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Eva hatte sich das brennende Gesicht mit Kölner Wasser benetzt und erschien als letzte bei Tisch; die Vorstellung ihres Bruders, des Neuangekommenen, bei den bereits erbgesessenen Gästen der Pension International war schon vollzogen und er plauderte im oberflächlichen, gewandten Konversationston mit seiner Nachbarin; diese, Mara Kronenhaupt, sah ihn schwärmend aus den schwarzen beschatteten Augen an, während ihre Mama vis à vis an der Tafel das Lorgnon in der echten Schildpattfassung neugierig auf den blonden, munteren jungen Mann richtete. Frau Holzammer als Leiterin der Pension thronte an der Spitze des geschmackvoll gedeckten Tisches und nickte den Eintretenden gleichmäßig wohlwollend zu, so gleichmäßig wie der Scheitel in ihrem dünnen glattgestrichenen Haar verlief. Nur leichtfertige Nachzügler ernteten einen beherzigenswerten Vorwurf durch diskretes Rümpfen der wohlgebildeten Nase.

Als Eva hinter Max vorbeikam, fing sie eine banale Schmeichelei auf, die er seiner Dame galant zuflüsterte; die lachte geschmeichelt. Das verstimmte die Blondhaarige und sie wußte eigentlich nicht, warum ... Sie grüßte kurz und nahm den Platz neben ihrer Mutter ein; zur Rechten des Mädchens saß Adolf Kronenhaupt, der Bankierssohn, und schlug militärisch die Hacken zusammen; Eva merkte die verliebten Blicke des Jünglings und unterdrückte heroisch eine provocante Unhöflichkeit; an diesem Abend störte sie auch das Kommismäßige des unreifen Dandy und ihr fehlte jede Lust, spöttisch, wie sonst, über seine Affektiertheit zu lachen.

»Gnädigstes Fräulein unternahmen nachmittags eine bravoureuse Fußtour,« näselte er, »ich hatte das Glück, gnädiges Fräulein aus der Ferne zu sehen ...« Der junge Kronenhaupt klemmte das Monokel ins rechte Auge und neigte den Kopf verführerisch gegen die linke Schulter, daß das Parfüm seines Haares Eva belästigte.

Sie rückte vom Nachbar ab: »Ich war spazieren und habe mich wohl überanstrengt, denn jetzt schmerzt mich der Kopf. Da gebe ich keine gute Gesellschafterin für Sie.«

Ein stummberedter Blick Frau Melanie Fontagnes erklärte dezidiert: »Vergiß Deine gute Erziehung nicht.«

Diese Verständigungsform, die der wünschenswerten Intimität ermangelte, behagte der Tochter nicht und sie verließ vor dem Dessert die table d'hôte; und fühlte sich wirklich unwohl. Zum Abschied säuselte der Dandy: »Sie sollten sich nicht überanstrengen, gnädiges Fräulein, Anstrengung beeinträchtigt nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Schönheit – und wenn gnädiges Fräulein in dieser Beziehung auch viel riskieren können ...«

Das eilige Schließen der Tür, ersparte ihr den süßlichen Nachsatz.

»Sagen Sie es nur meiner Tochter, Herr Kronenhaupt,« antwortete die Exzellenz statt der Abwesenden und cachierte so die unschickliche Flucht des Mädchens, »wenn ein Herr seine Autorität in die Wagschale wirft, so ist das wirksamer, als wenn eine Mama predigt. Eva könnte achtsamer sein und sich schonen. Ich hoffe, die Ankunft eines guten Freundes, den wir morgen erwarten, wird einen heilsamen Einfluß auf ihre übertriebenen Sportgelüste ausüben.«

Max bewunderte seine Mutter, wie sie stets für den richtigen Augenblick das richtige Wort fand.

»Das Bergsteigen macht plump und schwerfällig,« entschied Mara Kronenhaupt, die mit ihren vollen Formen kokettierte. »Grazie ist aber der schönste und gefälligste Schmuck der Frau.«

»Meine Tochter ficht lieber,« erläuterte die Bankiersgattin, »und hat in einem Tournier auch einen zweiten Preis errungen ... Ebenso favorisiert Mara das Tennisspiel, das sie in England lernte, aber leider ist hier kein Platz ... Sie gäbe mit Ihnen, Herr von Fontagne, ein reizendes Paar ... Da lobe ich mir Ischl oder Aussee ...«

Und es folgte ein Lobgesang auf die Modekurorte und eine ausführliche Begründung, warum sie – ausnahmsweise – in diesem Jahr in das abgelegene St. Magdalena in der Au verschlagen wurden: »Unser Hausarzt Professor Mandelbaum verschrieb Adolf ein schärferes Klima und da brachten wir gern das Opfer – nicht wahr, mein Goldkind?«

An wen die letzte Frage gerichtet war, darüber konnten füglich Zweifel bestehen; Frau Melanie Fontagne lächelte nichtssagend: »Ja, was tut man denn nicht den Kindern zu liebe und die Jugend erkennt die Opfer nicht einmal an ...«

* * *

Hatte Eva dem jungen Kronenhaupt auch nicht die Wahrheit gesagt, wenn sie seine Zudringlichkeit mit der Klage über Kopfschmerzen abwehrte, so fühlte sie doch einen peinigenden Druck an den Schläfen und das Blut pochte ihr sausend in den Ohren.

Sie grübelte nach, was die Nerven so aufgeregt haben könnte.

Das Bewußtsein der Einsamkeit neben der Mutter und dem Bruder, die sie nicht verstanden, wenn ihr Herz bangte und litt: Die beiden Menschen, die ihr die nächsten und vertrautesten sein sollten, lebten abgesondert für sich hin und kümmerten sich nur um das eigene Ich. Das Mädchen fühlte das und hatte sich daran gewöhnt, als Last betrachtet zu werden, die mit ihren gerechtfertigten Ansprüchen den ehrgeizigen Plänen des geistig unbedeutenden Max im Wege stand. Die leidige Geldfrage demütigte sie ... Selten, daß sie sich innerlich noch gegen die schmähliche Zurücksetzung aufbäumte und nicht still resignierend die leere Tatsache anerkannte ... Die wunden Zeiten, da der Gedanke an die Verlassenheit und die Lieblosigkeit sie quälte, waren vorbei.

Schwer aber dennoch fügte sie sich ins Unvermeidliche, wurde hart und verschlossen und vermutete überall, auch dort, wo sie Unrecht damit tat, Übelwollen und Verstellung.

Die Einsicht des Alleinseins, die eine kühlere Betrachtung der Auseinandersetzungen des Abends das Mädchen abermals gelehrt hatte, konnte die Nerven nicht so angespannt haben ... ewig wiederkehrende Gefühle werden allmählig machtlos.

War es Duhnins nahe Ankunft, die sie beunruhigte?

Eva trat ans Fenster und starrte in die Nacht. Das Rollen eines Zuges unterbrach die Stille und die funkelnden Lichter der Maschine blitzten auf und erloschen hinter den Haselgesträuchen, die dem Bahndamm entlang wucherten. Der Fluß rauschte gurgelnd, das Mondlicht glitzerte in den Wirbeln seiner Wehr. Auf der Straße trotteten ein paar Bauern; die ungelenk stapfenden Schritte der genagelten Stiefel hallten förmlich; die Leute sprachen nicht miteinander.

Ein Hund schlug kläffend an.

In den Blättern raschelte ein schwacher Wind und bewegte die Spitzengardinen des Zimmers.

Die frische Luft kühlte die glühende Stirn des Mädchens.

Am wolkenlos klaren Himmel lohte ein Stern neben dem anderen auf Und die schmächtige Mondsichel schlich über den Grat des Schwerthorns.

War es des Duhnin Ankunft, die sie ängstigte ... Eva Fontagne dachte die Frage Wort für Wort.

Und wollte daran nicht denken ... doch das Hirn arbeitete gegen ihren Willen. Da griff sie wahllos nach einem Buch und suchte sich zum Lesen zu zwingen.

Und las verständnislos buchstabierend eine Seite.

Bis sie das Buch wieder fortlegte; sie zwang sich ja doch nicht.

... Nein, mit dem Duhnin hing es nicht zusammen; sie liebte ihn nicht, haßte ihn nicht; vielleicht interessierte der Mensch sie ... vielleicht; der überlegende Denker, der Diplomat, der bei den Aufständen in Teheran dieselbe Ruhe bewies, wie er in Madrid vor dem König durch den Empfangssaal schreiten wird ... Er würde nach Spanien versetzt werden; Eva hatte es gleichgiltig aufgenommen, als ihre Mutter in einem Brief nach England davon wortreich berichtete ... Jetzt knüpften daran Träumereien spielend an ... Als Frau von Duhnin würde sie im Mittelpunkt prunkvoller Feste stehen – eine vornehme Dame, angestaunt, beneidet, verehrt ... Die Phantasie prickelte und koste ... Und mancher würde sich in die schöne Gesandtengattin verlieben ... Geliebt werden ... heimlich, leidenschaftlich, sündig geliebt werden ... schenken können, aber sich stolz versagen – das, das allein war es, was sie plötzlich so reizte. – Flatternd sprangen die Gedanken des Mädchens zurück auf ein Wort der Mutter: ›Die Wonnen der Mädchenträume existieren nicht in der Realität des Lebens‹; genau, genau so hatte sie es gesagt ... wie man eine wertlose Nichtigkeit erzählt ... und die anderen Zukunftsmalereien gewannen Farbe in dem Bilde, das ein alterndes Fräulein Eva Fontagne darstellte, das enttäuscht und verbittert in einem ehrwürdigen Damenstift Strümpfe für bekehrte Negerkinder strickt ...

Die Blonde sichtete in den gährenden Ideen ...: ein Weib kann sich reuelos geben, auch wenn es selbst nicht liebt ... wenn es nur geliebt wird ... Das ist keine Todsünde und eine gnädige Natur verzeiht das schwächliche Verbrechen ... Doch – wird sie wirklich geliebt vom Duhnin? Als er mit ihr sprach und ihre Hand begehrte – seine braunen Augen schauten leidenschaftslos und prüfend; und da sie ihm später die verlogene, vertröstende und doch abweisende Antwort sagte – die braunen Augen des Mannes blickten gleich leidenschaftslos und prüfend; dazu accompagnierte eine formelle, lächerlich formelle Entschuldigung: »Pardon, gnädiges Fräulein, wenn ich Sie belästigte.«

Die Haltung war angenehm, vornehm und bequem; sie verabscheute Szenen; aber diese angenehme, bequeme Vornehmheit verletzte zugleich ... Ein Aufzucken in den Blicken hatte sie erwartet. Nichts davon ...

So liebt man nicht – und geht als Abgewiesener nicht denselben sicheren Schritt, mit dem der Hoffende kam. Eine enttäuschte Liebe bringt das nicht über sich.

Dabei zweifelte Eva Fontagne, ob sie alle Menschen nach sich beurteilen durfte.

Nein – doch einer echten Neigung ist die Komödie der selbstgefälligen Beherrschung fremd; so oder so. Der Rechner, der sich im Exempel verrechnete, mag über den Irrtum ein Kreuz machen und die Rechnung neu beginnen – wer liebt, kann das nicht.

Das Mädchen preßte die Stirn an das kalte Glas des Fensters; ein kühler Strom floß über; der Nachtwind zerrüttete das Blondhaar.

Man muß eine Dirne sein, um sich zu geben, ohne Liebe, ohne geliebt zu werden ... ohne geliebt zu werden, wie sie es begehrte ...

Das konnte sie nicht; das konnte sie nicht. –

Die Gäste der Pension Holzammer verließen den Speisesaal und Max schlug in animierter Stimmung einen »Rekognoszierungsbummel« durch das schlafende Dorf vor; er mit Maria stürmte voran; zu Eva klangen seine liebenswürdige Stimme und das unfeine Kichern der Dame herauf; Mama Kronenhaupt paradierte pustend am Arm ihres Sohnes und sagte mit fetter Breite: »Erkälte Dich nicht, Adolf, und stell den Kragen hoch;« als Dritte in dieser Reihe ging Frau Exzellenz Fontagne.

Die Blonde wich geräuschlos vom Fenster zurück; es wäre ihr unangenehm gewesen, gesehen zu werden; etwa gar auf eine Ansprache erwidern zu müssen, dazu fehlte ihr jede Lust.

Die Menschen unten, die dem Mädchen so fremd dünkten, entfernten sich.

... Wie aber, wenn der Duhnin sie in seiner Art liebte und seine gelassene Ruhe nur Pose wäre ... – Die Gedanken der Fontagne sprangen von selbst ins alte Geleise ... Wenn sie ihm viel, alles sein könnte ... Dann – dann vielleicht ... Und die Schwankende schämte sich – ein Stück Dirne lebte also auch in ihr und verführte ... Die Dirne, die um Ehre, Pracht und Reichtum käuflich ist, die man nach dem Liebhaberwert einschachert ... Um Ehre ... Die laxe anerzogene Gesellschaftsmoral rang mit den ungekünstelten Ansichten anständiger Leute ... wer war stärker – jene oder diese ...

Eva wurde verwirrt und schwindelte vor dem unüberbrückbaren Abgrund, der da gähnte.

Maß sie alle Frauen an ihrem Maßstab, so wimmelte die Welt von Dirnen; zur Verachtung schwang sich ihre Erkenntnis nicht auf – aber zöge sie die äußersten Konsequenzen der natürlichen Moral, dann hieße es verurteilen, was man bisher bemitleidete, schätzte, liebte ... Die kleine Nora – die fiel ihr durch Zufall ein –, sie hat den millionenreichen Börsianer geheiratet und am Tage vor der Hochzeit weinte sie im Schoß der Freundin ... Heute sagen schwirrende Gerüchte der jungen Frau einen Geliebten nach – einen ... zwei ... drei ...

Wie häßlich.

Und Eva bedauerte sie.

Und fühlte, daß die strenge, rücksichtslose, eherne Moral der Liebe doch die einzig richtige ist. Man konnte sie brechen, man kann sie nicht biegen.

Wenn ich mich aber verkaufte – wer wollte mich richten? Trotzend fragte die Fontagne sich selbst ... Wer, wer wagte es, sie eine Dirne zu nennen?

Niemand.

Niemand außer sie selbst.

Sie selbst, die an ein einziges, tiefes Glück glaubte, an ein Aufgehen in dem, den ein Weib liebt und an ein Wiederwerden im Kinde vom Geliebten. Sie selbst, in der sich das Beste gegen die gemeine Resignation, daß es die Seligkeit verzehrender Phantasien nicht geben sollte, empörte ...

Alles wankte in den Grundvesten ...

Und hätte sie Unrecht und die Mutter hätte Recht; wenn sie irrte und dem irrlichternden Sehnen folgte, nachjagte – weiter, immer weiter in die tote Wüste, in eine entsetzliche Enttäuschung mit dem untilgbaren Bewußtsein, sich selbst ums Leben betrogen zu haben, das sie leichtsinnig verspielte, vergeudete ... Nur das leere Sehnen bliebe – nach jener bescheidenen, engumfriedeten Zufriedenheit, die der gesunde Alltag gewährt, den sie verlästerte und nun so glühend herbeiwünscht ...

Dann? Was dann?

Dem Mädchen graute vor dem Erwachen und es haßte sich wegen der Angst, der Feigheit, die den Kampf um der Gefahr willen meidet, die an den Sieg nicht glaubt. Ein Hoffnungsloser soll nicht kämpfen – nur der Glaube versetzt Berge und der Glaube ermöglicht Unmögliches.

Glaube und Hoffnung, sie sind eins.

Das Mädchen wurde gefaßter.

Mutter und Bruder kamen die Stiege herauf; sie wünschten einander auf dem Korridor eine gute Nacht.

Eva zündete eine Kerze an und das Licht in der Hand trat sie vor den Spiegel; sie fand ihr Gesicht farblos und angegriffen; das schob sie auf Rechnung der unsinnigen Kletterpartie; auf halbem Weg zur Höhe hatte sie gemeint, mit der Kraft am Ende zu sein und biß mit zäher Energie die Zähne zusammen, weil sie durchhalten wollte. Der Wille – der Wille und der Glaube sind die Stärke, die Kraft und das Leben.

Aber wenn der Wille schwankt und der Glaube verzagt ...

Die Blonde wollte über die Philosophien der müden Nerven lächeln, abgeklärt lächeln – der Spiegel zerrte daraus eine Grimasse.

Das kam ihr erst recht komisch vor; das, sowie die sentimentale Grübelei um Leben und Liebe.

Die Kerze flackerte, der Docht krümmte sich.

Sie zog das Resümee aus den gejagten Gedankenkreisen, die ihren Lauf schlossen, wo sie ihn begannen ... Herr von Duhnin – man wird ihn kritisch betrachten; er ist der Schlechteste nicht, wie er der Beste nicht ist. Nur so unendlich kalt und seiner selbstbewußt ... Dem Mädchen begann seine Stärke zu imponieren, diese Herrschaft des Kopfes über das Herz, eine Herrschaft über das schwächere Ich.

Gut – aber zuerst die Prüfung.

Sie freute sich sogar des vorläufigen Entschlusses – der nicht löste, den Knoten nicht aufknüpfte, ihn nicht einmal brutal auseinanderhieb; es war ein Entschluß trostloser Stimmungen, zu nichts verpflichtend, nichts opfernd und daher nicht befreiend.

War es überhaupt eine Entscheidung ...

Sie wünschte, es wäre eine und wurde des Forschens überdrüssig.

Ja, wer anders könnte ...

Die blonde Eva dürstete nach einem traumlosen Schlaf und fühlte, sie würde nicht schlafen können; die Erregung fieberte durch den Körper ...

Da schrieb sie einen gleichgiltigen Brief an eine gleichgiltige Bekannte – wie schön und still St. Magdalena in der Au sei, wie sie die Berge liebte (und die flache Ebene verabscheute), mit welcher Lust sie durch die Wälder wanderte – wie gewöhnliche Menschen in der Pension wohnten und daß man mit ihnen verkehren müßte ...; nicht der unschuldigste Flirt sei möglich, nichts; keine gesellschaftliche Abwechslung ... Ihr Bruder wäre auch angekommen und sehe schlecht aus ...

Ob abgearbeitet, ob abgelebt, dachte sie dazwischen.

Und nachdem die eckigen Buchstaben, die unregelmäßig und keine Zeile respektierten, über vier Seiten geeilt waren – zerriß die Fontagne den Brief, zerriß auch den Umschlag, den sie schon adressiert hatte, und schleuderte die Fetzen zornig in den geflochtenen Papierkorb.

Es war ja alles erfunden, geschminkt und erlogen.

Man soll nicht lügen, wenn es nicht notwendig ist, weil das zwecklos wäre, und wenn es notwendig ist, so soll man erst recht nicht lügen, weil das namenlos feig ist.

Eva Fontagne stützte das Köpfchen in beide Hände und sann sprunghaft alles Gedachte nochmals durch; und verwirrte die Irrgänge nur noch mehr.

Der Klöppel in der Dorfkirchenuhr schlug elfmal an; das Werk rasselte dazu und der metallene Klang bebte wellend durch die Nacht.

Und im Bett– plötzlich kam es über sie, die es nicht wehren mochte, vergrub das Mädchen das Gesicht in den Polster und weinte ...

* * *

Der sonnig lachende Tag ließ Eva die Skrupel der Nacht nicht mehr verstehen; sie sagte sich vor, bis sie es beinahe glaubte, daß alle Selbstqual nur eine physische Reaktion des übermüdeten Körpers war.

Durch das Fenster quoll das gesättigte Sommermorgenlicht üppig ins Zimmer; das Plaudern und Plappern der Kinderscharen, die zur Schule gingen, stahl sich herein; ein Knabe jauchzte voll ahnenden Glücks, jung zu sein – das Jauchzen legte die Blonde so aus und summte ein Lied, ein gutes, fröhliches; und freute sich. –

Der Frühstückstisch war in der Laube gedeckt.

Die Exzellenz und Max hatten schon Tee getrunken und lasen in den Briefen, die der hinkende Bote gebracht.

Eva sagte ein herzliches guten Morgen.

»Du siehst heute famos aus!« Max blicke die Schwester bewundernd an: »So jung, so frisch ...«

Diese nickte heiter lächelnd; auch ihr schien alles vergoldet, verschönt – die zerrissenen Felsen wuchsen herrlich aus dem grünen Talkranz und in saphierner Bläue wölbte der Himmel seinen Baldachin über die Welt. Die reife Sommerstimmung teilte sich den Menschen mit.

Max Fontagne faltete das Zeitungsblatt und zog die Uhr: »Ich muß zur Bahn ...«

Evas Herz schlug um ein paar Takte schneller: »Bitte grüße Herrn von Duhnin auch von mir.«

Die Freundlichkeit bereute sie sofort, als die Mutter erstaunt aufblickte; ihr dünkte, die Eigensinnige nahm Vernunft an und nur der schnelle Wechsel verwunderte sie; der strahlende Sommertag verscheuchte bald den zähen Schatten und Eva Fontagne stützte sich, auf einen Gartensessel knieend, mit den Ellenbogen behaglich auf den Frühstückstisch – wie der Duhnin sich benehmen würde, dachte sie! Bis Frau Bankier Kronenhaupt, Mara und Adolf aus dem Hause traten, wechselte sie mit ihnen konventionelle Worte – die junonische Gestalt der Brünetten kam ihr diesmal nicht so aufdringlich vor, die Eleganz des Modejünglings nicht so abgeschmackt und ihr freundliches Lächeln, das am Vorabend so unecht gewesen war, kostete die Blonde jetzt keine Mühe.

* * *

Mit souveräner Selbstverständlichkeit duldete Dr. Alexander von Duhnin, daß Max Fontagne sogleich auf dem Bahnhof die Sorge für sein Reisegepäck übernahm, und der schwerfällige Wagen schon bereit stand, ihn und die Koffer in die Pension zu bringen.

Sie besprachen nur nebensächliche Dinge, während der zum Kutschierpferd avancierte Ackergaul im ungelenken Trab den kurzen, holprigen Weg von der Station ins Dorf zurücklegte. Duhnin kritisierte durch blasiertes Schließen eines Auges das behäbige Landgasthaus, das erst im Reisewahn des Publikums seinen altehrwürdigen Namen »Zum Anker« mit der Bezeichnung »Hotel-Pension International« vertauscht hatte; sein ehemaliges Wahrzeichen, ein grobgezeichneter Anker über dem grüngestrichenen Haustor, schimmerte noch durch die neue gelbe Tünche der Mauern.

»Wollen Sie meiner Mutter und meiner Schwester sofort einen guten Tag sagen? Sie würden sich darüber sehr freuen.« Max legte eine liebenswürdige Ergebenheit in seinen Vorschlag.

»Sie würden sich beide freuen? Erlauben Sie, daß ich das teilweise anzweifle.« Und er warf einem Burschen, dessen Beruf zwischen Hausknecht und Portier schwankte, den Reiseplaid zu. »Zuerst werde ich mich restaurieren; dann – wenn Sie, lieber Max, so gütig wären, mich zu den Damen zu führen, vorausgesetzt, daß ich nicht störe.« –

Eva Fontagne hatte von ihrem Zimmer aus durch die aufgestellten Flügel der Jalousien die Ankunft Herrn von Duhnins in der Pension beobachtet; die mit Selbstironie durchsetzte Heiterkeit, welche die Depression der Nacht ablöste, steigerte sich in dem Mädchen zu einer ätzend-satirischen Laune; schon lange fix und fertig überprüfte sie eingehend ihr Kostüm, das ein unauffälliges und deshalb um so wirksameres Raffinement zusammenstellte; sie wählte die Batistbluse mit dem tiefreichenden Spitzeneinsatz der noch ein rosa Bändchen der Unterwäsche sehen ließ; und dazu trug sie den enggeschnittenen Leinenrock hochstöckligen grauen Niederschuhe. Ein bischen höhnisch fixierten die hellblauen Mädchenaugen ihr Ebenbilder im Spiegelglas: »Wir wollen sehen und gesehen werden; von mancherlei hängt es ab, ob wir gnädig unsere Hand verschenken ...«

In einem leichteren Ton wiederholte der Tag das schwere abendliche Grübeln.

Den Duhnin hatte Eva nicht genau sehe können; ihr Bruder beugte sich in dem Augenblick vor, als der Wagen in den Hof einfuhr; nur über seine Koffer mokierte sie sich – nicht eigentlich über die Koffer selbst sondern die geschmacklosen Wappenfarben, die doppelt gestreift die Wände zierten, ärgerten sie; und auch die ineinandergeschlungenen Initialen A. D unter der verästelten Krone.

Dann lehnte sie sich bequem in das Sofa, blätterte in unmodernen illustrierten Zeitungen und wartete geduldig, bis man sie verständigen würde, daß der Diplomat bereit sei, den Damen seine Aufwartung zu machen.

Es verging eine Stunde.

Endlich klopfte Max an der Tür: »wenn Du in die Laube kommen würdest, Alexander ist bei Mama«

»Sobald ich fertig bin – gern.« Übermäßig tändelnd und ohne jede Eile steckte Eva die Zöpfe um, strich einigemale mit dem Kamm durch die Wellen des blonden Haares und sprengte »Veilchen« ins Taschentuch. Ebenso gemächlich stieg sie die Treppe hinab, dankte verbindlich dem Bankiersohn, der habtacht stand und grüßte, und zeichnete Mara, die ein schreiend rotes Kleid trug, mit einigen Komplimenten aus.

»Die Farbe bildet einen pikanten Gegensatz zu dem Blauschwarz Ihrer Haare, liebes Fräulein!«

»Finden Sie? Mama meinte auch ... Es erwartet Sie ein Besuch, Fräulein Eva.«

»Ja ... so, das heißt ein Freund meines Bruders, ein treuer Familienbekannter, den meine Mutter sehr schätzt.«

»Dann darf ich Sie nicht aufhalten.«

»Wo denken Sie hin! Vom »Aufhalten« kann keine Rede sein. Ich komme mit meiner Begrüßung keinesfalls zu spät; Dr. von Duhnin beabsichtigt, auch den ganzen August und wahrscheinlich die erste Hälfte September in St. Magdalena zu verbringen. Sie sehen, es eilt für mich nicht, aber auch gar nicht.«

Auch den Pfau lockte das Mädchen noch, ehe es zur Laube schritt.

Dennoch beengte sie eine Art Beklemmung in der Brust – ein erstes Wiedersehen nach einer wenig erbaulichen Aussprache, über die erst ein knappes Jahr verstrich ... Sobald er ihrer ansichtig wurde, erhob sich Duhnin und kam Eva entgegen; sicher und bestimmt, nicht die leiseste Spur von Verlegenheit im Gesicht, kam er.

»Willkommen, Herr von Duhnin!« Die Stimme zitterte und das erhöhte die schlecht verborgene Erregung, die auch dem forschenden Blick der Mutter nicht entging.

»Ich danke Ihnen für Ihren Willkommengruß.« Das klang einfach, doch das kritische Ohr des Mädchens hörte daraus eine gekünstelte Pose.

»Gute Reise gehabt, oder sind Sie übernächtig?«

»Ich schlief recht gut; man fährt eben Schlafwagen.«

Dieses affektierte »man« und das selbstverständliche »eben« reizten die Blonde zu einer ironischen Entgegnung; sie schwieg aber ... Auch Max brauchte nicht sklavisch umherzutänzeln – er ist verrückt ...

Die Exzellenzfrau allein beherrschte als grande dame die Situation und lenkte das Gespräch auf den Botschafterposten in Madrid.

Seine Ernennung, erklärte Alexander von Duhnin, sei zwar noch nicht offiziell, aber vollständig sicher und eine Frage der allernächsten Zeit; er würde Ende Oktober nach Spanien reisen und den greisen Vorgänger ablösen; die schwebenden internationalen Angelegenheiten beanspruchten jüngere Kräfte zur Lösung delikater Probleme; gerade auf die Stellung der Mittelstaaten im europäischen Konzert legten neuerdings die Großmächte – und mit Recht – erhebliches Gewicht.

Frau Melanie versicherte ihr Verständnis dafür und versicherte außerdem, in ihrer Jugend (mein Gott, mit den Jahren wird man bescheidener!) sei ihr heißester Wunsch gewesen, fremde Länder, fremde Völker und fremde Sitten kennen zu lernen; leider sei ihr Herzenswunsch nicht erfüllt worden. – Ja, eine Offiziersgattin werde beständig durch die Stellung ihres Gemahls an bestimmte Orte gefesselt und müsse froh sein, wenn ihre gebundene Marschroute nach Wien, Graz oder Prag laute und nicht auf ein galizisches oder ungarisches Nest; als Herr Fontagne die Brigade in Lemberg kommandierte, da hätte sie allerdings gestreikt und blieb in Wien – natürlich in erster Linie der Kinder wegen ( egoistische Motive muß eine Frau und Mutter ausschalten!), nur Maxen und Evas willen, deren Studienplätze nicht wechseln durften; – Frau Fontagne hoffte indessen, ihr Sohn wenigstens werde ins Auswärtige Amt übertreten und damit dem Einerlei desselben Milieus entfliehen ...

Von Evas Aussichten, das Versäumnis der Mutter, deren Sehnsucht in die Weite ungestillt blieb, nachzuholen, schwieg die Frau Exzellenz; die Tochter ergänzte boshaft den abgebrochenen Gedankengang aus Eigenem: ›Und wenn mein geliebtes zweites Kind Sie heiratet, stehen ihm die berückendstes Wege offen ...‹

Das war wirklich unaussprechbar.

Und Eva Fontagne gähnte; das Gähnen war versteckt, aber ehrlich.

* * *

Die Sitzordnung der Mittagstafel wurde durch des zukünftigen Botschafters Zuzug nur unbedeutend verändert. Mit feinem Takt und bewundernswerter Taktik schob Frau Holzammer einen Sessel zwischen Evas und Herrn Adolf Kronenhaupts Platz ein; der Dandy mußte nun auf seine Tischdame von einst durch den lästigen Diplomaten oder um die Ecke schielen; die Bankiersgattin hantierte wieder eifrig mit ihrem Lorgnon und Mara fixierte unverwandt den interessanten Herrn, der ins Land der aufregenden Stierkämpfe zieht, mit den mandelförmigen Augen im Schatten der geschwungenen Wimpern.

Das alles mutete Eva komisch an und sie unterhielt sich animiert mit dem neuen Nachbarn; aber als man sich nach dem Speisen trennte, atmete sie dennoch erleichtert auf.

Die Komödie ließ eine öde Leere zurück.

Und eine kleinliche Opposition gegen den Menschen, der den Lebensweg einer Dame kreuzte, die ihn abwies.

Durcheinander flatterten die Stimmungen des Mädchens – warum wies sie ihn ab ... und so zweideutig, unklar ...? warum nahm sie ihn nicht an ...?

Ein Nein wäre ehrlicher gewesen; ein Ja ... warum eigentlich nicht!

Die Gedanken dachten sich hinüber in einen Nachmittagsschlummer ...

* * *

Vor Sonnenuntergang plante Eva eine forcierte Partie als Training für das Schwerthorn, das bessere Kräfte verlangte, als sie, die von der Stadt Verweichlichte, jetzt schon aufbringen konnte; doch im Fichtenwald am Ufer des Auenbaches war die Lust zum Klettern schon verbraucht; weil sie sich matt fühlte – und den Ausschlag gab der neue Leinenrock, der geschont sein wollte. Und dieser elegante Leinenrock aus London war die Hauptursache der Bequemlichkeit, gestand die Fontagne freimütig ein – und daß sie dadurch den vor kurzem herzhaft deklarierten Grundsatz von den Kleidern, die den Menschen untertan zu sein hätten und nicht umgekehrt die Menschen den Kleidern, umwarf, ihm untreu wurde ...

Man ist eitel – offenherzig bekannte sich die Blonde dazu – und diese Eitelkeit stellt die besten Prinzipien auf und stellt sie nach Bedarf auf den Kopf. Die Einsicht verschaffte ihr ein verbissenes Vergnügen, die kritische Sonde rücksichtslos ins eigene Innere zu versenken.

Die Sonde war sehr spitz …

Auf den schmalen Feldweg zwischen den Wiesen und Feldern brannten die Sonnenstrahlen sengend nieder; im Walde war es dämmrig und kühlend; Eva band den Mohn und die Kornblumen, die sie im Vorbeischreiten pflückte, zu einem Kranz und flocht goldgelbe Ähren hinein; die dreifarbige Pracht schmückte das Köpfchen und das Gold des Haares und des Kornes flimmerte ineinander.

Abseits vom Steig hatten Kinder eine Moosbank gebaut, das Kraut der Heidelbeeren wuchs darauf, und ihre Wurzeln banden das Erdgebäude; Eva Fontagne streckte sich auf den weichen mit glatten Nadeln übersäten Waldgrund und lehnte halb aufrecht an der Moosböschung. Als sie in die Weite träumend jenseits des Flusses am Fuß der Randberge und über die Baumwipfel ragend den schadhaften Turm des alten Schlosses Wolfsnest erblickte, das die Leute kurzweg die »Ruine« nannten, obschon der eine Flügel wieder wohnbar war und auch bewohnt wurde, da fiel ihr der Mann ein, den sie noch nie sah und den ihre Mutter kurz abtat – mauvais sujet, da dachte die Blonde nach.

Ihre Phantasie war geweckt.

Sie kannte nur Einen, den man in der Familie mit dem gleichen Titel belegte – einen verkommenen Vetter, der es überall und mit Allem versuchte und nirgends und in keinem zu einem Ziele gelangte; Eva zogen seit je heimliche Sympathien zu dem übelbeleumdeten Cousin, den beizeiten selbst seine nächsten Verwandten verleugneten. Und diese verpönte Sympathie ging jetzt auf den unbekannten Herrn des Wolfsnestes über – sie hing an dem Klang des Wortes » mauvais sujet« und ein romantisches Interesse erwachte. Das Mädchen ahnte verschwommen, daß die stete Opposition seines Wesens gegen das Gewöhnliche, Seichte und Dutzendmäßige, das es instinktiv dem Charakter des Molochs »Gesellschaft« zusprach, das Maßgebende für seine Verteilung der Abneigungen und der Gunst war. Der Steppenrit – was mochte er verschuldet haben? Gehörte er zu den heldenhaften Verbrechern oder sündigte er in den Niederungen? Wie, wenn sie geradewegs zur Ruine ginge und den Herrn zu sich rufen ließe: »Lassen Sie sich ansehen – Sie mauvais sujet ...« Unsinn! Woher diese verrückten Ideen auftauchten? Sie kommen davon, wenn man sich mit Gedanken nächtelang abquält, mit Gedanken, die weder Hand noch Fuß haben; dann arbeitet das Hirn mechanisch in der verbohrten Art weiter und gefällt sich in Narrenpossen ...

... Der Duhnin war eigentlich doch anders, als eine ungelehrige Erinnerung ihn reproduzierte – in Wirklichkeit kleiner, schmäler in den Schultern, die Züge gewöhnlicher; der schwarze Spitzbart schon grau meliert ... die gebogene Nase rettete dem Gesichte seine aristokratische Vornehmheit – und die Augen, sie blickten in Wahrheit nicht allzu scharf, nicht allzu ruhig ... Den lichten Überrock sollte sich der Botschafter in spe wieder abgewöhnen, erstens paßte er am Halse nicht, zweitens verabscheute sie die gelbe Farbe ...

Die übersprudelnden Gedanken hielten keine Grenze, tasteten bald da, bald dort.

Wann würde Herr von Duhnin seine Werbung beginnen – »Werbung«, so hätten gewesene Generationen emphatisch gesagt; ohne besondere Absichten fuhr er ganz gewiß nicht in das Alpendorf St. Magdalena ... Mara kokettiert unverschämt mit ihm; bloß beleidigend einseitig – aber sie soll Max heiraten, wenn er einverstanden ist, daß ihre Mitgift die Wege zur diplomatischen Karriere ebnet ...

Als Eva Fontagne sich an den die Zukunft malenden Phantasien gesättigt hatte, fand sie es nicht mehr so schrecklich, einem Botschafter in der Gestalt Herrn von Duhnins ihre gepflegte kleine Hand – die einen wohlgefälligen Blick empfing – zu überlassen und sich bereit zu erklären, an seiner Seite im Spiegelsaale von Madrid vor der Königin Mutter den vollendetsten Hofknix zu executieren.

»Ich bin doch leichtfertig und oberflächlich,« erkannte sie auf dem Heimweg.

Und lachte dazu.

* * *

Vorderhand tat Dr. von Duhnin nichts, aber auch gar nichts, was auf eine Absicht hindeutete, seine Beziehungen zu Eva Fontagne inniger zu gestalten; bei schönem Wetter verbrachte er die Vormittage im Freien und vervollständigte seine Kenntnisse in der spanischen Sprache, bei Regen blieb er in seiner Wohnung und setzte hier seine Studien fort. Erst mittags pflegte der Herr Diplomat die Damen zu begrüßen und erreichte durch seine Zurückhaltung, daß das Mädchen sich über ihn ärgerte. – Der Exzellenzfrau küßte der Botschafter regelmäßig die dargereichte Hand, selten, daß auch die Tochter dieselbe Auszeichnung erfuhr; die Familie Kronenhaupt begnügte sich mit einer steifen Verbeugung, weil sie sich damit begnügen mußte, und Max schwärmte für Duhnin; alles an ihm betrachtete er als nachahmenswert – wie er die Krawatte band, die Handschuhe in der Rocktasche trug und die Fingernägel polierte. Die Schwester glossierte mit beißender Satyre diese kritiklose Verehrung, was ihre Mama – je nach Laune – flüchtig belächelte oder sanft rügen zu müssen glaubte.

Die Blonde betrachtete sich durch die achtungsvolle Reserve des Duhnin zurückgesetzt und begann mit ihm einen aufdringlichen Flirt; sie hatte vermutet, er würde ihr sogleich flehend zu Füßen sinken; sah sich nun enttäuscht und warf ihm heimlich vor, daß er sie demütige und strafen wolle, weil sie seinen Wert nicht genügend geschätzt hätte und sich Wertvolles leichtsinnig hatte entschlüpfen lassen. Das versetzte sie irr eine Laune, die seinen Absichten nur günstig war – und mit der er klug rechnete.

Abends, nach dem Vesperbrot, unternahmen die Fontagnes und Herr von Duhnin zumeist kleinere Spaziergänge, von denen Eva sich zuerst absonderte und an denen sie später teilnahm, ohne sich jedoch an den langweiligen Gesprächen zu beteiligen; sie schritt immer in einiger Entfernung voraus und wanderte sinnend im Walde weiter, wenn die Anderen sich bereits auf eine Bank niederließen. So verstrichen für sie unbefriedigende Wochen.

Und genau empfand das Mädchen, daß nicht eine gekränkte Liebe sie quälte, sondern ein verletzter Ehrgeiz.

Nur in ganz seltenen Augenblicken, wenn im verhauchenden Lichte der scheidenden Sonne die weißen Gipfel der Steingebirge rotglühend auflohten, erwärmte der Ton zwischen Alexander von Duhnin und Eva Fontagne; um fröstelnd zu erkalten, wenn der Tag verblaßte. In der Blonden weckte das melancholische Dämmern der Nacht ein banges Sehnen und Verlangen, das sie weich und schmiegsam stimmte ...

Max äußerte seiner Mutter gegenüber Zweifel, ob jemals das Eis schmelzen würde, das die beiden Menschen voneinander schied; Frau Fontagne stellte sich gleichgültig: »So lieb er mir wäre, ich kann nichts dazu tun. Eva kennt die Verhältnisse und kennt meinen Wunsch; sie soll selbst entscheiden.«

Im Innersten zürnte die Exzellenz ihrer Tochter und hoffte im Stillen, der Sommer würde mit der erwarteten Verlobung enden.

* * *

Es war ein Nachmittag.

Den vor wenigen Stunden noch wolkenlosen Himmel durchflatterten zerfaserte, langgezogene Schwaden und Mara Kronenhaupt behauptete mit Bestimmtheit, Regen weiter sei im Anzug und opponierte dem Barometer, dessen Zeiger »Dürre« prognostizierte.

Frau Melanie Fontagne und Max erwogen die Aussichten für den nächsten Tag; Eva und Herr von Duhnin promenierten in den Gartenanlagen vor der Pension; sie plauderten interesselos vom Landleben; auf der staubenden Dorfstraße balgten sich barfüßige Jungen, ein Schmied in seiner qualmenden Werkstätte hämmerte und in einem Tümpel des Auenbaches, der nur zum Schutz für die Kinder vor dem Schulhause halb überdeckt war, schwemmten Weiber Wäsche.

»Langweilig ist es in diesem Neste,« sagte unvermittelt die Blonde und klopfte mit dem hellen Schirm an dir gelben Lackschuhe.

»Das höre ich von Dir zum erstenmal seit wir hier sind.« Die Mutter antwortete über die Achsel; das Wort war gar nicht für sie bestimmt gewesen.

Der Duhnin bog sich zu dem Mädchen; es war ein milder Vorwurf: »Vielleicht liegt es nur an Ihnen, gnädiges Fräulein ...«

»Oder an Ihnen ...« und sie möchte das gedankenlos Hingesprochene zurücknehmen, als sie des einverständlichen, mißverstehenden Blickes, den ihre Mutter und Max wechselten, gewahr wurde; der Duhnin strich wie spöttisch lächelnd mit der weißen Hand seinen Bart. Und dieses Lächeln bewirkte, daß sie schon einen Augenblick später das Wort nicht mehr bereute und der Irrtum der Anderen sie befriedigte ... Mag er in seiner Einbildung eine Aufforderung für sich heraushören, mag er jetzt triumphieren; der endliche Sieg über ihn schien ihr mehr, als seine taktlose Freude, die er nicht einmal verbarg.

Kennt er mich so schlecht, überlegte sie, daß er mich einer groben Schmeichelei für fähig hält ... und in diesem Moment war sie entschlossen, ihn abzuweisen.

Ein schwerer Hufschlag klang auf unebenem Pflaster und ein Reiter auf einem robusten Apfelschimmel trabte die Dorfstraße von der Kirche herab; die balgenden Gassenjungen stoben johlend auseinander.

Die wallende Mähne des Schimmels flatterte, der buschige ungekürzte Schweif, zu einem Knoten geschlungen, peitschte die Luft, die Hufeisen des Tieres hallten an den Quarzsteinen, daß Funken stoben.

Der Reiter mit dem glattrasierten Gesicht, der geraden Nase, den scharf gepreßten Lippen und den grünschillernden stechenden Augen trug einen braunen wetterverschossenen Lodenhut, daran eine schwarze Rabenfeder stak; an seinen Schläfen das kurze Haar war ergraut, fast weiß; der riesige Wettermantel wehte phantastisch um die vorwärts gebeugte Gestalt des Mannes; darüber hing eine Doppelbüchse. An den grobgenähten Stiefeln klirrten großgezackte Sporen.

Und der Reiter schaute gerade aus – und nur einmal stutzte er, die grünschillernden Augen blickten auf Eva Fontagne.

Dann ritt er vorbei.

Ein solcher Blick hätte das Mädchen sonst beleidigt – so streng und forschend, den ganzen Menschen messend und wertend, den er traf. Nachdenklich sah sie dem Davonsprengenden nach.

»Komischer Geselle!« Max legte eine Frage an seine Mutter hinein.

»Es wird Klaus von Steppenrit sein.«

»Der Steppenrit – der neue Herr im Wolfsnest? So dachte ich mir den Menschen ungefähr.« Alexander von Duhnin warf es höhnisch hin.

»Sie kennen ihn? Sie wissen etwas über ihn?« Der junge Fontagne war interessiert, aber ehe er eine Antwort bekam, sagte seine Schwester: »So wie diesen stelle ich mir die Kondottieri in der Renaissance vor – nur der Stahlhelm auf dem Schädel und der Raufdegen an der Seite fehlten; sogar das Pferd paßte ins wilde Milieu.«

»Oder es könnte ein verspäteter Ritter vom Stegreif sein, eine Nachgeburt des Mittelalters,« lachte Max, »der die Landschaft beunruhigt, die Gegend brandschatzt, die Schnappsäcke, die des Weges ziehen, ausplündert und die tugendsamen Bürgerjungfräulein verführt.«

»Aber Max!« so die Mutter, aber nachsichtig lächelnd.

»Gefällt Ihnen der Kerl im Ernst?« Die Schärfe, mit der Duhnin mehr inquirierte als fragte, war auffällig.

Die Blonde vermutete nur, daß es ihr gegolten und sie warf hochmütig den Kopf in den Nacken: »Ja, der Kerl gefällt mir allerdings« und betonte die zwei Worte kampflustig.

Sie fühlte, daß es eine Kriegserklärung war und das war ihr recht so.

»Dann können Sie mir leid tun, gnädiges Fräulein – dieser Herr ist bis zur Zweifellosigkeit zweifelhaft und nach meinem Ehrbegriff beleidigt ein Vergleich, wie Max ihn zog, die alten Stegreifritter.«

»Und Sie, Herr von Duhnin, nützen scheinbar die Gelegenheit, meinem Geschmack und daher mir selbst eine Lektion zu erteilen. Danke für Ihre liebe Mühe – nur fürchte ich, daß es für derlei Unterricht bei mir schon zu spät ist.«

Es hätte ironisch klingen sollen; es klang heftig und aufgeregt.

Eva Fontagne ging ins Hotel.

* * *


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