich anschickte, die Züge des Toten zu betrachten, trat der alte Steuermann ein und machte sich zu schaffen.

Jack sagte mit einem Mißvergnügen, das zu verbergen er sich nicht die mindeste Mühe gab, Admiral Kirk habe ihm befohlen, behilflich zu sein, Wünsche nach Tunlichkeit zu erfüllen und die verlangten Auskünfte zu erteilen.

Florian dankte und war überzeugt, jetzt einen strengen Aufpasser neben sich zu haben, aber auch der konnte ihn nicht erheblich stören. Er bat um zwei gründlich gereinigte Fläschchen.

Behender als früher entfernte sich der Steuermann, zweifellos von der Absicht getrieben, den Fremden nicht zu lange im Zimmer allein zu lassen.

Peter Florian studierte die Gesichtszüge des Toten, die ihm wirklich so wenig verrieten, wie schon Eliot vorausgesagt hatte. Archibald Duniphan mußte im Leben ein ansehnlicher Mensch gewesen sein; stark gestrichene Brauen, eine schmalkantige gebogene Nase und ein eckiges Kinn deuteten auf Entschlossenheit und die Kraft, Entschlüsse auch zur Ausführung zu bringen; die rundlich gewölbten Lippen wiesen auf Sinnlichkeit; in den dunklen Augen war leider nichts mehr zu lesen – sie stierten gebrochen und glanzlos in leere Weiten. Dann wandte sich der Doktor dem Schreibtisch zu, überflog den Akt, an dem der Kommander zuletzt gearbeitet hatte, und seine Vermutung, daß ihm nur untergeordnete Bedeutung zukam, wurde bestätigt – sonst hätte ihn der Admiral wohl auch mit sich genommen! Der Akt betraf die Strandung eines Torpedobootes im Neuyorker Hafen, und die Marineleitung bemühte sich festzustellen, ob ein strafbares Verschulden oder ob Zufall die Havarie herbeigeführt hatte.

Als der Alte mit unverändert schlechter Laune aber doch mit den zwei Fläschchen erschien, goß Florian in das eine den Weinrest aus dem Trinkglas und ins andere eine geringe Menge aus der Flasche. Letztere unterzog er überdies mit auf die Stirne geschobener Brille einer genauen Untersuchung nach Fingerabdrücken, die ihm unter Umständen wertvolle Aufschlüsse geben konnten. Fingerabdrücke genug – und leider mehr als genug, so daß sie sich gegenseitig überdeckten und verwischten. Zum großen Erstaunen des Steuermanns ließ sich Florian hierauf auf die Knie nieder und rutschte am Boden umher, überallhin spähend, unter den Schrank, unter den Tisch und unter die Sessel. Da lagen überall Zigarettenreste, abgebrauchte Schreibfedern, weiße Papierschnitzel, Asche und Staubkrümelchen.

Wie höhnisch meinte Jack: »Man konnte täglich zehnmal reinemachen, der Herr Kommander schmiß alles auf den Fußboden.«

Florian glaubte, hier nichts mehr von Bedeutung finden zu können, doch fiel ihm noch eine Frage ein, deren Beantwortung von einiger Wichtigkeit sein konnte: »Lieber Freund, woher stammt der Wein?«

Diesmal gab der Steuermann willig Auskunft: »Mr. Duniphan pflegte immer einige Flaschen vorrätig zu haben, und die brachte von Zeit zu Zeit ein Negerjunge in einem Korb. Woher, das weiß ich nicht. Er war ein starker Trinker und arbeitete nie ohne Wein. Sowie er sich an den Schreibtisch setzte, füllte er sich auch schon das Glas an. Der Herr Admiral hat dies oft gerügt, aber der Kommander kümmerte sich nicht darum – er kümmerte sich überhaupt nicht darum, was andere Leute wollten.«

Peter Florian staunte über die plötzliche Gesprächigkeit Jacks und schloß aus den Worten, daß Duniphan an ihm keinen Freund gehabt hatte. Er fragte indessen weiter: »Wäre es Ihnen nicht möglich, herauszubringen, woher der Tote den Wein bezog?«

»Ich weiß gar nichts«, beharrte der Alte, »aber vielleicht findet sich von selbst ein Anhaltspunkt. In dem Schrank müssen noch einige Flaschen stehen, denn erst vor ein paar Tagen kam eine frische Ladung.«

»Ist dieser Schrank nie abgeschlossen?«

»Der Herr Kommander schloß nie ab. Verlor vielleicht auch den Schlüssel.« In den Fächern lagen Akten, Bücher, Papierstöße, und im untersten standen drei gefüllte Flaschen, die der Steuermann herausholte. »Nur mehr drei – da muß der Kommander tüchtig gepichelt haben!«

»Können Sie mir nicht ganz genau sagen, wann der kleine Neger das letztemal da war?«

»Genau? Ganz genau?« Jack überlegte. »O ja, freilich – am fünfzehnten, bestimmt am fünfzehnten, denn da wurden die Gänge gewaschen, und mitten hinein patschte der schmierige Nigger, daß ich dem schwarzen Tier noch ein Kopfstück gab.«

Florian ergriff eine Flasche, an der an einem Bindfaden ein Zettelchen hing, und las: »Bekkie Smuls Weinhandlung und Trinkstube zur ›Rebe von Florida‹. Georgetown.« Den Namen und die Adresse notierte er sich. Aber als er die Flasche, die für ihn kein anderes Interesse mehr hatte, eben wieder hinstellen wollte, gewahrte er etwas, was ihn in Erstaunen setzte. Seine Augen kniffen sich zusammen, dann beugte er sich über die Schreibtischplatte und sammelte im Handteller die Siegelsplitter, die beim Öffnen der vergifteten Flasche abgebröckelt waren, verglich sie lang und aufmerksam mit der unverletzten Siegelung der Flaschen aus dem Kasten und schüttelte den Kopf. »Bitte, verschaffen Sie mir zwei Briefumschläge.«

Der Alte kramte aus der Schreibtischlade ein großes und ein kleines Kuvert heraus.

In das große schüttelte Florian die Lackreste aus seiner Hand und ins kleine tat er vorsichtig einige bronzebraune Siegelstücke, die er mit dem Messer vom Hals einer der Flaschen aus dem Schrank schabte. Hierauf sagte er gut gelaunt: »Jetzt sind Sie von mir erlöst.«

In den frösteligen, schon morgendämmernden Straßen dachte Peter Florian: »Wenn doch die Dinge Zungen hätten und Zeugenschaft ablegten! Wenn die Möbel des Zimmers 39 der menschlichen Sprache mächtig wären, sie könnten fesselnde Geschichten erzählen! Schade, daß Möbel stumm sind, stummer als Steine, die angeblich zu reden anfangen, wenn die Menschen schweigen.«


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