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Der Theatersekretär hielt die schmale Visitenkarte, die der Besucher ihm reichte, zwischen den Fingern.
Ludwig Mylius
stand in zierlicher Graphik auf dem Karton.
Der Sekretär maß die Gestalt des vor ihm Stehenden mit einem abschätzenden Blick.
»In welcher Angelegenheit, mein Herr?«
»In einer Theatersache.«
»Herr Direktor Lascano ist Besitzer des Atlantic, des Rialto, des Trocadero, des Piccadilly-Theaters, ganz zu schweigen vom Jardin de Danse, vom Pavillon d'Amour und vom Moulin Rouge. Würden Sie daher die Güte haben, mir zu sagen, um welches Theater es sich handelt?«
Mylius lächelte amüsiert.
»Um das Atlantic-Theater.«
»Einen Augenblick.«
Der Sekretär drückte den Knopf des Schaltapparats ein.
»Herr Direktor Lascano läßt bitten.«
Mylius folgte dem jungen Mann durch einen schmalen Korridor, der zum Allerheiligsten führte.
Tausend unbestimmte Geräusche erfüllten das Haus mit jener unbeschreiblichen Atmosphäre, die dem Variété eigen ist. Der Duft herben Parfüms, gemischt mit dem penetranten Geruch wilder Tiere und dem Staubdunst der Kulissen. Ein dumpfes Summen ging durch das Haus, unterbrochen durch fremdartige Kommandorufe; schrille Klingelsignale ertönten, die scharfen Rhythmen eines Charleston klangen auf.
Der Sekretär öffnete eine ledergepolsterte Tür.
»Bitte!«
Direktor Lascano erhob sich aus dem Sessel hinter dem breiten Diplomatenschreibtisch.
»Ich bitte einen Augenblick um Entschuldigung, mein Herr! Ich stehe sofort zu Ihrer Verfügung.«
Lascano wies einladend auf einen Sessel und bot dem Besucher die Importenkiste.
Mylius lehnte dankend ab. Seine Blicke gingen durch das Zimmer.
Vor Lascano stand ein kleiner beweglicher Herr. Seine um eine Nuance zu stark betonte Eleganz, die vielen Ringe, die nußgroße Krawattennadel verrieten den Variétéagenten.
Er stieß große Dampfwolken von sich und warf einen kurzen ärgerlichen Blick auf Mylius.
»Also bis morgen«, sagte er und griff nach seinem Hut.
»Warum bis morgen?«
»Weil ich sehe, daß Sie beschäftigt sind.«
»Ich habe auch morgen nicht mehr Zeit für Sie zur Verfügung, Silviani.«
Der Agent hüllte sich in eine ungeheure Dampfwolke.
»Sie wollen doch nicht im Ernst sagen, Direktor, daß Sie ein derartiges Riesengeschäft sozusagen zwischen Tür und Angel abschließen?«
»Ich kann dafür genau drei Minuten aufwenden, Silviani. Sie sehen, ich habe Besuch.«
Lascano wandte sich mit entschuldigender Geste zu Mylius.
Der Agent nahm mit trippelnden Schritten eine Wanderung durch das Zimmer auf.
Plötzlich blieb er mit einem Ruck vor Lascano stehen.
»Also – mein letztes Angebot, Herr Direktor: Ich verschaffe Ihnen die Uraufführung der neuen Weltsensation ›Vom Jungfernstieg zum Broadway‹ mit der Texeira und ihrem Partner Reynolds in den Hauptrollen, mit dem gesamten Chorpersonal, dem technischen und künstlerischen Stab, der Musik, fabelhafter Reklame für – für – sagen wir – na, für Achthundertfünfzigtausend Mark! Billig – was? Achthundertfünfzigtausend Mark auf vier Wochen – Prolongation vorbehalten. Einverstanden?«
Silviani hielt dem Direktor die Hand hin.
»Ich sagte schon, Silviani – Sechshunderttausend.«
Der Agent hob abwehrend beide Hände.
»Ausgeschlossen – Diese fabelhafte Nummer soll ich verschleudern? Uraufführung in Europa! Vor New-York! Herr Direktor, verstehen Sie: vor New-York! Wissen Sie, was das bedeutet? Ein Riesengeschäft!«
Erregt trippelte der kleine Mann im Zimmer hin und her.
Lascano betrachtete den Aufgeregten mit kühler Gelassenheit.
»Herr Silviani, Sie haben bereits anderthalb Minuten meiner Zeit …«
Silviani stöhnte.
»Es geht nicht, Direktor, es geht nicht! Bedenken Sie: die größte Schau der Welt! Sie schlagen die gesamte Konkurrenz!«
Lascano zog die Uhr.
»Stop,« schrie der Agent, »es ist Wahnsinn, aber ich muß den Abschluß mit Ihnen machen. Siebenhunderttausend Mark!«
Lascano erhob sich.
»Adieu, Herr Silviani.«
»Sie lehnen ab, Herr Direktor?«
»Eine Minute noch. Nehmen Sie mein Angebot an oder nicht?«
»Aber so geht es doch nicht, bester Direktor, ich muß doch noch …«
»Hier ist der Vertrag; er ist in allen Einzelheiten ausgearbeitet. Also: Ja oder Nein?«
Lascano reichte dem nach Luft schnappenden Agenten den Füllfederhalter hin.
Silviani krümmte sich.
»Das Geschäft ruiniert mich«, murmelte er, Lascano mit scheuem Blick streifend.
»Wie Sie wollen, Silviani – übrigens: die drei Minuten sind um.«
Lascano zog die Hand mit dem Halter zurück.
»Also geben Sie schon her, in Gottes Namen.«
Mit nervöser Hast kritzelte Silviani seinen Namen unter den Vertrag.
Der Direktor trocknete die Schrift ab und bot dem Agenten die Hand.
»Auf Wiedersehen.«
Der Agent nahm ein Exemplar des Vertrages an sich.
»Noch ein solcher Abschluß – und ich bin verloren.«
Kopfschüttelnd verließ Silviani das Zimmer.
Lascano wandte sich zu seinem Besucher.
»Ich muß nochmals um Entschuldigung bitten, Herr Mylius – meine Zeit ist wirklich so knapp …«
»Es war recht interessant, Herr Direktor.«
»Darf ich fragen, was Sie mir für Nachrichten bringen?«
Mylius sah auf die Spitzen seiner Lackschuhe. Er zögerte kaum merklich mit der Antwort.
»Der Aufsichtsrat meiner Bank hat es leider abgelehnt, Ihre Theaterunternehmungen zu finanzieren.«
Für einen Moment lag beklemmendes Schweigen im Zimmer.
»Und die Gründe? Darf man sie wissen?«
»Als Direktor der Nationalbank bedaure ich, Ihnen keine Details geben zu können, Herr Lascano.«
Lascano ließ den Brieföffner nachdenklich durch seine Finger gleiten.
»Sind Sie in der Lage, die Summe von anderer Seite zu beschaffen?«
Mylius zögerte wieder mit der Antwort. Ein forschender Blick traf Lascano.
»Um es Ihnen ganz offen zu sagen: ich glaube – nein.«
»Sind Sie auch hier verhindert, mir die Gründe zu nennen?«
»Nein.«
Lascanos dunkle Augen hefteten sich fragend auf Mylius.
»Die Gründe sind privater – ich möchte sagen: persönlicher Art.«
Lascano zündete sich eine Zigarette an.
Der Bankdirektor suchte nach Worten.
»Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, daß eine gewisse Gruppe gegen Sie Material sammelt.«
Lascano wehrte ungeduldig ab.
»Diese Bewegung ist gewachsen, Herr Direktor; wir wollen das Kind beim rechten Namen nennen. Erst gestern hat ein Blatt scharfe Angriffe gegen Sie gerichtet.«
Mylius hielt inne, als ob er eine Entgegnung Lascanos erwartete.
Der Direktor sah den blauen Ringen nach, die sich von seiner Zigarette kräuselten.
»Man wirft Ihnen vor, Ihre Revuen, in denen hunderte halbnackter Frauen auftreten, seien eine einzige schamlose Spekulation auf die Sinnlichkeit.«
Lascano zerdrückte die Zigarette.
»Im Ernst, Herr Mylius: Was haben meine Revuen mit meiner Person zu tun?«
Mylius hob entschuldigend die Rechte.
»Nichts, Herr Lascano, in der Tat nichts. Man weiß, daß Sie völlig integer sind. Zum mindesten die Eingeweihten wissen es. Aber –«
»Was – aber?«
»Aber Ihre Gegner verstehen es, alles gegen Sie auszunutzen. Es gibt keine Gewagtheit, die nicht in Ihren Theatern geboten wird – die Nacktheit triumphiert …«
»Verzeihung, ich sehe immer noch nicht …«
»Kurz und gut: die Zahl Ihrer Gegner nimmt zu. Ich fürchte, daß man demnächst zu einem entscheidenden Schlage gegen Sie ausholen wird.«
Lascano machte eine unmutige Bewegung.
»Ich nehme den Kampf mit diesen Herrschaften auf.«
Mylius erhob sich.
»Sie begreifen,« sagte er kühl, »daß ich unter diesen Umständen kaum ein Finanzkonsortium für Ihre Unternehmungen interessieren kann.«
Lascano zuckte die Achseln.
Der andere griff nach dem Hut.
In diesem Augenblick wurde die Tür des Privatbureaus aufgerissen. Eine junge Dame stürmte herein.
In der Türfüllung erschien das verlegene Gesicht des Theatersekretärs. Er blickte wie entschuldigend auf den Direktor, der befremdet die Dame musterte:
»Fräulein Denise?« fragte er gedehnt.
Sie blieb in der Mitte des Zimmers zögernd stehen. Ein flüchtiger Blick streifte den Bankdirektor. Jenes stereotype Lächeln der Berufstänzerinnen lag um ihre Lippen.
Mylius sah, daß sie sehr schön war.
Fräulein Denise näherte sich dem Schreibtisch des Direktors. In ihrem Arm, ganz eingekuschelt, lag ein reizendes Bologneser Hündchen.
»Herr Mylius – Fräulein Denise Lavallière, unsere zweite Solotänzerin.«
Denise ließ einen schnellen Blick über den Besucher gleiten. Die Herren ihrer Bekanntschaft pflegten sich in zwei Kategorien zu teilen: entweder sie sahen gut aus – dann hatten sie gewöhnlich nichts; oder aber sie waren wohlhabend – dann pflegten sie nichts weniger als gut auszusehen. Dieser Mann dort drüben sah gut aus und war überdies augenscheinlich wohlhabend.
Sie nickte ihm mit strahlendem Lächeln zu.
»Sie wünschen, Fräulein Denise?« fragte Lascano.
Sie ließ sich in einen Sessel fallen und kreuzte mit graziöser Nachlässigkeit die Beine.
»Ist es wirklich wahr, Herr Direktor – ich bekomme in der neuen Revue nur die Rolle der zweiten Favoritin?«
»Ich kann Ihnen die erste Rolle leider nicht geben, Fräulein Denise – Frau Digha-Digha besteht darauf. Und ich habe zugesagt.«
»Und warum, wenn ich fragen darf, Herr Direktor?« sprudelte Denise hervor. »Warum – halten Sie etwa Digha-Digha für eine bessere Tänzerin als mich?«
»Ich muß es ablehnen, Fräulein Denise, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten.«
Die Tänzerin zog ein Mäulchen. Sie drehte den Kopf zu Mylius hinüber, als erwarte sie von ihm Beistand.
Der Bankdirektor war aufgestanden und betrachtete interessiert ein Wandbild. Es war eine große Photographie der Denise als Venus mit der Unterschrift:
»Denise Lavallière
als Aphrodite.«
Ein helles Lachen klang auf.
Mylius drehte sich um.
Denise saß mit harmlosem Lächeln auf der Kante des Schreibtisches und beugte sich zu Lascano hinüber. Der lehnte sich langsam in seinen Sessel zurück; ein abweisender Ausdruck ging über sein Gesicht.
Das Hündchen war von Denises Arm gesprungen. Es hockte vor Lascano und machte »schön«.
Die Herren lachten.
Lascano schüttelte den Kopf.
»Also, Fräulein Denise,« sagte er, sich erhebend, »es hat mich sehr gefreut.«
Sie wandte enttäuscht den Kopf und ging zur Tür, nicht ohne Herrn Mylius im Vorbeigehen einen Blick zuzuwerfen, in dem eine Welt von Verheißungen lag.
Mylius blickte der sich verabschiedenden Tänzerin nach. »Weiß Gott, ich wäre nicht imstande gewesen, dieser Dame etwas abzuschlagen.«
»Sie haben mir also keine weiteren Vorschläge zu machen, Herr Mylius?«
»Zu meinem Bedauern muß ich sagen, daß ich keine Möglichkeiten sehe …«
Lascano streckte ihm die Hand hin. »Also, auf Wiedersehen!«
Die Tür schloß sich hinter dem Besucher.
* * *
Magda Mylius saß am Klavier.
Ein junger Mann stand an ihrer Seite und blätterte gewissenhaft die Noten um. Die brünstigen Töne des Liebesliedes aus »Samson und Dalila« erfüllten das Zimmer.
Im Halbkreis saßen die Gäste; man hörte andächtig dem Spiel zu. Die gepflegte Hand des Dr. Höcker strich wohlgefällig durch den geteilten Vollbart. Ihm zur Seite saß Frau Schwerdtfeger, die Leiterin eines Mädchenpensionats. Die hochgezogenen Schultern, das glattgescheitelte Haar, das bis zum Halse geschlossene Kleid unterstrichen das Streng-Nüchterne ihrer Erscheinung. Mit zusammengepreßten Lippen ließ sie die schwellenden Akkorde dieser Musik über sich ergehen. Ihr Blick ruhte wie fragend auf ihrer Nachbarin.
Diese, eine Vierzigerin, hochbusig, mit straff zurückgekämmtem schwarzen Haar, den Knoten im Nacken, schien von der Musik gänzlich unberührt. Ihr Blick verriet keinerlei innere Bewegung.
Dr. Schmittlein, ihr Nachbar, preßte seine dünnen Lippen fest aufeinander. Er hatte das Gesicht eines gelehrten Habichts.
Von ähnlicher Art waren die anderen Damen und Herren des Zuhörerkreises.
Frau Mylius, Magdas Mutter, blickte mit Stolz auf die spielende Tochter. Magda war in mancher Beziehung ihrer Mutter ähnlich. Doch besaß sie keineswegs jene Prüderie, die man vielleicht von der Tochter einer Vorstandsdame des »Vereins der Revuegegner« erwartete. Sie war vielmehr temperamentvoll, mit lebhaften lachenden Augen. Ihr kurzgeschnittenes blondes Haar gab ihr etwas Keckes, Übermütiges. Magda galt in der Gesellschaft als die korrekteste junge Lady – unter ihresgleichen, bei ihren Freundinnen sprühte sie von Temperament. Sie teilte die Ansichten ihrer Mutter in bezug auf die Notwendigkeit eines sittlichen Lebens, und ihre Teilnahme an dem Kampf gegen Lascano, den der »Verein der Revuegegner« führte, war eine aufrichtige. Die Zurschaustellung unbekleideter Frauen mußte ihrem jungen und gesunden Empfinden als schamlos erscheinen.
Die letzten Töne verklangen. Magda ließ die Hände von den Tasten sinken.
Alle schwiegen – es lag in diesem Schweigen etwas Feindseliges, etwas wie ein stummer Protest gegen diese Musik.
»Ich empfinde diese Melodie als unmoralisch«, ließ sich Frau Schwerdtfeger leise vernehmen.
Ihre Nachbarin richtete sich steil auf. »Diese Musik ist nackt und brutal; Wagner würde sich mit Abscheu von ihr gewendet haben.«
Magda lächelte.
»Halten Sie Wagners Melos etwa für weniger sinnlich?«
»Sicherlich. Der Kern seiner Musik bleibt immer keusch.«
»Sie meinen: unerotisch?«
Ein strafender Blick traf Magda.
»Ich meine, die Wagnersche Musik ist rein – sie ist um ihrer selbst willen geschrieben!«
Magda ließ sich nicht beirren.
»Ich verstehe Sie nicht ganz, gnädige Frau, aber ich weiß, daß für Wagner die Musik die höchste Ausdrucksform war. Übereinstimmung des Textes und des Spiels mit der Musik war für ihn das Leitmotiv seines Schaffens.«
»Ich habe Wagner-Aufführungen in Bayreuth gehört, Fräulein Mylius.«
»Nun, dann werden Sie auch wissen, daß es kaum etwas Sinnlicheres gibt als das Venusbergmotiv.«
»Liebe Magda,« unterbrach Frau Mylius das Gespräch, »möchtest du nicht nachsehen, ob der Tee im Salon serviert ist?«
Magda erhob sich lächelnd und verließ das Zimmer.
»Meine Herrschaften,« nahm Frau Mylius das Wort, »ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Sie entnahm einer Aktenmappe eine illustrierte Zeitschrift, auf deren Titelseite das große Aktbild einer Tänzerin zu sehen war:
Digha-Digha,
die Trägerin der Hauptrolle in der neuen
Ausstattungsrevue des Atlantic-Theaters
Sardanapal
stand darunter.
»Hier, meine Herrschaften, haben Sie einen neuen Beweis von Herrn Lascanos verderblichem Wirken.«
Damit reichte sie das Blatt herum.
Dr. Schmittlein warf verstohlen einen kurzen Blick auf das Bild und gab es dann entrüstet an seine Nachbarin weiter.
Die machte ein finsteres Gesicht. Sie verglich im stillen.
Der Vollbärtige sah ihr über die Schulter und machte ein tieftrauriges Gesicht. Mit wehmütigem Nicken reichte er das Blatt weiter. Frau Schwerdtfeger nahm es mit spitzen Fingern, ohne einen Blick darauf zu werfen.
»Eine Schamlosigkeit sondergleichen!«
Herr Schmittlein griff rasch noch einmal nach dem Bild.
»So laufen alle Frauen bei Lascano herum«, sagte er mit dem Brustton der Überzeugung.
»Woher wissen Sie denn das? Kennen Sie Lascanos Theater?«
Alles drehte den Kopf.
Magda war unbemerkt eingetreten; sie mußte die letzten Äußerungen gehört haben.
Lächelnd trat sie näher. »Nun, Herr Doktor?«
Der kämpfte mit einer leichten Verlegenheit.
»Ich kenne Lascano und seine Theater nicht – aber ich bekämpfe sie«, erklärte er mit Emphase.
Frau Mylius schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Liebe Magda, über Lascanos Ruf sind längst die Akten geschlossen – ich finde es sonderbar, daß du für ihn eintrittst.«
»Ich finde es sonderbar, Mama, daß man über jemand herfällt, der sich nicht verteidigen kann.«
Ein verlegenes Schweigen entstand.
»Gott,« sagte endlich eine der Damen, »ich finde, es erübrigt sich eigentlich für uns, unsere Stellung in puncto Lascano zu rechtfertigen.«
Dann trat Ludwig Mylius ins Zimmer. Er begrüßte die Gäste. Seine Frau legte die Hand auf seinen Arm. »Ohne Sorge, meine Herrschaften, mein Mann wird uns im Kampf gegen Lascano führen – er wird den rechten Weg finden!«
* * *
Herr Mylius ging in sein Arbeitszimmer hinüber; er hatte das lebhafte Verlangen, allein zu sein.
Ein heiteres Erlebnis beschäftigte ihn. Als er vorhin, beim Verlassen des Atlantic-Theaters, seinen Wagen besteigen wollte, zupfte ihn etwas am Beinkleid.
Es war das Bologneser Hündchen der Tänzerin. Mylius streichelte das Tier.
Aber plötzlich sprang der Hund in den Wagen, setzte sich Mylius gegenüber und sah ihn mit klugen Augen an.
Mylius kraute ihm den Kopf.
Unwillkürlich faßte seine Hand das Halsband; sein Blick fiel auf eine Plakette, die auf dem Leder befestigt war:
Ich gehöre
Denise Lavallière
Pension Hübener
Steinplatz 18
Gehorsam gab Mylius dem Chauffeur Weisung, nach dem Steinplatz zu fahren.
Die Tänzerin kam ihm entgegen, das Taschentuch gegen die Augen gedrückt. »Wie soll ich Ihnen danken, mein Herr.« Und in überströmender Zärtlichkeit steckte sie dem Hündchen, ein Praliné ins Mäulchen, das sie offenbar bereitgehalten hatte.
»Ist er Ihnen schon öfter entlaufen, gnädiges Fräulein?«
Denise blies den Rauch ihrer Zigarette in zierlichen Ringen von sich.
»Man hat ihn mir immer wiedergebracht.«
»Also hat Teddy noch nie versagt?«
Die Tänzerin warf Mylius einen koketten Blick aus den Augenwinkeln zu.
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, die Plakette hat stets ihren Zweck erfüllt?«
Denise lachte hell auf.
Die Zofe brachte Madeira.
»Wenn ich doch den Direktor dahin bringen könnte, mir die Hauptrolle zu geben«, sagte die Tänzerin mit einem plötzlichen Seufzer.
»Das muß Ihnen doch ein leichtes sein!«
»Sie kennen Lascano nicht. Er sieht in uns nur die Künstlerin – nie die Frau.«
»Ohne Ausnahme?«
»Ohne Ausnahme. Von den tausend Frauen, die sein Büro passiert haben, kann sich keine rühmen, mehr als einen freundlichen Händedruck von ihm empfangen zu haben.«
»Wie seltsam! Man erzählt sich doch von ihm die tollsten Dinge.«
»Bühnenklatsch – Verleumdung. Leider! Er ist ein Eisblock! Im Privatleben ist er freundlich und kühl. Kurz: ein unangenehmer Direktor.«
»Was ist denn Wahres an den Orgien, die im ›Pavillon d'amour‹ gefeiert werden sollen?«
»So gut wie nichts – wenigstens was ihn selbst betrifft. Der Sekt fließt in Strömen – alles schlemmt – die Frauen bekommen glänzende Augen – Direktor Lascano trinkt ein halbes Glas Sekt und ist der erste, der aufbricht.«
»Hm – man tut also Lascano schweres Unrecht, wenn man ihm alle möglichen Laster anhängt?«
»Ich hasse ihn zwar. Aber das eine muß ich ihm nachsagen: daß man ihm nicht das Geringste nachsagen kann. Ich dachte übrigens, Sie kennen ihn.«
»Es war die erste geschäftliche Unterredung, die ich heute mit ihm hatte.«
»Schade!«
»Wieso schade?«
Denise beugte sich zu Mylius hinüber und legte leicht die Hand auf seinen Arm.
»Ich dachte, daß Sie vielleicht Einfluß auf Lascano hätten. Daß Sie vielleicht …«
Er nahm ihre Hand und ließ seine Lippen etwas länger als schicklich darauf ruhen.
»Nun – wer weiß?« sagte er mit einem tiefen Aufatmen.
An diese Unterredung mußte Mylius denken. Und sinnend blickte er dem Rauch seiner Zigarette nach, der schmeichelnd, in einer schlanken Säule, zur Decke stieg.
* * *
Doktor Arthur Lanz öffnete die Tür. Sie führte zum Vorraum seines kleinen Laboratoriums.
Ein überraschender Anblick! bot sich ihm: sein Gehilfe, ein langer blasser Mensch mit schlenkrigen Gliedmaßen, setzte eben in einem geschickten Bocksprung über den Lehrling hinweg. Betroffen blieb Doktor Lanz stehen. Der Gehilfe, offenbar gewissenhaft nach der Sportregel, bückte sich; und nun setzte der Lehrling über ihn. Dann sprang wieder der Lange; der schief sitzende Kneifer flog ihm von der Nase; prompt schrie der Lehrling »Au!«. Der Lange suchte nach seinem Glas. Dann nahmen die beiden ihre Übungen mit ernstem Eifer von neuem auf.
Der Junge gewahrte zuerst den in der Tür stehenden Chef. Er blieb wie erstarrt in seiner gebückten Stellung, während der Gehilfe leichtfüßig über ihn hinwegsprang.
»Gut Heil!« sagte Doktor Lanz.
Die beiden drehten sich mit einer Geschicklichkeit, der man die Übung anmerkte, zu ihren Reagenzgläsern herum.
Doktor Lanz erkletterte seinen hohen Drehbock und sah seinen Angestellten eine Weile aufmerksam zu.
»Im Ernst, meine Herren, glauben Sie wirklich, daß es Zweck hat, diesen Vergnügungsbetrieb noch länger zu unterhalten?«
Der Lehrling und der Gehilfe arbeiteten mit verstärktem Eifer.
Doktor Lanz zuckte die Achseln.
»Ihre gesamte Tätigkeit besteht darin, daß Sie mit Federhaltern in die Fachbücher schießen, um zu sehen, welche Formel Ihnen das Schicksal zuorakelt. Ich habe dieses sinnige und geistvolle Spiel oft beobachtet. Oder: Sie spitzen Bleistifte an; es sei denn, daß Sie zur Abwechslung mit den Ausrüstungsgegenständen dieses Zimmers hanteln.«
Die beiden standen stumm, in offenbarer Verständnislosigkeit; nur der Lehrling warf einen scheuen Blick auf seinen Herrn.
»Wie Sie vielleicht bemerkt haben werden, haben sich unsere geschäftlichen Erwartungen nicht erfüllt …«
Doktor Lanz hielt inne, als ob er auf eine Entgegnung seines Personals warte.
Nur die Probierzylinder und die Retorten klapperten.
»Ich sehe mich deshalb leider gezwungen, unseren Betrieb – um einen Ausdruck aus unserem Fach zu gebrauchen – in seine Bestandteile aufzulösen.«
Die beiden blickten betroffen drein.
Doktor Lanz rutschte melancholisch von seinem Sitz herunter.
»Ich lese in Ihren Augen die ebenso bange wie berechtigte Frage: Wie steht es mit unserem rückständigen Gehalt?«
Herr Emmerbacher nickte.
»Da wir nun, meine verehrten Mitarbeiter, trotz angestrengten Suchens die Formel des Goldmachens noch nicht gefunden haben, so sehe ich mich – im Augenblick wenigstens – außerstande, Ihnen Ihr Geld auszuzahlen.«
Der Gehilfe putzte eifrig an seinen Kneifergläsern. Er würgte an einer Entgegnung.
»Sobald ich aber meine neue Erfindung, Sie wissen ja – die Imprägnierungsmasse – nutzbringend verwertet habe, sollen Sie Ihr Geld bekommen – mit Verzugszinsen.«
Doktor Lanz machte eine effektvolle Pause.
Seine Angestellten warteten mit stiller Ergebung.
»Bis dahin, meine Herren, leben Sie wohl!«
Er drückte Herrn Emmerbacher wie auch dem Lehrling kräftig die Hand.
Draußen standen die beiden einen Augenblick vor der Tür und sahen sich wortlos an. Stumm, aber beredt hob sich der Zeigefinger des Lehrlings an die Stirn.
»Weibergeschichten«, sagte Herr Emmerbacher dumpf.
Dann beschlossen beide, die unverhoffte Freiheit auszunützen: sie fuhren nach dem Kaiserdamm zum Sechstagerennen.
Doktor Lanz schloß sein Bureau ab. Den Schlüssel behielt er feierlich in der Hand. Er überschritt den Damm und trat dicht an das Ufer des Landwehrkanals.
Ein Schupobeamter folgte ihm aufmerksam mit den Augen. Lanz trat dicht an das Geländer. Der Schutzmann ging rasch auf ihn zu. Lanz schleuderte mit einem kraftvollen Schwung seinen Schlüssel in das Wasser.
»Was haben Sie da versenkt?«
Der Chemiker drehte sich gelassen um.
»Meine Hoffnungen, Herr Wachtmeister,« sagte er höflich, »meine Hoffnungen.« Damit lüftete er grüßend den Hut und ging langsamen Schrittes davon.
Doktor Arthur Lanz war eine seltsame Natur. Er war ein begabter Mensch, der eine große Zukunft – hinter sich hatte. Das Theater hatte es ihm angetan: die Kulissenluft ließ ihn nicht los – und mitten in seine Arbeiten hinein: in den chemischen Laboratorien, draußen in den Fabriken an der Peripherie der Stadt, packte ihn plötzlich unbezwingliche Sehnsucht nach dem Rausch des Theaters. Nach dem seltsamen Zauber dieser Welt, nach dem Parfüm der Kulissen, nach dem schmeichelnden Singen der Geigen. Es zog ihn zu diesen Frauen, von denen eine, oft mehrere, seine Freundinnen waren – solange er Geld hatte.
Daß er es auf diese Weise nicht lange hatte, war kein Wunder. Er verlor seine Stellungen: dem finanziellen Zusammenbruch folgte langsam der moralische. Lanz wurde ein Höriger, hörig den Frauen, hörig dem Theater und endlich – hörig dem Alkohol.
Es gab genug Leute, die seine Tüchtigkeit anerkannten – und ihn dennoch im Grunde verachteten. Lanz fühlte ihre Geringschätzung sehr wohl – aber er vermochte sich nicht zum Entschluß aufzuraffen: dem allen ein Ende zu machen. Zähneknirschend fügte er sich in die Rolle, in die ihn die Zwiespältigkeit seines Charakters gedrängt hatte.
Seinem Unternehmungsgeist stand immer ein völliges Manko an Betriebskapital, an Aufträgen gegenüber.
Lanz zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber – es würde schon werden!
Ziel- und planlos wanderte er durch die Straßen. Er ließ sich von der Menge treiben, die hastend ihren Geschäften nachjagte. Der Lärm der Großstadtstraße lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Er bog in eine ruhige Allee des Tiergartens ein und kaufte ein Magazin. Gedankenlos blätterte er darin. Plötzlich fiel sein Blick auf das Bild Digha-Dighas mit der Ankündigung der neuen Revue. Lange starrte er auf das dunkle Gesicht der berühmten Tänzerin – ein leicht malaiischer Typus schien ihren Namen zu rechtfertigen.
Seine Gedanken wanderten zurück. Vor zwei Jahren war es, in einem verräucherten Vorstadtlokal, oben im Norden Berlins. Da hatte er eine bildhübsche junge Tänzerin von merkwürdig exotischem Einschlag entdeckt. Zum Teufel, war das nicht …
Ein sinnendes Lächeln trat in seine Züge. Er zog die Uhr – dreiviertel zwölf – vielleicht hatte er Glück.
Zehn Minuten später stand er vor dem Bühneneingang des Atlantic-Theaters.
»Sie wünschen?« fragte der Portier durch das Logenfenster.
»Ist Fräulein Digha-Digha im Hause?«
Der Portier warf einen Blick auf den Probenzettel. »Fräulein Digha-Digha ist auf der Probe.«
»Ich möchte … ich muß sie dringend sprechen.«
Ein abschätzender Blick traf den Besucher. Er kannte diese Sprache der Bühnenzerberusse. Mit lässiger Bewegung drückte er dem Portier ein Geldstück in die Hand.
Es war seine letzte Mark.
Gleich darauf hatte Lanz seinen Passierschein.
»Die Treppe rechts, bitte. Die Jarderoben liejen im ersten Stock.«
Lanz ging ins Haus. Seine Nasenflügel vibrierten – gierig sog er den wohlbekannten Duft ein. Unbestimmte Geräusche drangen an sein Ohr. Dort – im Hochparterre – lag der Bühnenraum. Durch eine angelehnte Eisentür drang Lichtschein. Das Quinkelieren des Orchesters erfüllte sein Ohr.
Taktmäßiges Aufstampfen der Ballettschuhe weckte zärtliche Erinnerungen. Eine männliche Stimme rief kurze, energische Kommandos: der Regisseur an der Arbeit.
Er befand sich wieder im Bann der Kulissen. Behutsam trat er näher. Auf der Bühne brannten nur einige Lampen. Unbeschäftigte Darsteller und Theaterarbeiter standen herum.
Eine Gruppe Tillergirls in assyrischen Kostümen drängte sich um einen Scheiterhaufen.
Der Regisseur stand mit fuchtelnden Gebärden vor dem Brandmeister. Die beiden schrien sich an, brüllten durcheinander, schrien aneinander vorbei.
»Und was soll aus unserer Premiere werden?«
Der Beamte zuckte die Achseln. »Tut mir leid, Herr Großmann. Ich muß die Scheiterhaufenszene als lebensgefährlich verbieten.«
Der Regisseur vollführte einen Indianertanz.
»Mensch … Herr Brandmeister, mit dieser Szene steht und fällt die ganze Revue!«
»Dann müssen Sie sich eben nach einem Ersatz für diese Szene umsehen.«
Großmann raufte sein Haar.
»Der Alte schmeißt mich raus, wenn er das erfährt«, jammerte er verzweifelt.
»Auch Herr Direktor Lascano wird sich damit abfinden müssen. Guten Morgen!«
Der Brandmeister hob zwei Finger an die Mütze und ging eilends davon. Der Regisseur blieb ratlos auf der Bühne stehen. Keiner wagte ein Wort zu reden.
»Proben wir weiter?« fragte der Kapellmeister aus der Tiefe des Orchesters.
Der Regisseur drehte sich wortlos um und verließ die Bühne. In der Tür prallte er mit einem Fremden zusammen.
»Was wollen Sie hier?«
Der Ankömmling zeigte seinen Passierschein und erkundigte sich nach den Garderoben. Der Regisseur musterte ihn mit einem mißtrauischen Blick.
»Rechts – die Treppe rauf!«
Der andere zog höflich den Hut. Oben stieß er auf ein neues Hindernis.
Eine Frau, deren gewaltige Proportionen im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Länge standen, kam aus einer Garderobe. Sie streifte den Fremden mit einem empörten Blick und wuchtete die Arme in die Hüften.
»Was wollen Sie hier? Hier gibt es bloß Damen.«
Lanz faßte in die Tasche.
Die Garderobiere schüttelte energisch den Kopf.
Der Abgewiesene wühlte krampfhaft in seiner Tasche.
»Ich muß dringend Fräulein Digha-Digha sprechen.«
»Gibt's nicht. Ist bei der Toilette.«
In diesem Augenblick wurde die Tür der Garderobe aufgerissen. In ihrem Rahmen stand Digha-Digha. Ein indischer Schal umhüllte ihre Schultern.
»Wo bleiben Sie, Frau Bohnke?«
Sie streifte den Besucher gleichgültig mit ihren dunklen Augen, deren Ausdruck langsam in ein ungläubiges Staunen überging.
»Nein!« sagte sie.
»Doch!« nickte er.
Digha-Digha zog ihn rasch in die Garderobe und schlug der neugierig nachdrängenden Frau Bohnke die Tür vor der Nase zu.
»Schon wieder ein Neuer«, brummte die Alte und trollte sich kopfschüttelnd.
»Bist du es wirklich? Doktor Arthur Lanz?«
Lanz erhaschte die Hand der Tänzerin.
»Scht –« sie legte den Finger auf den Mund, »scht – hier kennt man mich nur als Digha-Digha.« Lanz betrachtete sie mit glänzenden Augen. Voll Rührung, Freude, Staunen.
»Du bist also die berühmte Digha-Digha geworden?«
Sie wiegte sich wohlgefällig in den Hüften und tänzelte stolz an ihm vorbei.
»Si, Señor.«
»Und spanisch sprichst du auch?«
»Ich war in Barcelona engagiert. Und du, Arthur, was machst du?«
Sie warf einen verstohlenen Blick über seine Gestalt, die irgendwie den Stempel der Gedrücktheit trug – über seinen Anzug, über seine Beinkleider, in denen die Bügelfalte im Verschwinden war.
»Hast du eine Zigarette, Trude?«
Die Tänzerin bot ihm das Etui.
»Was ich mache?« Lanz stieß den Rauch der Zigarette von sich. »Ich arbeite an einer Erfindung.«
Sie warf sich lachend auf die Chaiselongue.
»Dios mio – solange ich dich kenne, arbeitest du an einer Erfindung. Was ist es denn diesmal?«
Lanz beschrieb eine kreisende Geste in der Luft.
»Eine ganz große Sache. Stell dir vor: man macht eine Mischung …«
»Bastante!« Digha-Digha sprang von ihrem Sitz auf. »Eine Frage: hast du schon gegessen?«
Lanz unterdrückte ein verräterisches Knurren seines Magens.
»Um die Wahrheit zu sagen: nein. Ich überlegte gerade zwischen Peltzer Grill und Aschinger.«
»Bueno – du bist mein Gast. Warte draußen, bis ich mich angezogen habe.«
»Trude!«
Lanz näherte sich schmeichelnd der Tänzerin.
»Es ist Hausgesetz. Also geh schon.«
Lanz nahm sich eine neue Zigarette und trat auf den Korridor hinaus.
Vom Bühnenraum tönte leise Musik. Einschmeichelnde Weisen, getragen von frischen, hellen Mädchenstimmen. Der gleichmäßige Takt der Tanzenden und das knisternde Rauschen von Seidenröckchen waren deutlich vernehmbar.
Jene sonderbare Stimmung aus Musik, Duft und Erotik legte sich wieder beklemmend um seine Sinne. Schwer atmend lehnte er am Fenster. Drüben, vor dem Portal des Theaters, standen wartende Privatautomobile. Fremdartige Erscheinungen entstiegen den Gefährten. Herren, denen man den Großunternehmer ansah, Leute mit Galgengesichtern – aber im Pelz und mit kostbaren schweren Ringen, an den Fingern. Flinke Gewinner, die ihre Beute zinstragend im Theater anlegen wollten. Frauenjäger – Glücksritter.
Sie alle umschwärmten das Theater wie die Fliegen das Licht – sie alle warteten geduldig im Vorzimmer zum Allerheiligsten, waren höflich und unterwürfig zu dem Beamten, der die Tür zu Lascanos Privatbureau hütete.
Digha-Digha trat aus der Garderobe. Betäubender Duft hüllte sie ein. »Komm!«
»Bist du glücklich, Trude?« fragte er, während sie den Korridor hinuntergingen.
»Es war ein weiter Weg vom Wedding bis zur Prima ballerina assoluta des Atlantic-Theaters.«
Lanz nickte versonnen.
»Es war doch schön beim alten Winkelmann in der ›Himmelsleiter‹ – draußen in der Linienstraße …«
»Hm, jeden Abend von neun bis drei in der Frühe – für fünf Mark und zwei Glas Bier!«
»Als du dich noch Trude Treff nanntest, ›Die Perle vom Wedding‹.«
Digha-Digha zog die Handschuhe über den Gelenken straff.
»Inzwischen habe ich die Welt gesehen: London – Paris – Spanien – New York. Soviel Stationen – soviel Triumphe.«
»Weißt du noch, als ich dich zum erstenmal in der ›Himmelsleiter‹ sah? Ich applaudierte wie rasend. Du warfst mir eine Kußhand zu, und ich spendierte dir einen Veilchenstrauß. Für zwanzig Pfennig.«
Digha-Digha trat dicht an Lanz heran. Ihre Augen wurden weich und fragend. »Und später – weißt du noch?«
Er wollte sie an sich pressen. Sie entwand sich ihm.
Wie in scheuem Mitleid ließ sie einen schnellen Blick über seine Gestalt gleiten.
»Vamos, amigo – ich habe Hunger … Komm: mein Auto wartet.«
* * *
Der Verein der Revuegegner veranstaltete einen Wohltätigkeitsbasar in der Philharmonie.
Unter Schirmen und Zelten, groß und bunt, waren Tische aufgestellt. Sie zeigten eine Sammlung von Gegenständen, die sich in einem Punkte ähnelten: in einer verblüffenden Überflüssigkeit. Für wenig Worte und viel Geld konnte man erstehen: Galanteriewaren, Bronzen, Necessaires, Skulpturen, junge Hunde, Weine, Puppen, Füllfederhalter, schreiende Papageie. Man hatte die Auswahl unter Büchern, Lampen, Zigarren und Zigaretten, unter Radioapparaten, Grammophonen, Handarbeiten und Chinoiserien.
Drei Jazzbandkapellen sorgten für musikalische Unterhaltung.
Magda Mylius hatte einen Sektpavillon.
Ihr Stand war von jungen und alten Herren umlagert. Lachend kredenzte sie den Ungeduldigen winzige Kelche. Große und kleine Scheine häuften sich auf ihrem Tisch.
Von drüben grüßte ein Herr. Sie winkte hinüber; es war Rudolf Thomany.
Thomany hatte sich vor kurzem als Rechtsanwalt in Berlin niedergelassen. Er besaß ein Bureau in der Tauentzienstraße. Ein Tippfräulein, das nichts zu tun hatte, und eine Klientin, die einen Prozeß führte, über dessen Aussichtslosigkeit kein Zweifel möglich war. Die sprichwörtliche Gabe der Not, erfinderisch zu machen, bewahrheitete sich auch an Thomany. Er erfand. Er erfand sogar etwas, was Geld einbrachte. Er gründete eines Tages den Verein der Revuegegner. Das war ein Schlagwort, das seine Wirkung nicht verfehlte. Ein paar Herren und Damen, die es ehrlich meinten und die des aufrichtigen Glaubens waren, auch Herr Thomany meine es ehrlich, schlossen sich an. Und Herr Thomany wurde Syndikus dieses Vereins.
Völlig auf das Zweckhafte des Geldverdienens eingestellt, schrieb er auf das Panier des Vereins den Kampf gegen Lascano.
Ein scharfer, klarer Kopf, wußte er mit seiner überlegenen Dialektik und unerbittlichen Urteilsschärfe auch Magda für sich einzunehmen. Sie bewunderte ihn, aber eine gewisse Kühle ihres Wesens im Verkehr mit Thomany fiel ihrer nächsten Umgebung auf …
Frau von Dixen, die mit Frau Schwerdtfeger in einer Bude Chinoiserien verkaufte, blickte mißmutig auf das lustige Treiben vor Magdas Sektpavillon.
»Ich möchte wissen, was die Herren an Magda Mylius finden?«
Die andere betrachtete nachdenklich die nickende Pagode, die vor ihr stand. Sie zog die Schultern hoch.
»Ich finde dieses Benehmen einfach indiskutabel.«
Ein Berufstänzerpaar lockte das Publikum in den Nebensaal.
Magda vertiefte sich in ihre Abrechnung.
»Darf ich um ein Glas Sekt bitten, gnädiges Fräulein?«
Eine klangvolle Stimme ließ sie von ihrer Arbeit aufsehen. Die Gestalt des Fragenden erweckte, sie gestand es sich, ihr Interesse. Sie kannte fast alle Gäste hier – zum mindesten von Ansehen –, dieser Herr war ihr unbekannt.
»Bedaure, ich habe alles ausverkauft.«
Irgendwie lag ein Zögern in ihrer Antwort. Der Fremde schien zu fühlen, daß ihre Auskunft mehr als konventionelle Höflichkeit war.
»Ich habe Pech.«
»Muß es denn gerade Sekt sein?« fragte sie einlenkend.
»Durchaus nicht, meine Gnädigste. Wenn ich etwas anderes von Ihnen erstehen könnte …«
»Nebenan gibt es entzückende Chinoiserien.«
»Sehr liebenswürdig. Aber ich pflege diese Dinge in ihrer Heimat zu kaufen – ich habe dann wenigstens die beruhigende Gewißheit, daß sie echt sind.«
»Es handelt sich hier um einen guten Zweck …«
»Wohltun muß mit Freude verbunden sein.«
»Können Sie diese Freude hier nicht aufbringen?«
»Bisher nicht – aber vielleicht jetzt.«
»Wie soll ich das verstehen, mein Herr?«
»Die Hand, die uns den Gegenstand darbietet, gibt den Ausschlag. Auf sie kommt es an.«
Von drüben kam der scharfe Rhythmus der Jazzband.
»Wollen Sie mit mir tanzen?« fragte der Fremde plötzlich.
Sie zuckte unentschlossen die Achseln. »Ich weiß nicht …«
»Betrachten Sie diesen Tanz als einen Akt der Wohltätigkeit.«
»Nein. Gegen die Armen.«
Damit zog er Scheckbuch und Füllfederhalter. »Bitte füllen Sie den Betrag selbst aus.«
Sie schrieb zögernd »300 Mark«.
Er nahm das Blatt, warf einen Blick darauf und setzte hinter die 300 eine Null – und darunter seinen Namenszug.
Magda, erfreut über die Höhe der Summe, versuchte mit komischem Eifer den Namenszug zu entziffern. Lachend gab sie den Versuch auf.
»Den Namen des generösen Spenders kann ich leider nicht lesen.«
Der Herr verbeugte sich.
»Lascano – Eugen Lascano.«
Auf Magdas Gesicht erstarb das Lächeln. Fast unbewußt schüttelte sie den Kopf; einen Augenblick schien es, als ob es wie Trauer über ihr Gesicht ging. Sie suchte schwer atmend nach einer Antwort.
Der Saal hatte sich wieder gefüllt. Plötzlich sagte eine eisige Stimme hinter Lascano:
»Von Herrn Lascano kann der Verein der Revuegegner kein Geschenk annehmen.«
Es war Thomany, der gesprochen hatte. Mit einer kurzen Bewegung nahm er Magda den Scheck aus der Hand und reichte ihn dem Direktor zurück.
Lascano trat drohend auf Thomany zu. Er blickte zu Magda hinüber; sie sah ihn mit einem hilflosen Ausdruck an – es stand wie eine stumme Bitte in ihren Augen. Plötzlich zerriß Lascano den Scheck in kleine Fetzen, machte eine kurze Verbeugung vor Magda und ging dem Ausgang zu.
* * *
»Erlauben Sie, Herr Direktor, daß ich Ihnen mein Experiment noch einmal – sozusagen am tauglichen Objekt – vorführe?«
Doktor Lanz stand auf der Bühne des Atlantic-Theaters. Lascano und sein ganzer Stab, der Brandmeister und die Herren von der Feuerpolizei waren versammelt. Neugierig drängten sich die Bühnenarbeiter und Statisten in den Kulissen.
Neben Lanz stand Digha-Digha.
Ein gewisser Stolz lag in ihren Augen. Sie folgte den Ausführungen mit großer Aufmerksamkeit.
Der Chemiker schlug seinen Rockärmel zurück. Er goß aus einer Flasche eine weiße Flüssigkeit über seine Haut; eine gipsartige Masse bildete sich, ohne jedoch die Beweglichkeit der Muskeln und Glieder zu behindern. Jetzt hielt Lanz die Hand über die offene Gasflamme eines Lötofens. Ohne das geringste Schmerzempfinden ließ er die Finger eine geraume Zeit von der Flamme umspielen. Endlich zog er die Hand zurück – die Gipsmasse war unversehrt.
»Sie sehen, meine Herren: meine Imprägnierungsmasse macht den Körper vollständig unempfindlich gegen Feuer.«
»Was sagen Sie dazu, Herr Brandmeister?« wandte sich Lascano an den Feuerwehroffizier.
»Hm. Man müßte noch einige Versuche in größerem Umfange machen.«
»Ich habe das schon vorbereiten lassen. Herr Großmann, bitte, machen Sie jetzt den Versuch mit dem Scheiterhaufen.«
Auf einen Wink des Regisseurs schichteten die Bühnenarbeiter einen Holzstoß auf. Eine junge Choristin erschien. Sie war fast gänzlich unbekleidet. Ihr geschmeidiger Körper war sorgfältig durch die feuersichere Masse geschützt. Ihr Haar unter einer Perücke verborgen, die gleichfalls imprägniert war.
Lanz trat an die junge Tänzerin heran. Sein prüfender Blick ging über die unverhüllten Glieder. Einige Arbeiter grinsten.«
»Keine Angst, mein Fräulein.«
Das junge Mädchen lächelte beklommen. Sie trat auf den Holzstoß. Dort hatte man einen Pfahl errichtet, der ebenfalls imprägniert war.
Der Regisseur ließ sich eine Fackel geben und zündete den Scheiterhaufen an mehreren Stellen an. Eine Lohe schlug auf. Die Flammen umzüngelten den Körper des Mädchens – ruhig lächelte die Tänzerin. Man sah, daß sie sich vollständig sicher fühlte.
Die Flamme erlosch. Während der Brandmeister den Pfahl einer erstaunten Prüfung unterzog, kam eine Frau aus der Chorgarderobe und sprach mit dem Regisseur.
»Alles gut gegangen, Herr Großmann. Keine Brandwunde.«
Lascano blickte auf den Feuerwehroffizier, der seine Untersuchung beendet hatte.
»Auch an dem präparierten Pfahl finden sich keinerlei Brandstellen.«
»Das Präparat wäre also absolut feuersicher?«
»Augenscheinlich ja, Herr Direktor. Immerhin: die Erlaubnis zu der Scheiterhaufenverbrennung hängt doch von der Brandkommission ab.«
»Ich lege Wert darauf, daß die Premiere der neuen Revue am Sonnabend stattfinden kann.«
»Ich werde meinen Bericht beschleunigen, Herr Direktor.«
Lascano wandte sich zum Bühnenausgang. »Bitte, kommen Sie nachher zu mir, Herr Doktor Lanz.«
Lanz verbeugte sich. Digha-Digha trat mit leuchtenden Augen auf ihn zu und drückte seine Hand.
»Ich warte auf dich.«
* * *
Herr Thomany stand vor dem Spiegel seines Privatbüros und knotete seine Krawatte.
»Ist noch jemand draußen?« fragte er ins Nebenzimmer hinein.
Diese Frage richtete Thomany jeden Abend gewissenhaft an sein Schreibmaschinenfräulein. Und obwohl er Abend für Abend die Antwort bekam: »Niemand, Herr Rechtsanwalt«, unterließ er es doch nie, sich zu erkundigen.
»Hier sind zwei Herren. Sie wünschen dringend mit Ihnen zu sprechen.«
Überrascht drehte sich der Anwalt herum.
»In welcher Angelegenheit?« fragte er hoffnungsvoll.
Die junge Dame zog die Tür hinter sich zu. »Sie sagen, sie müßten den Herrn Rechtsanwalt privat sprechen.«
»Wie sehen sie aus, Fräulein? Ich meine: machen sie einen vertrauenswürdigen Eindruck?« Thomany machte eine vielsagende Geste mit Daumen und Zeigefinger.
Die Stenotypistin lächelte. »Offen gestanden, Herr Rechtsanwalt, sie machen mehr den Eindruck, als ob sie was holen wollten.«
Thomany runzelte die Stirn und zündete sich eine neue Zigarette an. »Hm – sagen Sie auf alle Fälle, ich wäre beschäftigt.«
Die Tür schloß sich hinter dem Mädchen. Thomany stellte sich horchend an die Wand. Draußen wurden erregte Stimmen laut. Die beruhigenden Einwendungen des Fräuleins schienen keine Wirkung auszuüben – der Wortwechsel wurde immer lauter.
Es klopfte. »Herein!« rief Thomany und setzte sich schnell in seinen Schreibsessel.
Die Bürodame erschien – ein verlegenes Lächeln stand in ihrem Gesicht. »Herr Rechtsanwalt: die Herren wollen sich nicht abweisen lassen …«
Zwei Männer drängten ins Zimmer.
Unwillkürlich lächelte Thomany. Pat und Patachon, dachte er, als der kleine Untersetzte und der lang Aufgeschossene vor ihm standen.
Das Liebenswürdige schien aber nicht ihre starke Seite zu sein und das Komische schon gar nicht.
Beide hatten zorngerötete Gesichter.
»Was wünschen Sie, meine Herren?« fragte Thomany im Ton einer freundlichen Rüge.
Die beiden schnappten nach Luft. »Unser Geld!« stieß der Kleine asthmatisch hervor.
Der andere legte wortlos eine Anzahl Rechnungen auf den Schreibtisch.
»Sie sehen, meine Herren, ich bin beschäftigt.«
»Was denn, was denn,« sprudelte der Dicke, »gar nichts sehen wir – nur daß Sie nicht zahlen, das sehen wir.«
»Und daß Sie sich verleugnen lassen«, assistierte der Hagere.
»Wir machen Schluß!«
»Wir reichen die Klage ein!«
»Jawohl. Wir werden Sie zum Offenbarungseid laden!«
Thomany bot den Aufgeregten sein Zigarettenetui.
»Bedienen Sie sich, meine Herren. Es unterhandelt sich besser, wenn man dabei raucht.«
Den beiden blieb der Mund offen stehen.
»Im Ernst, meine Herren, warum ereifern Sie sich so? Es ist gesundheitsschädlich und nebenbei zwecklos. Gedulden Sie sich noch vierzehn Tage. Bis dahin wird meine Verlobung mit der Tochter des reichen Herrn Mylius publik.«
»Damit vertrösten Sie uns schon ein halbes Jahr.«
»Ich danke Ihnen für das mir bisher erwiesene Vertrauen und hoffe, daß Sie es mir auch fernerhin erhalten.«
Thomany streckte seinen Gläubigern mit einer Biedermannsmiene die Hand hin.
Die Stenotypistin trat ein.
»Herr Bankdirektor Mylius ist draußen.«
Thomany sprang auf und lief zur Tür.
»Grüß Gott, lieber Schwiegerpapa.«
Er zwinkerte heimlich den Manichäern zu, die mit flinker Bereitwilligkeit ihre Rechnungen vom Tisch räumten.
»Auf Wiedersehen, meine Herren. Also: Sie hören von mir.«
Mit tiefen Verbeugungen gegen Mylius und Thomany dienerten die zwei hinaus.
»Waren das Klienten?« fragte Mylius.
»Ja. Ein paar Handwerker. Sie haben eine große Forderung einzuklagen. Kleine Leute – aber ich denke, man muß jetzt alles mitnehmen.« Thomany sah ein wenig beunruhigt in das ernste Gesicht seines Besuchers. »Wie geht es Magda?«
»Danke«, gab Mylius trocken zur Antwort.
Ein peinliches Schweigen entstand.
»Rauchen Sie, Herr Mylius?«
»Nein. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«
»Bitte«, sagte der Anwalt mit unbeirrter Liebenswürdigkeit.
Mylius räusperte sich. »Es ist mir sehr peinlich, daß die Herren vom Vorstand mich dauernd um die letzte Abrechnung mahnen.«
Thomany warf einen kurzen Blick auf den Sprechenden.
»Ich hatte wirklich in letzter Zeit …«
»Lieber Thomany, wenn Ihnen Ihre Praxis so wenig Zeit läßt, so ist das ja recht erfreulich. Als Syndikus des Vereins sind Sie jedoch verpflichtet, auch die Vereinsarbeiten prompt zu erledigen – ganz besonders die Abrechnungen.«
»Natürlich, natürlich. Ich werde das Versäumte schnellstens nachholen.«
»Ich möchte um eine etwas präzisere Antwort bitten.«
»Also sagen wir … etwa in … in drei Tagen.«
»Nein«, sagte Mylius kurz, und indem er zur Tür ging, setzte er hinzu: »Ich erwarte Ihre Abrechnung bis morgen mittag. Guten Abend, Herr Thomany.«
Damit ging er hinaus.
Thomany sah ihm gedankenvoll nach. Er nahm das Schlüsselbund, zog das Seitenfach seines Schreibtisches auf, nahm eine Flasche und füllte das Glas, das vor ihm stand, mit dem weißen Likör. Behaglich lehnte er sich in den Sessel zurück. Er steckte die Hände in die Taschen, spreizte die Beine weit von sich und versank in tiefe Gedanken.
Plötzlich sprang er auf. Mit gesenktem Kopf wanderte er durchs Zimmer wie einer, der einem rettenden Coup auf der Spur ist.
* * *
In metergroßen, grellfarbigen Buchstaben schrie es von den Litfaßsäulen:
Sardanapal
Die größte Schau der Erde!
Das brennende Ninive!
Die Liebeshekatombe!
Seit Tagen fuhr eine Kette von Autos durch die Straßen des Westens. Buntfarbige Plakate kündeten die neue Revue des Atlantic-Theaters an:
Sardanapal
Die brennenden Frauen!
las man im Vorbeigehen. Flieger kreuzten über dem Kurfürstendamm. Sie warfen Zettel ab, nach denen sich Tausende von Händen gierig in die Luft reckten.
Sie müssen
Sardanapal
Im Atlantic-Theater
Gesehen haben –
schrie der Text in kategorischem Imperativ.
Abends, wenn die tausend Lichtreklamen der Weltstadt aufflammten, leuchtete es von den Häuserfronten in bunter Wanderschrift:
Morgen die große Premiere im
Atlantic-Theater
Sardanapal
3000 Mitwirkende
Seit Tagen war das Haus bis unter die Dachsparren ausverkauft.
Ganz Berlin sprach von dieser unerhörten Schau, die alles bisher Gebotene in den Schatten stellen sollte. Man erzählte sich die fabelhaftesten Dinge von der Scène-à-faire des Stückes. Jener Szene, in der sich der König Sardanapal mit seinen sämtlichen Frauen verbrennt. Eine Meisterleistung realistischer Regiekunst, die selbst die kühnsten Inszenierungen amerikanischer Filmregisseure übertreffen würde.
Zum ersten Male sollte bei dieser Sensation der Trick durch die Wirklichkeit ersetzt werden: wirkliches Feuer sollte an den Frauenleibern hochschlagen.
Die schönsten Frauen der Revuetheater in New York, London und Paris würden sich fast hüllenlos den Flammen darbieten. Die Bilder Digha-Dighas und Denise Lavallières', der beiden Solotänzerinnen, fanden sich in allen illustrierten Zeitungen.
Lange hatte sich die Behörde geweigert, diese Szene freizugeben.
Erst die in vielen Versuchen erprobte Erfindung des Doktor Lanz, die Imprägnierungsmasse, überzeugte sie von der Ungefährlichkeit.
Nicht nur die Körper der Tänzerinnen, auch die Dekorationen, die diesen Auftritt umrahmten, ja, darüber hinaus das ganze Proszenium, mußte mit dieser Masse imprägniert werden.
Lascano hatte die Erfindung des Chemikers für eine bedeutende Summe erworben. Außerdem war Doktor Lanz für die Dauer der Revue gegen ein festes Monatsgehalt verpflichtet, jeden Abend die Imprägnierung persönlich zu überwachen …
Auf der Bühne des Atlantic-Theaters herrschte jene hypernervöse Gereiztheit, die mit Premieren unlöslich verbunden scheint. Nichts klappte. Alles fehlte. Jeder schrie. Keiner verstand ein Wort.
Der Regisseur war hochrot im Gesicht, der Kapellmeister arbeitete in Hemdärmeln.
Ein unablässiges Hämmern und Klopfen hallte durch den weiten Raum. Tausend unbestimmte grelle mißtönige Geräusche verbanden sich zu einem Pandämonium der Lärmgeister.
In einer Kulissenecke saß, blaß und verstört, ein bebrillter Herr – ein Buch in der Hand: der Autor.
Hilflos sah er in das Tohuwabohu um sich und flüchtete entsetzt vor den Theaterarbeitern, die mit lautem »Halloh« an ihm vorbeischlappten, unbekümmert darum, daß sie ihm mit den Latten den Hut vom Kopfe stießen …
Ludwig Mylius saß in der Garderobe der Tänzerin Denise. Sie war noch in ihrer Ballett-Arbeitstracht: kurze Höschen, Tanzschuhe, leichte Bluse.
Denise hielt ihr Taschentuch zwischen den Zähnen und zerrte mit nervöser Ungeduld an dem Batist.
»Es ist eine Schande!« sagte sie grollend.
»Was?« erkundigte sich Mylius teilnahmsvoll.
»Was!« fuhr Denise wütend auf. »Daß diese Person … diese Vorstadttänzerin – die erste Rolle spielt!«
»Hm.«
»Sie kann nichts – gar nichts – noch weniger!« ereiferte sich Denise.
»Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben.«
»Sie ist plump – ein Elefantenküken!«
»Ist das nicht ein wenig übertrieben?« lachte Mylius.
»Wissen Sie überhaupt, wie diese Person in Wirklichkeit heißt?«
»Nun?« fragte Mylius interessiert.
»Trude Treff!«
»Ich kann mir einen schöneren Namen denken – aber das ist doch im Ernst kein Hinderungsgrund für ein Talent. Darf ich mir die Frage erlauben: hießen Sie immer Denise Lavallière?«
Die Tänzerin schien diese Frage zu überhören. »Sie hat krumme Beine …« Denise stellte sich, wie um einen Vergleich herauszufordern, auf ein Taburett.
Mylius warf einen zärtlichen Blick auf sie.
»Können Sie denn gar nichts für mich tun?« fragte Denise und strich schmeichelnd über Mylius' Hand.
»Ich habe nachher eine Konferenz mit Lascano. Vielleicht, daß ich …«
Denise setzte sich auf ein Knie des Bankdirektors und legte die Arme um seinen Hals.
»Wirklich? Das wollten Sie für mich tun?«
Mylius wand sich verlegen. War es die stürmische Liebkosung der Tänzerin oder sein zu rasch gegebenes Versprechen? Es wurde ihm unbehaglich. Konnte er überhaupt irgendwelche Zusagen machen?
Wie sollte er Lascano mit dieser Zumutung kommen?
»Liebe Denise,« begann er ein wenig zögernd, »ich muß sehr vorsichtig sein. Gewisse Rücksichten, die ich zu nehmen habe …«
Die Tänzerin verzog spöttisch die Lippen.
»Überhaupt, ich fürchte, Lascano läßt sich nicht in Theaterangelegenheiten hineinreden«, meinte Mylius zweifelnd.
Denise lehnte ihre Wange an sein Gesicht und sah ihm in die Augen. Ihr Blick, dieser lockende, verheißungsvolle Blick, machte ihn verwirrt.
»Wenn es Ihnen gelingt …« flüsterte sie lächelnd.
»Nun?« fragte Mylius, während er seinen Arm um sie legte.
Statt aller Antwort streifte sie mit ihren Lippen die seinen. Er zog sie fester an sich.
»Vielleicht kann man Lascano dahin bringen, daß er Sie mit Digha-Digha in der Rolle alternieren läßt?«
Denise sprang mit einem Satz von seinem Schoß. Sie stampfte wütend auf den Boden.
»Ich bin nicht für Halbheiten – entweder alles oder nichts!«
Das Klingeln der Inspizientenglocke überhob Mylius der Antwort.
Denise lief zur Tür.
»Bis nachher – ich erwarte Sie hier!«
Mylius verließ die Garderobe. Er ließ sich bei Direktor Lascano melden. Aber er mußte eine kurze Zeit warten. Selbst bis in das Vorzimmer des Direktors schlug die fieberhafte Erregung, die das ganze Haus durchpulste, ihre Wogen.
Ununterbrochen rasselte das Telephon. Ein Besucher gab dem andern die Klinke in die Hand. Depeschen häuften sich auf dem Tisch des Sekretärs. Alle Menschen hier waren von jener raschen, unbedenklichen Geschäftigkeit erfüllt, die das Leichtfüßige ihres Berufs erforderte. Hier gab es nicht jene ruhige, abwägende Bedächtigkeit der Kaufleute, die das Für und Wider ihrer Unternehmungen mit Ruhe betrachteten. Hier schlug ein heißer, belebender Atem. Das Tempo einer neurasthenischen Zeit nahm hier gigantische Formen an.
Mylius, der kühle Bankmensch, sah mit stiller Bewunderung auf dieses hastige Treiben, das – obgleich gänzlich verschieden von dem nüchternen Gang seiner Geschäfte – durchaus ein zielbewußtes Arbeiten verriet.
»Der Herr Direktor läßt bitten.«
Lascano kam Mylius entgegen und bat höflich um Entschuldigung. »Ich bedaure, daß ich Sie warten lassen mußte, Herr Mylius.«
Er wies mit einladender Handbewegung auf den Klubsessel. »Nun?«
Mylius zog langsam die Handschuhe von den Fingern. Er griff zu dem Kistchen, das Lascano ihm präsentierte. »Ich möchte Ihnen ein Anerbieten machen, Herr Lascano.«
Er suchte nach einer Einleitung. »Ich will Ihnen gestehen: von allen Menschen, die ich kenne, sind Sie derjenige, der mir am ehrlichsten imponiert.«
Lascano verbeugte sich.
»Im Ernst. Ich beabsichtige nicht, Ihnen leere Komplimente zu machen. Sie sind ein Mann der Tat, ein Mann von heute, mehr noch vielleicht: ein Mann von morgen. Sie haben eine Sicherheit des Griffs – eine Unbeirrtheit des Handelns, die charakteristisch ist für die großen Erfolgsmenschen.«
»Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Mylius.«
»In der Tat: Sie sehen nur das Ziel. Die Schwierigkeiten des Weges kümmern Sie nicht.«
Der Bankdirektor ließ eine Pause eintreten. Etwas verlegen fuhr er fort:
»Was ich Ihnen zu sagen habe, darf kein Mensch außer uns erfahren. Sie wissen es selbst: ich bin Mitglied eines Vereins, der Eugen Lascano bekämpft.«
Lascano nickte.
»Ich bin … nun ja, ich bin bereit, Ihnen den gewünschten Kredit aus meinen Privatmitteln zu eröffnen.«
Lascano blieb unbeweglich. Nur ein schneller Blick streifte den vor ihm Sitzenden.
»Und Ihre Bedingungen, Herr Mylius?«
»Darüber werden wir uns bestimmt einigen. Aber ich muß meinerseits eine Bedingung stellen, von der alles abhängt: niemand darf erfahren, daß ich Ihr Teilhaber bin.«
Lascano lächelte.
»Vor einigen Tagen, Herr Mylius, äußerten Sie, daß es Ihnen unmöglich sei, meine Unternehmungen zu finanzieren. Nun wollen Sie selbst ein derartiges Risiko übernehmen …?«
»Ich habe gerade in den letzten Tagen Einblicke in Ihr Unternehmen gewonnen, die mich zu einer anderen Auffassung der Dinge bekehrt haben.«
Wieder entstand eine Pause.
Lascanos Augen wanderten durch den Raum und blieben auf dem Aphroditebild Denises hängen.
»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Herr Mylius. Um ganz offen zu sein: Ihr Angebot kommt mir in diesem Augenblick recht gut zustatten. Ich muß Ihnen sagen, daß ich alles flüssige Kapital in die neue Revue gesteckt habe. Die Ausstattung hat beiläufig ein und eine halbe Million Mark verschlungen.«
»Sie können über mich verfügen.«
»In welcher Höhe gedachten Sie sich zu beteiligen?«
»Würden fünfhunderttausend Mark für den Anfang genügen?«
»Wenn ich sofort darüber disponieren kann?«
»Wir können noch heute abend den Vertrag aufsetzen.«
»Es wäre mir lieb.«
Mylius erhob sich: »Auf heute abend.«
Auf dem kleinen Tischchen an der Tür lag ein Zeitungsblatt. Fast ohne es zu wollen, las Mylius:
Der Pascha der Friedrichstadt.
Unglaubliche Geschehnisse werden uns aus dem Betrieb eines großen Theatertrusts gemeldet. Der Trustgewaltige besitzt die Dreistigkeit, seine Macht in schamloser Weise zu mißbrauchen. Die Frauen, deren Reize er aus Profitgier zur Schau stellt, werden gezwungen …
Mylius warf das Blatt beiseite. »Gesindel!« murmelte er verächtlich.
Er bot Lascano die Hand.
»Diese Sudelei kann mich in meinem Entschluß nicht wanken machen. Ich kenne Sie besser.«
Die beiden schüttelten sich die Hand. Mylius ging.
Nachdenklich schritt Lascano im Zimmer auf und ab.
Er war viel zu klug, um über Mylius' Motive im, Zweifel zu sein. Das hier war nicht ein Erfolg seiner Arbeit oder seiner Person. Diesen Mann, den er vor wenigen Tagen noch in den Reihen seiner Gegner wußte, reizte nicht der Gewinn, das Materielle – hier war eine Frau die Triebfeder des Handelns.
Er wendete sich wieder seinen Direktionsgeschäften zu. Die morgige Premiere legte ihm eine gewaltige Arbeitslast auf. In letzter Minute harrten noch tausend Dinge seiner Entscheidung.
Er empfing den Kassenrapport: auf vierzehn Tage war das Haus ausverkauft. Die plötzliche Erkrankung eines Solomitgliedes erforderte eine Umbesetzung.
Wichtiges Notenmaterial war – trotz dringender Mahnungen – noch nicht eingetroffen. Die Feuerpolizei verlangte für morgen früh eine nochmalige Probe mit den imprägnierten Dekorationen. Dutzende von Telegrammen harrten der Beantwortung: Gastspielanträge.
Die Hauptbuchhaltung hatte um Bereitstellung der Deckung von fünf Wechseln im Gesamtbetrage von hundertachtzigtausend Mark ersucht.
Eine besonders wichtige Konferenz war für den Nachmittag angesetzt.
Lascano hatte eine ganz bedeutende Erhöhung der Feuer- und Haftpflichtversicherung beantragt. Die Versicherungsgesellschaft lehnte zunächst das Risiko ab. Langwierige Verhandlungen hatten zu keinem Resultat geführt. Endlich war ein Konzern bereit, das Risiko zu übernehmen. Heute sollte die Police zum Abschluß kommen.
Tag und Nacht dauerten jetzt die Proben. Das Licht erlosch nicht mehr in den Räumen des Atlantic-Theaters. Das ganze Gebäude dröhnte vom Keller bis zum Dachfirst. Die Arbeit schrie im Hause.
Lascano beugte sich über den Entwurf eines lebensgroßen Aktplakats, das ein Zeichner vor ihm entrollt hatte.
Der Sekretär brachte ihm eine Karte, auf die Lascano, unwillig über die Störung, kaum, einen Blick warf. Plötzlich stutzte er:
Magda Mylius
las er. Eine Weile saß er stumm. Er blickte auf die Karte, erfüllt von seltsamen Gedanken, bis ihn ein diskretes Räuspern mahnte.
Lascano erhob sich vom Sessel. »Bitten Sie die Dame herein.«
Er ging Magda entgegen.
Magda, die ihre leichte Verlegenheit durch eine betont sichere Haltung zu verbergen suchte, nahm Platz. Ihr Blick fiel auf die Zeichnung – ein flüchtiges Erröten stieg in ihr Gesicht.
Lascano gab dem Zeichner einen Wink. Der rollte hastig den Karton zusammen und verließ das Zimmer.
»Sie sind gewiß erstaunt, mich hier zu sehen, Herr Lascano?«
Lascano lächelte und machte eine kurze Verbeugung.
»Darf ich Sie ohne alle Umschweife über den Zweck meines Besuches aufklären?«
»Ich bitte darum, gnädiges Fräulein.«
Magda entnahm ihrer Tasche einen Brief.
»Sie haben dieses Schreiben an unseren Vorstand gerichtet. Er wird von dem Verein der Revuegegner als eine unglaubliche Verhöhnung aufgefaßt.«
Lascano warf einen Blick auf den Brief. Er hatte ihn vor einigen Tagen selbst diktiert:
Die Direktion der Lascano-Unternehmungen beehrt sich, dem Verein der Revuegegner den Ertrag der am Sonnabend stattfindenden Uraufführung der neuen Revue »Sardanapal« ungekürzt zur Verfügung zu stellen.
Mit ganz besonderer Hochachtung
Die Direktion
Lascano.
Er reichte Magda den Brief zurück. Sie hatte ihre Verlegenheit noch nicht ganz überwunden. Seine ruhige Sachlichkeit verwirrte sie.
»Ein feiner Hieb, Herr Lascano, mit dem Sie Ihre Brüskierung von neulich parieren.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß dieser Brief bereits zwei Tage vor dem Basar diktiert war.«
Magda errötete – sie suchte nach einer Entgegnung.
»Ihr Brief, Herr Lascano – ich muß es noch einmal sagen – hat eine ungeheure Empörung gegen Sie ausgelöst. Ich fühle mich verpflichtet, Sie davon zu unterrichten.«
»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mein Fräulein. Dann darf ich also aus Ihrem Hiersein schließen, daß Sie diese allgemeine Empörung nicht teilen?«
»Ich verurteile nicht gern jemand, der sich nicht verteidigen kann. Um es Ihnen ganz offen zugestehen: ich glaube nicht, daß es wahr ist, was man Ihnen, zum Vorwurf macht.«
Magdas Augen richteten sich forschend auf Lascano, als ob sie von ihm selbst erwarte, von ihren Zweifeln befreit zu werden.
»Was wirft man mir vor?« fragte Lascano ruhig.
Magda schlug die Augen nieder.
»Ach,« sagte sie zögernd, »es ist so schwer, darüber zu sprechen. Man sagt, Sie seien ein skrupelloser Geschäftemacher. Ein Förderer der Unsittlichkeit, Ihre Darbietungen eine Inkarnation der Sünde. Frauen seien für Sie eine Ware, die …«
Magda hielt, wie erschrocken über sich selbst, inne.
Lascano lächelte. »Das genügt ja eigentlich, aber für mich bleibt die Hauptsache: Wie denken Sie über diese Dinge?«
»Eine Frau muß die Zurschaustellung entblößter Frauenkörper als eine Schamlosigkeit empfinden.«
»Die Enthüllung des weiblichen Körpers kann sehr wohl ästhetisch wirken. Und das Wesen des Ästhetischen ist zugleich das des Moralischen.«
»Sie mögen recht haben. Aber Sie müssen zugeben, daß nur wenig Menschen sittlich so gereift sind, den unbekleideten Körper mit den Augen des Ästheten zu betrachten.«
»Um so mehr müssen wir verhüten, aus dem menschlichen Körper ein lüsternes Geheimnis zu machen – ich, für meine Person, halte es für ethischer, seine Schönheit zu offenbaren.«
In Magdas Zügen stritten sich wechselnde Empfindungen. Ihre leise Abneigung wich langsam einem erwachenden Interesse für diesen starken, in sich gefestigten Charakter. Unbewußt verglich sie seine Art mit dem sich in Phrasen erschöpfenden Wesen Thomanys.
Lascanos Argumente würden sie überzeugen, das fühlte sie – nur instinktiv lehnte sie sich dagegen auf.
»Vielleicht gehen unsere Ansichten gar nicht so weit auseinander, gnädiges Fräulein.«
»Die strengen Grundsätze der Vereinsmitglieder vermöchten sie nicht zu erschüttern. Auch mein Vater denkt so – auch er wird Sie bekämpfen.«
Lascano blickte schweigend auf Magda. Wieder wanderten seine Augen hinüber zu dem Bilde der Denise Lavallière. Er nickte.
Magda erhob sich; auch Lascano stand auf. »Damit ist der Zweck meines Besuches erfüllt: der Verein hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, daß er Ihr großmütiges Anerbieten ablehnt.«
Und indem sie sich mit einer raschen Bewegung noch einmal herumwandte, setzte sie hinzu:
»Ich hoffe, Sie tragen es mir nicht nach.«
»Darf ich hoffen, Sie wiederzusehen?«
Magda schüttelte leise den Kopf – die Tür schloß sich hinter ihr.
* * *
Der Speisesaal des großen Hotels war erfüllt von jener weichen, zarten Stimmung, die sich aus der leichten Musik, dem Klirren des Silbers, dem Gewoge der Gespräche zusammensetzt. Hier und da klang gedämpftes Lachen auf. Unauffälliger Flirt ging von Tisch zu Tisch.
In einer Nische saßen einige Herren im Smoking – sie tranken Sekt.
»Diese Revue wird schwerlich zu überbieten sein«, sagte ein blasiert aussehender junger Mann, ein leichtes Gähnen unterdrückend.
»Überbieten, Martens? Ich erkläre Ihnen, sie wird vorbildlich für Paris und London sein.«
»Falkenberg muß es wissen,« riefen einige Herren lachend, »er kennt sämtliche Revuen aller Metropolen.«
»Was sagen Sie zu der beispiellosen Inszenierung? Man muß die Kühnheit dieser Schöpfung ebenso bewundern wie den Geschmack, mit dem sie inszeniert ist.«
»Ohne Zweifel ist hier – selbst in den gewagtesten Momenten – ein Kunstsinn dokumentiert, der von höchster Kultur spricht«, stellte Falkenberg fest.
»Ist das nicht ein wenig zuviel gesagt? Darf man eine Schaustellung – denn eine solche bleibt es doch immer – überhaupt mit diesem Epitheton belehnen?«
»Warum nicht? Nur daß die Kunst gefällig sei – sagt Goethe. Es ist doch nicht zu leugnen, daß das, was man uns heute im Atlantic-Theater geboten hat, im höchsten Grade gefällig war.«
»Auch darüber sind die Meinungen geteilt«, sagte ein älterer Herr und füllte das Sektglas.
»Sie meinen, daß der Beifall nicht unbestritten blieb?«
»Nicht unbestritten, ist gut – man hat gepfiffen.«
»Laut und vernehmlich«, sagte der blasierte Martens. Er kniff sein Einglas ein und füllte sich sein Glas aufs neue.
»Galt der Pfiff dem Bild ›Die Nächte von Ninivé‹?« fragte einer der Herren, der offenbar nicht im Theater gewesen war.
»Kaum – wohl mehr der Lavallière. Sie ist eine Enttäuschung.«
Ein Teil der Herren protestierte.
»Im Gegenteil – sie ist eine Offenbarung. Aber die Digha-Digha kann immer noch ihre Vorstadtallüren nicht ganz verleugnen.«
Ein Wortstreit hin und her erhob sich.
»Kinder«, sagte Falkenberg mitten in, die Debatte hinein, »das Pfeifen galt nicht der Denise und nicht der Digha-Digha …«
»Sondern?« fragte die ganze Runde.
»Sondern Lascano.«
Man beugte sich interessiert zu dem Sprechenden.
»Es war bestellte Arbeit, meine Herren.«
»Nicht möglich! Woher wissen Sie das? Erzählen Sie!« rief man aufgeregt durcheinander.
Alle sahen gespannt auf Falkenberg.
»Ich saß in der Loge neben der Direktionsloge. Neben mir, halb durch die Portiere verdeckt, bemerkte ich Lascano. Plötzlich – es muß im fünften Akt gewesen sein …«
»Bei der Szene ›Die Liebeshekatombe‹«, warf jemand ein.
»Sardanapal hatte eben mit seinen vierzig Frauen den Scheiterhaufen bestiegen. Es war ein berauschendes Bild. Plötzlich kam dieser gellende Pfiff.«
»Ja,« unterbrach man den Erzählenden, »aber gleich darauf setzte rasender Beifall ein.«
»Ruhig, wir wissen ja,« wies man die Störer zurecht, »laßt doch Falkenberg erzählen.«
Falkenberg leerte langsam sein Glas.
»Ich sah, daß Lascano sich weit über die Brüstung beugte und gespannt das wild durcheinanderwogende Haus beobachtete. Jetzt kam der Augenblick, in dem die Flammen aufloderten und die Frauen einhüllten. Da gellte hinter mir wieder ein Pfiff. Wie auf Kommando setzte jetzt das irrsinnige Pfeifkonzert ein, das Sie ja gehört haben.«
Man nickte – alle sahen Falkenberg fragend an: »Ich blickte mich um: hinter mir stand eine Gruppe von Herren, die Trillerpfeifen in der Hand hielten. Sie sahen auf einen Mann, der im Hintergrund der. Loge stand. Ein Wink: alle setzten die Instrumente an die Lippen. In diesem Augenblick erkannte ich den Herrn: es war der Rechtsanwalt Rudolf Thomany.«
»Thomany … Thomany …?«
»Thomany ist der Syndikus des Vereins der Revuegegner.«
* * *
»Das sind doch Bagatellen, lieber Junge. Über so etwas redet ein Gentleman nicht.«
Digha-Digha saß vor ihrem Garderobenspiegel. Sie beschäftigte sich angelegentlich mit dem Maniküretui.
Lanz ging in dem kleinen Raum auf und ab.
»Bagatellen nennst du das? Die Ausstattung deiner Wohnung hat fast die ganze Summe verschlungen, die ich von Lascano für meine Erfindung bekommen habe.«
Digha-Digha drehte unwillig den Kopf.
»Bitte, setz dich – dein ewiges Hin- und Herwandern macht mich nervös.«
Lanz ließ sich auf der Chaiselongue neben ihrem Schminktisch nieder. Er durchblätterte einige Rechnungen, die Digha-Digha ihm vorhin mit zärtlichem Lächeln in die Hand gedrückt hatte. Eintausendachthundert Mark für einen Brillantring, zweitausenddreihundert Mark für ein Paar Boutons, ein Fehmantel für zweitausend Mark. Mit einer verstörten Geste legte er die Rechnungen, auf den Tisch zurück. Er zuckte die Achseln. »Im Ernst gesprochen, Kind – ich habe kein Geld mehr.«
Sie wendete sich unmutig ab. Unter ihrer ungeduldigen Handbewegung zerstäubte eine Puderwolke. »Mein Lieber, diese Auseinandersetzungen sind direkt kleinbürgerlich. Solche Predigten kannst du vielleicht einer Ehefrau halten. Ich für mein Teil – ich danke ergebenst.«
Lanz schwieg. Er wußte, daß er schwach werden würde, er wußte, daß er dieser Frau verfallen war. Es hatte keinen Zweck, sich dagegen aufzulehnen. Er fühlte nicht die Kraft in sich, das Unabwendbare zu bekämpfen. Die bittere Erkenntnis seiner unwürdigen Lage zehrte an ihm. Seine Logik sagte ihm, daß dies alles eines Tages ein jähes und demütigendes Ende nehmen müsse, aber er tat nichts, um sich herauszuraffen – die Indolenz des Energielosen lähmte ihn.
»Geh zu Lascano und laß dir Vorschuß geben, mein Junge.« Digha-Digha entriß ihn seinem Grübeln. Müde erhob er sich. Da fiel sein Blick auf einen Engagementsvertrag, der auf dem Schminktisch lag.
Mallory-Theatre, London, stand darauf.
Hastig riß er das Blatt vom Tisch. »Du willst mich verlassen, Trude?!«
Sie entriß es ihm ärgerlich. »Nur ein Angebot.«
»... das du annehmen wirst.«
»Ich hab ja hier noch Vertrag.«
»Aber du spielst mit dem Gedanken, fortzugehen!« forschte er in einem Ton, als ob er sein Urteil aus ihrem Munde erwarte.
Digha-Digha strich ihm mitleidig über das Haar. »Que tonteria! Dumme Frage – du weißt doch: Künstler sind Zugvögel!«
Lanz umklammerte ihren Arm. »Versprich mir, Trude, daß du mich nicht verlassen wirst!«
Sie lachte hell auf. »Geh, du bist kindisch – ich denke nicht an Fortgehen.«
Er küßte sie leidenschaftlich. »Warte auf mich, Liebste, ich will ein paar; Worte mit Lascano sprechen.« –
Lanz hatte Glück – der Direktor war gerade frei.
»Schon wieder?« lächelte Lascano.
»Ich bin in augenblicklicher Verlegenheit, Herr Direktor.«
»Sie sind immer; in augenblicklicher Verlegenheit, Lanz. Ihre nächste Rate, die am Fünfzehnten fällig wird, ist schon abgehoben. Wissen Sie das!?«
»Ich weiß es, Herr Direktor«, gestand Lanz kleinlaut.
Lascano sah ihn kopfschüttelnd an. »Ich warne Sie, Doktor Lanz – Sie verlieren sich!«
Lanz nickte trübselig. Vor dem forschenden Blick Lascanos schlug er die Augen nieder.
»Lassen Sie sich das Geld an der Hauptkasse auszahlen.«
Als Lanz unten am Bühnenausgang vorüberkam, sagte der Portier:
»Eben ist sie weggefahren, Herr Doktor.«
Er stand stumm mit starrem Gesicht.
»Mit dem englischen Varietédirektor.«
Lanz klappte fröstelnd den Kragen hoch. Mit schweren Schritten ging er dem, Ausgang zu. Die frohe Zuversicht, die ihn erfüllt hatte, als er sich wieder im Besitz von Geld wußte, war zerflattert. Zweifel und Sorge bedrückten ihn, legten schwere Schatten auf seine Seele. Er fühlte eine Leere in seinen Nerven, eine Schlaffheit der Gedanken, die lähmend und dumpf sich dem ganzen Körper mitteilte. So irrte er ziellos durch die Straßen.
Nun war, es vorbei. Aus …
Die wenigen Wochen mit Digha-Digha waren wie ein Rausch gewesen. Alles war frei und leicht in ihm geworden. Das Leben voller Glanz, voller Sinn und Zweck.
Jetzt war alles grau und farblos geworden. Öde und schal das Dasein. Das Heute wie das Morgen eine lastende Kette von trüben Tagen.
Er fürchtete sich vor seinen Gedanken. Dort war die kleine Weinstube: dort hatte er Abend für Abend mit Digha-Digha zugebracht. Er trat ein und bestellte Xeres. Er wollte den Kellner nach Digha-Digha fragen: aber er fürchtete sich, ihren Namen auszusprechen. Hatte ihn der Kellner nicht mit einem verhaltenen Lächeln gestreift? Wieder versank er in dies zermürbende Grübeln. Zum Teufel, war es denn im Ernst so schwer, ohne diese Frau zu leben? War er nicht jung? Nicht kräftig? War es nicht unwürdig, ein solches Leben zu führen – ein Leben der Hörigkeit, das Leben eines Liebessklaven, der unfähig geworden war, sich auf ernste Arbeit zu konzentrieren?
Ach, er wagte nicht, an das Erwachen aus diesem, Traum zu denken, der ihn nun seit Tagen und Nächten gefangenhielt.
Das Heraufdämmern des nüchternen Tages mit seinem harten Licht, mit den unerbittlichen Forderungen des Lebens – alles dies waren Dinge, denen seine Nerven nicht mehr gewachsen waren.
Der Kellner brachte die zweite Flasche. Lanz stellte ein paar gleichgültige Fragen.
»Gewiß, Herr Doktor. Vor einer Stunde.«
Lanz schwieg – er fürchtete sich vor der näheren Erklärung und sehnte sie dennoch herbei.
Der Kellner sprach weiter, mit einem Lächeln, das Lanz das Blut in die Schläfen trieb.
»Ein großer glattrasierter Herr war in Begleitung des gnädigen Fräuleins. Die Herrschaften sprachen englisch miteinander.«
Lanz hielt sein Glas vor das Gesicht. Der Kellner brauchte seine Blässe nicht zu sehen.
»Ich weiß – es war Mr. Bronson aus London. Ich möchte zahlen.«
Es litt ihn nicht länger. Aufatmend sog er die kalte Luft ein. Wieder bestürmten ihn wilde Gedanken – diese quälende Ungewißheit war unerträglich! Er rief ein Auto an: »Olivaer Platz 9.«
Als er ausstieg, warf er einen raschen Blick nach oben. In Digha-Dighas Zimmer brannte noch Licht. Er schloß auf.
Sein erster Blick fiel auf die Dielengarderobe. Ein grauer Pelzmantel hing am Haken. Er nahm den steifen Hut herunter: im Seidenfutter stand eine Londoner Firma.
Mit schlecht verborgener Verlegenheit kam die Zofe und half ihm beim Ablegen.
»Das gnädige Fräulein hat Besuch.«
»Ich weiß«; er schob das Mädchen mit einer leichten Handbewegung beiseite und öffnete die Tür zum Salon.
Digha-Digha, in einem verführerischen Teagown, saß am Flügel. Sie spielte und sang ein spanisches Lied, dessen scharf akzentuierter Rhythmus, aufreizend und prickelnd, unter ihren Händen wie ein Liebeswerben klang.
Buena mesa, buenas mozas
y buen vino
hay nada mejor
en este mundo?
Am Flügel lehnte ein Herr – schlank, glattrasiert, mit leicht angegrauten Schläfen. Er klatschte leise in die Handflächen und sang den Refrain des Liedes mit. Seine Aussprache verriet deutlich den Engländer.
Auf dem Tisch standen zwei halbgefüllte Sektgläser.
Digha-Digha drehte sich um und musterte erstaunt den in der Tür Stehenden. »Du?« fragte sie gedehnt.
Er trat zögernd näher.
Digha-Digha fuhr klirrend über die Tasten und schloß mit einer schrillen Dissonanz.
»Darf ich die Herren miteinander begannt machen: Mr. Bronson aus London – Herr Doktor Lanz.«
Der Engländer verbeugte sich steif.
Einen Augenblick lag verlegenes Schweigen im Zimmer.
Die Tänzerin klingelte: »Sekt!«
»Du entschuldigst, Arthur, ich habe eine dringende Besprechung mit Mr. Bronson. Er fährt morgen früh nach London zurück.«
Sie schenkte ein. Lanz nahm das Glas und führte es starren Auges an die Lippen. Die Zwei vertieften sich in ein fachliches Gespräch. Lanz saß dabei – die Worte schlugen an sein Ohr, ohne daß er ihren Sinn verstand. Dumpf, wie im Unterbewußtsein begriff er, daß seine Geliebte hier über einen Vertrag verhandelte, der sie auf Monate, ja vielleicht auf Jahre von ihm fernhielt. War es Täuschung? Oder sah er recht, daß sie ihn zuweilen mit einem spöttischen, fast verächtlichen Lächeln streifte?
»Ich gehe am Ersten nach London«, sagte sie plötzlich. Lanz fühlte die dreiste Herausforderung in ihrer Stimme. Er schwieg. Willenlose Schlaffheit erfüllte ihn. Er goß das dritte Glas Sekt hinunter.
Der Engländer redete auf Digha-Digha ein – er reichte ihr den Füllfederhalter. Lanz sah das alles wie durch einen grauen Schleier. Der Wein peitschte seine Sinne. Plötzlich stand er hinter Digha-Digha. Er beugte sich zu ihr nieder. »Schick ihn weg, Trude. Ich bitte dich – schick ihn weg!«
Sie sah ihn an: seine irren Augen erschreckten sie. Ein begütigender Zug trat in ihr Gesicht. Verstohlen drückte sie seine Hand.
»Wir sprechen morgen weiter, Mr. Bronson.«
Der Engländer erhob sich. Seine grauen Augen musterten Lanz mit kühler Sachlichkeit. Dann verbeugte er sich, und verließ das Zimmer.
Digha-Digha trat an den Flügel. Ein paar Akkorde erklangen. Eine tiefe Unmutfalte lag auf ihrer Stirn, sie hatte die mitleidige Regung schon überwunden. Die kühle Zurückhaltung des Managers hatte sie geärgert.
Lanz legte mit einer fast schüchternen Gebärde die Geldscheine auf den Flügel.
Die Tänzerin faßte sie mit spitzen Fingern. »Du lieber Gott!«
Sein Blick, demütig wie der eines Hundes, bat um ein gutes Wort.
»Ich werde arbeiten, Trude … wir werden Geld haben … wenn du nur bei mir bleibst!«
Er saß, den Kopf in die Hände vergraben – ihre Hand strich leicht über sein Haar. Sie beugte sich zu ihm nieder. Er küßte sie stürmisch, voll demütigen Verlangens.
Lanz bot ihr das Glas. Seine Hände umspanntem ihre Schultern. Er fühlte die Wärme ihres Körpers durch die Seide. »Sag, daß du mich nie verlassen wirst!« keuchte er.
Ihre Stimme schlug jäh um.
»Was willst du eigentlich,« schrie sie ihn an, außer sich vor Wut. »Laß mich!«
»Ich will nicht … ich gehe mit dir!«
»Und ich sage dir: ich will nicht. Du bist mir lästig! Ich habe dich vor dem Verhungern, gerettet! Was willst du noch mehr?«
Lanz ließ sie jäh aus seinen Armen.
»Geh!« schrie sie.
Fassungsloses Entsetzen stieg in seine Augen. Er fühlte, wie eine unbezwingliche Angst, eine furchtbare Verzweiflung über ihn kam. Er packte sie beim Handgelenk.
Sie schüttelte ihn ab.
»Du machst dich lächerlich, mein Lieber!« keuchte sie.
»Du darfst nicht von mir gehen, Trude!« stammelte er.
Ein böser Zug stand in ihrem Gesicht.
»Hast du im Ernst geglaubt, ich würde mich an einen Hungerleider ketten?«
Er taumelte zurück. Das Blut wich aus seinen Wangen. Das Zimmer drehte sich um ihn. Er ging auf sie zu, packte sie bei den Schultern.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Bleich stand die Zofe auf der Schwelle. Hinter ihr – ohne Überrock – der Engländer.
Lanz lachte grell auf. »Also so – so war das gemeint, du …!«
Bebend vor Wut packte er sie bei den Händen und schleuderte sie zu Boden. In diesem Augenblick trat der Engländer drohend dazwischen, Lanz betrachtete ihn mit irren Augen. Digha-Dighas höhnisches Lachen gellte ihm in die Ohren.
Er stürzte aus dem Zimmer.
* * *
Der Kommissar blätterte in den Akten.
»Wir haben Sie hierher gebeten, Herr Direktor, Lascano, um Ihnen einen Einblick in die Briefe zu geben, die uns fast täglich zugehen. Sie sehen selbst, es sind nicht alle Schreiber voreingenommen – viele urteilen ganz objektiv.«
»Sie wissen vielleicht nicht, Herr Kommissar, daß eine bestimmte Gruppe meiner Gegner mir offenen Kampf angesagt hat.«
Der Polizeibeamte nickte. »Gewiß. Wir sind davon unterrichtet.«
»Auch davon, daß diesen Leuten jedes Mittel recht ist, um mich zu vernichten?«
Lascano reichte dem Kommissar die Zeitung mit dem Schmähartikel. Der Beamte warf einen kurzen Blick hinein. »Wir verfolgen diese Bewegung mit Aufmerksamkeit. Darauf können Sie sich verlassen. Bisher hat die Behörde keine Veranlassung gefunden, etwas zu unternehmen.«
»Dieser Artikel kommt einer Erpressung sehr nahe.«
»Der Weg der Privatklage steht Ihnen offen.«
Lascano schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Die Behörde sieht sich leider gezwungen, in irgendeiner Form zu den Beschwerden Stellung zu nehmen; um so mehr, als ja die Öffentlichkeit sich seit langem mit den Zuständen an Ihren Theatern beschäftigt.«
»Wir leben schließlich in einer Weltstadt, Herr Kommissar. Ich sollte meinen, daß die Behörde wichtigere …«
»Ich habe Ihnen zu eröffnen,« unterbrach ihn der Kommissar, »daß wir auf Streichung der Verbrennungsszene bestehen müssen.«
Lascano sprang auf. »Unmöglich!«
»Die Verfügung ist bereits erlassen.«
»Diese Szene ist der dramatische Höhepunkt der ganzen Revue; ich werde nicht auf sie verzichten.«
Der Beamte zuckte die Achseln.
Lascano ging erregt im Zimmer auf und ab.
»Die Zurüstung dieser Szene hat ein Kapital verschlungen.«
»Diese Bedenken kommen für die Behörde nicht in Frage.«
Lascano griff nach dem Hut. »Ich sehe, vor diesem Forum werde ich kein Verständnis finden. Ich werde mit dem Minister persönlich sprechen.«
Mit kurzem Gruß verließ er die Amtsstube. Er ließ sich zur Redaktion der Tagespost fahren. Der Chefredakteur Doktor Hachmann, sein langjähriger Freund, hatte ihn heute früh angerufen.
»Lieber Eugen, ich muß dir eine Mitteilung machen. Der Kampf gegen dich nimmt Formen an, die unerträglich sind. Diese Notiz ist uns heute zugegangen.«
Lascano betrachtete den Brief. Der Bogen trug den Stempel des Vereins der Revuegegner. Er las:
»Wenn ein Revuedirektor in Geldverlegenheit ist, so stehen ihm Mittel zur Verfügung, von denen gewöhnliche Sterbliche sich nichts träumen lassen.
Wenn alle Quellen erschöpft sind, die den Sumpf gespeist haben, so gibt es für den Direktor immer noch Mittel und Wege, seinen Betrieb wieder flottzumachen.
Wozu hat man die vielen schöngewachsenen Frauen an seinen Theatern? Sind sie nicht ein unerschöpfliches zinstragendes Kapital? Der Direktor braucht zum Beispiel nur die schönste Darstellerin seines Theaters einem reichen Bankier – nun, sagen wir – zu präsentieren –, am anderen Tage ist das bedrängte Unternehmen gerettet. Der Verein der Revuegegner ist in der Lage, der Öffentlichkeit Material zu unterbreiten, das ein grelles Schlaglicht auf die unglaublichen Zustände an gewissen Revuebühnen werfen wird.«
Lascano ließ das Blatt sinken.
»Es ist selbstverständlich, daß wir diese Notiz nicht bringen«, sagte der Redakteur. »Sonderbar bleibt nur: Auf meine telephonische Umfrage bei befreundeten Zeitungen erfahre ich: Keiner Zeitung außer der unsrigen ist dieser Schmähartikel zugegangen.«
»Was schließt du daraus?«
»Nun: Dem Schreiber ist offenbar bekannt, daß wir – du und ich – intime Freunde sind. Man will dir drohen, oder: nennen wir die Dinge beim richtigen Namen: man will eine Erpressung an dir verüben.«
»Was soll ich tun?« fragte Lascano.
»Ich möchte dir einen Rat geben: Einige dich.«
»Das hieße also: vor ihnen kapitulieren?«
Doktor Hachmann wiegte den Kopf.
»Wenn du es partout so nennen willst …«
Lascano sprang wütend auf.
»Nein! Ich denke nicht daran! Wenn man es wagt, mich mit solchen Mitteln zu bekämpfen, wende ich mich an die Öffentlichkeit. Ich werde …«
Doktor Hachmann legte dem Aufgeregten die Hand auf den Arm.
»Wenn ich dir raten darf – einige dich; es wäre das Klügste.«
Lascano schwieg. Seine Flucht in die Öffentlichkeit würde gleichbedeutend mit einer Bloßstellung von Mylius sein. Und Magda? Durfte er ihren Vater in diese Polemik hineinziehen?
»Du hast recht – mir sind die Hände gebunden. Ich werde kapitulieren müssen.«
* * *
»Der Herr wartet seit einer halben Stunde.«
Der Sekretär gab Lascano die Karte:
Rudolf Thomany,
Syndikus des Vereins
der Revuegegner.
Lascano preßte die Lippen aufeinander. Also der Kampf begann. Es galt, einen Schlag zu parieren, der bestimmt war, ihn tödlich zu treffen. Er fühlte, daß er hier die Waffen gegen einen Gegner zu führen hatte, dem jedes Mittel recht war.
Rudolf Thomany trat ein. Mit einem blitzschnellen Blick überflog Lascano seine Erscheinung.
Die undurchdringliche Miene des Besuchers, seine kühl-verbindliche Art gaben keine Anhaltspunkte.
Der Rechtsanwalt zog langsam, mit einer gewissen behaglichen Feierlichkeit, die Nappas von den Fingern.
»Herr Direktor, ich möchte, um Mißverständnissen vorzubeugen, zunächst betonen, daß ich nicht in meiner Eigenschaft als Syndikus des Vereins zu Ihnen komme. Sondern als Privatmann.«
Lascano verbeugte sich schweigend.
Thomany lehnte sich in seinen Sessel zurück.
»Ich möchte Sie davon unterrichten, daß die Maßnahmen des Vereins gegen Sie, Herr Lascano, neuerdings schärfere Formen annehmen.«
»Ist das auch eine private Mitteilung?«
»Gewiß.«
Lascano hatte das Gefühl, als taste sich sein Gegner langsam an ihn heran. Es war augenscheinlich das Klügste, dem anderen die Führung des Gespräches zu überlassen.
Thomany zog einige Kuverts; sie trugen den Firmenaufdruck des Vereins. Lascano las die Adressen verschiedener Redaktionen auf den Umschlägen.
Ein schräger Blick Thomanys – gewissermaßen abschätzend – traf ihn. Dann sagte der Anwalt mit lauernder Vorsicht:
»Ich nehme an, Sie legen Wert darauf, daß dieser Artikel nicht an die Zeitungen abgeht?« Darauf riß er einen der Briefumschläge auf.
»Wenn der Verein glaubt, mich mit solchen Mitteln bekämpfen zu können, so muß ich die Beurteilung dieser Handlungsweise der Öffentlichkeit überlassen.« Damit reichte Lascano den Brief zurück.
»Mit anderen Worten: Sie ziehen einen Skandal vor?«
Lascano richtete sich auf. »Herr Rechtsanwalt, ich habe keinen Skandal zu fürchten. In keiner Beziehung. Ich bin es nicht gewohnt, mir drohen zu lassen.«
Thomany griff nach seinen Handschuhen. Langsam erhob er sich.
»Meine Mission ist beendet, Herr Direktor. Ich glaubte es Ihnen und gewissen Personen –« die Stimme des Sprechenden nahm einen lauernden Ausdruck an, »schuldig zu sein, einen Vermittlungsvorschlag zu machen.«
Er wandte sich zur Tür.
»Es gibt also eine Möglichkeit, die Absendung dieser Briefe zu verhüten?« fragte Lascano gegen seinen eigenen Willen mit dem Unterton der Bitterkeit.
»Es gibt eine.«
»Wo finde ich die, wenn ich fragen darf?«
»Bei mir«, sagte Thomany freundlich. Lascano erkannte augenblicklich den Wink. Dieser Mann erwartete seine Vorschläge.
»Wenn ich recht verstehe, Herr Thomany, so wollten Sie selbst die Veröffentlichung dieser Artikel verhindern?«
»Ganz recht.«
»Darf ich mir die Frage erlauben: aus welchem Grunde handeln Sie so menschenfreundlich?«
Thomany zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Endlich sagte er mit zärtlichem Gesichtsausdruck:
»Aus Interesse für Sie, Herr Lascano.«
»Und wie hoch, wenn ich fragen darf, bewerten Sie Ihr Interesse für mich?«
Eine Pause entstand.
»Sie haben vielleicht bereits erraten, daß ich mich in momentaner Geldverlegenheit befinde.«
Lascano zog das Scheckbuch.
»Das heißt, in Zahlen ausgedrückt?«
Thomany nahm einen Bleistift und schrieb eine Zahl auf einen Block, der vor ihm lag. Langsam schob er das Blatt über den Schreibtisch. Lascano warf einen Blick darauf. »Zehntausend« stand auf dem Papier. Lascano nickte eisig – und füllte den Scheck aus, um ihn Thomany mit spitzen Fingern hinüberzureichen. Der legte ihn mit zärtlicher Sorgfalt in seine Brieftasche. Dann schob er, offenbar als Quittung, die Briefe zu Lascano hinüber.
»Ich habe die Ehre, Herr Direktor.«
Lascano übersah die Verbeugung. Dann schloß sich hinter Thomany die Tür.
* * *
»... und somit, meine Herrschaften, bitte ich Sie, mit mir das Glas zu erheben und sich mit mir in dem Rufe zu vereinigen: möge unserem lieben Brautpaar der Segen des Himmels in reichstem Maße zuteil werden. Unsere liebe Magda Mylius und unser allverehrter Rudolf Thomany – sie leben hoch! Hoch! Und abermals hoch!«
Thomany nahm mit dem Lächeln eines Mannes, der es wieder einmal geschafft hatte, die Glückwünsche entgegen. Die Hausfrau hob die Tafel auf. Vom Nebensaal tönte das Stimmen der Instrumente. Die Jugend drängte zum Tanz.
Mylius erhob sich, das Sektglas in der Hand, und trank seinem Schwiegersohn zu. Auch in seinen Mienen lag aufrichtige Freude. Sichtlich war eine Annäherung zwischen den beiden Männern eingetreten.
Ein Diener trat ein und flüsterte Mylius etwas zu. Magda blickte zu ihrem Vater hinüber. Seltsam: sie glaubte bemerkt zu haben, daß er bei der Meldung des Dieners zusammengezuckt war. Aber sie konnte ihren Gedanken nicht nachgehen – man holte sie zum Tanz.
Ihr Tänzer verwickelte sie in ein konventionelles Gespräch. Magda gab zerstreute Antwort. Eine innere Unruhe, von der sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochte, bedrückte sie.
Als sie zurückkam, sah sie ihren Vater im Saal. Augenscheinlich suchte er jemand.
Plötzlich sah sie ihn auf Thomany zugehen; die beiden Herren verschwanden in Mylius' Arbeitszimmer. War es ein Irrtum – oder hatte sie im Gesicht ihres Vaters tiefe Erregung wahrgenommen? Beklommen ging sie auf die Tür des Arbeitszimmers zu. Sie glaubte erregte Stimmen zu hören.
Ein paar junge Herren bestürmten sie – hier halfen keine Ausflüchte: sie mußte lächeln, liebenswürdig sein, durfte sich ihren gesellschaftlichen Pflichten nicht entziehen. Sie warf noch einen gequälten Blick auf die Tür: irgend etwas Feindseliges, Drohendes bereitete sich in jenem Zimmer vor …
Mylius stand hinter dem Schreibtisch. Er war totenbleich. Thomany war von unbeirrter Liebenswürdigkeit. Lässig nahm er die Zigarette aus dem Mund.
»Sie waren heute bei Direktor Lascano …«
»Wie seltsam, daß Sie davon wissen. Ich sollte doch annehmen, daß zwischen Ihnen und Lascano keinerlei Beziehungen bestehen?«
Mylius runzelte die Brauen.
»Einerlei, woher meine Kenntnis stammt – Sie waren jedenfalls dort.«
»Nun – und?«
Mylius trat dicht an den Fragenden heran.
»Sie haben den Namen unseres Vereins zu einer Erpressung mißbraucht.«
Thomany blieb ruhig. Er musterte seinen Schwiegervater mit aufmerksamem Lächeln. »Sie sind erfreulich gut unterrichtet. Nun, es liegt an Ihnen, Schwiegerpapa, daß dieser Herr Lascano den Mund hält.«
Mylius rang nach Luft. »Sie sind ein Verbrecher!«
»Darf ich jetzt gehen?«
Damit schritt Thomany langsam zur Tür.
»Warten Sie!« schrie Mylius. Er ging schwer atmend im Zimmer auf und ab.
»Sie werden morgen Magda schreiben und sie bitten, von der Verlobung zurückzutreten …«
»Ich denke gar nicht daran«, sagte Thomany kühl.
»Dann werde ich Sie auf der Stelle als Erpresser entlarven!«
»Bitte,« Thomany machte eine einladende Bewegung nach der Tür, »ganz wie Sie wollen. Ich glaube, es wird die Gesellschaft interessieren, daß Herr Mylius, der Moralfanatiker, das Mitglied des Vereins der Revuegegner, insgeheim Teilhaber des Herrn Lascano ist.«
Mylius lehnte mit zusammengebissenen Zähnen an der Tür. Der andere trat dicht an ihn heran, und wie um seinen Triumph ganz auszukosten, flüsterte er ihm zu:
»... und daß dieser Herr Mylius der Freund des Fräuleins Denise Lavallière ist!«
Mylius ließ den Kopf sinken. Es gab keine Möglichkeit, diesen Schlag zu parieren. Jäh stürzten die Dinge auf ihn ein. Alles drehte sich im Kreise mit ihm.
Schnappend fiel eine Tür ins Schloß: Thomany hatte das Zimmer verlassen.
* * *
Morgendämmerung lag fahl und nüchtern über dem Raum. Ein fader Geruch von kaltem Zigarettenrauch stand dumpf und schwer in dem Dunst des ungelüfteten Zimmers.
Doktor Lanz saß blaß und übernächtigt in der Koje der kleinen Weinstube. Das Oberhemd zerknüllt, Kragen und Krawatte zerdrückt, das Haar wirr im Gesicht, machte er den Eindruck eines Menschen, der tagelang nicht aus den Kleidern gekommen ist.
Scheuerfrauen stellten mit lautem Krach Tische und Stühle aufeinander. Ihre unfreundlichen Blicke trafen den späten Gast. Aber selbst ihre lautesten Bemerkungen vermochten nicht, ihn von seinem Platz zu vertreiben.
Der Kellner zog die Fenstervorhänge zurück.
Regenschwerer Tag fiel in den Raum, der im Zwielicht der brennenden Lampen noch trostloser erschien.
»Herr Doktor«, der Kellner rüttelte ihn an der Schulter. »Sie müssen gehen.«
Lanz erhob sich taumelnd; der Kellner half ihm mit gutmütiger Nachsicht in Hut und Mantel. Draußen schlug er den Kragen hoch. Rieselndes Naß fiel vom Himmel – ein brodelnder Dunst hüllte alles in ein trostloses, triefendes Grau, Lanz irrte planlos umher. Sein Kopf schmerzte ihn, kein einziger klarer Gedanke vermochte sich in ihm durchzuringen. Dieses zermürbende Grübeln drohte ihn um den Verstand zu bringen. Waren es Tage – waren es Wochen, daß er so herumlief? Wie eine Maschine hatte er jeden Abend seinen Dienst versehen. Aber seit vielen Nächten hatte er kein Auge geschlossen, hatte Abend für Abend in der Weinstube gesessen, eine Flasche nach der anderen geleert, bis ihn der grauende Morgen seinem furchtbaren Grübeln entriß.
Verzweiflung und Wut ließen ihn fast ersticken. Er empfand diese trostlose Einsamkeit wie einen körperlichen Schmerz.
Immer wieder hatte er sich eine letzte Frage gestellt – mit dem Gedanken gespielt, der alles lösen würde. Ach nein – er war zu feige.
Hatte er jemals die ruhige Selbstverständlichkeit der Pflichterfüllung besessen? Ein Ende machen! Um Gottes willen nur noch die Kraft aufbringen, ein Ende zu machen! Selbst sein Schicksal in die Hand zu nehmen – und sei es auch nur, um einen Schlußstrich unter das Ganze zu setzen! Nur soviel Energie noch aufbringen – ehe das Elend jeden Willen in ihm ertötete!
Mit brennenden Augen saß er vor seiner Arbeit. Arbeit? Die stumpfsinnigen Handgriffe der Mischungen, die er Tag für Tag mit einer automatenhaften Bewegung vornahm, war das Arbeit? Erschöpften sich darin sein Wissen und Können?
Er stöhnte dumpf auf. Dieses Leben war nicht zu ertragen – das war ein langsames Verkommen, ein Schrecken ohne Ende.
Lanz schlug plötzlich die Hände vor die Augen. Ein Gedanke beschäftigte ihn, peinigte sein Hirn – ließ ihn nicht mehr los.
Mit zitternden Händen, fiebrigen Glanz in den Augen, griff er zu seinen Retorten.
* * *
Niemand wußte, woher das Gerücht kam. Irgendwo war es aufgetaucht, in die Unterhaltung geworfen, verschwand, stand plötzlich wieder in den Gesprächen. Es wurde belächelt, kommentiert, der Bühnenwitz bemächtigte sich seiner.
Dann, mit einem Male, ward es ernst. Wie eine furchtbare Drohung stand die Tatsache da.
Was vorher sich die Prominenten leise hinter der vorgehaltenen Hand zugetuschelt hatten, besprachen jetzt, laut, ungeniert, die letzten Hilfsarbeiter:
Die Polizeibehörde hatte die Schließung des Atlantic-Theaters verfügt!
Langsam war es schon in den letzten Tagen durchgesickert, daß Lascano sich geweigert hatte, die Scheiterhaufenszene zu streichen. Er hatte alle Zuschriften der Behörde ignoriert – jeden Abend wurde diese Hauptattraktion der Revue ungekürzt gespielt.
Nun hatte der Polizeipräsident anscheinend ein Machtwort gesprochen.
In Gruppen stand alles auf der Bühne, hinter den Kulissen, in den Garderoben zusammen. Erregte, ängstliche Gesichter drängten sich um den Regisseur.
»Ist es wahr, Herr Großmann?« Von allen Seiten bestürmte man den Nervösen. Er wehrte ab. »Kinder, tut's mir den einzigen Gefallen und verschont's mich! Ich kenn' mich schon nicht mehr aus!«
Er versuchte, den Kreis der ihn Umringenden zu durchbrechen.
»Was wird mit unseren Verträgen? Muß der Direktor die Gage weiterzahlen? Warum gibt er nicht nach? Das Stück zieht auch so!« Alle sprachen wirr und schrien durcheinander.
Großmann hob die Hände an die Ohren. »Geht's, Kinder, ich bin eh' schon nervös genug. Überlaßt das doch dem Alten – er wird's schon richten!« Dann schrie er plötzlich, wie um seine Autorität zu wahren: »Bühne frei!«
Langsam, aufgeregt gestikulierend, zerstreuten sich die Schauspieler.
»Hol mich der Teufel – ich kann mir nicht helfen: heut abend passiert noch was«, unkte der Komiker.
In Lascanos Privatbüro stand Mylius, totenblaß. Das amtliche Formular in seiner Hand zitterte. »Um Gottes willen, Lascano, was bedeutet das?«
»Nicht mehr und nicht weniger als meinen Ruin …«
Mylius sank mit einem dumpfen Laut in den Sessel.
»... wenn diese Verfügung durchgeführt wird«, vollendete Lascano.
»Sie muß rückgängig gemacht werden – sie muß!« stotterte Mylius mit zuckenden Lippen.
»Ich muß Ihnen sagen, lieber Mylius, daß ein Fallenlassen dieser Szene wohl das Ärgste abwenden könnte – wenigstens für den Augenblick. Aber nicht auf die Dauer. Die Zugkraft der Revue würde damit zum Teufel sein. Ich sehe dann keine Möglichkeit, das investierte Kapital jemals …«
»Mein Gott, das hieße also: alles verloren?« Mylius richtete sich halb aus seinem Sessel auf. Seine Augen hingen an Lascanos Lippen.
»Es wird nicht so schlimm werden,« versuchte Lascano beruhigend einzulenken, »immerhin muß ich zugeben: die Situation ist verteufelt ernst.«
Mylius erhob sich schwerfällig.
»Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Lascano. Das Geld, das ich Ihnen gegeben habe, gehört nicht mir … es ist Eigentum meiner Bank.« –
Lascano legte dem Zusammengebrochenen die Hand auf die Schulter. »Kopf hoch, lieber Freund. Wir werden die Schließung des Theaters rückgängig machen. Dann kann ich Ihnen Ihr Geld in kurzer Zeit zurückzahlen.«
Mylius schüttelte den Kopf.
»Es hat keinen Zweck. Heute habe ich die Order bekommen: die Depotauszahlung muß in acht Tagen erfolgen. Ich bin verloren.«
Lascano stutzte. »Sie scheinen Ihre Nerven verloren zu haben, Mylius. Das verschlimmert nur die Situation. Also nehmen Sie sich zusammen – ich werde schon einen Ausweg aus diesem Dilemma finden. Keinesfalls werde ich Sie im Stiche lassen. Wenn es nicht anders geht, so ..«
Eine aufleuchtende Lampe auf Lascanos Pult zeigte den Beginn des vierten Aktes an.
Lascano erhob sich. »Ich muß auf die Bühne. Sehe ich Sie nachher noch hier?«
Mylius nickte.
* * *
In fiebernder Spannung folgte das Haus den Vorgängen auf der Bühne. Geblendet und verwirrt durch den szenischen Pomp, wurden die Nerven des Publikums aufgepeitscht bis zu jener unerhörten Sensation, die jeden Abend die Menschen in ihren Bann schlug.
Beklemmende Schwere lag in dem dunklen Raum, jener aus Wollust und Grausamkeit sich steigernde Kitzel, mit dem die Menschen das Gefährliche einer Situation auskosten: die Gefahr, in die andere sich für sie begeben.
Diese Szene der Revue, in der die vierzig Frauen Sardanapals den Scheiterhaufen bestiegen, in der noch einmal die Pracht der Ausstattung, die Schönheit der Frauenkörper und die verwirrende Technik der Bühnentricks sich zu einem berauschenden Finale entfalteten, versetzte das Publikum in einen Taumel.
Die Musik setzte zu einem Kreszendo ein. Brennende Fackeln fielen in den Scheiterhaufen. Im Pianissimo erhoben sich die Stimmen der Frauen: die Totenklage. Die Flammen breiteten sich aus und schienen die Körper der Frauen zu umhüllen.
Plötzlich sprangen einige Mädchen auf. Sie reckten die Arme in die Luft. Mit gellenden Schreien liefen sie in den Hintergrund.
Das Publikum ließ atemlos die beklemmende Realistik dieser Szene auf sich wirken.
Wieder sprangen einige Mädchen auf. Eine Choristin – ihr Haar brannte lichterloh – stürzte an die Rampe. Ein gellender Schrei übertönte die Musik: »Ich brenne!«
War das noch Spiel – war das schaurige Wirklichkeit? Unruhe erhob sich im Publikum. Man sah im Halbdunkel des Raumes das Wogen einer unbestimmten Angst. Ein paar Leute springen auf.
»Feuer!« schreit jemand. Arbeiter stürzen auf die Bühne. Die Musik setzt aus. Das Haus ist erfüllt von furchtbarem Schmerzensgeschrei. Die Mädchen irren verzweifelt zu den Kulissen – sie reißen sich die brennenden Kleider vom Leibe. »Feuer – Feuer!« heult es durch den Raum.
Eine hohe Stichflamme schießt plötzlich an der Portiere der Proszeniumsloge empor.
Die Menschen ballen sich an den Ausgängen.
Der Inspizient in der ersten Kulisse schreit dem Kapellmeister durch das Bühnentelephon zu: »Panik! Weiterspielen!«
Die einsetzende Musik wird übertönt durch die gellenden Schreie der flüchtenden Mädchen, durch die wilden Kämpfe der fassungslosen Menge.
Dichter Qualm wälzt sich von der Bühne in den Zuschauerraum. Die brennenden Choristinnen, die den Ausgang zu gewinnen suchen, haben die Dekorationen in Brand gesetzt – die Kulissen flammen auf.
Entsetzt weichen die Mädchen zurück – in ihrer Todesangst laufen sie auf die Bühne, auf der sich jetzt dichte Rauchschwaden ballen. Ein paar stürmen über die Rampe in den Zuschauerraum. Ihre brennenden Kostüme setzen die Kleider der Frauen in Brand. Die Panik ist entfesselt. Die Nottüren zersplittern unter der anstürmenden Menge. Sinnlos vor Angst rasen die Menschen in die Korridore.
Die ganze Bühne steht jetzt in Flammen. Ein Arbeiter löst die Regenvorrichtung aus. Eine Wassermasse stürzt aus dem Plafond. Gewaltige Dampfwolken steigen auf. Der Arbeiter, die Hand am Hebel der Schaltvorrichtung, beugt sich nieder. In diesem Augenblick löst sich eine brennende Soffitte – die flammenden Balken treffen den Mann, der, ohne die Hand vom Hebel zu lassen, ohnmächtig zurücksinkt. Im Fallen zieht er den Hebel an sich: der stürzende Regen versiegt – die Flammen züngeln wieder auf.
Jäh erlischt das Licht – rote Lohe steht im Haus. Die Notlampen beleuchten schwach eine rasende Menschenmenge. Von Schreck gelähmt hocken einzelne auf den Bänken der Korridore, auf den Treppenstufen. Über sie hinweg stürzen die Flüchtenden. Man reißt sich die Kleider vom Leibe, man kämpft mit Zähnen und Fäusten um die Ausgänge. Schon dringt der Rauch aus dem brennenden Zuschauerraum in die Korridore: die Panik steigert sich. Manche gewinnen die Ausgänge. Feuerwehrleute und Polizei machen die versperrten Notausgänge frei.
Mitten in das gellende Schreien der Menschen dringt ein dumpfer tierischer Laut: die wilden Tiere brüllen in ihren Käfigen.
* * *
Mylius' Chauffeur stand in Magdas Zimmer – der sonst so ruhige Mann schien von einer ungeheuren Aufregung erfüllt.
»Was gibt es, Rosin?«
»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, aber – ich glaube – ich muß – es ist …«
»Nun – was ist denn?« Magda sah mit nervöser Ungeduld auf den verwirrten Chauffeur.
»Ich habe – im Radio hat man eben eine furchtbare Unglücksnachricht angesagt: das Atlantic-Theater steht in Flammen!«
Magda sprang auf. »Um Gottes willen!«
»Man spricht von vielen Toten.«
Magda schlang die Hände ineinander. »Weiß mein Vater schon …?«
Der Chauffeur schwieg – verlegen spielte er mit seiner Mütze. »Gnädiges Fräulein,« sagte er stotternd, »Herr Mylius ist im Theater.«
Magda sprang auf. »Mein Vater … mein Vater ist …?«
»Ich habe Herrn Mylius vor einer Stunde hingefahren. Um zwölf Uhr hat er den Wagen wieder bestellt.«
Fassungsloses Entsetzen kroch an Magda empor.
»Herr Mylius ist in letzter Zeit häufig …« Erschrocken hielt der Chauffeur inne, als er die tödliche Blässe sah, die Magdas Gesicht überzog. Sie preßte die Lippen aufeinander – schwer atmend stand sie einen Augenblick unschlüssig. »Zum Theater, Rosin, schnell, schnell – um Gottes willen!«
Fiebernd, eine Beute irrer Gedanken, starrte Magda durch das Fenster des dahinrasenden Wagens in die Nacht. Unbestimmte Geräusche drangen an ihr Ohr: das dumpfe, taktmäßige Stoßen einer Dampfmaschine übertönte das Summen einer tausendköpfigen Menge. Laute Kommandorufe, gellende Signale zerrissen die Luft. Magda lehnte sich zum Fenster hinaus. Die Straße war abgesperrt. Der Wagen hielt.
Der Chauffeur verhandelte mit einem Polizisten, der energisch den Kopf schüttelte und zur Linken wies. Der Chauffeur riß den Wagen herum. Durch eine Nebenstraße kam er näher an das Theater heran – aber auch hier versperrten Schutzmannsketten den Weg.
Magda beugte sich hinaus: sie sah das Portal des Theaters vor sich liegen. Flüchtende, stürzende, ringende Menschenmassen drangen aus dem Innern des Gebäudes. Der Platz vor dem Theater lag in glitzernder Nässe da. In den Lachen spiegelte sich der Widerschein der Glut. Beißender Qualm fegte in dicken Schwaden durch die Luft. Ein Polizeioffizier trat, die Hände am Tschako, an den Schlag. »Bedaure, hier können Sie nicht durch!«
Magda rang die Hände – ihre Augen richteten sich flehend auf den Offizier.
»Um Gottes willen, Herr Hauptmann – mein Vater – dort – im brennenden Hause – ich muß …«
Der Beamte schüttelte den Kopf. »Unmöglich!« sagte er kurz. Ein knapper Befehl zwang den Chauffeur zum Weiterfahren. Der war nicht so leicht in Verlegenheit zu bringen. Langsam führte er seinen Wagen durch die drängenden aufgeregten Menschen. Er durchquerte einige Nebenstraßen: Magda sah plötzlich den Eingang zum Bühnenhaus vor sich. Ihr Blick glitt über die Hinterseite des Gebäudes. In den Fenstern lagen schreiende Menschen; Entsetzen stand in der glühenden Luft. Im Hof warteten Feuerwehrleute, Sprungtücher in den Händen. Ein dunkler Körper sauste durch die Luft, schlug dumpf auf, geschickt von den Männern im Tuch aufgefangen.
Halbnackte Frauen hingen in den Fenstern, aus denen Flammen und Rauch quollen: sie wagten den Sprung in die Tiefe nicht. Unten drehte man die Magirusleitern hoch. Behend kletterten die Feuerwehrleute die schwankenden Sprossen hinauf.
Magda sah sich um. Hier war niemand, der sie hinderte. Plötzlich riß sie den Schlag des Wagens auf. Keuchend lief sie über den Hof, stolperte über Schlauchleitungen, glitt in den Pfützen aus. Sie raffte sich auf, erreichte den Bühneneingang – niemand trat ihr entgegen. Rasch riß sie eine Seitentür auf: eine steinerne Wendeltreppe führte nach oben: Zu den Garderoben, las Magda im Hinaufsteigen. Verwirrt hielt sie inne. Ein Gedanke tauchte in ihr auf: wenn sie sich in dem brennenden Gebäude verirrte, war sie verloren. Plötzlich – auf einem Treppenabsatz – gewahrte sie einen Pfeil: Zum Direktionsbureau!
Instinktiv schlug sie die Richtung ein, in die der Pfeil wies. Beizender Qualm legte sich beklemmend auf ihre Brust. Ein Feuerwehrmann trat ihr entgegen. »Halt – wo wollen Sie hin?« Magda stürmte weiter. Dort war eine Tür. Sie riß sie auf, stand im Direktionszimmer. Dicker Qualm schlug ihr entgegen. Ihre Augen tränten. Undeutlich sah sie eine Gestalt an sich vorbeihuschen. Einen Augenblick glaubte sie, den Pelzmantel ihres Vaters zu erkennen.
»Vater!« schrie sie gellend auf. Sie wandte sich.
Ein brennender Balken stürzte nieder. Funkenregen stob auf. Schwer wuchtete das Holz nieder, schlug die Tür zu und legte sich wie ein feuriger Riesenriegel davor. Magda prallte entsetzt zurück. Mit dem Mut der Verzweiflung suchte sie die Klinke zu erfassen. Stiebende Funken versengten ihr Haar und Gesicht – taumelnd wich sie zurück. Unerträglich legten sich Qualm und Hitze um ihre Sinne. Sie tastete sich zum Fenster – stieß es auf. Von unten leckten Flammen herauf. Verzweifelt wich Magda ins Innere des Zimmers zurück. Wiederum versuchte sie, sich der Tür zu nähern. Die Glut verschlug ihr den Atem. Der jetzt lichterloh brennende Balken versperrte ihr den Ausgang.
Plötzlich hörte sie draußen Menschen vorüberhasten.
»Hilfe!« Im Krachen der niederstürzenden Balken verhallte ihre Stimme. Ihre Augen irrten durchs Zimmer. Dort, auf dem Schreibtisch – der Briefbeschwerer! Taumelnd griff sie danach, schmetterte die schwere Bronze gegen die Tür.
Der brennende Balken brach zusammen – die Tür war frei! Aber eine Flammengarbe schoß auf. Legte sich wie ein feuriger Vorhang vor den Ausgang.
Magda fühlte das Bewußtsein schwinden. Mit Aufbietung ihrer letzten Kräfte schrie sie sinnlose Worte in das brennende Haus. Da – mitten durch die Flammen – sah sie eine Gestalt auf sich zukommen: langsam, mit unendlicher Mühe – rauchgeschwärzt und schweigend. Sie blickte dem Ankommenden ins Gesicht und seufzte zusammenbrechend: »Lascano!« Um ihre Augen legte sich dunkle Nacht – sie versank ins Bodenlose. – – –
Ein kühler Windzug strich über ihre Schläfen. Tief saugten ihre Lungen die frische Luft ein. Magda schlug die Augen auf. Ihr Kopf lag an Lascanos Brust, der sich mit tiefer Besorgnis über sie beugte.
Es durchschauerte sie, Zittern überlief ihre Glieder – ein leichtes Lächeln trat auf ihre Lippen.
Behutsam nahm Lascano sie in seine Arme und trug die Ohnmächtige über Schutt und Asche die Treppe hinunter. Die Menge wich mit einer fast respektvollen Bewegung auseinander. Durch die Reihen der Neugierigen schritt Lascano mit seiner Last. Magdas Arme waren um seinen Hals geschlungen. Dort drüben hielt das Auto. Totenblaß, verstört – ohne Hut und Mantel, saß Mylius im Wagen. Voll unendlicher Vorsicht bettete Lascano die Gerettete in die Kissen.
Sie schlug die Augen auf. Ein weicher, fast zärtlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Mit einer impulsiven Bewegung reichte sie Lascano die Hand. Er drückte sie lange und innig. Dann sprang der Wagen an und verschwand im Dunkel der Nacht.
* * *
Der Untersuchungsrichter Doktor Frey blätterte in den Akten.
»Ist der Zeuge Doktor Arthur Lanz erschienen?«
Der Justizwachtmeister öffnete die Tür zum Korridor und rief in schallendem Kommandoton: »Doktor Lanz!«
Der Aufgerufene erhob sich schwerfällig von der Bank und trat ein. Der Richter sah ihm mit strenger Miene entgegen.
»Ich sehe mich genötigt, Sie in eine Ordnungsstrafe zu nehmen, weil Sie Ihrer Zeugenladung vor drei Tagen keine Folge geleistet haben.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Richter – ich war diese ganze Zeit nicht in meiner Wohnung.«
»Weshalb nicht?«
»Ich hielt es zu Hause nicht aus. Die Katastrophe hat mich zu sehr erschüttert. Ich bin einige Tage aufs Land gefahren.«
Doktor Frey warf einen Blick in seine Akten.
»Wollen Sie mir sagen, Herr Doktor, was Sie am Abend der Brandkatastrophe unternommen haben?« Sein Ton klang um vieles freundlicher.
»Ich habe, wie jeden Abend, den Kanister mit der Imprägnierungsmasse im Zimmer des Theatermeisters abgegeben.«
»Um welche Zeit war das?«
»Kurz vor Beginn – etwa um halb acht.«
»Was taten Sie dann?«
»Ich verließ den Bühnenraum etwa um acht Uhr und nahm meinen Dienstplatz im Zuschauerraum ein.«
»Dort blieben Sie bis zum Ausbruch des Feuers?«
»Ja.«
»Waren Sie jeden Abend im Theater, Herr Doktor?«
»Nein – nur selten.«
»Können Sie mir sagen, warum Sie sich gerade an diesem Abend im Theater aufgehalten haben?«
Lanz schwieg – seine Hand strich über die Schläfen, als ob er seine Gedanken sammeln müsse. »Es trat gerade ein neuer Exzentriktänzer auf – ich wollte mich zerstreuen …«
»Hm. Was taten Sie beim Ausbruch der Panik?«
»Ich weiß mich darauf nicht mehr zu besinnen – ich habe keine Ahnung.«
Der Untersuchungsrichter ließ eine Pause eintreten. Er vertiefte sich in seine Protokolle. Plötzlich hob er den Kopf.
»Ist es Ihnen bekannt, Herr Doktor, daß die Tänzerin Digha-Digha heute früh im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen ist?«
Lanz stützte sich auf die Barriere. Seine Lippen zitterten. »Verzeihung, Herr Richter – ich fühle mich nicht wohl. Dürfte ich mich vielleicht setzen?«
Der Justizwachtmeister sprang hinzu und geleitete den Wankenden zu der Bank.
»Wollen Sie ein Glas Wasser?« fragte der Richter.
»Bitte.« Lanz trank in gierigen Zügen. Mit zitternden Händen gab er das Glas zurück.
»Können Sie es sich erklären, warum der Theatermeister eine Stunde vor Beginn des fünften Aktes das Gefäß mit der Imprägnierungsmasse im Gerümpel des Hofes gefunden hat?«
Lanz dachte einen Augenblick angestrengt nach. Sein unruhiger Blick wanderte durch das Zimmer – er schüttelte den Kopf.
»Ich habe dafür keine Erklärung, Herr Richter.«
»Wußte jemand außer Ihnen um die chemischen Bestandteile, aus denen sich Ihr Präparat zusammensetzte?«
»Nein – es war mein Geheimnis.«
»Diese Mischung wurde jeden Abend von Ihnen frisch angefertigt, nicht wahr?«
»Ja, Herr Richter.«
Doktor Frey nickte. »Es ist gut. Sie können gehen.«
Lanz unterschrieb das Protokoll und verließ mit unsicheren Schritten das Zimmer.
»Der Portier Bernhard Wiedemann!« rief der Untersuchungsrichter.
»Wie lange hatten Sie am Tage des Brandes Dienst?«
»Den ganzen Tag, Herr Richter, mit Ausnahme von zwei Stunden Tischzeit!«
»Haben Sie während dieser Zeit das Theater verlassen?«
»Nein – meine Frau brachte mir das Essen in die Loge. An Premierentagen machen wir's immer so.«
»Kann nach Ihrer Meinung ein Unbefugter die Bühnenräume betreten haben?«
»Ausgeschlossen, Herr Richter.«
»Kann jemand zum Bühnenraum gelangen, ohne Ihre Loge zu passieren?«
»Jeder Fremde würde sofort angehalten werden.«
»Wann betrat Doktor Lanz das Theater?«
Der Portier blätterte in seinem Kontrollbuch.
»Der Passierschein ist um 7 Uhr 30 Minuten ausgestellt.«
Der Richter nahm das Buch. »Nach diesen Eintragungen hätte Doktor Lanz also das Bühnenhaus um 8 Uhr 54 Minuten wieder verlassen?«
»Jawohl, Herr Richter. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Die Zeitangaben werden mit einem Uhrstempel gemacht.«
»Haben Sie Doktor Lanz selbst fortgehen sehen?«
»Gewiß, Herr Richter. Er sagte noch: ›Wenn jemand nach mir fragt: ich bin im Zuschauerraum.‹«
Der Untersuchungsrichter entließ den Zeugen.
»Rufen Sie den Theatermeister Heinrich Schmidtke herein.«
»Herr Schmidtke«, wandte er sich an den Eintretenden. »Geben Sie mir eine genaue Schilderung der Vorgänge jenes Abends. Ich brauche Sie wohl nicht erst auf die Wichtigkeit dieser Aussage aufmerksam zu machen. Also denken Sie gut nach und verschweigen Sie nichts, selbst wenn es Ihnen unwichtig erscheinen sollte.«
Der Theatermeister nickte.
»Ich nahm, wie alle Abende, den Kanister mit der Imprägnierungsmasse von Doktor Lanz entgegen. In seinem Beisein öffnete ich den Behälter und machte die vorgeschriebene Probe.«
»Worin bestand die?«
»Ich goß etwas von der Masse auf meine Hand und hielt diese eine Zeitlang in eine offene Flamme.«
»Sie fanden die Masse ordnungsmäßig – ich meine: einwandfrei?«
»Vollkommen, Herr Richter. Diese Stichprobe wurde immer abwechselnd von mir oder dem diensthabenden Feuerwehrmann vorgenommen.«
»Darauf lieferten Sie den Kanister in der Chorgarderobe ab. Nicht wahr?«
»Ja, Herr Untersuchungsrichter.«
»Wem gaben Sie den Behälter?«
Der Theatermeister zögerte mit der Antwort.
»Nun?« fragte der Richter gedehnt.
»Ich setzte den Kanister vor die Tür der Garderobe und rief Frau Born – das ist nämlich die Chorgarderobiere.« Der Zeuge stockte.
»Weiter! Erzählen Sie doch!« drängte Doktor Frey.
»Frau Born rief mir durch die Tür zu, sie komme gleich. Ich sollte den Kanister nur hinstellen.«
»Taten Sie das?«
»Ja, Herr Richter.«
»Warteten Sie draußen, bis die Garderobiere kam?«
Der Theatermeister trocknete sich die Stirn. »Nein – ich setzte den Kanister hin und ging.«
»Das war aber doch außerordentlich leichtsinnig von Ihnen«, rügte Doktor Frey.
Herr Schmidtke senkte schuldbewußt den Kopf.
»Ich stelle fest, daß Sie sich einer groben Pflichtverletzung schuldig gemacht haben. Die unbeaufsichtigt stehengebliebene Imprägnierungsmasse kann also offenbar gegen ein feuergefährliches Präparat vertauscht worden sein.«
Der Theatermeister zuckte die Achseln. »Ich glaube kaum.«
»Es kommt nicht darauf an, was Sie glauben oder nicht glauben! Ist Ihnen auf dem Wege zu oder von der Garderobe jemand begegnet?«
Der Zeuge dachte einen Augenblick nach. »Nein.« Dann setzte er zögernd hinzu: »Wenigstens kein Unbefugter?«
»Was heißt das: Kein Unbefugter? Wer denn?«
Wieder besann sich der Theatermeister eine Weile. Er schien die Frage des Richters überhört zu haben.
»Wen trafen Sie also auf dem Korridor?«
Schmidtke fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht.
»Herrn Direktor Lascano.«
Doktor Frey hob den Kopf.
»War das etwas Ungewöhnliches? Ich meine: Fiel Ihnen das auf?«
»Nein, Herr Richter. Nur – – ich – – –«
»Na, was wollten Sie sagen?«
»Ja, also – das war nämlich so, Herr Richter: Ich hatte mir eine Zigarette angesteckt. Das ist gegen das Hausgesetz. Aber wir rauchen ja alle. Mit einemmal kommt mir der Alte – ich wollte sagen: der Direktor entgegen. Da habe ich die brennende Zigarette zwischen den Fingern zerdrückt. Das hat mir verdammt wehgetan.«
»Woher kam der Direktor?«
»Anscheinend von den Garderoben der Solomitglieder. Er hat mich vielleicht gar nicht erkannt. Er ging wie in tiefe Gedanken versunken an mir vorüber.«
»Hm.« Der Untersuchungsrichter beugte sich zu dem Schreiber und gab eine Anordnung.
»Erzählen Sie jetzt ausführlich, wie Sie den Kanister mit der Imprägnierungsmasse im Theaterhof fanden.«
»Es muß ungefähr um Viertel nach zehn gewesen sein. Ich ging gerade über den Hof, da sah ich im Gerümpel einen Gegenstand, der mir auffiel. Zu meinem Erstaunen erkannte ich den Kanister, in dem immer die Imprägnierungsmasse geliefert wird. Beunruhigt, trug ich den Behälter in mein Zimmer. Er war ganz gefüllt. Sofort erkannte ich: das war die Masse, die für die Imprägnierung der Tänzerinnen bestimmt war. Was bedeutete das? Mit was für einer Masse waren die Damen, die jeden Augenblick auftreten mußten, in Wahrheit behandelt worden?«
Der Richter unterbrach den Erzählenden.
»Sie wollen also sagen: der von Ihnen im Hof gefundene Behälter war derselbe, den Sie vorhin von Doktor Lanz selbst in Empfang genommen hatten?«
»Ich glaube bestimmt: ja.«
»Was geschah nun weiter?«
»Ich raste wie ein Irrsinniger zur Chorgarderobe. Frau Born, schrie ich, wo ist die Imprägnierungsmasse von heute abend? Sie sah mich ganz entgeistert an. Aber ich hatte mich schon über die Schminkschüsseln gestürzt: ein Rest der Masse war noch darin. Ich warf ein Streichholz hinein: sofort schoß eine Stichflamme hoch.«
»Halt!« gebot der Richter. »Wie sah nun der Kanister aus, aus dem die Garderobiere diese Flüssigkeit gegossen hatte? Können Sie sich darauf noch besinnen?«
»Gewiß, Herr Richter. Er war in Form und Farbe akkurat wie der im Hof gefundene.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Ich stieß die fassungslose Frau beiseite. Rannte auf die Bühne. Schon von weitem sah ich, daß: die Palastgarden eben die Fackeln in die Scheiterhaufen werfen wollten. Ich schrie, ich brüllte: ›Halt! Halt! Nicht anzünden! Um Gottes willen!‹ Ob der Inspizient mich nicht verstand, ob er mich für verrückt hielt – ich weiß es nicht. Jedenfalls winkte er ab. Ehe ich an ihn herankam, war das Unglück schon geschehen, und die Frauen standen in Flammen.«
Der Theatermeister schwieg.
»Haben Sie sonst noch irgend etwas zu Protokoll zu geben?«
»Nein, Herr Richter.«
»Gut. Sie können gehen.«
Die Aussagen der Garderobiere bestätigten die Angaben des Theatermeisters. Doktor Frey war noch mit der Vernehmung beschäftigt, als ihm eine Meldung gemacht wurde.
»Ich setze Ihre Vernehmung für einen Augenblick aus. Warten Sie draußen auf dem Korridor. Ich brauche Sie noch.«
Dann wandte sich der Untersuchungsrichter an den Beamten.
»Bitten Sie Direktor Lascano herein.«
Lascano trat ein.
Doktor Frey begrüßte ihn und vertiefte sich dann in seine Akten. Plötzlich hob er den Kopf.
»Ist es wahr, Herr Lascano, daß Sie sich zur Zeit in finanziellen Schwierigkeiten befinden?«
Die Frage kam plötzlich und unvermittelt.
»Nein. Das ist nicht der Fall.«
Der Richter klopfte mit dem Bleistift auf eine Aktenseite.
»Es ist festgestellt,« sagte er, nicht ohne die Worte zu betonen, »daß Sie kurz vor der Premiere der Revue bei verschiedenen Banken um einen größeren Kredit nachgesucht haben. Dieser Kredit ist abgelehnt worden.«
Lascano nickte.
»Das ist richtig. Aber eine finanzielle Schwierigkeit ist daraus nicht entstanden.«
»Die Ausstattung der Revue soll nahezu anderthalb Millionen gekostet haben. Sind Sie damit nicht ein ungeheures Risiko eingegangen?«
»Nein. Ich wußte, daß diese Summe innerhalb eines Jahres allein durch die Aufführung in Berlin wieder herausgewirtschaftet sein würde.«
»Aber nun drohte die Schließung des Theaters durch die polizeiliche Verfügung.«
»Ich hätte es dazu nicht kommen lassen.«
»Immerhin hätte die Revue, wenn die Scheiterhaufenszene gefallen wäre, erheblich an Zugkraft eingebüßt, nicht wahr?«
Lascano schwieg.
Wieder blätterte Doktor Frey in den Akten.
»Stimmt es, Herr Lascano, daß Sie zwei Tage vor der Aufführung eine ganz enorme Erhöhung Ihrer Feuerpolicen beantragten?«
»Ja. Mit Rücksicht auf die Sicherheit des Personals und der Theaterbesucher.«
»Hm.« Der Richter ließ eine Pause eintreten. Plötzlich beugte er sich über den Tisch und richtete den Blick auf Lascano. »Was taten Sie an jenem Abend im Theaterkorridor, der zu den Sologarderoben führt?«
Lascano machte eine Handbewegung, als ob er sich nicht besinnen könne.
»Der Theatermeister traf Sie auf dem Korridor. Sie sollen – ohne ihn zu bemerken – an ihm vorübergegangen sein.«
»Möglich«, sagte Lascano gleichmütig.
»Woher kamen Sie?«
Lascano schien kaum merklich zu zögern. Dann sagte er langsam: »Darüber muß ich die Aussage verweigern.«
Doktor Frey ließ seine Augen nicht von dem vor ihm Stehenden. Gelassen machte er eine Notiz in seinen Akten. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück. Langsam, sagte er:
»Es sind einige Unstimmigkeiten in Ihren Angaben, Herr Direktor. Ich stelle fest: finanzielle Schwierigkeiten haben bestanden. Das eingegangene Risiko war ein ungeheures. Sie wurden kurz vor Ausbruch des Feuers auf dem Garderobenkorridor gesehen. Eine Erklärung dafür wollen Sie nicht geben. Ich frage Sie nochmals, Herr Lascano: Haben Sie mir noch etwas mitzuteilen?«
Lascano schüttelte den Kopf. »Nein!« sagte er kurz.
Der Richter klingelte.
»Die Garderobiere!«
»Frau Born, Sie haben vorhin zu Protokoll gegeben: als Sie aus der Garderobe kamen, fanden Sie den Kanister nicht mehr vor. Ich frage Sie jetzt: von wem empfingen Sie an jenem Abend den Behälter mit der falschen – ich möchte sagen: mit der todbringenden Imprägnierungsmasse?«
Die Garderobiere schwieg. Sie wurde abwechselnd rot und blaß. Sichtlich rang sie mit einem Entschluß. Aber jedesmal, wenn sie zum Sprechen ansetzte, verstummte sie, als ob sie sich fürchte, die Antwort zu geben.
»Nun?« drängte der Richter.
»Muß ich diese Frage beantworten, Herr Richter?«
»Selbstverständlich.«
Wieder zögerte die Frau.
Schließlich, mit einem Blick auf Lascano, sagte sie, kaum hörbar:
»Von Herrn Direktor Lascano.«
Der Blick des Untersuchungsrichters wanderte fragend und erstaunt zu Lascano hinüber. Der ließ die stumme Frage unbeantwortet. Doktor Frey wandte sich wieder der Garderobenfrau zu.
»Erzählen Sie, wie es war.«
»Ich war beim Schminken der Mädchen, als mich der Theatermeister von draußen anrief. Ich sagte ihm durch die Tür, er solle den Kanister draußen hinstellen. Als ich den Behälter dann holen wollte, war er verschwunden.«
»Wie lange hat Ihrer Schätzung nach der Kanister unbeaufsichtigt vor der Tür gestanden?«
»Vielleicht drei oder vier Minuten. Als ich dann in die Garderobe zurückging, rief mich ein Klingelsignal in das Privatbureau des Direktors.«
»Was wollte der Direktor von Ihnen?«
»Er machte mir Vorwürfe, daß ich den Kanister unbeaufsichtigt vor der Garderobe habe stehen lassen. Das sei eine Gewissenlosigkeit. Er hatte ihn zur Sicherheit an sich genommen und händigte ihn mir aus.«
»War sonst noch jemand im Zimmer des Direktors?«
»Ich kann mich darauf nicht mehr besinnen.«
»Mit diesem Kanister gingen Sie nun in die Garderobe zurück, gossen den Inhalt aus und imprägnierten damit die Tänzerinnen?«
»Ja, Herr Richter.«
»Fiel Ihnen an dem Kanister und seinem, Inhalt irgend etwas auf?«
»Nein. Erst als der Theatermeister wie geistesabwesend in die Garderobe stürzte, ahnte ich, daß es sich um ein Verbrechen handelte.«
»Es ist gut. Sie können gehen.«
Der Richter überlas das Protokoll, gab es dem Schreiber zurück und begann zu diktieren, wobei er unausgesetzt seine Augen auf Lascano gerichtet hielt:
»Die Aussagen des Theatermeisters Schmidtke und der Garderobiere Frau Born ergeben übereinstimmend, daß der Kanister – dessen Inhalt der Theatermeister als ordnungsmäßig und einwandfrei befunden hatte – eine Zeitlang unbeaufsichtigt geblieben ist. Die Kanne befand sich zuletzt im Gewahrsam des Direktors Lascano. Zwischen dem Niederstellen des Behälters vor der Garderobentür und der Empfangnahme im Zimmer des Direktors lag ein erheblicher Zeitraum. In diesem Zeitraum muß der Kanister mit der Imprägnierungsmasse gegen einen anderen Kanister mit einem feuergefährlichen Präparat vertauscht worden sein.«
Der Untersuchungsrichter unterbrach sein Diktat und wendete sich unvermittelt an Lascano.
»Haben Sie hierzu etwas zu bemerken?«
Lascano schüttelte den Kopf.
Der Richter stand auf.
»Dann, Herr Lascano, erkläre ich Sie für verhaftet unter dem dringenden Verdacht der vorsätzlichen Brandstiftung.«
* * *
»Wirklich, Fräulein Magda, es wird mir schwer, die rechten Worte zu finden.«
Frau von Külzow saß in Magdas Zimmer. Man sah ihr die peinliche Verlegenheit an.
Magda beobachtete sie mit erstaunten Augen.
»Ich bitte Sie, gnädige Frau, sagen Sie mir doch endlich, um was es sich handelt.«
Frau von Külzow blickte hilflos vor sich nieder.
»Der Verein hat mich mit einer Mission betraut, die mir unendlich peinlich ist. Um es ganz offen zu sagen: es handelt sich um Sie, liebes Fräulein Magda – oder – eigentlich um Ihren Verlobten.«
»Also würden Sie mir bitte jetzt –«
Die Besucherin zog ein Schreiben.
»Ich bitte Sie, liebe Magda, tragen Sie mir das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht nach: der Verein der Revuegegner legt Ihnen nahe, Ihren Austritt anzumelden.«
Magda richtete sich auf.
»Und warum?«
»Im Laufe der Affäre Lascano sind uns gewisse Dinge zu Ohren gekommen, die uns bewiesen haben, daß man den Namen des Vereins in schamloser Weise mißbraucht hat. Die Nachforschungen haben nun zu der Entdeckung geführt, daß der Schreiber dieses erpresserischen Briefes …«
Frau von Külzow schob das Schreiben langsam zu Magda hinüber … »der Syndikus unseres Vereins, Herr Thomany, ist.«
Magdas Augen irrten über die Zeilen. Verständnislos überlas sie den Inhalt.
»Wir haben ferner in Erfahrung gebracht, daß Herr Thomany sich auf diese Weise zehntausend Mark verschafft hat.«
Magda sprang auf. »Das ist eine niederträchtige Verleumdung!«
»Wir würden uns hüten, mit einer derartigen Beschuldigung aufzutreten, wenn wir nicht unwiderlegliche Beweise dafür hätten.«
»... und mein Vater? Weiß er von diesem … diesem …«
Die Besucherin schwieg. Sie zuckte die Achseln. Mitleidig ging sie auf Magda zu und strich ihr mit einer begütigenden Gebärde über das Haar.
»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, liebe Magda, daß ich und viele Mitglieder des Vereins natürlich nicht etwa Sie oder Ihren Vater mit diesen unsauberen Dingen in Verbindung bringen.«
Magda kämpfte mit den Tränen. »Ich danke Ihnen, gnädige Frau. Mein Vater wird dem Verein die nötigen Erklärungen geben.«
Frau von Külzow erhob sich. »Mut, liebes Kind, Es ist eine schwere Prüfung für Sie.«
Magda war allein. Langsam ging sie zum Fenster. Wirre Gedanken stürmten auf sie ein. Sie begriff dumpf, daß Sie vor einem Schritt stand, der vielleicht über ihr ganzes Leben entschied. Das Schicksal selbst stand an der Schwelle. Ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit überkam sie. War sie nicht völlig allein? Der Mann, den sie zu lieben geglaubt, zu dem sie bisher gläubig und vertrauend aufgeblickt hatte, war ein Verbrecher! Es schien ihr plötzlich, als ob sie jetzt erst Klarheit finde über ihre Gefühle zu Thomany. War das Liebe? War das jener Überschwang von Glückseligkeit, Vertrauen und Hingebung gewesen, von dem die Dichter sprachen? Dieses Selig-Unselige? Himmelhochjauchzende? Hatte sie es je empfunden? Wie seltsam, daß sie jetzt nicht trauerte um ihr zerstörtes Glück! Sicher; es war nur Zorn und verletzter Stolz, der sie erfüllte. Ja, fast einem Gefühle der Befreiung kam das Bewußtsein gleich, daß sie jetzt auf immer von ihrem Verlobten getrennt sein würde.
Eine Tür ging. Magda drehte sich um: Thomany war mit ihrem Vater eingetreten. Er brachte Blumen. In strahlender Laune küßte er ihre Hand. Fragend hefteten sich Magdas Augen auf die beiden Männer. Thomany nahm ein Zeitungsblatt aus der Tasche und breitete es lächelnd vor ihr aus. Es enthielt eine Karikatur: die Zeichnung stellte in Strichmanier das Gebäude des Atlantic-Theaters dar. Ein Mann – in griechischem Gewand – aber mit den charakteristischen Gesichtszügen Lascanos, schleuderte eine Fackel in das Haus. Die linke Hand des Mannes hielt einen Geldbeutel mit der Inschrift: Zwei Millionen. Über der Zeichnung stand: »Ein moderner Herostrat!« Thomany rieb sich lachend die Hände.
»Gut, was? Ja, ja, Herr Direktor: dieses Feuerchen kam Euch sehr gelegen!«
Magda drehte sich jäh zu ihm um: »Schweig!«
Sie trat, den Brief in der Hand, auf ihren Vater zu.
»Du wirst diesem Herrn die Tür weisen. Er ist ein Erpresser.«
»Magda!«
Mylius hatte nur einen flüchtigen Blick auf den Brief geworfen. Seine Augen streiften mit scheuem Ausdruck seinen Schwiegersohn.
Thomany näherte sich Magda. »Darf man fragen, was …?«
Sie drehte ihm den Rücken.
Mylius rang mit einem Entschluß. Seine Blicke wanderten von einem zum andern. Vor dem höhnisch-überlegenen Lächeln Thomanys schlug er die Augen nieder.
»Vater!« Magdas Ruf ging angstvoll durch die Stille des Zimmers.
Thomany räusperte sich. »Ich glaube, liebe Magda, dein Vater hat allen Grund …«
Mylius warf den Kopf zurück. Mit schnellen Schritten ging er zur Tür, riß sie auf. Seine gebieterische Handbewegung bedeutete: Hinaus!
Thomany verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er blickte zu Magda hinüber. Die stand abgewandt am Fenster. Ihre Schultern zuckten. Langsam nahm Thomany seine Handschuhe. Er maß Mylius mit einem Blick von oben bis unten. Mit scharfem Klang fiel die Tür ins Schloß.
Die Hände sanken Mylius kraftlos nieder. Mit schweren Schritten, gesenkten Kopfes, ging er durch das Zimmer.
Magdas Augen folgten ihm in fassungslosem Erstaunen. Sie lief zu ihm hin, legte die Arme um seinen Hals. Tränen erstickten ihre Stimme.
»Was ist dir? Was hast du?«
Mylius sah sie mit einem langen Blick an. Traurig schüttelte er den Kopf. Er löste sich sanft aus ihren Armen und ging ohne ein Wort der Erwiderung ins Nebenzimmer. Würgende Angst stieg in Magda auf. Wie seltsam war das alles! Es war, als wären die Rollen vertauscht: Nicht Thomany – ihr Vater hatte den Eindruck eines Schuldigen gemacht. Und dann – siedend schoß ihr das Blut zu Kopf: Was hatte Thomany mit seinen Andeutungen sagen wollen? Sinnend ruhten Magdas Augen auf der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters.
Plötzlich, wie von einer Ahnung erfaßt, preßte sie lauschend den Kopf an die Tür. Kein Laut kam von drinnen. Magda fühlte ihr Herz bis zum Halse schlagen. Sie legte die Hand auf den Türgriff: die Tür war verschlossen.
»Vater!« schrie sie. »Um Gottes willen! Mach auf!«
Verzweifelt rüttelte sie an der Tür. Von innen kam ein metallisches Klirren. Eine Schublade wurde hastig zugezogen. Magda stemmte sich gegen die Türfüllung.
»Mach auf!« flehte sie mit zitternder Stimme. Der Schlüssel drehte sich.
Mylius stand auf der Schwelle. Blaß, verstört, wie geistesabwesend. Willenlos ließ er sich von Magda führen. Ein trostloses Schluchzen erschütterte ihren Körper. Ihre Augen gingen suchend über den Schreibtisch. Schnell riß sie die Pultlade auf: unter Papieren, halb vergraben, blinkte ihr der Lauf eines Revolvers entgegen.
»Vater!«
* * *
Eine Stunde später traten Mylius und Magda in das Zimmer des Untersuchungsrichters.
»Ich möchte in Sachen Lascano eine wichtige Aussage machen. Ich habe gelesen, daß Lascano die Auskunft auf die Frage verweigert hat, woher er gekommen sei, als er an jenem Brandabend den Korridor passierte. Ich will es Ihnen sagen: er besuchte mich in der Garderobe der Tänzerin Denise Lavallière, meiner Freundin. Denn ich war sein Teilhaber.«
* * *
Der junge Verteidiger trat in die Zelle.
»Ich muß Ihnen leider eine schlechte Nachricht bringen, Herr Lascano. Die Staatsanwaltschaft hat Ihren Auftrag auf Haftentlassung abgelehnt. Selbst bei noch höherer Kautionsstellung käme eine Aufhebung der Haft nicht in Frage, da Fluchtverdacht vorliegt.«
Lascano ging in dem engen Raum auf und ab. »Ich möchte Sie bitten, Herr Rechtsanwalt, dafür zu sorgen, daß der von Herrn Mylius bei mir investierte Betrag sofort seiner Bank überwiesen wird. Machen Sie, falls nötig, einen Teil meines Privatkapitals flüssig.«
»Gern. Aber haben Sie nicht Aufträge, die Ihre eigenen Interessen betreffen?«
»Ich bitte Sie, zu vermeiden, daß Herr Mylius im Laufe der Prozeßverhandlungen genannt wird. Es darf auf keinen Fall bekannt werden, daß Herr Mylius mein Teilhaber ist.«
Der junge Verteidiger lächelte verlegen. »Es wird kaum möglich sein, diese Tatsache zu vertuschen.«
»Warum nicht?«
»Herr Mylius hat gestern alles selbst eingestanden.«
Lascano strich sich mit der Hand über die Stirn. »Konnte er diese Aussage nicht vermeiden?«
»Er ist freiwillig zum Untersuchungsrichter gegangen.« Der Rechtsanwalt zögerte, als ob er noch etwas hinzusetzen wollte. Lascano sah ihn fragend an.
»Ich glaube, daß seine Tochter ihn dazu veranlaßt hat.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Weil sie ihren Vater aufs Gericht begleitete.«
Ein Gefängnisbeamter trat in die Zelle.
»Verzeihen Sie, Herr Rechtsanwalt,« wandte er sich an den Verteidiger, »eine Dame wünscht Herrn Lascano zu, sprechen. Wenn Sie vielleicht während der Unterredung in der Zelle bleiben wollen, so brauche ich nicht …«
»Falls mein Klient nichts dagegen hat?« Er blickte fragend auf Lascano. Der lächelte.
»Bitten Sie die Dame herein«, sagte der Anwalt.
Magda Mylius betrat die Zelle.
Sie war in Schwarz. Die dunkle, strenge Kleidung hob das Schmerzvolle, das in ihren Zügen lag. Die tiefe Blässe ihres Gesichts zeugte von den Erschütterungen der letzten Tage. Unendlich rührend sah sie aus in ihrer Anmut; ihre Augen, in denen Tränen schimmerten, ihre weichen, hingebenden Gebärden schienen Lascano wie ein einziger Hilfeschrei. Er ging ihr entgegen. »Sie, Fräulein Mylius?«
Magda nickte. »Sie haben recht, Herr Lascano, sich zu wundern. Ich wundere mich über mich selbst. Noch gestern hätte ich mich nicht für fähig gehalten, diesen Schritt zu tun.«
Sie streifte mit einem flüchtigen Blick den Anwalt, der sich diskret in die Ecke der Zelle zurückgezogen hatte. Er vertiefte sich in seine Akten.
Magda sah vor sich nieder und sagte mit dumpfer Stimme:
»Ich bin eine Verzweifelnde. Alles um mich ist zusammengestürzt. Um mich – in mir: mein Verlobter hat sich als ein Erpresser erwiesen – er existiert für mich nicht mehr. Ich habe mich damit abgefunden. Aber, weit schlimmer …«
Magda kämpfte mit den Tränen.
»Mein Vater, an den ich geglaubt habe, an dem mein ganzes Herz hing – auch an ihm bin ich irre geworden. Alles in mir ist erschüttert, ich weiß nicht mehr, wohin ich meine Hände ausstrecken soll. Ich sehe überall Lüge, Gemeinheit und Hinterhältigkeit.«
Erschöpft hielt sie inne. Ihre Hände krampften sich zusammen. Hilflos irrten ihre Augen im Raum umher. Plötzlich stand sie auf, trat vor Lascano hin, ergriff seine Hände.
»Herr Lascano,« ihr Atem flog, »Sie selbst sind im Unglück. Ich kann wohl im Ernst kaum erwarten, daß, Sie in Ihrer Gewissensnot meiner Not Gehör schenken sollen. Und doch muß ich Sie etwas fragen. Sie sind der letzte Halt, an den ich mich jetzt klammere …«
»Magda, was kann ich für Sie tun? Sie machen mich glücklich, wenn ich Ihnen einen Dienst erweisen darf!«
Magda entzog ihm ihre Hände.
»Ich muß diese Frage an Sie richten, Herr Lascano. Sie werden mich vielleicht für wahnsinnig halten: aber ich muß es wissen: Sie müssen mir die Wahrheit sagen!«
»Glauben Sie mir, Magda, ich wäre nie imstande, Ihnen gegenüber eine Lüge auszusprechen.«
»Dann sagen Sie mir das eine: so wahnwitzig es klingt – ich muß es wissen: Sind Sie schuldig – oder sind Sie unschuldig?«
»Sie sollen die Wahrheit wissen, Magda. Ich schwöre, daß es die Wahrheit ist, was ich jetzt sage: ich bin unschuldig.«
Wie nach einem Halt suchend, streckte Magda ihre Hände aus. Tränen standen in ihren Augen. Durch ihren Körper lief ein Zittern – sie schwankte. Ihr Kopf sank willenlos an seine Brust. Behutsam zog er sie an sich. Sie hob den Kopf und sah ihm, unter Tränen lächelnd, in die Augen. Und mit zuckenden Lippen flüsterte sie: »Ich glaube an dich!«
Er küßte sie sanft, voll unendlicher Zärtlichkeit.
»Und ich – ich liebe dich.«
Unbemerkt hatte der Anwalt die Zelle verlassen. Die beiden blickten sich um, und es schien ihnen, als ob dieser graue, nüchterne, trostlose Raum plötzlich voll Sonne sei.
* * *
Der Staatsanwalt hatte sein Plädoyer beendet. Feierliches Schweigen lag in dem weiten Saal. Die dumpfe Schwüle der verbrauchten Luft stand dick und schwer im Raum. Der Vorsitzende wendete sich zu der Anklagebank.
»Angeklagter, haben Sie zu den Ausführungen des Herrn Staatsanwalts etwas zu bemerken?«
»Dann erteile ich dem Herrn Verteidiger das Wort.«
Rechtsanwalt Primander erhob sich.
»Meine Herren Geschworenen! Das furchtbare Verbrechen, mit dessen Klarstellung wir uns nun seit Wochen beschäftigt haben, soll jetzt seine Sühne finden. Sie, meine Herren, sind dazu berufen, der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen.
Der Herr Staatsanwalt hat Ihnen soeben in bezwingender Weise die Indizien klargelegt, die den Angeklagten in starkem Maße belasten. Unter der niederschmetternden Wucht dieser Beweisführungen müßte es eigentlich für Sie ein Leichtes sein, Ihr Verdikt abzugeben: es könnte nur auf ›Schuldig‹ lauten.
Ich aber muß die Ausführungen des Herrn Staatsanwalts noch einmal unter die kritische Lupe nehmen.
Befassen wir uns zunächst einmal mit der Persönlichkeit des Angeklagten.
Der Herr Staatsanwalt hat Lascano als einen modernen Sklavenhalter hingestellt. Er hat ihn einen ›Blaubart‹ des zwanzigsten Jahrhunderts genannt, einen ›Oger des Theaters‹.
Er hat seine Unternehmungen als Brutstätten der Sinnlichkeit bezeichnet, als schamlose Spekulationen auf das Sinnenleben der Menschen.
Schon der dem Angeklagten von der Öffentlichkeit gegebene Titel ›Der Herr der Nacht‹ beweise, wie man die Darbietungen und Geschäfte des Herrn Lascano zu bewerten habe.
Selbst wenn es erwiesen wäre – und nach Auffassung der Verteidigung ist es erwiesen – selbst wenn es erwiesen wäre, so meinte der Herr Staatsanwalt, daß der Angeklagte persönlich seine Stellung als Direktor nicht mißbraucht habe, so lasse ihn das kaum um eine Nuance besser erscheinen – denn die bloße Tatsache seiner skrupellosen Ausnutzung der Nacktdarbietungen in seinen Theatern stemple ihn zu einem Nutznießer der Unsittlichkeit.
Meine Herren Geschworenen! Der Staatsanwalt macht sich mit einer derartigen Auffassung der Dinge eine Tendenz zu eigen, die auch die Triebfeder des Kesseltreibens ist, das eine, gewisse Gruppe seit langem gegen den Angeklagten in Szene gesetzt hat.
Man hat selbst mich zu boykottieren versucht, als ich die Verteidigung meines Klienten übernahm. Das dürfte Ihnen einen Begriff geben von der beispiellosen Erbitterung, mit der dieser Kampf gegen den Angeklagten geführt wird.
Im Laufe des Prozesses ist es nun der Verteidigung gelungen, fast alle Belastungszeugen zu widerlegen. Nichts ist übriggeblieben von den Orgien, die der Angeklagte in seiner Privatwohnung gefeiert haben soll. Als hinterlistige Mache hat sich die angebliche Bestechung eines Fliegers erwiesen, an den der Angeklagte das Ansinnen gestellt haben soll, ihn gleich nach dem Feuer ins Ausland zu befördern. Dieser Teil der Anklage ist völlig zusammengebrochen.
Und wie steht es nun um die Indizien, meine Herren Geschworenen?
Ich will Balken für Balken und Stein um Stein des monumentalen Anklagegebäudes vor Ihren Augen abtragen. Ich werde Ihnen den klarsten Beweis dafür bringen, auf welch tönernen Füßen das ganze Anklagematerial ruht.
Ein Motiv für die furchtbare Tat will man in den finanziellen Schwierigkeiten des Angeklagten gefunden haben. Die Verteidigung hat den Nachweis erbracht, daß der Angeklagte einen Kredit bei seinen Gläubigern überhaupt noch nicht in Anspruch genommen hatte. Selbst der Herr Staatsanwalt mußte diesen Punkt fallen lassen, als es bekannt wurde, daß etwa bestehende Knappheiten durch die Beteiligung des Herrn Mylius gänzlich behoben waren. Ich habe diese Enthüllung damals gegen den Willen meines Klienten gemacht.
Der Angeklagte wollte alles vermeiden, was zu einer gesellschaftlichen Diskreditierung seines Partners hätte führen können. Aber ich hielt es für meine Pflicht, diese Dinge hier zur Sprache zu bringen; denn ich kämpfe um die Freiheit – vielleicht um den Kopf meines Klienten.
Auch die in letzter Stunde, beantragte Erhöhung der Versicherungssumme kann im Ernst nicht als Indizium angesehen werden. Selbst wenn die ganze exorbitante Höhe der Prämie, die mein Klient zu zahlen hatte, stutzig machen konnte, rechtfertigt sich: diese, seine Handlungsweise durchaus. Sie ist nur ein Beweis seines hohen Verantwortungsgefühls gegenüber den Interessen seiner Geldgeber – und mit keiner Dialektik der Welt kann man ihm aus dieser korrekten, Handlung einen Strick drehen.
Das gravierende Indizium aber soll die drohende Schließung des Theaters gewesen sein.
Das – so führte der Herr Staatsanwalt aus – war ein vernichtender Schlag. Lascano – so hieß es – soll keine Mittel und auch nicht den Willen besessen haben, ihn abzuwenden.
Der Herr Anklagevertreter hat behauptet: Lascano wäre unter der Wucht dieses Schlages zusammengebrochen, und er weist auf die Aussagen der Theatermitglieder hin, die bekunden: der Direktor sei an jenem Abend völlig geistesabwesend erschienen.
Meine Herren! Auch das ist lächerlich. Ein Mann wie Lascano wirft nicht die Flinte ins Korn. Weder war diese Verfügung der Behörde unwiderruflich, noch hatte der Angeklagte überhaupt die Absicht, es bis zum äußersten kommen zu lassen. Das wäre einem Amoklaufen gleichgekommen. Es ist hier ständig ein falsches Bild von meinem Klienten entworfen worden. Lascano ist weder ein Hasardeur, noch, ein Pascha.
Ich gehe nun zu den Einzelheiten der Tat über. Die Anklage behauptet: Lascano habe die Kanister vertauscht. Er habe statt der Imprägnierungsmasse ein feuergefährliches Präparat in die Garderobe geschickt. Meine Herren! Wenn man selbst annimmt, daß das Verbrechen von langer Hand vorbereitet war, wenn man unterstellt, der Angeklagte habe die todbringende Flüssigkeit stets zur Hand gehabt, um sie in dem geeigneten Augenblick zu verwenden – bleibt doch immer noch ein Umstand unerklärlich: Konnte Lascano damit rechnen, daß sein Theatermeister die Ungebührlichkeit begehen würde, den Kanister vor der Tür unbeaufsichtigt stehen zu lassen? Ausgerechnet an dem Tage und zu der Stunde, wo das Verbrechen zur Tat werden mußte? Konnte er ferner damit rechnen, daß die Garderobiere den Behälter nicht sofort hereinholen würde? Nach Aussage des Sekretärs befand er sich im Direktionsbureau, als die Garderobiere den Kanister aus der Hand meines Klienten empfing! Und er war auch schon im Zimmer gewesen, als Lascano – den Kanister in der Hand – hereinkam und ihm befahl, die Garderobiere herbeizurufen. Ein Vertauschen des Behälters war also ausgeschlossen.
»Meine Herren Geschworenen! Je nüchterner und ruhiger Sie erkennen, welche Lücken in der Anklageerhebung klaffen, desto überzeugender muß sich Ihnen die Unschuld des Angeklagten offenbaren. Lassen Sie sich Ihren klaren Blick nicht trüben. Hier soll ein Opfer gesucht werden! Aber wenn es der Untersuchung nicht gelungen ist, die geheimnisvollen Fäden zu entwirren, die zu dem grauenhaften Verbrechen geführt haben, so darf und kann man von Ihnen, meine Herren, nicht verlangen, daß Sie einen Mann Schuldig sprechen sollen, auf den der unglückselige Zufall – die Tücke des Objekts vielleicht – ein paar Verdachtsmomente gehäuft hat, die aber in Wirklichkeit haltlos und konstruiert sind.
Hier handelt es sich letzten Endes nicht um Fragen der Moral, um saubere oder unsaubere Geschäftspraktiken. Hier geht es um die hochnotpeinliche Frage: Liegt eine frivole Preisgabe von Menschenleben zum Zwecke der Bereicherung vor? Ist der Angeklagte schuldig der vorsätzlichen Brandstiftung in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung? Meine Herren Geschworenen! Ich habe eine viel zu hohe Meinung von Ihrem Gerechtigkeitssinn, von Ihrem Verantwortungsgefühl, als daß ich auch nur einen Augenblick an Ihrer Entscheidung zweifeln könnte. Sie werden Ihr Gewissen nicht mit dem furchtbaren Druck eines Justizirrtums belasten! Der Mann, den Sie nun seit Wochen in schwerster Bedrängnis sehen, der aus den Intrigen und Fallstricken einer ihn hetzenden Meute so gut wie rein hervorgegangen ist, dieser Mann wird ruhig sein Schicksal in Ihre Hände legen dürfen. Wenn Sie dem Recht zum Siege verhelfen wollen – und diese heiligste Aufgabe der Menschheit ist Ihnen anvertraut –, so können Sie nur einen Spruch fällen – und der lautet:
Unschuldig!«
* * *
Spät in der Nacht wurde Lascano freigesprochen.
Als er das Gerichtsgebäude verließ, ernsten Gesichts durch die Menschenmenge schritt, die ihn stumm, aber respektvoll betrachtete, trat ihm Magda entgegen. Er sah ihr schweigend ins Gesicht. Leise sagte sie:
»Ich habe das Haus meiner Eltern verlassen. Jetzt gehöre ich zu dir.«
* * *
Hell schmetterten die Fanfaren des »Aida«-Marsches über die Riva degli Schiavoni.
Die Gäste des Hotels Danieli saßen an kleinen Tischen unter den bunten Schirmen. An ihnen vorüber flutete ununterbrochen der Strom des internationalen Verkehrs. Staunend und ergriffen nahmen die Fremden die Schönheit Venedigs in sich auf.
Das Vaporetto vom Bahnhof brachte neue Gäste. Wieder schwirrten Sprachen durcheinander, zeigten sich in buntem Gemisch die charakteristischen Gestalten der Amerikaner und Engländer. Die Blicke der flanierenden Venezianer ruhten bewundernd auf den blonden Frauen. In Loden und Wickelgamaschen gekleidete Gestalten trotteten vorüber, den Baedeker in der Hand. »Tedeschi« murmelten die Gäste an den Tischen. Das waren die Leute der Gelehrsamkeit, die kundig vom Cinquecento redeten und von dem Stil der Renaissance genaue Kenntnis hatten. Die jedes Bauwerk und seine Geschichte kannten – und die vor jedem Palazzo, jedem Denkmal in andächtiger Versunkenheit stehen blieben.
Der Hotelportier nahm die Gäste in Empfang. Die eifrigen Zeitungsleser in der Halle ließen die Journale sinken. Neugierig spähten sie nach den Ankommenden.
»Kannten Sie die Herrschaften?« fragte eine Dame den neben ihr sitzenden Offizier.
»Gewiß, Marchesa – es waren Eugen Lascano und seine junge Frau, die eben den Lift bestiegen.«
»Lascano? Derselbe Lascano, dessen Prozeß vor kurzem soviel Aufsehen erregte?«
»Ja. Sein Freispruch wurde damals in der Presse lebhaft kommentiert.«
»Dieser Freispruch kam doch höchstens einem non liquet gleich, nicht wahr?« mischte sich der Vater der jungen Dame in das Gespräch.
»Sie irren, Marchese. Es gibt vor den deutschen Schwurgerichten keinen Freispruch aus Mangel an Beweisen. Lascano wurde freigesprochen, weil ihn die Geschworenen für schuldlos hielten.«
»Sie waren damals gerade in Berlin bei der Gesandtschaft, Signor Ermete? Wie hat die Öffentlichkeit den Fall beurteilt?«
»Sie stand mit ihren Sympathien auf Seiten des Angeklagten.«
»Seine Heirat soll eine sehr romantische gewesen sein; wissen Sie etwas darüber, Signor Ermete?« erkundigte sich die Marchesa.
»Zum mindesten war sie seltsam genug. Seine jetzige Frau stand anfänglich den Kreisen nahe, die Lascano bekämpften.«
Die junge Dame seufzte schwärmerisch. »Ich habe ihre Geschichte gelesen. Diese Frau ist ebenso schön wie charaktervoll.«
»Hat der Mann bei dem Brandunglück nicht sein Vermögen verloren?« fragte der Marchese.
Der Offizier schüttelte lächelnd den Kopf. »Im Gegenteil. Das Unglück hat Lascano erst zu einem, der größten Unternehmer der Welt gemacht. Ein amerikanisches Konsortium hat den Wiederaufbau des Atlantic-Theaters finanziert. Außerdem hat man Lascano mit seiner Revue für ein Gastspiel durch die Vereinigten Staaten engagiert. Man spricht von einer märchenhaften Summe.«
»Ob er glücklich mit seiner jungen Frau ist?« unterbrach die Marchesa das Gespräch. Ihre Augen blickten träumerisch ins Leere.
Der junge Mann zuckte lächelnd die Achseln.
»Soweit bin ich nicht unterrichtet, Marchesa. Aber ich glaube …«
»Ah, es muß herrlich – es muß wundervoll sein, sich einen Mann, allen Gewalten zum Trotz – zu erkämpfen!«
Der Marchese blickte mißbilligend auf seine Tochter. Er erhob sich. »Gehen wir,« sagte er kurz, »das Konzert ist zu Ende.«
* * *
Ein neuer Morgen stand strahlend und hell über den Lagunen. Sonnenglanz brach sich mit tausend Reflexen in den kurzen Wellen des Canale Grande.
Magda stand auf dem Balkon ihres Zimmers. Ihre leuchtenden Augen konnten sich nicht satt sehen an der Schönheit des Bildes. Venedig erwachte. Von unten ertönten die Rufe der Gondolieri. »Stali! De longo!« klang es in singendem Tonfall zu ihr herauf. Mit einem Schlag seines Ruders trieb der Mann die Gondel durch das Gewirr der Fahrzeuge, an den flink dahinschießenden zierlichen Vaporetti vorbei. Ehrerbietig lüftete der Gondoliere seine Kappe, wenn ein schwarzbehangenes Boot an ihm vorüberglitt: die letzte Fahrt eines Menschen, hinaus zum Campo Santo.
Magda erinnerte sich des gestrigen Abends.
Trunken vor Seligkeit saß sie an Lascanos Seite in der Gondel. Der Schein bunter Lichter brach sich tausendfältig in den Wellen, vom Ruder des Gondoliere tropfte es wie blitzende Edelsteine. Im Schein der bengalischen Flammen standen die starren, stolzen Zeugen versunkener Pracht: die Paläste.
Staunend ruhte ihr Blick auf den tausenden Pfählen, die noch die Farben der einstigen Palastbesitzer trugen.
Die Piazzetta tat sich auf: zwischen San Marco und dem Campanile. Dann tauchte die breite Fassade des Dogenpalastes mit seinen gedrungenen Säulen auf.
Noch immer strahlte dieser Bau einen Hauch jener geheimnisvollen Macht aus, die Venedig einst zur »Königin der Adria« erhoben.
Weiter ging die Fahrt, an Santa Maria della Salute vorbei. Flüsternd, sich bekreuzigend, erzählte der Führer aus der Chronik der furchtbaren Pest – den »Tod von Venedig« – aus der Maria, die Spenderin des Heils, die Bevölkerung errettete.
Und dann klangen die stolzen Namen der Nobili, der Condottieri auf, die einst in diesen schönen und doch so düsteren Palästen gelebt und geliebt – gehaßt und gemordet hatten. Geheimnisvoll flüsternd plätscherten die Wellen um die Grundmauern der Häuser der Giustiniani, der Cantarini, der Foscari, Grimani und der Herzöge Sforza. Wieviel Glanz und Macht verkörperten einst diese Namen!
Dann glitt die Gondel durch den Marmorbogen des Ponte di Rialto. Buntes Gewimmel erfüllte die schmalen Straßen längs des Ufers. Die Barken, blumengeschmückt und erleuchtet, drängten sich unter dem Bogen. Musik ertönte, und irgendein schwarzgelockter Sänger schmetterte ein schmelzendes Lied. Unwahrscheinlich groß und glänzend stand der Mond am Himmel. Hart im Raume stießen sich die Dinge, eine Romantik, die nicht ganz frei von Kitsch war.
Erst als die Gondel wieder in stillere Seitengäßchen des Kanals einbog, überkam Magda wieder das Bewußtsein der Herrlichkeit dieser Stunde. Entzückt ruhte ihr Auge auf der gotischen Fassade der Gasa d'Oro, dem Wunder an Grazie und Harmonie. »Einst«, so erklärte der Führer, »war diese Fassade vergoldet.«
Dann tauchte düster und ernst der Palazzo Vendramin auf. Schweigend nahm Magda die Pracht dieses Baues in sich auf, in dem einst ein Großer sein Leben geendet, nachdem er der Welt noch die hehren Töne seines Schwanengesanges geschenkt hatte.
Magda atmete tief auf. Im strahlenden Sonnenschein wich alles Düstere und Schwere aus den engen Gassen. Frohsinn und Freude lagen in der Luft.
Im Salon war der Frühstückstisch gedeckt. Ein großer Strauß Rosen erfüllte das Zimmer mit seinem Duft: Lascanos Morgengruß. Eine Karte lag dabei. Erstaunt las Magda:
»Liebste!
Eine dringende Nachricht ruft mich nach Paris. Verzeih' diesen plötzlichen Aufbruch ohne Abschied. Ich wollte Deinen Schlaf nicht stören. Ich schreibe Dir von unterwegs.«
Versonnen blickte sie auf die Zeilen. Wie seltsam war diese plötzliche Abreise! Sie erinnerte sich, daß Lascano sich für ihre Reise von allen geschäftlichen Dingen freigemacht hatte. Nur ihr sollten diese Tage gewidmet bleiben. Was konnte nur die Veranlassung zu diesem überhasteten Aufbruch sein?
Magda ließ sich mit der Rezeption verbinden. »Wissen Sie, ob mein Mann gestern noch ein Telegramm erhalten hat?«
»Es ist nichts für den Herrn eingegangen, Signora.«
»Hat mein Mann vielleicht ein auswärtiges Telephongespräch geführt?«
»Nein, Signora, es ist keine Anmeldung eingetragen.«
Magda ließ gedankenvoll das Hörrohr sinken. Mechanisch nahm sie ihr Frühstück ein. Sie hatte sich auf den heutigen Morgen so sehr gefreut. Lascano hatte eine Gondel gemietet: er wollte allein mit ihr zum Lido hinausfahren. Dort wollten sie einige Tage verbringen.
Von Unruhe getrieben ging Magda im Zimmer auf und ab. Es mußte etwas Schwerwiegendes sein, was Lascano bewog, sie allein zurückzulassen. War er nicht immer von zärtlicher Rücksichtnahme? Plötzlich, durchzuckte es sie. Vorgestern, bei der Ankunft, als er die Post in Empfang nahm, da – – – ja, jetzt erinnerte sie sich deutlich: er hatte einen Brief gelesen, hatte ihn in die Tasche gleiten lassen, um ihn gleich darauf wieder hervorzuziehen. Ja, in seinen Mienen spiegelte sich tiefe Erregung wider. Sorgenschatten lagen auf seiner Stirn. Sie erinnerte sich, wie einsilbig er plötzlich ihre Fragen beantwortet hatte. Dann war er aufgestanden, hatte sie auf die Wange geküßt und mit schweren Schritten das Zimmer verlassen. Wie deutlich das alles jetzt wieder vor ihr stand! – – –
Magda ging hinüber in Lascanos Zimmer. Vielleicht fand sie etwas, was ihr Aufklärung gab. Im Schrank hing noch der größte Teil seiner Garderobe. Gott sein Dank – sie fühlte eine Erleichterung, eine Beruhigung. Gewiß würden ihr die nächsten Stunden ein Telegramm mit einer Erklärung bringen. Irgendeine dringende Geschäftssache mußte es sein. Sicherlich, es war töricht, sich trüben Gedanken hinzugeben.
Magda beschloß, sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt anzusehen. Das war das beste Mittel, sich zu zerstreuen. Wenn sie ins Hotel zurückkam, fand sie sicher Nachricht vor.
Am Markusplatz stand sie, inmitten des bunten Gewimmels. Minutenlang bannte sie wieder die wunderbare Schönheit des Ortes.
Sie fütterte die Tauben, gab sich ganz dem Reiz dieses Spieles hin. Bis die ungenierten bewundernden Blicke der jungen Flaneure sie betroffen machten. Sie flüchtete in die Stille der Basilika. Tiefe Schauer umfingen sie im Dämmerlicht des Innern. Vor dem Altare Maggiore wurde eine Messe gehalten. Im Glanz der Kerzen schimmerten die Marmorsäulen und das Gold und Silber der Messegeräte. Weihrauchwolken umhüllten den Priester. Dumpf mischte sich der Gesang der Responsorien in das helle Klingen der Glöckchen. Magda kauerte sich in die Nische einer Bank nieder. Aber es litt sie nicht. Plötzlich war es ihr, als ob diese Wölbungen, diese Pfeiler sich auf sie niedersenkten. Kälte kroch an ihr herauf. Wie Grabgesänge tönten die Melodien ihr ins Ohr. Eine furchtbare Angst schnürte ihr die Kehle zu. Hastig verließ sie die Kirche, stand aufatmend auf dem besonnten Platz.
Es war noch zu früh, um ins Hotel zurückzukehren. Sie schloß sich einer Führung durch den Dogenpalast an. Inmitten der Pracht und verschwenderischen Fülle der Kunstschätze, angesichts der Erhabenheit der alten Meisterwerke vergaß sie ihre Sorgen. Ihre Seele war angefüllt von der tiefen Schönheit der Kunst, die selbst in den Stätten des Verfalls und der Vergänglichkeit ihre Ewigkeitswerte bewahrte.
Wie um das Gegensätzliche der venezianischen Kultur zu betonen, führte man die Reisenden jetzt in die Kellerräume. Zu den Folterkammern und Hinrichtungsplätzen, an denen die Urteile einer grausamen Inquisition ihre Vollstreckung fanden.
Voll Schauder standen die Reisenden vor der Tür, durch die man die toten Körper der Gerichteten in das dunkle Wasser der Lagune gleiten ließ. Da war auch der Zugang zu dem berüchtigten Ponte dei Sospiri – der Seufzerbrücke. Die Führer erzählten die grausamsten Fälle der Dogenjustiz – des fürchterlichen Rats der Zehn. – – –
Müde und ermattet saß Magda auf der Terrasse des Hotels Grünwald. Der Chianti stärkte sie ein wenig. Es war inzwischen fünf Uhr geworden. Jetzt mußte sicherlich eine Nachricht eingetroffen sein. Eine verzehrende Unruhe erfaßte sie, trieb sie ins Hotel zurück.
Man gab ihr eine Depesche. Mit einem erlösten Seufzer riß sie das Blatt auf.
»warum keine antwort, seien sie beruhigt, nach den mir erwiesenen wohltaten werde ich sie und ihre frau nicht ins unglück bringen, niemand wird den namen des brandstifters erfahren, reise montag amerika, muß sie vorher dringend sprechen. ernst neubach.«
Verständnislos starrte Magda auf die Schrift. Was war das? Hatte man sich geirrt, ihr ein nicht für sie bestimmtes Telegramm ausgehändigt? Sie sah nach der Adresse. Lascano – Danieli – Venezia stand darauf. Der Absendungsort lautete Paris.
Paris? Lascano hatte ihr hinterlassen, daß ihn eine dringende Nachricht nach Paris riefe. Stand das mit dem Inhalt dieser Depesche in Zusammenhang?
Sie überlas wieder das Telegramm – gedankenlos, flüchtig. Magda fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Alle Buchstaben tanzten plötzlich vor ihren Augen. Sie fühlte, wie ihr Herzschlag aussetzte. Sie suchte nach einem Halt. Einer Ohnmacht nahe, ließ sie sich nach oben fahren. Im Zimmer riß sie den Hut vom Kopf. Zwang sich zur Ruhe – las wieder das Telegramm. Mein Gott – da stand es klar und deutlich:
»niemand wird den namen des brandstifters erfahren.« Des Brandstifters? Das konnte nur mit der Katastrophe des Atlantic-Theaters zusammenhängen.
Magda atmete schwer. Gab es denn noch einen Zweifel? »Erwiesene Wohltaten – nicht Sie und Ihre Frau ins Unglück stürzen.«
Das alles ergab nur einen einzigen furchtbaren Sinn – nur eine Deutung war hier möglich. Ein langsames Begreifen stieg in ihr Gehirn. Ihre Arme sanken hilflos herab – sie starrte ins Leere. Mit zitternden Händen tastete sie nach der Depesche: die grausamen Worte sagten ihr immer wieder das gleiche.
Sie erhob sich mühsam. Wie mit Bleigewichten hing es an ihrer Seele: sie war allein – allein in der fremden Stadt. Die Schatten der Vergangenheit stiegen wieder auf – das Tote, Düstere dieser Mauern bedrückte sie. Gaben nicht diese Wände die Seufzer der Ermordeten von sich, erzählten nicht die Wellen des Kanals von Tod und Sterben, lag es nicht wie Modergeruch in der Luft? Sie schrie wild auf – das Lagunenfieber durchraste ihre Pulse.
Es klopfte. Ein Boy trat ein. »Ein Telegramm, Signora.«
Magda entriß dem Jungen das Blatt. Sie mußte einen Augenblick die Hand vor die Augen halten, ehe sie die Buchstaben zu unterscheiden vermochte.
»erwarte mich berlin bin hier noch einige Tage beschäftigt
küsse eugen.«
Schluchzen stieg ihr in die Kehle – mit einem wehen Laut ließ sie sich in den Sessel fallen. Plötzlich sprang sie auf – lief zum Telephon.
»Wann geht der nächste Zug nach München?«
Sofort schnarrte es mit der Geläufigkeit eines Uhrwerks zurück: »Der diretto über Mestre–Padua–Vicenza–Verona–Triest–Bozen–Innsbruck geht um 9.22, Signora.«
»Lassen Sie mir einen Platz im Schlafwagen reservieren.«
In fliegender Hast packte Magda die Koffer. Als sie an der Rezeption die Rechnung bezahlen wollte, trat ihr der Geschäftsführer mit höflicher Verbeugung entgegen. »Es ist alles geregelt, Signora.«
»Ich verstehe nicht –, was wollen Sie damit sagen?«
»Herr Lascano hat uns bei seiner Abreise eine Summe zur Verrechnung hinterlassen, Signora, wir sollen die Abrechnung nach Berlin schicken.«
Magda verließ gedankenvoll die Halle. Eine Stunde später führte sie der Zug dem Norden zu.
Zermürbt von der Ungewißheit und den quälenden Gedanken war Magda in Berlin eingetroffen. Auch dort fand sie nichts vor, was zur Beruhigung, zur Aufklärung hätte dienen können.
In der Stille der großen Räume nahm das drückende Gefühl der Unruhe zu. Es waren qualvolle Stunden, die Magda im Hause verbrachte. Oft war sie nahe daran, ihren Stolz zu bezwingen und ins Elternhaus zurückzukehren. Sie sehnte sich nach einem Menschen, einer weichen, zärtlichen Hand, nach gütigem Zuspruch. Aber Scham, Stolz und eine unbestimmte Angst hielten sie davon zurück. Sie wußte, daß sie bei der Mutter wenig Verständnis finden würde. Ja, sie fürchtete, daß die Mutter sie noch mit Vorwürfen überhäufen würde. Innerlich hatte sie ihr nie nahegestanden. Nun war auch zwischen dem Vater und ihr eine Entfremdung eingetreten; damit war das letzte Band, das sie einst an das Elternhaus fesselte, zerrissen. Sie war allein! Mit bleierner Schwere legte sich dies drückende Bewußtsein auf ihre Seele. Der kurze Glückstraum war verflogen – und die Welt war voll Schatten.
Das Mädchen brachte eine Karte.
»Doktor Edmund Frey« las Magda. Doktor Frey – war das nicht der Name jenes Untersuchungsrichters, der den Fall Lascano …? Was führte ihn hierher? Stand sein Kommen mit der Depesche in Zusammenhang? Magda fühlte ihr Herz bis zum Halse klopfen.
Doktor Frey trat ein.
»Verzeihen Sie die Störung zu so ungewöhnlicher Stunde, gnädige Frau.«
Magda wies auf einen Stuhl. »Sie wollen vermutlich meinen Mann sprechen.«
Der Richter schüttelte den Kopf.
»Er ist verreist.«
»Ich weiß es. Nach Paris.«
Ein forschender Blick des Richters traf sie.
»Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir seine nähere Adresse sagen würden.«
»Zu welchem Zwecke, wenn ich fragen darf, Herr Doktor?«
»Es handelt sich um eine behördliche Angelegenheit.«
Der kühle Ton des Besuchers gab Magda die Selbstbeherrschung zurück. »Ich kenne die Pariser Adresse meines Mannes nicht.«
Doktor Frey zog langsam die Handschuhe von den Fingern. »Gnädige Frau, ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß mein Besuch amtlich ist.«
»Sie wollen damit sagen: daß Sie von mir eine wahrheitsgetreue Antwort auf Ihre Fragen erwarten?«
Doktor Frey verbeugte sich.
Magda stand auf. »Nun denn, Herr Doktor, ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich weiß, daß mein Mann in Paris ist. Das ist alles, was ich weiß.«
Auch der Untersuchungsrichter war aufgestanden. Er knipste mit behaglicher Langsamkeit das Schloß der Aktentasche auf, blätterte in den Papieren und zog ein Depeschenformular hervor. »Ich bedaure, gnädige Frau, Sie noch einen Moment belästigen zu müssen. Aber es handelt sich wirklich um eine schwerwiegende Angelegenheit. Bitte achten Sie auf jedes Wort, das ich jetzt spreche. Hier ist ein Telegramm. Sein Inhalt ist so eindeutig kompromittierend, daß er über das Schicksal Ihres Mannes – ich darf wohl sagen: mit einem Schlage entscheidet. Die Dinge spitzen sich zu auf eine letzte Frage. Und diese Frage, gnädige Frau, werden Sie mir beantworten.«
Magda nickte. Sie warf einen Blick auf das Papier. Es war die Depesche von Ernst Neubach aus Paris. Eine Schwäche überlief sie – ihre Knie zitterten. Sie sank in den Sessel. Obwohl sie zu Boden starrte, fühlte sie den forschenden Blick des Richters auf sich ruhen.
»Ich darf Ihnen den Inhalt des Telegramms vorlesen, gnädige Frau.
›warum keine Antwort, seien sie beruhigt, nach den mir erwiesenen wohltaten werde ich sie und ihre frau nicht ins Unglück bringen, niemand wird den namen des brandstifters erfahren, reise montag amerika, muß sie vorher dringend sprechen. ernst neubach.‹«
Der Richter faltete das Telegramm zusammen und sah Magda ins Gesicht. »Die Depesche ist am einundzwanzigsten August nachmittags um drei Uhr auf dem Haupttelegraphenamt Venedig eingelaufen. Die Beamten haben Weisung, Botschaften verfänglichen Inhalts, die durch ihre Hände gehen, der Präfektur vorzulegen. Auf diese Weise sind wir in den Besitz dieser Depesche gelangt.«
»Sie wünschen von mir eine Auskunft, Herr Richter«, sagte Magda stockend.
»Ich bin eben im Begriff, Sie darum zu bitten. Können Sie mir sagen, wann Ihr Gatte von Venedig abgereist ist?«
»Ja«, sagte Magda. »Mit dem Frühzuge am einundzwanzigsten August. Ich glaube, er geht um sieben Uhr.«
»Wissen Sie das genau?«
»Danach hätte Ihr Gatte dieses Telegramm überhaupt nicht in die Hände bekommen?«
»Nein.«
»Wer hat es also geöffnet?«
»Ich!« sagte Magda.
»Hm. Ich bin selbstverständlich weit davon entfernt, an der Wahrheit Ihrer Worte zu zweifeln, gnädige Frau. Immerhin: wäre es Ihnen vielleicht möglich, mir zu beweisen, daß Sie in der Tat …?«
Magda ging an den Schreibtisch, schloß ihn auf und entnahm ihm ein zerknittertes Papier. »Hier ist das Telegramm.«
Das Gesicht des Richters wurde um eine Schattierung verbindlicher. »Ich sehe, gnädige Frau, demnach ist es also ausgeschlossen, daß dieses Telegramm die Ursache der überstürzten Abreise Ihres Gatten gewesen ist. Das ist natürlich ein Punkt, der zugunsten Ihres Gatten spricht. Immerhin werden Sie mir noch eine kleine Frage erlauben: welcher Art waren Ihre Empfindungen, als Sie dieses Telegramm, das für Ihren Gatten bestimmt war und das Sie an seiner Stelle öffneten, lasen?«
Magda schloß die Augen. Mit matter Stimme sagte sie: »Ich kann diese Frage nicht beantworten.«
»Es ist Ihr gutes Recht, gnädige Frau,« antwortete der Richter mit eisiger Höflichkeit, »Aussagen zu verweigern, von denen Sie eine Gefahr für Ihren Gatten erwarten könnten« – er machte eine Notiz –, »nun habe ich noch eine Frage: Hat Ihr Gatte schon früher ähnliche Telegramme erhalten? Ich meine: Nachrichten, die ihn beunruhigten?«
Magda erinnerte sich jenes Briefes, den Lascano bei seiner Ankunft in Venedig angefangen hatte. Aber sie schwieg. Doktor Frey wartete schweigend mit einem zuversichtlichen Lächeln.
»Wir haben uns inzwischen mit Paris in Verbindung gesetzt und die Verhaftung jenes Ernst Neubach erwirkt, des Absenders jener Depesche. Er ist in unseren Händen; wir haben ihn nach Berlin schaffen lassen.«
Wieder ließ Doktor Frey eine Pause eintreten. Er beobachtete die Wirkung seiner Worte. Aber Magda hatte sich in der Gewalt. Sie wußte nicht, wohin er zielte, aber sie fühlte, daß die nächsten Minuten irgendeine schreckliche Enthüllung bringen mußten.
»Dieser Neubach ist mehrfach vernommen worden. Wir haben noch nicht viel aus ihm herausgebracht. Er hat anfangs jede Verbindung mit Ihrem Gatten abgestritten. Aber angesichts der Depesche, deren Original wir auf einem Pariser Postamt beschlagnahmen ließen, mußte er sein Leugnen schließlich aufgeben. Denn dieses Original trägt seine Handschrift.«
»Und was hat er ausgesagt?« fragte Magda beklommen.
»Er weigerte sich, über die Art der Beziehungen zu Ihrem Gatten irgend etwas anzugeben. Erst als ich ihm eröffnete, daß er als dringend verdächtig in Untersuchungshaft bleiben würde, gab er nach …«
»Was meinen Sie damit?«
»Ja,« sagte der Richter, indem er aufmerksam seine Fingernägel betrachtete, »Herr Neubach hat einen seltsamen Wunsch geäußert, gnädige Frau. Wissen Sie, was er verlangt hat? Er wünscht mit Ihnen zu sprechen!«
»Mit mir?« Magda fühlte, wie ihre Selbstbeherrschung sie zu verlassen drohte. »Mit mir?«
Doktor Frey zuckte die Achseln. »Er hat in fürchterlicher Aufregung immer wieder diesen Wunsch geäußert. Er sagt, er hätte Ihnen eine wichtige – oder ich glaube, er sagte – eine schreckliche Mitteilung zu machen.«
Magda schloß die Augen. Ein Schwindel packte sie: wie im Kreise drehte sich das Zimmer um sie. Die Stimme des Richters schlug wie aus unendlicher Ferne an ihr Ohr.
»In Anbetracht der Dringlichkeit des Falles habe ich den Mann hierherführen lassen. Wollen Sie ihn sprechen, gnädige Frau?«
Magda nickte stumm.
Doktor Frey verließ das Zimmer.
Magda erhob sich wankend, ihre Hand strich zitternd über die Tischdecke. Draußen klang ein fremder Schritt auf. Mit furchtsamen Augen starrte sie auf die Tür.
Ein kleiner, schmächtiger Mann, von zwei Beamten eskortiert, trat ein. Er blieb verschüchtert auf der Schwelle stehen. In einem mageren, blassen Gesicht standen hektische Flecken. In seiner Haltung, seinem Wesen lag ein Ausdruck, wie er dienenden Menschen eigen ist. Er war einfach, aber sauber gekleidet. Seine Augen, die in tiefen Höhlen lagen, verrieten das Fieber, das den kranken Körper verzehrte.
Magda empfand Mitleid mit dieser menschlichen Ruine. Mit mechanischer Handbewegung wies sie auf einen Stuhl. Neubach schüttelte den Kopf. Er warf einen scheuen Blick auf die Beamten, die eben das Zimmer verließen. Drückende Stille lag über den beiden; der Atem Magdas ging schwer durch das lastende Schweigen.
»Was haben Sie mir zu sagen?« fragte Magda. Die unerträgliche Spannung zerrte an ihren Nerven.
»Ich bin der Kellner Ernst Neubach, gnädige Frau. Ich muß … ich will Ihnen …«
Der Ton einer Autohupe zerriß die Stille. Magda fuhr zusammen. War das nicht das Auto ihres Gatten? Sie ging, fast ohne es zu wissen, ungläubig in irrem und fassungslosem Staunen, auf die Tür zu. Draußen wurden Stimmen laut, ein bekannter Schritt klang auf, die Tür wurde aufgerissen: auf der Schwelle stand Eugen Lascano. Er ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
Sie wich zurück – wie in entsetzter Abwehr hob sie die Hände:
»Du – du wagst es …!?«
Er hielt betroffen inne. Sein Blick streifte die dürftige Gestalt des Kellners – ein bestürzter Ausdruck ging über sein Gesicht.
»Also doch –« flüsterte er. Er trat einen Schritt auf Magda zu und streckte ihr seine Hände entgegen. Aber sie entzog sich ihm mit angstvollem Abscheu und brach in ein trostloses Schluchzen aus. Dann – mit einem plötzlichen Entschluß – trocknete sie ihre Tränen. Sie ging an ihm vorüber und legte die Hand auf den Türgriff.
Lascano trat ihr entgegen.
»Magda, willst du mir nicht sagen …?«
Statt aller Antwort hielt sie ihm das Telegramm vor die Augen. Stumm, wie in einer furchtbaren Anklage.
Er schüttelte den Kopf, wollte sprechen – aber seine Lippen preßten sich aufeinander. Er nahm ihre Hände.
Magda riß sich los. »So sag doch ein Wort – um Gottes willen! Du siehst doch, wie ich leide!«
Lascano sah ihr ins Gesicht – mit flammenden Augen. »Magda – du kannst – du hältst mich wirklich für den Schuldigen?«
Sie machte eine hilflose Gebärde. »Die Depesche …« flüsterte sie.
Er nickte. Wie aus schmerzvoller Tiefe klang seine Stimme. »Du hast recht – ich bin dir eine Aufklärung schuldig.«
Wieder schwieg Lascano, wieder suchte er nach Worten. Magda fühlte, wie sein mitleidiger Blick auf ihr ruhte.
»Ich wollte dir die Wahrheit ersparen. Aber ich bin zu spät gekommen, um das Traurigste zu verhindern.«
Er ging auf den Kellner zu. »Sagen Sie alles, was Sie wissen.«
Magda hörte, wie er die Tür hinter sich schloß. Sie starrte ihm wie geistesabwesend nach. Eine ferne Stimme flüsterte ihr ein drohendes Geheimnis zu. Das Weinen stieg ihr würgend in die Kehle. Sie war so müde, so zermürbt, noch immer schlug das Schicksal nach ihr mit erbarmungslosen Streichen. Sie fühlte nicht die Kraft mehr, sich dagegen aufzubäumen.
Ein einziger Wunsch beherrschte sie: das tiefe Sehnen nach Ruhe, nach Vergessenheit. – – –
Ein verlegenes Räuspern riß sie aus ihrem Grübeln. Mein Gott! Dieser fremde Mann! Was würde er ihr zu sagen haben! Weshalb war Lascano aus dem Zimmer gegangen? Um ihr die Wahrheit zu ersparen! Welche Wahrheit? Gab es noch etwas Schrecklicheres als die quälenden Vermutungen, die ihre Seele bedrückten?
Verwirrt fragte sie:
»Wer sind Sie? Was haben Sie mir zu sagen?«
Der Gefragte hüstelte. »Ich bin der Kellner Ernst Neubach.«
Magda zuckte die Achseln. Verständnislos streifte ihr Blick seine armselige Gestalt.
Neubach schien nach Worten zu suchen. Seine dünnen Finger krampften sich um die Lehne des Stuhls. »Ich habe Ihnen etwas zu erzählen – von – von dem Brandabend. Von der Katastrophe …«
Unter dem fragenden Blick Magdas stockte er verlegen.
»Nun?« Ihre Stimme zitterte.
»Ich war Kellner in der kleinen Weinstube von Sandberg. Sie wissen, gnädige Frau – schräg gegenüber dem Atlantic-Theater?«
Er blickte unsicher zu ihr hinüber. Magda nickte ungeduldig.
»Am Abend der Brandkatastrophe – so ungefähr um halb elf – kam ein Gast in die Weinstube – in mein Revier. Unser Lokal war fast leer, denn alle Gäste waren auf die Straße gelaufen. Er war in furchtbarer Aufregung, die Haare hingen ihm wirr um die Stirn, seine Augen flackerten. Er bestellte Whisky. Ohne Soda. Ich wunderte mich über die seltene Bestellung und sah mir den Mann, als ich ihm das Verlangte brachte, näher an. Er hatte den Mantel – einen schweren Pelz – ausgezogen. Mit der Rechten fuhr er sich nervös durchs Haar. Er goß den Whisky auf einen Zug hinunter. Plötzlich merkte ich: der Gast hatte keinen Hut. Ich nahm an, es sei einer der geflüchteten Theaterbesucher. Der Mann schien irgendwie verdächtig; ich hielt mich in seiner Nähe auf. Offen gestanden, ich fürchtete für die Zeche. Plötzlich sprang er auf und lief in die Telephonzelle. Ich ging ihm nach, spähte durch die Scheiben. Er schien ungeduldig auf die Verbindung zu warten. Seine fürchterliche Aufregung wuchs. Ich preßte mich an die Wand, um etwas zu hören. Er verlangte das Polizeipräsidium. Und dann – ganz deutlich hörte ich es – schrie er in den Apparat: ›Ich will eine Anzeige machen – über den Brand im Theater‹!«
Der Kellner hielt inne, sein trockener Husten ließ Magda zusammenfahren. Die Gleichgültigkeit, mit der sie die ersten Worte Neubachs angehört hatte, war längst einer nervösen Spannung gewichen.
»Weiter!« drängte sie ungeduldig.
»Plötzlich hörte ich den Mann in der Zelle schreien: ›Ich – ja, ich bin der Brandstifter! Verhaften Sie mich! In der Weinstube von Sandberg! Vis-à-vis dem Theater!‹ Ehe ich noch recht begriffen hatte, um was es sich handelte, riß er die Tür auf. Dabei wurde ich zwischen Wand und Tür geklemmt. Der Mann jagte wie ein Irrsinniger durchs Lokal. Seinen Pelz hat er zurückgelassen. Ich nahm ihn an mich – als Sicherheit – für die Zeche …«
Der Kellner schwieg erschöpft. Dunkles Rot lag auf seinen spitzen Backenknochen.
Magda zerknüllte ihr Taschentuch.
»Nun – und – ich verstehe nicht. Was hat diese Erzählung mit mir zu tun?«
Neubach warf ihr einen hilflosen Blick zu.
»Der Mantel, gnädige Frau … der Mantel! Ich habe ihn noch. Es steht ein Name drin …«
Magda erhob sich – sie fühlte, daß ihre Knie zitterten. »Welcher Name?« fragte sie tonlos.
»Ludwig Mylius!«
Sie preßte die Hände an die Schläfen. »Allmächtiger Gott!«
Der Kellner war hinausgegangen. Er kam mit einem der Beamten zurück, der einen Pelz über den Arm trug. Neubach breitete den Mantel vor Magda aus. An der inneren Tasche befand sich die Plakette des Schneiders. Dort stand deutlich: Ludwig Mylius.
Magdas Augen weiteten sich. Ihre Hände krampften sich ineinander, mit stummem Entsetzen starrte sie ins Leere.
»Mein Vater – um Gottes willen – warum – warum – – –«
Plötzlich war ihr, als ob ein Nebel von ihren Augen zerriß. Mit unerbittlicher Klarheit stand es vor ihr: sie tastete sich durch das qualmerfüllte Zimmer Lascanos. Da huschte eine Gestalt an ihr vorüber. Sie glaubte den Pelzmantel ihres Vaters zu erkennen. Ja, sie erinnerte sich, sie hatte aufgeschrien: »Vater!« Und dann? Wie die Bilder eines Films rollte sich jetzt alles vor ihren Augen ab. Draußen vor dem Theater! In dem Auto hatte ihr Vater gesessen – barhaupt – ohne Mantel!
Und sein Versuch, aus dem Leben zu gehen? Sein Zusammenbruch! War es wirklich nur die Furcht vor dem Skandal gewesen? Mußte hier nicht ein viel stärkeres Motiv die Triebfeder seines Entschlusses gewesen sein?«
Ja – nun wußte sie es: ihr Vater war ein Verbrecher! Eine grauenvolle Tat fiel ihm zur Last. Warum aber, warum? Wer gab ihr die Lösung dieses schrecklichen Rätsels? Kein Zweifel – Lascano hatte dieses Geheimnis gekannt. Er hatte sie schonen wollen. Mehr noch: er hatte auch ihren Vater retten wollen. Das ominöse Telegramm hatte seine guten Absichten vereitelt. Dieses Telegramm, das sich nicht auf Lascano bezog, sondern auf Ludwig Mylius.
Ihre Augen hefteten sich auf das Bild ihres Vaters, dort drüben an der Wand dies Zimmers. Alles war unbegreiflich. War es denkbar, daß ein Mann seines Alters, seines ethischen Niveaus so dem Einfluß einer Frau unterlag, daß er zum Verbrecher wurde? Waren alle guten Eigenschaften in ihm ertötet? War er ein Opfer hemmungsloser Triebe geworden, die aus dunklen Tiefen emporgestiegen waren, ihn zu vernichten?
Sie hob sich schwerfällig aus dem Stuhl und wandte sich fragend zu dem Beamten herum.
»Was soll nun …?«
»Herr Lascano und Herr Doktor Frey sind zu Herrn Mylius gefahren. Sie müssen jeden Augenblick zurück sein.«
Magda schauerte. Sie sollte ihrem Vater gegenübertreten? Sollte Zeugin seiner Entlarvung werden? Nein – das ging über ihre Kraft!
Sie hatte nur den einen Gedanken: fort – ganz gleich wohin. Fort aus diesen Zimmern. Aus dieser Stadt! Fliehen, sich irgendwo vergraben. Allein sein!
Magda wandte sich zur Tür. Auf der Schwelle standen Lascano, der Untersuchungsrichter und – ihr Vater. Mylius' kummervoller Blick streifte die verstörten Züge seiner Tochter. Er ging auf sie zu, zögerte, blieb stehen. Doktor Frey unterhielt sich leise mit dem Kellner. Er wies auf den Mantel.
»Herr Mylius, geben Sie zu, daß dies Ihr Pelz ist?«
»Ja. Das ist mein Pelzmantel.«
Doktor Frey deutete auf den in der Ecke stehenden Kellner. »Kennen Sie diesen Mann, Herr Mylius?«
Mylius sah sich befremdet um und schüttelte den Kopf.
»Wirklich nicht? Aber er kennt Sie, Herr Mylius. Können Sie sich nicht erinnern? Es ist der Kellner jener Weinstube, in der Sie am Abend der Brandkatastrophe Ihren Mantel zurückgelassen haben. Nicht wahr, so war es doch, Herr Neubach?«
Tiefe Blässe bedeckte das Gesicht des Kellners.
»Aber das ist ja gar nicht der Herr!«
Ein Aufschrei ging durch das Zimmer. Magda stand zitternd vor Mylius. »Vater, willst du uns nicht erklären?«
Mylius fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich erinnere mich; ich habe den Pelz in Lascanos Privatbureau zurückgelassen. Als der Brand ausbrach, befand ich mich in der Garderobe von – Denise – von Fräulein Lavallière.«
»Dann holten Sie Ihren Mantel aus dem Bureau?« fragte der Untersuchungsrichter.
Mylius schüttelte den Kopf. »Der Korridor stand in Flammen.«
»Du warst nicht mehr in Lascanos Zimmer?« Magda blickte angstvoll auf ihren Vater.
»Nein. Wir retteten uns über die Hintertreppe ins Freie. Ich habe dann Fräulein Lavallière in einem, Auto nach Hause gebracht und bin dann zum Brandplatz zurückgefahren. Dort lief ich verzweifelt und verwirrt herum, bis sich unser Chauffeur fand. Mich fror furchtbar – jetzt erst merkte ich, daß ich ohne Hut und Mantel war.«
Tiefe Stille lag über dem Zimmer. Doktor Frey sah nachdenklich vor sich nieder.
»Sie irren sich nicht – das war wirklich nicht Ihr Gast?« fragte er den Kellner, auf Mylius zeigend.
»Nein, nein! Das war bestimmt nicht der Herr. Jener war viel kleiner und jünger.«
»Weshalb haben Sie sich nicht früher gemeldet?« fragte Doktor Frey in strengem Ton.
Neubach knickte zusammen. »Ich erkrankte in derselben Nacht schwer. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ich stellungslos. Dann bot sich mir eine Gelegenheit in Paris.«
»Weshalb haben Sie vorher keine Meldung bei der Polizei gemacht?«
»Ich fürchtete, man würde mich zurückhalten. Dann hätte ich meine neue Stellung verloren.«
»Warum schrieben Sie an Herrn Lascano?«
»Ich hatte gelesen, daß Herr Lascano die Tochter von Herrn Mylius geheiratet hatte. Herr Lascano war Stammgast bei uns. Ich habe ihn jahrelang bedient.« Die Stimme des Kellners zitterte. »Er hat mir und meinen Kindern viel Gutes getan. Herr Lascano ist ein edler Mensch.«
Doktor Frey blickte fragend auf Lascano. Der lächelte. »Ich habe Neubach früher einmal ins Sanatorium für Lungenkranke geschickt …«
»Ja,« fiel der Kellner ihm in die Rede, »und während der ganzen Zeit hat Herr Lascano für meine Familie gesorgt.«
Magda war still zu ihrem Mann getreten – sie suchte seine Hand.
»Herr Neubach,« sagte der Richter, »ich muß Sie vorläufig in Schutzhaft behalten, bis die Behörde weitere Schritte eingeleitet hat. Diese Mantelgeschichte ist vorläufig höchst merkwürdig.«
Er wandte sich zu Lascano und Magda. »Ich bin untröstlich, daß ich soviel Unruhe in Ihr Haus tragen mußte. Vor allem muß ich Sie, gnädige Frau, um Entschuldigung bitten.«
Die Tür schloß sich hinter den ungebetenen Besuchern. Magda wollte sprechen; aber Lascano schüttelte den Kopf.
»Dein armer Vater,« sagte er leise, »versöhne dich mit ihm! Er braucht dich. Eine schwere Zeit liegt hinter ihm.«
Sanft drängte er sie zu Mylius.
»Mein Kind – ich will – ich schulde dir eine Rechtfertigung …«
Magda ging auf ihren Vater zu, legte die Arme um seinen Hals und verschloß ihm die Lippen mit einem Kuß.
»Du brauchst mir nichts zu sagen, Vater; es ist besser so, für uns alle.«
* * *
Die Krankenschwester führte Lascano und Magda in das Wartezimmer. »Ich werde Herrn Professor Dehnhardt sofort benachrichtigen«, sagte sie mit dem freundlichen Tonfall der Pflegerin.
Durch die schräggestellten Stäbe der Jalousie fielen glitzernde Sonnenstreifen ins Zimmer. Draußen brütete dumpf schwüle Hitze. Der Lärm der fernen Straßen verebbte im tiefen Grün des Gartens. Wohltuende Kühle erfüllte den Raum. Aus den Buchen klang Vogelgezwitscher herauf. Gedämpfte Stimmen mischten sich in das Knirschen der Schritte.
Magda trat ans Fenster. Unten wandelten Kranke auf und ab – bleiche, hinfällige Gestalten, manche mit dem hoffenden Blick des Genesenden, viele mit dem wehen Lächeln der Resignierten. Zwischen den Beeten arbeiteten Gärtner; Patienten sahen ihnen aufmerksam zu. Hier war das Leben ein neues kostbares Geschenk, alle Dinge gewannen an Wichtigkeit und Bedeutung. Die Menschen, die Tiere, die Blumen, alles schien wie eine neue und herrliche Offenbarung.
Magda wandte sich ab. »Liebster, mir ist so beklommen! Was mag der Arzt von uns wollen?«
Ehe Lascano die Antwort geben konnte, ging die Tür, der Professor trat ein.
»Verzeihen Sie, daß ich Sie zu so früher Stunde hergebeten habe. Aber es handelt sich um eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit.«
Der Arzt deutete auf die Sessel. »Bitte, behalten Sie Platz. Ich muß Ihre Geduld längere Zeit in Anspruch nehmen. Vorgestern ist bei uns ein Patient eingeliefert worden, der nach Ihnen, Herr Lascano, verlangte. Der Mann fiel den Passanten auf, als er scheu und ziellos durch die Straßen lief. Plötzlich blieb er vor einem Feuermelder stehen. Er schlug die Scheibe ein und alarmierte die Wehr. Ein Schutzmann, der den Mann beobachtete, fragte ihn, wo das Feuer sei. Der Fremde stierte ihn entgeistert an und schüttelte den Kopf. Während sich der Beamte noch mit dem Mann abmühte, war die Feuerwehr eingetroffen. Die Feuerwehrleute fragten nach der Brandstätte. Da wurde der Mann von einer furchtbaren Erregung gepackt und schrie gellend: ›Mein Gott, seht ihr denn nicht, daß alles brennt?!‹ Man sah sich um – keine Spur eines Feuers war zu entdecken. Der Schutzmann, der glauben mochte, es mit einem Betrunkenen zu tun zu haben, packte ihn am Arm. Da riß sich der Mann los, lief über die Rasenfläche zum Kanalufer und hätte sich hinuntergestürzt, wäre er nicht im letzten Augenblick zurückgerissen worden. Auf der Wache verfiel er in einen Tobsuchtsanfall. In der Nacht lieferte man ihn hier ein.«
Der Arzt richtete sich in seinem Stuhle auf. »Heute früh brach ein neuer furchtbarer Anfall bei ihm aus. In seinen Phantasien erzählte er von einem schrecklichen Feuer und rief ständig einen fremdartig klingenden Namen. Im Paroxismus des Fiebers beschuldigte er sich selbst eines schweren Verbrechens.«
Wieder ließ der Arzt eine Pause eintreten. »Nach seinen Papieren ist der Kranke ein gewisser Doktor Artur Lanz – ein Chemiker …«
Lascano hatte sich erhoben. »Dieser Mann war bei mir im Atlantic-Theater angestellt. Er ist …«
Der Arzt nickte. »... der Erfinder einer Imprägnierungsmasse, die er Ihnen verkauft hat.«
Lascano blickte fragend auf den Erzählenden. »Doktor Lanz liegt im Sterben. Der Mann ist ein medizinisches Rätsel. Sein Organismus ist durch Morphium und andere Rauschgifte vollständig zerstört. Nahrung scheint er seit Wochen nicht zu sich genommen zu haben. – Verfolgungswahn schwersten Grades. Vor einer Stunde hat er nach Ihnen verlangt. Ich habe, da ich die Zusammenhänge des Falles zu erkennen glaube, auch die Justizbehörde benachrichtigt.«
Professor Dehnhardt erhob sich. »Der Kranke ist durch eine Injektion zur Zeit bei ungetrübtem Bewußtsein. Ich möchte Sie bitten, Herr Lascano, keine Fragen zu stellen und möglichste Ruhe zu bewahren – auch in Ihrem Interesse. Gehen wir.«
Der Arzt streifte Magda mit besorgtem Blick. »Ich weiß nicht, gnädige Frau …«
»Bitte, Herr Professor, lassen Sie mich bei meinem Manne bleiben.« Magda hängte sich in Lascanos Arm.
Sie gingen über die Korridore, die Läufer dämpften die Schritte. Schwer legte sich der Geruch fremder und feindseliger Arzneien um die Sinne. Jene bedrückende Atmosphäre der Krankensäle, die zwischen Hoffnung und Furcht schwanken läßt, schlug ihnen entgegen. Der Arzt öffnete eine Tür. Zwielicht stand in dem Raum, der in der Mitte durch eine spanische Wand abgeteilt war.
Zwei Herren erhoben sich. Es waren Doktor Frey und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft. Auf einen Wink des Professors trat Lascano allein hinter den Schirm.
Doktor Lanz lag mit geschlossenen Augen in den Kissen. Lascano sah in ein blasses, abgezehrtes Gesicht, das von einem schütteren Bart umrahmt war. Tiefe Schatten lagen um die Augen. – Im Dämmerlicht des Zimmers wirkten sie gespenstisch. Eine Schwester saß am Fußende des Bettes.
Der Professor trat an das Bett und beugte sich über den Kranken. Lanz fuhr auf. Er blickte mit irren Augen um sich. Langsam trat Lascano näher. Der Kranke schien ihn zu erkennen; seine Züge entspannten sich. Er winkte Lascano mit fahrigen Bewegungen zu sich heran.
»Ich habe ein Geständnis zu machen …« Die Stimme des Sterbenden klang heiser. Die Schwester richtete ihn in den Kissen auf.
»Ich bin eine Ruine geworden in diesen Wochen. Ich muß mein Gewissen befreien von dieser entsetzlichen Last. Es drückt mir das Herz ab. Ich kann nicht schlafen …. Ich bin der Täter – der Brandstifter. Ich will erzählen, warum ich es tat.«
Er fuhr mit fiebrigen Fingern über die Bettdecke. »Digha-Digha hat mich verraten. Sie hat mich wie einen Hund behandelt, hat mir einen Fußtritt gegeben. Ich verlor den Verstand. Als ich an jenem Morgen mein Präparat mischte, tauchte zuerst dieser entsetzliche Gedanke in mir auf, mich zu rächen … Die Idee ließ mich nicht mehr los.«
Der Kranke lehnte sich erschöpft in die Kissen zurück. Seine Augen starrten schreckerfüllt ins Leere. Mühsam richtete er sich von neuem wieder auf.
»Ich habe die Kanister vertauscht. Im Zimmer des Theatermeisters.«
Lascano machte eine Handbewegung und besprach sich mit dem Arzt.
Der faßte die Hand des Patienten.
»Können Sie sich auf die Einzelheiten besinnen? Sind Sie imstande, zusammenhängend zu erzählen?«
Lanz schwieg einen Augenblick – dann nickte er. »Als der Theatermeister die Stichprobe machte, habe ich die Kanister hinter seinem Rücken vertauscht. Den Behälter mit der Imprägnierungsmasse warf ich in den Hofraum hinunter. Der Kanister mit dem feuergefährlichen Präparat kam auf die Bühne.«
Plötzlich fuhr der Kranke wild aus den Kissen empor. Er packte Lascanos Arm. »Ich war rasend – irrsinnig – keines klaren Gedankens fähig. Ganz ruhig habe ich im Theater gesessen. Ich glaube, ich habe noch herzlich über den Komiker gelacht. Dann wartete ich mit gespannter Neugier auf das Kommende. Selbst als die Mädchen zu schreien begannen, blieb ich gleichgültig. Dann weiß ich nicht mehr, was geschah. Ich bin – glaube ich – durch das brennende Haus geirrt, suchte zu retten, zu helfen. Inmitten versengender Glut packte mich ein Schüttelfrost. Ich warf einen Mantel über, den ich in der Verwirrung, ohne es zu wissen, an mich genommen hatte: wo, weiß ich nicht mehr. Dann – ja, was geschah dann …?«
Die Stimme des Erzählenden wurde schwächer und unruhiger. Man sah, daß nur eine ungeheure Willenskraft diesen zerstörten Körper aufrecht erhielt. Die Schwester mußte ihn stützen. Fieberschauer durchrüttelten ihn.
»Dann bin ich durch die Straßen geirrt – habe irgendwo die Polizei angerufen – mich denunziert. Aber plötzlich packte mich wahnsinnige Angst. Ich lief davon. Wohin? Ich weiß es nicht. Wo war ich überhaupt die ganze Zeit? Was? Sagt mir – leb' ich noch, bin ich auf der Erde?«
Der Fiebernde riß sich aus den Armen der Schwester. »Hilfe! Ich brenne! Ich brenne bei lebendigem Leibe! Helft ihr! Rettet sie! Ich …«
Der Arzt drückte den Rasenden in die Kissen nieder. Lascano war aufgesprungen – er wollte Magda beruhigen, deren angstvolles Rufen er hörte.
Wildes Schreien gellte durch das Zimmer. Allmählich ging es in ein trostloses Wimmern über – dann trat Stille ein.
Der Arzt erschien. »Er wird die Nacht nicht überleben«, sagte er leise. »Ich werde Ihnen morgen meinen Bericht geben, Herr Staatsanwalt.«
»Ich glaube, meine Herrschaften,« – der Professor schüttelte Lascano und Magda die Hand – »ich darf Ihnen sagen: der Fall Lascano ist nun restlos aufgeklärt. Lanz hat die Tat zweifellos in einer akuten Geistesstörung verübt. Auch die Richter hätten ihn als ein Opfer seines Wahns beurteilt. An dem letalen Ausgang seines Verfalls war nichts zu ändern.«
Der Arzt begleitete die beiden zum Ausgang.
* * *
Sie traten auf die besonnte Straße hinaus. Das Leben des Werktags brandete an ihnen vorüber. Nach der Stille des Krankenzimmers schienen ihnen die tausendfältigen Geräusche der lebendigen Welt eine zärtliche und berauschende Musik. Noch lag es wie mit Bleigewichten auf ihrer Seele – aber dort stand strahlend und verheißungsvoll die lachende Sonne.
Magda hängte sich mit scheuer Innigkeit in den Arm ihres Mannes. Dort drüben lag das helle Grün des Tiergartens. Das Jauchzen der Kinder scholl aus der Ferne herüber, verwehte Klänge standen in der sommerheißen Luft.
Ein einziges Lächeln schien die Welt einzuhüllen, schien alle Dinge zu durchdringen mit einem ruhigen und tiefen Glück. Dort drüben, jenseits der Schleuse, tauchte ein Fernzug aus dem Schatten des Tiergartens, funkelnd von sprühenden Sonnenreflexen.
Die beiden hemmten den Schritt; golden tropfte das Sonnenlicht von den Zweigen. Magda schmiegte sich an ihn, und während sie dies alles, das gütige Lächeln der Erde, den Rausch des prangenden Sommers, das tiefe Glück des Alleinseins wie eine einzige, alles durchdringende Melodie empfand, schloß sie die Augen und küßte ihn.
* * *