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Das war im Winter des vorigen Jahres.
Kurz nach Weihnachten, an einem wundervollen Dezembertage, an dem der frische Rauhreif die Bäume und Sträucher des kleinen Gartens vor meinem Hause mit tausend glitzernden Kristallen behing und die Luft kalt und klar über all der weißen Ruhe lag, passierte mir die unangenehme Geschichte. Hatte der Gärtner nicht ordentlich Asche gestreut – oder war ein ungeschickter Tritt von mir daran die Schuld – kurz, als ich eben aus dem Hause wollte, um nach dem Bahnhof zu gehen und mit der Vorortbahn nach der Stadt zu fahren, glitt ich auf der breiten Stufe, die von der Haustüre zum Gartenweg hinunterführt, aus und fiel so schlecht, daß ich mir eine Sehnenzerrung am Knöchelgelenk des linken Fußes zuzog.
Die Sache war schmerzhaft und recht ärgerlich zugleich. Ärgerlich weniger wegen des Aufschubes, den dadurch meine nicht sehr wichtigen Geschäfte in der Stadt erlitten, sondern mehr darum, weil der Arzt mir sagte, daß wohl drei Wochen hingehen würden, ehe ich die Stube wieder verlassen durfte.
Niemals in meinem Leben hat mir die Frist von drei Wochen so greulich lang, so unabsehbar geschienen wie damals, als ich am Tage meines Unfalls auf dem Sofa meines Arbeitszimmers saß, und trübselig auf das bandagierte Bein hinunterblickte, das ich weit ausgestreckt auf einem niedrigen Schemel ruhen hatte.
Drei Wochen Stubenarrest! Gewiß mag es Menschen geben, denen das weiter nicht schlimm erschienen wäre, und die sich, wenn sie, so wie ich im Leben draußen weiter nichts mehr zu versäumen haben, über die unfreiwillige Muße nicht allzusehr gegrämt hätten. Mir aber ging die Sache nahe. Ich war in den fünf Jahren, die ich nun frei von Sorgen und Berufspflichten da draußen in dem stillen Vororthäuschen wohnte, mit der Natur, die mir da ringsumher in meine Fenster schaute, auf du und du gekommen. Der morgendliche Gang durch Feld und Niederholz war mir ein liebes Bedürfnis geworden, und das, wonach ich mich in langen, arbeitsvollen Jahren gesehnt hatte, der ruhige Naturgenuß jenseits der besseren Hälfte des Lebens, erlitt durch den Unfall eine recht empfindliche Störung.
Auch mit den hübschen Abenden im Schachklub in der Stadt war's nun zunächst natürlich vorbei! Doppelt schade, denn gerade in jenen Tagen waren ein paar sehr fesselnde Partieen im Gang, deren Ausgang ich mit großem Interesse entgegensah.
Ein leiser Trost in dieser Trübsal war mir allein die Hoffnung, daß mich Freund Richard Plank, der gleichfalls draußen in dem Vorort in seinem stillen Häuschen »Sanssouci« wohnte, an einem oder dem anderen Abend besuchen würde, um mir, als Partner am schwarz und weißen Brett, über die langen Stunden hinwegzuhelfen und um dann, wenn wir die Figuren beiseite geschoben hatten, mir ein paar freundschaftliche Plauderstunden zu schenken. Diese Hoffnung hat mein Freund Richard Plank getreu erfüllt. Schon am zweiten Abend meines Leidens stellte er sich mit Eintritt der frühen Dämmerung bei mir ein, und dann schoben wir beim Rauche der Zigarren die elfenbeinenen Figuren und plauderten nachher bei einer Flasche Mosel und dem bescheidenen Abendbrote, das meine Haushälterin mir und meinem lieben Gaste brachte, bis nahe an Mitternacht. Und von da ab hat mir Freund Plank in diese leidige Zeit meiner »Gefangenschaft« die besten Stunden gebracht. Oft hatte ich ihm abgewehrt: »Sie opfern sich auf für mich, lieber Freund! Ich weiß, Sie können Ihre Zeit besser verbringen als hier bei mir armem Krüppel!« Er hat nur den Kopf geschüttelt: »Unsinn, ich freue mich, Ihnen jetzt etwas sein zu können, und wem sonst sollte an meiner Gesellschaft, an meinem Geplauder viel liegen?«
So blieb es denn dabei. Er kam beinahe Abend für Abend, und gerade in jenen Wochen erschlossen wir einander manchen stillen Winkel unserer Herzen, den wir bisher, trotz unserer jahrelangen Freundschaft, still und unberührt gelassen hatten. Aber auch über all die äußeren Dinge des Lebens, die an uns herantraten, tauschten wir unsere Gedanken in jener Zeit. Ich las viel während des Tages und besprach das Beste, was ich aus der Lektüre gewann, des Abends mit Richard Plank. Er aber, der, ehe er sich gleich mir zur Ruhe in den stillen Vorort zurückgezogen hatte, durch beinahe ein Menschenalter als Detektiv im Dienste der Wiener Polizei tätig gewesen war, erzählte mir manch interessantes Vorkommnis aus jener Zeit, manchen fesselnden Fall, in dem er wirksam eingegriffen hatte, und dessen verschlungene, geheimnisvolle Fäden er damals mit entwirren konnte.
An einer Reihe solcher Abende war es denn auch, daß Richard Plank mir die Geschichte eines Mannes erzählte, den er den »Puppenspieler« nannte, und dessen merkwürdige Verbrechen durch lange Zeit der Wiener Polizei die unlösbarsten Rätsel boten, bis es der zähen Energie Planks nach manchem herben Mißerfolg endlich glückte, die letzten Schleier von den geheimnisvollen Vorgängen zu ziehen.
Wie und durch welchen Anlaß mein Freund auf diesen Fall zu sprechen kam?
Mir ist der ganze Vorgang noch so deutlich, als hätte er sich eben erst vor einer Stunde in meinem Zimmer abgespielt. Nach dem Abendbrote war es, die Zigarren rauchten, und ich saß wieder in meiner Sofaecke, das immer noch verbundene Bein auf dem niederen Schemel. Und ich erzählte meinem Freunde, der an der anderen Seite des Tisches hinter dem vollen Römer saß, von einer seltsamen Notiz, die ich am selben Tage in einem großen Blatte verzeichnet gefunden hatte: »Ein neuer Kaspar Hauser« hatte die Überschrift der Mitteilung gelautet, und dann war der Bericht gegeben von einem jungen Menschen, den man umherirrend in den Straßen der Stadt gefunden hatte, und der nicht anzugeben wußte, wie er hieß, noch woher er stammte, der mühsam nur der Sprache mächtig war und doch erkennen ließ, daß er aus guten Kreisen kam. Vage Vermutungen des Reporters waren an diesen Bericht geknüpft, Vermutungen, daß es sich wohl um einen armen Geisteskranken handeln könne, der seiner privaten Pflegestätte entlaufen sei, oder um einen Menschen, den ein plötzlicher Nervenchok seines Erinnerungsvermögens jäh beraubt hätte.
Und da, als ich dieser Notiz Erwähnung getan und voll Interesse auf die seltsame Lage der Dinge hingewiesen hatte, nickte Richard Plank und sah mit jenem sinnenden Fernblick vor sich hin, der stets in seine Augen trat, wenn er sich zurückversenkte in die Zeit vergangener Tage.
Unvermittelt begann er dann zu sprechen.
»Ja, ich habe den Bericht heut morgen auch gelesen. Interessant – gewiß, Sie haben recht – es ist ein Vorkommnis, das wiederum zu raten gibt. Alltäglichkeit und irgend ein banales Geschehnis können sich als Lösung ergeben – aber auch unerkannte und unzugängliche Dinge des Seelenlebens können den Schlüssel bieten. Krankheit oder Verbrechen kann das letzte. Wort des Vorganges heißen – aber weil unser Wissen heute vor den Tatsachen wie vor verschlossenen Toren steht, so wuchert unsere Phantasie um das ›Geheimnis‹.
»Für mich hat dieser Fall die Erinnerung an eines der seltsamsten Verbrechen ausgelöst, die ich in meiner langen Laufbahn als Polizeibeamter kennen lernen konnte, an einen Fall, der damals alle Organe der Wiener Polizei aufs lebhafteste beschäftigte, und der sich in der Kriminalgeschichte den Ruf eines geradezu klassischen Beispiels für eine gewisse Sorte durch die längste Zeit scheinbar ganz unerklärlicher Vorgänge erworben hat. Ich meine die Verbrechen des ›Puppenspielers‹ – wie wir ihn nachher nannten …«
»Erzählen soll ich?«
»Ja – ich habe mich gerade heute und, eben im Anschluß an die von Ihnen erwähnte Notiz, mit der Sichtung des alten, noch in meinen Händen befindlichen Materiales beschäftigt – klar liegt die ganze Sache wiederum vor mir. Und doch wird das Erzählen nicht so rasch zu machen sein, denn dieser Fall holte weit aus in seiner Vorgeschichte und trieb aus seinen Wurzeln Verbrechen auf nach allen Seiten. Versuchen kann ich's immerhin, Ihnen ein Bild der Dinge aufzurollen; ich tue es gerne – denn es ist gleich dem Falle Versegy ›Der Fall Versegy‹. Kriminalroman von Karl Rosner. Engelhorns allgemeine Roman-Bibliothek 21. Jahrg. Bd. 23. in Pest, von dem ich Ihnen unlängst sprach, einer von jenen Fällen, in denen meine Untersuchungen den doppelten Erfolg ergeben haben, die wahre Schuld zu treffen und zugleich auch die Unschuld, die unter den furchtbarsten Verdachtsmomenten darniederlag, von jeder unverdienten Strafe zu befreien.«
Richard Plank hob den Römer und nickte mir zu. Fein klangen die geschliffenen Gläser aneinander. Dann füllte ich aufs neue, und während in seine Augen wiederum der ziellose Fernblick der Erinnerung trat, begann er zu erzählen.
»Also, zu Beginn der Neunzigerjahre war's.
»In Wien stand damals der Polizeirat Franz an der Spitze der Kriminalpolizei, ein sehr kluger und umsichtiger Mann, der nicht, wie sein Vorgänger, der Herr von Lamberti, nur am grünen Tische eine Art theoretischer Sachkenntnis sich angeeignet hatte, sondern der sich selbst in einer langjährigen Tätigkeit als Untersuchungsrichter reiche, praktische Erfahrungen im direkten Verkehr mit den Verbrechern und bei naher Anschauung der Verbrechen erworben hatte. In seiner führenden Stellung hat er dann das Polizeiwesen in Wien und namentlich den Wiener Sicherheitsdienst von vielen alten und veralteten Einrichtungen befreit und innerhalb weniger Jahre mit großer Energie auf eine wesentlich höhere Stufe gehoben.
»Für die Verbrecher war das natürlich eine böse Zeit – die Kriminalstatistik jener Jahre gibt dafür das beste Zeugnis. Wir Beamten aber, denen es eine Herzenssache war um den Dienst – und das ist eben beim echten Detektiv gewöhnlich oder immer der Fall – wir haben aufgeatmet. Für uns war eine Zeit gekommen, in der die vorgesetzte Stelle nicht mehr wegen jedes Telegrammes, jeder nötig gewordenen Eisenbahnfahrt oder sonstigen Spesenausgabe ängstlich und nergelnd rechnete, in der es weniger darauf angelegt wurde, Ersparnisse am Budget zu machen, als vielmehr das höchste Ziel der Sicherheitspolizei zu erreichen: möglichst viele Verbrechen zu verhindern und, wenn trotz aller Wachsamkeit dennoch Verbrechen vorgekommen waren, die Schuldigen möglichst sicher und rasch beim Kragen zu fassen.
»Ich selbst wurde meiner ziemlich umfassenden Sprachkenntnisse und meiner Erfahrungen im Verkehr mit auswärtigen Behörden wegen, damals besonders zu schwierigen Erhebungen und sonstigen ernsten Missionen im Ausland verwendet, so daß ich oft monatelang von Wien fern war.
»Und da, als ich eines Tages eben nach nahezu vierteljähriger Abwesenheit in Gefolgschaft eines wackeren Bankdirektors, den seine Sehnsucht in die Ferne mit rund einer Million Gulden von anderer Leute Geld nach mancherlei Kreuz- und Querfahrten bis nach Kuba geführt hatte, nach Hause zurückgekehrt war, hörte ich zuerst von jenen seltsamen Verbrechen, deren Klärung mich dann durch so lange Zeit in Wien halten und aufs schärfste beschäftigen sollte.
»Ich habe gesagt, ich ›hörte‹ damals zuerst von diesen Dingen – das ist eigentlich nicht ganz richtig. Das erste, was ich darum erfuhr, kam mir durch eine Zeitung zu Gesicht, durch das Morgenblatt der ›Neuen Freien Presse‹, das ich am Tage nach meiner spät abends erfolgten Rückkehr nach Wien auf meinem Frühstückstische fand. Am Abend meiner Ankunft selbst hatte ich nur noch für die riegelsichere Unterkunft meines Reisegenossen gesorgt, dann war ich, müde und abgehetzt von der langen Reise, in meine stille, kleine Wohnung gefahren, fest entschlossen, mir nun nach Monaten voll aufreibender Strapazen ein paar Tage der unbedingten Ruhe zu gönnen.
»Und doch war es trotz all der schönen Vorsätze am nächsten Morgen schon nach jenem Blicke in die Zeitung mit diesem Plan vorbei! Was ich las und was mich sofort dermaßen fesselte und mein Interesse in so hohem Maße in Anspruch nahm, war der über spaltenlange, ausführliche Bericht über einen kühnen Einbruch, der in Wien soeben ausgeführt worden war.«
Richard Plank hielt ein; er tastete nach der Brusttasche seines Rockes, holte die umfangreiche, mit Skripturen aller Art gefüllte Brieftasche hervor, die ihn nie verließ, und entnahm ihr ein schon stark angegilbtes Zeitungsblatt, das er sorgfältig auseinanderstrich. Und während er die Brieftasche wiederum versorgte, sprach er weiter.
»Es ist kein Zufall, daß ich Ihnen diesen Bericht hier im Original vorlegen kann – das Blatt fiel mir heute vormittag, als ich in dem Materiale des Falles kramte, in die Hände, und als ich es da zu mir steckte, war wohl in mir schon unklar der Gedanke wach, daß wir vielleicht von diesen Dingen plaudern würden.
»Nun aber hören Sie, was dieses Morgenblatt damals auf Grund seiner polizeilichen Informationen zu sagen wußte.«
Und er nahm wieder einen kleinen Schluck aus seinem Glase, setzte die Zigarre, die zu erlöschen drohte, durch ein paar paffende Züge besser in Brand und begann zu lesen:
» Zum Diebstahl in der Stephanskirche.
»In der Nacht von Donnerstag auf den Freitag ist, wie wir unseren Lesern schon im gestrigen Abendblatte mit wenigen Worten melden konnten, ein Diebstahl verübt worden, der in Bezug auf Kaltblütigkeit und Verwegenheit des Verbrechers seinesgleichen sucht, und der wiederum ein Zeugnis dafür ist, daß gerade in der jüngsten Zeit der Respekt der hauptstädtischen Verbrecherwelt vor dem öffentlichen Sicherheitswesen sich recht bedenklich gelockert zu haben scheint. – Der Gauner hat, wie nunmehr auf Grund der sofort eingeleiteten Erhebungen ersichtlich ist, den Umstand, daß die Stephanskirche gleich den anderen Wiener Kirchen nachts nicht bewacht wird, dazu benutzt, sich abends in die Kirche einschließen zu lassen, um da sein Verbrechen während der Nacht auszuführen. Der Dieb hat ein über dem Hochaltar angebrachtes Marienbild von altehrwürdigem Kunstwert, ein Bild, dem der fromme Glaube wundertätige Wirkung zusagt, und das der Dank der Frommen mit Edelsteinen im Werte von vielen Tausenden von Gulden geschmückt hatte, seines Schmuckes beraubt. Es handelt sich um die sogenannte ›Maria von Pötsch‹, ein Votivbild, das im Jahre 1676 von einem ungarischen Maler nach byzantinischem Vorbilde geschaffen worden war, und das der Volksmund wegen der tiefen Nachdunkelung der Farbentöne ›die schwarze Madonna‹ nannte. Schon im Jahre 1696 zog dieses Bild die Aufmerksamkeit weitester Kreise auf sich, als damals gläubige Fromme verkündeten, daß sie gesehen hätten, wie Tränen den Augen der Madonna entströmten. Damals wurde das Bild nach Wien gebracht, und bald darauf von der Kaiserin Eleonore Magdalena Theresia mit einer diamantenen Rose geschmückt. Sie war das erste Schmuckstück des schließlich von einem förmlichen Kranz von Edelsteinen umgebenen Madonnenbildes. – Da es völlig ausgeschlossen ist, daß der Dieb nachts in die mit schweren Schlössern verwahrte Kirche hätte gelangen können, ist es zweifellos, daß er sich vor Schließung der Tore, also vor sieben Uhr abends in das Gotteshaus eingeschlichen hat. Wie allabendlich, ist die Kirche auch vorgestern vor Schluß der Tore von mehreren Kirchendienern in allen Winkeln und Ecken sorgfältig durchsucht worden, ohne daß jedoch etwas Auffälliges bemerkt worden wäre. Der Dieb muß sich also sogleich einen Versteck gewählt haben, der ihn vor Entdeckung bei der erwähnten Durchsuchung der Kirche sicherte. – Das Bild der ›Maria von Pötsch‹, auf dessen kostbaren Schmuck der Kirchenräuber es abgesehen hatte, war samt den Schmuckstücken zunächst durch ein dünnes Eisengitter gesichert und samt diesem von einem Spiegelglase überdeckt. Auch über die Art, wie der verwegene Dieb an das Marienbild gelangte, ist nunmehr Klarheit geworden. Er bediente sich hierzu einer Leiter, die zum Anzünden der Gaskandelaber in der Kirche verwendet wird, und die sonst ihren Platz in einer Ecke des rechten Seitenschiffes hat. Beschädigungen an der Schnitzerei des Hochaltares lassen deutlich erkennen, wo der Dieb die Leiter angelehnt hat. Auf ihr stehend, hat er alsdann die Scheibe über dem Marienbilde eingedrückt, und hierbei muß er sich an der Hand ein wenig verletzt haben, denn das Altartuch unten wies mehrere runde, breit aufgespritzte Blutstropfen auf, ebenso zeigten die Scheibenstücke Abdrücke der blutigen Finger. Alsdann zog er, was er von den Edelsteinen und Schmuckstücken erreichen konnte, zwischen dem Stabwerke des Gitters heraus. Es sind hierbei die erwähnte diamantene Rose der Kaiserin Eleonore, mehrere sehr wertvolle Diamant- und Rubinschmuckstücke, Perlenkolliers und verschiedener alter Goldschmuck in die Hände des Räubers gefallen. – Nachdem er seinen Raub ausgeführt hatte, brachte er, allem Anschein nach, die Leiter an ihren Platz zurück und erwartete die Öffnung der Tore. Diese wurden auch gestern morgen wie täglich um sechs Uhr aufgetan. Gleich darauf werden die Lichter in der Kirche angezündet, denn schon wenige Minuten nach sechs Uhr liest der Sakristeidirektor die erste Messe vor dem Hochaltare. Diese kurze Spanne Zeit, die zwischen dem Öffnen der Tore und dem Entzünden der Lichter liegt, muß der Dieb benutzt haben, um unbemerkt zu entkommen. Entdeckt wurde der Diebstahl von dem alten Kirchendiener Nepomuk Lechleitner, der bei der Zurüstung für die erste Messe die Blutflecken auf dem Altartuche und, dadurch aufmerksam geworden, die Glassplitter und die Beschädigung des Altarschmuckes bemerkte. Der Wert der geraubten Schmuckstücke wird mit etwa zwanzigtausend Gulden angegeben. Die Polizeikommissariate sind sofort von dem Vorfalle verständigt worden und entwickeln eine fieberhafte Tätigkeit zur Aufklärung des Falles. Leider ist es aber bis zur Stunde nicht gelungen des Täters habhaft zu werden.«
Richard Plank hielt ein und blickte dann noch einmal flüchtig über das Zeitungsblatt hin.
»Ja,« sagte er dann, »das wäre die Hauptsache. Da folgt dann nur noch eine Mitteilung, daß dem in Rom weilenden Kardinal-Fürsterzbischof Gruscha telegraphisch von dem Vorfall Nachricht gegeben worden sei, und dann eine ausführliche Beschreibung der ›Maria von Pötsch‹, die irgend ein kunstverständiger Journalist aus Anlaß der Aktualität rasch geliefert haben dürfte – eine Beschreibung mit Betrachtungen über byzantinische Kunst, mit geschichtlichen Einschaltungen, Hypothesen über die angebliche Wunderwirkung des Bildes – kurz mit einem Inhalt, der für den Kriminalisten als solchen bedeutungslos ist.«
Und während Richard Plank das Zeitungsblatt nun wieder in seiner umfangreichen Brieftasche versorgte, fuhr er zu sprechen fort:
»Als ich diesen Bericht damals gelesen hatte und dieses selbe Blatt, das Sie soeben sahen, dann sinken ließ, war jenes seltsame Gefühl von Interesse, Gehobenheit und Jagdlust in mir, das uns Detektivs wohl stets mit Macht ergreift, wenn wir nach all dem Kleindienst des Alltags, nach all der typischen Gewöhnlichkeit der Dutzendverbrechen, uns einem Falle gegenüber sehen, der eigenartig ist, der Schlauheit und Kaltblütigkeit in der Anlage und Durchführung verrät, kurz, der uns sagt, daß hier ein nicht zu unterschätzender Gegner am Werke war.
»Ein paar Augenblicke lang stritt in mir der Gedanke, ob ich nicht hingehen sollte, um meine Kraft dem Dienste dieser Sache anzubieten, mit meiner Besonnenheit. Aber nur ein paar Augenblicke lang. Dann sagte ich mir, daß seit der Entdeckung des Verbrechens über vierundzwanzig Stunden verflossen waren, daß diese Angelegenheit also wohl längst in den Händen tüchtiger Kollegen lag. Schade …
»Ich wollte an anderes denken, aber die Sache ließ mich doch nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu dem verwegenen Kirchenräuber zurück, der da nach einem bis ins Kleinste festgelegten Plane exakt und kaltblütig in dunkler Nacht, über den hallenden Grüften heimgegangener Geschlechter, seine Beute aus der Höhe des Altaraufbaues niedergeholt hatte, um dann spurlos, wie er gekommen war, wiederum zu verschwinden.
»Und bei all diesen Gedanken an den kühnen, nervenstarken Gauner wuchs neben meiner Lust, bald mehr von ihm zu wissen, leise ein heimlich stiller Wunsch in mir auf: Wenn der Kerl nur jetzt keine allzu plumpe Dummheit macht! Denn, daß ich es nur sage, manchmal, wenn ein Verbrechen wirklich von Eigenart zeugt, dann tritt zu aller Lust, es zu entlarven, für mich und meinesgleichen oft ein unbestimmtes, vages Sorgen: Der Kerl soll in Schönheit unterliegen, er soll sich den Respekt vor seinen Gaunergaben, den er uns durch sein Verbrechen abgenötigt hat, nicht nachträglich durch einen allzu dummen Streich verscherzen. Wir wollen eben Gegner haben, deren Besiegung dem Sieger auch mit Recht Ehre macht! …
»Als ich etwa um zehn Uhr in das Polizeigebäude kam, um mich als heimgekehrt zu melden und um Bericht über meine Reise abzulegen, teilte mir der diensttuende Beamte mit, daß der Polizeirat Franz Auftrag gegeben hätte, mich sofort nach meinem Eintreffen zu ihm zu führen.
»So folgte ich denn dem Beamten durch all die Gänge und Vorräume nach dem Zimmer meines Chefs.
»Der saß, als wir eintraten, vor seinem Arbeitstische und war mit der Lektüre der Berichte der verschiedenen Polizeiwachen beschäftigt. Seine Stirne war gefurcht, etwas Sorgenvolles, Gedrücktes schien mir über dem sonst so energischen Gesicht mit den straffen Zügen, über der ganzen Gestalt des Mannes zu liegen, dessen unermüdliche Tatkraft und Frische ich früher so oft bewundert hatte.
»Als er mich erkannte, schob er die Skripturen hastig beiseite, stand auf und kam auf mich zu. Eine echte Freude sprach ihm aus Blick und Worten, als er mir dann die Hand entgegenstreckte.
»›Ah – Sie sind's, Herr Plank! Das ist schön. Seien Sie mir willkommen – lang genug haben wir uns nicht gesehen! Bitte, nehmen Sie Platz – hier – und eine Zigarre? – Nicht? – Nun, dann gestatten Sie, daß ich mir eine anzünde –‹
»Er brannte ein Streichholz an, und wieder fiel mir, während er nun die Zigarre in Brand setzte, auf, daß seine Hand ein wenig zitterte, daß eine gewisse Nervosität ihn beherrschte, die mir früher an diesem Manne fremd gewesen war.
»›Sie haben mich sprechen wollen, Herr Rat,‹ begann ich. ›Ich nehme an, es handelt sich um meinen Bericht über den Herrn, den ich Ihnen da aus Kuba zurückgebracht habe …‹
»Er unterbrach mich: ›Ihr Bericht? Nein, das ist es nicht, so dankbar wir Ihnen auch sein müssen für das, was Sie in diesem Falle wieder geleistet haben! Es ist etwas anderes, lieber Herr Plank – eine Sache, die mich Ihre Rückkehr seit Wochen geradezu mit einer gewissen Ungeduld hat erwarten lassen, und in Bezug auf deren kriminalistische Erforschung ich meine ganze Hoffnung auf Sie setze!‹
»Er sah mich gespannt an, dann senkte er den Blick auf die glimmende Asche seiner Zigarre nieder. Er schien zu überlegen, wie er beginnen sollte. Plötzlich blickte er auf.
»›Haben Sie die Wiener Angelegenheiten verfolgen können im Laufe der letzten Monate?‹
»Ich schüttelte den Kopf. ›Nein – Sie wissen ja, daß ich den größten Teil der Zeit auf einer Hetzjagd hinter dem Defraudanten drein im Expreßzug, auf Schiffen und zum Teil im Innern Kubas verbringen mußte – da schwindet jede Möglichkeit, auf dem laufenden zu bleiben mit dem, was unterdessen hier geschieht.‹
»Er seufzte und strich sich nervös den kurzen, leicht ergrauenden Spitzbart.
»›Ja, lieber Plank, dann haben Sie es gut gehabt! Denn was Erfreuliches hätten Sie kaum erfahren, wenn Sie all diese schönen Dinge gelesen hätten, die wir indessen hier erlebt haben. Aber das Neueste: den Raub in der Stephanskirche – davon haben Sie gelesen? Nun also! Ja – das war der jüngste Streich – aber von der Sorte haben wir mittlerweile zwei Dutzend, und nur Geduld – morgen schon vielleicht ist ein allerjüngster da! Und wir sind dabei machtlos – machtlos!‹
»Der Polizeirat war aufgestanden von seinem Platz. Erregt und nervös ging er, während er nun weitersprach, in seinem Arbeitszimmer auf und nieder. Man sah ihm an, wie sehr die vorgefallenen Dinge ihn bedrückten und wie sein ganzes Wesen danach drängte und sich zerquälte, hier Klarheit zu schaffen.
»Was er mir nun auseinandersetzte und berichtete, das waren Einzelverbrechen – ganz verschiedenartige kühne Gelegenheitsdelikte – die heute hier und morgen dort verübt worden waren. Vorkommnisse, denen der kalt kritische Verstand kaum einen Zusammenhang zumuten konnte, die nur dadurch besonders ausfielen, daß sie zeitlich beinahe alle sich im Verlaufe des letzten halben Jahres abspielten, daß sie ohne Ausnahme ›aufs Große‹ gingen, also bedeutende Objekte betrafen, und daß sie durchweg eine ganz ungewöhnliche Schlauheit und kaltblütige Berechnung in der Anlage aufwiesen. Zum großen Teil waren die Anschläge geglückt, und reiche Beute war den Gaunern in einer ganzen Anzahl von Fällen in die Hände gefallen. Aber all diese wohlgelungenen Verbrechen hatten, wie gesagt, bis auf die Schlauheit und ganz auffallend umsichtige und feine Berechnung, mit der sie angedreht waren, eigentlich nichts Gemeinsames. Es war, wie mir der Polizeirat Franz sagte, mehr eine Gefühlskritik von ihm als eine mit viel Gründen vertretbare Ansicht, wenn er die ganze Zahl der Fälle doch immer wieder wie etwas Zusammengehöriges überschaute. Er stünde damit auch im Gegensatz zu jenen Beamten, die bisher mit den einzelnen Fällen und ihrer Klärung betraut gewesen waren – denn sie alle wären der Überzeugung, daß es sich hier wohl um eine Reihe schwerer Delikte handelte, daß diese aber durchaus als Einzelverbrechen ohne Zusammenhang miteinander zu betrachten wären. Auffällig war allerdings auch diesen Herren, daß die Verbrechen durchweg von einzelnen Personen ausgeführt waren, die ohne Genossen oder Hilfskräfte gearbeitet hatten, und die, soweit sich das aus den Dokumenten der Verbrechen erkennen ließ, trotz der feinen Plananlage doch keine Berufsverbrecher, vielmehr in manchen Fällen geradezu Dilettanten des Verbrechens waren. Die Tatsache, daß man es hier auch in den gelungenen, nicht entlarvten Fällen nicht etwa mit einer und derselben Persönlichkeit, sondern mit einer ganzen Anzahl von Verbrechern zu tun hatte, war durch Vergleiche zurückgelassener Fingerabdrücke, Fußspuren und sonstiger Anhaltspunkte deutlich erwiesen.
»Ich unterbrach den Polizeirat mit einer Frage:
»›Sie glauben also an eine Art Bandenbildung – Sie glauben, daß all diese Leute durch eine verbrecherische Gemeinsamkeit zusammen gehören?‹
»Der Polizeirat hob die Achseln, ein unentschlossener Zug stand um den sonst so energischen Mund.
»›Bandenbildung! – Lieber Plank, Sie wissen, mit wie viel Vorsicht wir Kriminalisten das Wort gebrauchen müssen. Ob ich das, was ich hier beobachte, so nennen kann – ich weiß es nicht. Ich sehe hundert Hände – und sehe einen Geist, der hinter den Verbrechen dieser hundert Hände steht! Aber kann ich darum sagen, daß ich hier eine regelrecht organisierte Bande vor mir habe? Gewiß – schrieben wir heute noch die Jahreszahl 1800 oder wären die Zeiten längst vergangener Räuberromantik noch lebendig, ich würde dieses Wort gebrauchen – trotz allem, was in jedem der vorliegenden Einzelfälle dagegen spricht. Ich würde überlegen, ob sich nicht doch eine ›Bande‹ gebildet haben könne, die das Gelübde der Verschwiegenheit jeden einzelnen ihrer Mitglieder mit ganz unerhörter Schärfe zur Pflicht gemacht hätte, eine ›Bande‹, die ihrem überlegenen Führer in blindem Gehorsam ergeben wäre – –‹
»Der Polizeirat schüttelte plötzlich den Kopf und hielt jäh ein in seiner Wanderung durch die Stube. ›Aber das sind ja alles Phantastereien! Über die Zeit solcher Romantik sind wir gründlich hinaus, und aus dem Holz, das ehemals die Bandenführer gab, wachsen heute die genialen Einzelverbrecher! Für Banden ist kein Platz mehr in unseren Polizeistaaten, die moderne Kriminalistik hat solchem Getriebe den Boden entzogen! Und denken Sie doch selbst, Plank – hier in Wien! – wo wir doch jeden halbwegs talentvollen Verbrecher kennen, wo wir in diesen letzten Jahren das ganze zweifelhafte Bevölkerungsmaterial gesiebt und wiederum gesiebt haben, wo wir jetzt einen Überwachungsdienst organisieren konnten, der musterhaft genannt werden kann – wo sollte denn da etwas wie eine ›Bande‹ existieren können!‹
»›Und die Leute, die man festgenommen hat,‹ warf ich ein, ›diese Menschen, deren Verbrechen Ihnen zu dieser seltsamen Gruppe von Delikten zu gehören scheinen, läßt sich aus denen gar kein Hinweis locken, und bieten denn die gar keine Anhaltspunkte für irgendwelche Schlüsse?‹
»Der Polizeirat ging wortlos zu einem Aktenständer, nahm einen über spannhohen Stoß von Akten, die in blauen Pappmappen lagen, aus einem der Fächer und setzte den vor mich hin auf den Tisch.
»›Da, lieber Plank, bedienen Sie sich! Da haben Sie eine unterhaltliche Lektüre für die nächsten Tage! Aber eines kann ich Ihnen gleich sagen, wenn mir die unentlarvten Fälle – die Fälle, in denen uns die Herren Verbrecher entkommen sind – rätselhaft erscheinen – diese hier – die bei der Tat ertappten oder nachher festgenommenen, sind's mir noch mehr! Schon ein Blick auf die Namen und Berufe der Leute, die Sie da beisammen finden, wird Sie staunen machen – ja, lesen Sie nur, Hermann Swoboda, Zivilingenieur – Else Linzer, Kontoristin – Karl Edinger, Bankbeamter – und so weiter, und so weiter! Alles Menschen aus guten Kreisen, zum Teil aus den besten Familien. Alles Leute, von denen keiner noch jemals irgend eine Vorstrafe gehabt hat oder mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt gekommen wäre – also alles keine Berufsverbrecher, und doch alle bei irgend einem schweren Verbrechen gegen fremdes Eigentum ertappt! Und dann, wie sich die Herrschaften bei ihrer Festnahme und nachher beim Verhör benehmen – wie Kinder und wie Betrunkene! Wahrhaftig, lieber Plank – ich stehe jetzt seit sechsundzwanzig Jahren im Sicherheitsdienst – aber diese Szenen, wie ich sie da mitangesehen habe – – –‹
»Die Klingel des Telephons begann surrend und schrill zu hämmern und unterbrach die Rede des Polizeirats.
»Der nahm die Hörschale an das Ohr.
»›Hier Polizeirat Franz – wer dort?‹
»Eine Pause. Ganz still war es im Zimmer, aber die Gestalt des Polizeirats straffte sich, und ein helles Rot der Erregung stieg ihm in die Stirne.
»›Wie? – Bitte, noch einmal –‹
»Alles war Lauschen und Erwartung an dem Manne, und auch ich horchte auf, obwohl ich natürlich nichts von dem verstehen konnte, was der Partner des Polizeirates sprach. Nur ein ganz leises, blechern klingendes Rauschen ging von dem Apparate aus und drang herüber bis zu mir.
»Dann aber klang aufs neue die Stimme meines Vorgesetzten.
»›So? – Im vierten Bezirk – –? Und Sie haben den Mann dort fest?‹
»Wieder Schweigen. Nur das leise metallische Rauschen. Und über dem ganzen Wesen des Polizeirates der Ausdruck neu auflodernder Energie – –
»›Ja, natürlich! – – Verhören? Nein, ich will ihn selbst verhören. Nehmen Sie den nächsten Wagen und bringen Sie den Mann hierher! Auch der Goldarbeiter soll doch mitkommen! Aber, bitte, so schnell wie möglich! – – – Ja – ganz recht! – – Schluß!‹
»Wieder das surrende Hämmern der kleinen schrillen Klingel.
»Der Polizeirat hängte die Hörschale wieder ein und wendete sich dann zu mir. Seine Augen glänzten; er atmete tief auf.
»›Wir haben ihn – –!‹
»›Wen? – wenn ich fragen darf?‹
»›Wen? Den Kerl aus der Stephanskirche!‹
»›So – –!‹ Ein leises Gefühl der Enttäuschung stieg in mir auf. ›Ich gratuliere Ihnen,‹ sagte ich dann noch, aber ich fühlte zugleich, daß mein Herz nicht mit bei diesen Worten war. Beinahe schmerzlich war es mir, daß der Mann, der jenen so virtuos angelegten Raub ausgeführt hatte, nun – wohl durch irgend eine Dummheit, durch eine im Vergleich zur Kühnheit seiner Tat unwürdige Unvorsichtigkeit – so rasch der Polizei in die Hände gefallen war.
»Der Polizeirat nickte mehrmals hintereinander rasch und freudig. – ›Gott sei Dank!‹ meinte er dann, ›die Sache hat mir auch schon wie ein Stein auf dem Herzen gelegen!‹ Und er ging zu seinem Tisch, suchte ein paar Blätter und Protokolle aus den Stößen von Skripturen und legte sie vor sich hin.
»›Sie lassen sich den Mann hierher kommen, Herr Rat?‹ fragte ich, und ich knüpfte damit an die Worte des telephonischen Gespräches an, die ich vernommen hatte.
»›Ja, freilich. Ich will ihn selbst vernehmen. In einer Viertelstunde haben wir ihn da. Auch den Goldarbeiter, bei dem er die ausgebrochenen Steine hat verkaufen wollen und der seine Verhaftung veranlaßt hat. Na, Plank, bin ich froh, daß wir den Burschen haben – – –!‹
»Ich nickte. ›Das verstehe ich wohl, Herr Rat –‹ Aber zu Mute war mir dabei wie einem leidenschaftlichen Hochwildjäger, der hört, daß ein anderer den Zwölfender geschossen hat, auf den er selber gern gebirscht hätte. ›Stört es Sie, wenn ich bleibe, bis der Mann gebracht wird?‹ fragte ich dann. Eine unklare Neugier trieb mich an, jetzt nicht zu gehen.
»›Stören? Keine Spur! Im Gegenteil – Sie sollen bleiben. Sie wissen, was ich auf Ihr Urteil gebe – und für Sie ist es doch auch interessant. Nur mich müssen Sie zunächst für ein paar Minuten entschuldigen, ich lese mir die auf den Fall bezüglichen Rapporte und Protokolle noch einmal durch. – Vielleicht benützen Sie die Zeit, um sich die anderen Akten anzusehen – dort gibt es noch genug zu klären, dort finden Ihre Entdeckerlust und Ihre Kombinationsgabe noch Arbeit in Hülle und Fülle!‹ – – –
»Nach einer Viertelstunde etwa, während der Polizeirat in das Studium seiner Protokolle vertieft dasaß, ich aber in den seltsamen Akten über die Fälle des Zivilingenieurs Hermann Swoboda, der Kontoristin Else Linzer, des Bankbeamten Karl Edinger und der anderen ›Ungeklärten‹ blätterte, meldete ein Polizeidiener die Erwarteten. Und gleich darauf traten sie ein, voran der mir bekannte Polizeikommissär des vierten Bezirks, ein schneidiger, noch junger Mann, mit den Allüren des früheren Offiziers, dann ein behäbiger Herr von etwa fünfzig Jahren, den Ausdruck selbstzufriedener Genugtuung in dem asthmatisch schnaufenden Gesicht – der Goldarbeiter – und endlich zwischen zwei Sicherheitswächtern, mehr geschoben und gezogen als selbst gehend, ein lang aufgeschossener, gut gekleideter, engbrüstiger Mensch von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, in dessen Zügen es wie ein starres Entsetzen lag.
»Wenige Worte der Begrüßung wurden gewechselt; dann drückte der Polizeirat auf den Taster des Telegraphen auf seinem Schreibtisch, ein Beamter erschien, und kaum eine Minute später begann die Aufnahme des Protokolls.
»Erst berichtete der Polizeikommissär. Was er aussagte, war etwa das Folgende: Um zehn Uhr vormittags wäre ein junger Mensch, der sich als Gehilfe des Goldarbeiters und Juweliers Franz Schlumberger auswies – Herr Schlumberger machte an dieser Stelle mehrere kurze zustimmende Verbeugungen – in großer Eile auf das Kommissariat gekommen und hätte angegeben, daß sich in dem Verkaufsladen seines Chefs in der Siebenmännergasse ein Herr befinde, der einzelne Edelsteine und Perlen zum Verkauf angeboten hätte. Seinem Chef sei der Mann verdächtig vorgekommen, er hätte die Meinung, daß die Steine vielleicht von dem Raub in der Stephanskirche stammten – wieder nickte Herr Schlumberger mehrmals kurz und zustimmend – und hielte es für seine Pflicht, die Polizei zu verständigen. – Er, der Kommissär, hätte sich darauf sogleich in Begleitung von zwei Sicherheitswächtern mit dem Gehilfen des Herrn Schlumberger in dessen Laden begeben und dort den Verdächtigen festgenommen. Die bei ihm gefundenen Edelsteine und Perlen stammten nach dem Verzeichnis der geraubten Stücke in der Tat aus dem Schmucke der ›Maria von Pötsch‹ in der Stephanskirche.
»Als der Kommissär seinen kurzen, mit sachlicher Klarheit gegebenen Bericht beendigt hatte, wurde Herr Schlumberger als Zeuge vernommen. Mit großem Selbstbewußtsein und erfüllt von der Wichtigkeit seiner Person gab der alte Wiener Bürger seine Personalien an. Dann erzählte er auf Aufforderung des Polizeirates den Hergang. Er sprach umständlich unter Aufwand vieler Worte und asthmatischen Geschnaufes.
»›Alsdann, Herr kaiserlicher Rat – mir Goldarbeiter und Juwelier haben doch alle das Zirkular von der Polizei 'kriegt, auf dem die gestohlenen Wertgegenstände verzeichnet sein. Und i – grad als wie wenn i an Ahnung hätt' – sag' noch gestern zu meiner Frau beim Nachtmahl, weil wir von dem Raub g'redt haben: ›A so a Haderlump!‹ sag' i, ›wann der zu mir kämert, der Kirchenfrövler, glei müaßt mir die Polizei her!‹ Und jetzt, alsdann – heut vormittag, so kurz nach zehne, da kommt der Mensch – da!‹ – er wies mit einer verächtlichen Bewegung des Kopfes nach dem Verhafteten – ›in mein Laden eini. I denk' mir glei': Na, der wird a keine Brillantboutons kaufen – weil er schon so g'wiß scheu g'schaut hat. Aber i frag'n doch glei: ›Bitte, womit kann ich dienen?‹ Da schaut er mi erst an, wie wenn er mit der Sprach' net recht heraus wollt', g'längt dann in die Taschen und sagt. ›Ich wollte nur fragen, kaufen Sie auch Schmucksteine?‹ – I schau 'n an und sag'. ›Ja – 's kommt halt drauf an, was is‹, und denk' mir noch: Aha! der braucht halt a Geld und möcht' an Ring verkaufen oder a Krawattennadel. – Aber da ziagt der – wieder ganz stad, grad, als ob er net wüßt', ob er mir trau'n soll – a klein's Schachterl aus der Taschen und macht's auf und reicht mir's hin. Na jetzt, i bitt' – auf Edelsteiner versteh' i mi – das hab' i glei derkennt am Schliff, daß das alte Prätiosen sind – –‹ Und breit und umständlich stellte der Herr Schlumberger weiter dar, wie in ihm auf einmal die Überzeugung erwacht sei, daß diese Steine von dem Raube in der Stephanskirche stammen müßten, daß sie ein Teil der Beute aus dem Kirchenraube wären! Stolz über seine Klugheit schilderte er dann, wie er unter dem Vorwande, eine Lupe zur Untersuchung der Juwelen zu holen, rasch in die Werkstatt gegangen sei und den Gehilfen auf die Polizei geschickt hätte.
Ganz atemlos von seiner Rede und gebläht von Stolz über den gelungenen Fang, hielt er endlich ein.
»Und jetzt erst wendete sich der Polizeirat dem festgenommenen jungen Menschen zu, der bisher völlig vernichtet mit verständnislosem Blick und zugleich einer gespannten Starrheit über seinem ganzen Wesen die Aussage des Goldarbeiters mitangehört hatte.
»›Haben Sie gegen die Angaben des Herrn Schlumberger, die soeben hier zu Protokoll genommen wurden, etwas Wesentliches einzuwenden?‹
»Der lang aufgeschossene junge Mensch antwortete nicht. Er sah noch immer mit suchenden, unverstehenden Augen von dem Polizeirat zu dem Goldarbeiter und wieder auf jenen. In seiner Kehle würgte es, als ob er sprechen wollte, und ein paarmal öffnete er auch die Lippen. Eine zitternde Bewegung lief ihm dabei um den Mund – wie ein Kämpfen des Willens zu sprechen war es, gegen die innere Erregung, die ihn lähmte. Und dann mit einem Male schlug er die beiden Hände vor sein Gesicht und begann laut und erschütternd zu schluchzen.
»Der Polizeirat hatte in all der Zeit den jungen Menschen nicht aus dem Auge gelassen, jetzt schüttelte er ungeduldig den Kopf. ›Nun?‹ fragte er dann wieder, ›bekommen wir Antwort?‹
»Und der Herr Franz Schlumberger warf entrüstet die Worte ein: ›Jetzt so ein verstockter Kerl – das – –. Können S' net antworten, wann der Herr kaiserliche Rat fragt – –?!‹
»Aber der junge Mensch schluchzte nur weiter – fassungslos, als ob er auf all das, was hier geschah, keine andere Antwort hätte als seine Tränen.
»Da trat der Kommissär, der ihn verhaftet hatte, auf ihn zu und griff ihn derb an der Schulter ›Hören Sie, Verehrter – diese Sorte Komödie nutzt Ihnen hier gar nicht! Das kennen wir wirklich zur Genüge, und mit dem Flennen erreichen Sie hier nicht das geringste. Das alles hätten Sie sich eben früher überlegen sollen! Und jetzt nur heraus mit der Sprache!‹ –
»Der Kommissär wollte noch weiterreden, aber er hielt plötzlich ein, und aus seinem Griff, der dem Festgenommenen an der Schulter saß, wurde ein halb ungläubiges und doch hastiges Stützen und Halten, denn über den schien es mit einem Male als eine jähe Schwäche zu kommen, so daß er wankte und taumelte. Auch die beiden Sicherheitswächter waren zugesprungen – der eine schob dem scheinbar ganz Erschöpften einen Stuhl zu, der andere goß eilig aus der auf dem Tische stehenden Karaffe ein Glas Wasser ein und hielt es jetzt dem halb Ohnmächtigen an die Lippen.
»Der trank und wurde ruhiger, gefaßter. Nur dieses unverstehende Suchen, diese verzweifelte Niedergeschlagenheit, wich nicht aus seinem Blick.
»Als aber der Kommissär jetzt aufs neue mit seiner Aufforderung, Rede zu stehen, in ihn dringen wollte, winkte der Polizeirat ab.
»›Lassen Sie, Herr Kommissär – ich möchte den Mann selbst befragen,‹ – und mit einem Blick auf mich und das noch vor mir liegende Aktenbündel setzte er hinzu. ›Ich glaube beinahe, lieber Plank, daß unser Gespräch von früher eine neue Illustration finden soll.‹
»Und in der Tat gestaltete sich das nun folgende Verhör, in dem der Polizeirat schonend und ernst Klarheit über die Tat des Festgenommenen zu erhalten suchte, so seltsam und so ungewöhnlich, daß ich die Worte, die mein Chef vorher zu mir gesprochen hatte, wohl begriff ›Wie Kinder und wie Betrunkene‹ hatte er gesagt – und nicht anders war auch das Verhalten des jungen Menschen, den man des Raubes in der Stephanskirche bezichtigte. –
»Ich sehe diesen ganzen Vorgang noch vor mir, als hätte ich ihn gestern erst erlebt – und doch ist alles das schon wieder so viel Jahre her. – –
»Sehen Sie, ich war doch damals auf der Höhe meines Arbeitslebens – ich kam in dieser Zeit aus den Erregungen, die mein Beruf naturgemäß mit sich brachte, doch kaum je ganz heraus – ich galt als kaltblütig und als nicht übertrieben weich, wenn es sich darum handelte, bei einem überführten Gauner mein Wissen und meine Erfahrung zu bereichern – und überführt schien dieser junge Mensch ja nach der Aussage des Goldarbeiters.
»Und doch – ein jedes Wort, das jetzt der Polizeirat an ihn richtete – und jede Frage, auf die er sich die Antwort erzwang, war mir selbst – der ich doch nur ein Zuschauer bei dem Verhör war – von peinigender Qual.
»Schlaff und mit bleichen, angstvoll entstellten Zügen stand der junge, hagere Mensch neben dem Stuhle, dessen Lehne seine zitternden Hände unruhig umgriffen hielten. Und so gab er seine Antworten auf die Fragen des Polizeirates, die bestimmt, aber keineswegs schroff gefaßt waren. Die Stimme des Angeklagten klang dabei unsicher und zaghaft, sein ganzes Wesen hatte etwas Suchendes und Tastendes – es war, als wäre ihm jedweder innere Halt, jedwede Fähigkeit, sich zusammenzuraffen, genommen.
»Was wir erfuhren, war herzlich wenig.
»Er sagte aus, daß er Hermann Angerer heiße und sechsundzwanzig Jahre alt sei, daß er bei seiner Mutter, einer Beamtenwitwe, wohne und selbst als Beamter im Dienst der Südbahn stünde. Von dem Juwelenraube in der Stephanskirche wollte er nur das wissen, was in den Zeitungen gestanden hatte – und über die bei ihm gefundenen Steine selbst war trotz aller Mühe und Geduld, trotz Zuredens, Drohens und Versprechens so gut wie gar nichts aus ihm herauszubekommen.
»Und dabei fiel mir eines noch besonders auf: Während er jene Fragen nach den Personalien zwar angstvoll und gequält, aber doch ohne allzu langes Zögern beantwortet hatte, kam nun, da sich das Verhör dem Gebiete der Anschuldigung näherte, eine völlige Verwirrtheit über den Mann.
»Mit hilflosen, suchenden Gesten der Hände und mit schnappenden Lippen rang er nach Worten und Sätzen und brachte doch auf all die Fragen, woher er denn die Edelsteine habe? – seit wann er sie habe? – ob er wüßte, was aus den übrigen gestohlenen Schmuckstücken geworden wäre? – warum er denn mit dem Verkaufe nicht noch gewartet hätte? – immer wieder nur die eine fassungslos vorgestoßene Antwort heraus: ›Ich weiß es nicht – ich kann das alles gar nicht fassen – ich bin kein Dieb! – ich weiß das alles nicht.‹
»Mehrmals während dieses seltsamen Verhörs hatte der Polizeirat mich mit bedeutungsvollen Blicken angesehen. Jetzt entließ er den Zeugen Franz Schlumberger, der sich mit vielen hastigen Bücklingen und einem Schwall von Redensarten empfahl, forderte die beiden Sicherheitswächter auf, mit dem Angeklagten im Nebenzimmer zu warten, und verabschiedete auch den Beamten, der das Protokoll aufgenommen hatte.
»Als er dann mit dem Kommissär und mir allein in dem Zimmer war, ging er erst ein paarmal hastig und erregt in dem Raume auf und ab, blieb dann mit jähem Ruck vor dem Kommissär stehen und sah ihn an. ›Nun – –? Bitte, Herr Kommissär – –!‹
»Der junge, schneidige Beamte, dem noch die Freude über den gelungenen Fang neben dem Ärger über die Verstocktheit des Festgenommenen aus den Augen sprach, richtete sich straffer auf. ›Herr Rat befehlen?‹
»›Befehlen?‹ Der Polizeirat zuckte nervös mit den Fingern. ›Gar nichts befehle ich. Ihre Meinung will ich wissen. Was Sie von dem Fall denken, sollen Sie mir sagen.‹
»›Wenn der Herr Rat gestatten – ich halte den Kerl für einen ganz geriebenen Burschen, der uns da mit einigem Geschick eine Komödie vorspielen möchte. Die Tatsache, daß wir ihn bei dem Verkauf eines Teiles der geraubten Pretiosen abgefaßt haben, beweist doch eigentlich alles – und weil er das nicht ableugnen kann und zudem weiß, daß wir ihm irgend ein Märchen von einem großen Unbekannten, der ihm die Steine zum Verkauf gegeben hätte, oder sonst eine der üblichen Ausreden, doch nicht glauben würden, so mimt er eben so eine Sorte von ›wildem Mann‹ und markiert den Ahnungslosen, den man eher auf die Beobachtungsstation als ins Gefängnis stecken sollte. Das ist ja in der letzten Zeit modern bei diesen Herren – der jüngste Trick – und wenn man von dem Komödiantentalent dieses Burschen auf seine kriminellen Fähigkeiten schließen darf, dann haben wir einen famosen Fang gemacht.‹
»Der Polizeirat war wieder an seinen Arbeitstisch getreten und nickte zu den Worten des Kommissärs nachdenklich vor sich hin.
»›Sie sind also ganz sicher und überzeugt, daß dieser Mann die Finger bei dem Raube in der Stephanskirche im Spiele hatte?‹
»›Unbedingt, Herr Rat – –‹
»›Und was würden Sie als nächste Maßregel vorschlagen, um ihn zum Geständnis zu bringen? – Ich meine natürlich abgesehen von all den selbstverständlichen Erhebungen und Indiziennachweisen.‹
»›Da der Herr Rat fragen: Ich möchte glauben, daß die Widerstandskraft und die Verlogenheit dieses Herrn vielleicht doch nicht allzulange vorhalten dürften – schließlich werden ja doch gerade diese Leute in der Haft dann immer am ehesten mürbe – –‹
»›Also, Sie meinen – einsperren und abwarten?‹
»›Jawohl, Herr Rat.‹
Der Polizeirat hob den Kopf, und wieder ging sein Blick mit einem seltsam sprechenden Ausdruck über mich hin. ›Ich danke Ihnen, Herr Kommissär – ich möchte Ihre Zeit zunächst hier nicht weiter in Anspruch nehmen.‹
»Und der junge, schneidige Beamte verbeugte sich leicht und wandte sich zum Gehen.
»Als die Tür hinter ihm in das Schloß gefallen war, zuckte der Polizeirat mit einer halb verzagten und halb auffordernden Bewegung die Achseln.
»›Sehen Sie, lieber Plank,‹ sagte er dann, ›nun haben Sie hier wieder einen von den Fällen. – – Was der Kommissär, der eben ging, darüber denkt, das haben Sie mit angehört. Auch das ist typisch für die Art, wie meine Leute beinahe durchweg über diese Vorkommnisse urteilen: Wasser und Brot und abwarten – bis der Kerl mürbe ist! – Das ist das übliche Dutzendrezept, mit dem diese Leute tausendmal ausgekommen sind in ähnlichen Fällen – und das auch hier zum Ziele führen soll.‹
»Wieder hatte der Polizeirat seine erregte Wanderung durch das Zimmer aufgenommen, und wieder blieb er dann jäh stehen und trommelte mit den Fingern auf der Platte seines Arbeitstisches.
»›Nur eines stimmt nicht bei der ganzen Rechnung: das Ergebnis. Fünf Herrschaften von dieser Sorte habe ich jetzt – zum Teil seit Monaten – in Untersuchungshaft, aber gestanden hat mir keiner auch nur ein Wort mehr, als er mir beim ersten Verhör schon sagte. Und was das Grauenhafte bei dieser Sache ist, mir selber kommt es widersinnig und ganz zwecklos vor, die Leute überhaupt in Haft zu halten, – ich selber kann nicht glauben, daß diese zerbrochenen Menschen – mag auch noch so vieles schwer belastend gegen sie sprechen – wirklich die raffinierten Gauner sind, die wir suchen. Oder können Sie sich diesen Burschen – diesen Hermann Angerer oder wie er heißt – als kaltblütigen Kirchenräuber denken – –?‹
»Ich schüttelte den Kopf. ›Nein – er war's auch nicht.‹
»›Das glaube ich auch – trotz allem – aber der Beweis?‹
»›Der Beweis? Nun, zum Teile haben wir den wohl schon vor uns.‹
»›Ja?‹
»›Herr Rat erinnern sich, daß der Mann, der den Raub verübte, sich an dem Glase des Bildes die Hand verletzte. Blutspuren auf dem Altartuche waren vorhanden – der Festgenommene hat, wie ich vorhin genau beobachtete, nicht die kleinste, frische Schramme an den Händen. Dann noch etwas!‹ Ich trat an den Tisch heran und hielt vorsichtig das Glas, aus dem der Mann getrunken hatte, gegen das Licht. ›Der Verbrecher hat, wie ich gelesen habe, an der eingedrückten Scheibe des Marienbildes Abdrücke seiner Finger zurückgelassen – kann ich die sehen?‹
»›Gewiß – hier ist ein vergrößertes Photogramm davon –‹
»Ich hielt das Bild vergleichend neben die Fingerabdrücke, die die von Angstschweiß feuchte Hand des Festgenommenen an dem Trinkglase verursacht hatte – es zeigte sich beim ersten Blick, daß die in Spiralen und Windungen verlaufenden Zeichnungen der Fingerkuppen, die sich in einem Naturselbstdruck auf den Gläsern abgezeichnet hatten – und die ja bei jedem Menschen besonders und eigenartig sind, wie die Züge des Gesichtes – zweifellos von zwei ganz verschiedenen Personen stammten. Auch der Polizeirat erkannte das sofort und zog aus dieser Tatsache die Folgerungen.
»›Gut,‹ sagte er, ›Sie haben recht. Das wäre ein Beweis, daß dieser Mann bei dem Raub nicht die Führerrolle gespielt hat – aber ist darum die ganze Angelegenheit viel klarer geworden? Wer war der Hauptverbrecher bei dem Einbruch in der Kirche? In welchem Verhältnis steht der Räuber zu dem Mann, den wir da festhalten? Arbeiten beide gemeinsam? Hat unser Häftling dem anderen die Leiter gehalten, als der oben das Bild beraubte? Oder ist der Räuber allein in der Kirche gewesen und dieser Hermann Angerer der einfache Hehler und Verschärfer der Sore, die der andere auf seinen Zügen macht? Wo sind die kostbarsten Stücke des Raubes geblieben – die diamantene Rose, das Perlenhalsband, die Rubinberlocke? Und endlich – sehen Sie, ich kann nicht glauben, daß alles das, was wir hier sahen, wirklich nicht mehr als eine gutgespielte Komödie, als der Trick eines Simulanten war – weiß der Mann am Ende wirklich nicht, woher diese Steine stammen – –?‹
»Er schwieg und sah finster sinnend vor sich nieder, bis er dann plötzlich, aufschreckend aus seinem Grübeln, den Kopf in den Nacken warf.
»›Ja – lieber Plank – geschehen muß etwas! Vor allem dürfen wir keine Zeit verlieren. – Wollen Sie den Fall übernehmen?‹ Und da ich nicht gleich antwortete, fuhr er fort: ›Ich kann es Ihnen ja eigentlich kaum zumuten – Sie kommen eben von einer anstrengenden Tour, und diese neue Sache wird, soweit ich mir ein auch nur vages Bild der Arbeit machen kann, die uns da noch blühen mag, gehörig Kraft und Gehirn und Nerven kosten – – Und doch –,‹ er kam auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter: ›Wenn's Ihnen möglich ist – dann übernehmen Sie den Fall, mir wäre es in dieser schweren Zeit eine Beruhigung, wenn ich die Sache in Ihren Händen wüßte – –‹
»Da nickte ich und schlug ein in seine dargebotene Hand: ›Ich danke Ihnen für all das Vertrauen! – Wenn Sie gestatten, fange ich sogleich mit meiner Arbeit an.‹
»Und wenige Minuten später begann ich meine Nachforschungen in dem Falle des Bahnbeamten Hermann Angerer – der erst sich als ein völlig unentwirrbares und kaum erklärliches Vorkommnis zeigte, und der mich später doch durch eine ganze Reihe seltsamer Verkettungen und Zusammenschlüsse zu der Lösung des Rätsels vom ›Puppenspieler‹ führte. – –
»Ich ließ mir zunächst den Festgenommenen noch einmal vorführen und sprach mit ihm – nicht in dem Tone eines Untersuchungsrichters, sondern so, als glaubte ich ein jedes Wort, das er mir sagte. Und doch, das, was ich so erfuhr, ging über das Ergebnis des Verhöres kaum hinaus. Willig gab er mir über alle Einzelheiten seines Lebens Auskunft – aber ich stand gleich wie vor Mauern, wenn ich auf das Verbrechen und die Herkunft der Steine zu reden kam. Kein Wort, das mir als Hinweis oder als Erklärung hätte dienen können, war da aus ihm herauszuholen. Nur die erschütterndsten Beteuerungen seiner Unschuld, die immer wiederkehrenden Versicherungen und Schwüre, daß er jedem Verbrechen ferne stehe, nichts zu gestehen hätte und nicht wüßte, woher die Steine stammten, waren seine Antwort auf all meine Fragen.
»So sah ich ein, daß ich andere Wege gehen mußte, wenn ich Klarheit erlangen wollte – und ich setzte mir als das nächste Ziel, alles, was ich an Material über den Festgenommenen erlangen konnte, zusammenzutragen.
»Ich fuhr zunächst zu seiner Mutter, bei der er bisher gewohnt hatte. In einer stillen Seitenstraße nahe dem Südbahnhofe hatte die alte Dame ihre Wohnung, und es mochte gegen Mittag gehen, als ich dort ankam. Ein junges, ein wenig schüchternes Dienstmädchen öffnete auf mein Läuten, nahm meine Karte und meinen Wunsch, die Herrschaft zu sprechen, entgegen und führte mich in ein einfaches, aber überaus sauber gehaltenes Wohnzimmer, in dessen Mitte ein Tisch mit zwei Gedecken stand. Alles war still und einladend in dem ein wenig altväterlich mit blanken Mahagonimöbeln ausgestatteten Raum, und ein bescheidenes, kleinbürgerliches Behagen lag hier über den Dingen – Blumen standen im Fenster und über einem kleinen Nähtischchen zwitscherte ein Kanarienvogel.
»Kaum eine Minute war ich allein in dem stillen, heimeligen Zimmer, und doch genügte diese kurze Zeit, um in mir den Eindruck erstarken zu lassen, daß dieser Raum sicherlich nicht das Heim eines Verbrechers sein könne. Und diese Überzeugung wurde nur noch fester in mir, als sich dann die Seitentür auftat und die Hausfrau, eine ergrauende Dame von ernsten und ein wenig versorgten Zügen, auf mich zutrat.
»Eine leise, ängstliche Spannung lag auf ihrem feinen, früh gealterten Gesicht, dessen Züge denen des Sohnes auffallend ähnlich waren, und ihre Hand, die meine Karte hielt, schien mir ein wenig zu zittern.
»›Sie haben mich zu sprechen gewünscht – – Herr Plank – – Darf ich fragen – –?‹
»Ich verbeugte mich – es fiel mir dieser mütterlichen Frau gegenüber schwer, die Worte in meiner schwierigen Mission zu finden.
»›Es handelt sich um Ihren Sohn,‹ sagte ich.
»›Um Hermann – –?‹ Eine angstvolle Blässe ging über ihre Wangen, und sie griff unwillkürlich nach einer Stuhllehne, während ihr Blick von mir zu der Wanduhr und wieder auf mich zurückhuschte. ›Fehlt ihm etwas? Sie kommen aus dem Bureau? Er müßte ja eigentlich schon zu Hause sein – reden Sie – bitte – ist er unwohl geworden – mein Gott, ja – sicher – ich hätte ihn nicht fortgehen lassen sollen heute –?!‹
»Ich schüttelte den Kopf. ›Nein – das ist es nicht.‹ Und doch, sie mußte aus meiner Bewegung und aus meinem Blick erkannt haben, daß etwas Schweres ihrer harrte, denn sie trat plötzlich näher, und ihre Hände griffen vor, als wollten sie die Worte erhaschen und zugleich von sich wehren.
»›Es ist ihm ein Unglück geschehen?‹ stieß sie jäh hervor.
Da nahm ich sie bei beiden Armen und drückte sie sachte auf den Stuhl, vor dem sie stand.
»›Ja – Frau Angerer, es ist ein Unglück geschehen – aber ein solches, das vielleicht wieder gutgemacht werden kann. Ihr Sohn ist in eine Angelegenheit eng verwickelt, mit der ich mich als Bevollmächtigter der Polizei zu befassen habe – man hat den jungen Mann vor zwei Stunden verhaftet, als er eine Anzahl von Perlen und Steinen, die von dem Diebstahl in der Stephanskirche stammen, bei einem Juwelier verkaufen wollte – –‹
»Ein heftiges Zittern war über die arme Frau gekommen, während ich ihr die böse Nachricht sagte. Voll Entsetzen starrte sie mich an, sie schien den Sinn der Worte, die ich sprach, kaum zu begreifen, und die Stimme versagte ihr, da sie reden wollte.
»›Das ist ja ganz unmöglich –!‹ stieß sie dann hervor. ›Das muß ein Irrtum sein – eine Verwechselung – Sie suchen vielleicht jemand anderes als mich – Angerer – der Name kommt ja öfter vor – –!‹
»Aber ich konnte bei all der Seelenangst, die aus ihrer bebenden Stimme klang, nur still verneinen: ›Ein Irrtum ist leider ganz ausgeschlossen – es handelt sich um Ihren Sohn, um Hermann Angerer, Beamter bei der Südbahn.‹
»Und dann erzählte ich der armen Frau, die nun von Tränen übergossen, kopfschüttelnd und nicht begreifend, dasaß und meine Ausführungen immer wieder mit Einwürfen und Ausrufen ihrer Erschütterung unterbrach, in möglichst schonender Weise, was sich an dem Vormittage ereignet hatte. Ich sagte ihr unumwunden, daß wir ganz überzeugt seien, daß sie den Vorgängen völlig fernstehe, daß wir geneigt seien, auch ihren Sohn, trotz der heiklen Lage der Umstände, zunächst keineswegs als den unbedingt überführten Complicen des Kirchenräubers anzusehen – daß uns einzig daran gelegen sei, jede Spur, die zur völligen Klärung des Falles führen könnte, aufzunehmen und bis ans Ende zu verfolgen.
»Aber nur die Beteuerungen der Unschuld ihres Sohnes, die immer wiederkehrende Beschwörung, daß dieser solide junge Mensch, der sich niemals mit schlechter Gesellschaft eingelassen habe, dessen Fleiß im Dienste von allen seinen Vorgesetzten anerkannt sei, der sich auch durch häusliche Studien noch weiterbildete und der der beste, liebevollste Sohn sei – daß der niemals die Hand zu einem Verbrechen gereicht haben könne, kamen als Antwort über ihre bleichen, vor innerer Erregung zitternden Lippen.
»Erst nach und nach gelang es mir, sie ein wenig zu beruhigen, ihr klarzumachen, daß ihr Sohn, wenn er wirklich unschuldig sei, ja keinen besseren Freund in dieser, schweren Lage habe als eben mich – der ich die wahren Zusammenhänge der Dinge ans Licht zu bringen suche. Sie aber könne ihm keinen bessern Dienst erweisen, wenn er in Wahrheit dem Verbrechen fernstehe, als daß sie mir von seinem Leben in der letzten Zeit, von seinen Gewohnheiten und seinem Umgang mitteile, was irgend von Bedeutung sein könne.
»Und so begannen, immer noch unterbrochen von ihren Tränen und von den neuen Ausbrüchen des Schmerzes über das Unglück, das mit einem Male nun in dem stillen, kleinen Haushalt eine Stätte aufgeschlagen hatte, ihre Mitteilungen über ihren Sohn. Die schwergeprüfte Frau sprach dabei nur wenig im Zusammenhänge – es war mehr ein Hin und Wider von Frage und Antwort zwischen mir und ihr – meinerseits ein Ernten von kleinen Einzelberichten, aus denen ich mir dann das Gesamtbild des Festgenommenen, seines Lebens und seiner Gewohnheiten aufbauen mußte.
»›Sie sind schon seit längerer Zeit Witwe, Frau Angerer?‹
»Sie seufzte, und ich sah dem feinen, ein wenig weltscheuen Gesichte an, wie sich die Frau Mühe geben wollte, ihren Schmerz zu beherrschen, meinen Fragen mit Zusammennahme aller Aufmerksamkeit zu folgen. ›Ja – acht Jahre sind es her – mein Mann war auch Beamter an der Südbahn – in der Betriebsleitung in einer ersten Stellung – –‹
»›Und Ihr Sohn war von Anfang an für die gleiche Beamtenlaufbahn bestimmt?‹
»›Nein – er wollte studieren – das war der Stolz von meinem seligen Mann. Er hat auch das Gymnasium besucht – im Jahre, als mein Mann verstarb, sollte der Hermann auf die Universität. Dann war's natürlich damit aus. Vermögen haben wir ja nicht, – ich hätte es mit der Pension allein nicht machen können. So ist er in die Stellung, die man ihm in der Erinnerung an meinen seligen Mann geboten hat, eingetreten. Und da hat er sich dann so nach und nach weitergearbeitet – –‹
»›Hat Ihr Sohn beim Militär gedient?‹
»Sie wehrte ab. ›Nein, er war immer schwächlich und ist freigekommen. Er hätte wirklich nicht dazu getaugt – er ist nach mir geraten,‹ setzte sie dann mit einem Anflug von Verlegenheit trüb hinzu – ›eine Natur, die sich daheim und in dem kleinen Wirkungskreis, der ihm beschieden ist, am wohlsten fühlt. Mein Seliger hat manchmal gesagt, daß ich den Buben verzärtele – daß er zu unselbständig sei – aber das lag wohl so in dem Kinde – –‹
»›Sie sagten früher, Ihr Sohn habe stets solide gelebt – wollen Sie mir Näheres über seine Einnahmen und Ausgaben in der letzten Zeit mitteilen?‹
»Frau Angerer trocknete ihre Augen, in die aufs neue die Tränen getreten waren. ›Was ist da zu sagen? – ein junger Mensch kann kaum solider sein. Er hat zuletzt achtzig Gulden Monatsgehalt gehabt, davon hat er mir an jedem ersten fünfzig Gulden in die Wirtschaft gegeben; von dem Rest hat er seine Anschaffungen besorgt – seine Kleider, seine Bücher, seine kleinen Ausgaben, und auch die Stunden, die er noch genommen hat, sind davon bezahlt worden. Über jeden Kreuzer glaub' ich, könnte er Rechenschaft geben – –‹
»›Und sein Verkehr? Ich meine, ein junger Mensch wie Ihr Sohn, der hat doch gewöhnlich eine Anzahl von Altersgenossen, mit denen er gelegentlich ins Kaffeehaus geht oder des Abends einmal ein paar Stunden kneipt? Und dann, vor allem – wissen Sie, wie Ihr Sohn sich zur Weiblichkeit gestellt hat? Das wäre vielleicht von Wichtigkeit für meine Nachforschungen – –. Hat er da ein besonderes Interesse für irgend jemand gehabt? Eine Liebschaft – oder dergleichen – –?‹
»Die Frau mir gegenüber, die erst bei meinen Worten den Kopf geschüttelt hatte, wurde nun ein wenig rot.
»›Nein – das, was Sie da erst gefragt haben – ich meine, das vom Kaffeehaus und so – das war gar nicht seine Art – nie hat er am Wirtshausleben Freude gehabt. Natürlich sind ein paar Kollegen von ihm da, an die er sich näher angeschlossen hat – der Herr Assistent Obermeier und der Herr Himmelbauer, wenn Sie die Namen notieren wollen – aber die sind beide auch ganz ruhige Herren – – Und wegen dem anderen – – mein Sohn ist verlobt – oder wenigstens so gut wie verlobt – –‹
»›Ja? – Darf ich fragen, mit wem?‹
»›Eine entfernte Verwandte von uns ist es – Anna Hoffmann heißt sie – ach Gott – die beiden kennen sich von Kindheit auf. – – Ein liebes, gutes und braves Mädel ist sie, und so recht, was ich meinem Hermann wünschen kann, eine tapfere und klare Natur –‹
»›Sie glauben nicht, daß die Braut Ihres Sohnes in irgend einem Zusammenhang mit dem Vorkommnisse stehen kann?‹
»›Annerl? Das ist ganz ausgeschlossen! Die beiden jungen Leute haben sich tief und wahrhaft lieb – da hat es nie einen Zwist oder Streit gegeben – sicher nicht. Und ruhig, ohne Exaltationen, ist doch mein Hermann immer gewesen. Und jeden Abend, wenn er nicht gerade in die englische Stunde gegangen ist, war er zu Hause und hat gelesen oder gelernt und gearbeitet – manchmal war auch die Annerl bei uns. Die hat er dann noch nach Hause begleitet – ich hab' ihm selbst geraten, daß er doch mehr an die Luft gehen soll – –‹
»Ich unterbrach den Bericht mit einer Frage: ›Ihr Sohn hat noch englische Stunden genommen?‹
»Sie nickte: ›Ja, seit zwei Monaten etwa – obwohl's ihm sicher nicht gut war, daß er bei all der Bureauarbeit auch noch die Sprachstudien betrieben hat. Wenigstens hat er so oft über Kopfweh geklagt in der letzten Zeit. Aber er hat gemeint, daß ihm die Sprachkenntnisse noch sicher nützen können beim Avancement – –‹
»Sie schwieg wieder still.
»›Darf ich auch um die Adresse des Sprachlehrers Ihres Sohnes bitten?‹ fragte ich. ›Der Mann hat ihn ja doch auch bis in die letzte Zeit gesehen – vielleicht kann der uns auf irgend eine Spur bringen.‹
»Da stand sie auf. ›Drüben im Zimmer meines Sohnes, auf seinem Schreibtisch, liegt ein kleines Notizbuch, in dem alle Adressen notiert sind – Sie werden das Zimmer ja ohnehin ansehen wollen – da ist es vielleicht am besten, wir gehen gleich hinüber.‹
»Und sie schritt mir voran ins Nebenzimmer, das bisher ihr Sohn bewohnt hatte. Sie trat hier auf den vor dem Fenster stehenden, einfachen Schreibtisch zu, auf dem in der Mitte die gerahmte Photographie eines jungen Mädchens von frischen, energischen und doch feinen Gesichtszügen stand, und entnahm einer offenen Lade ein kleines Büchlein, in dem sie mit immer noch erregt zitternden Händen blätternd suchte.
»›Jones, glaub' ich, heißt der Sprachlehrer,‹ sagte sie dabei, ›ein englischer Name ist es jedenfalls.‹ Dann hielt sie wieder ein und strich sich, ehe sie weiter suchte, mit der Hand über die Augen, vor die ihr wiederum der Schleier ihrer Tränen getreten war. Nun hatte sie den Namen gefunden und gab mir die Adresse an: Sidney Jones, Sprachlehrer, Habsburgergasse 17. Und ich notierte auch diesen Namen zu den anderen, die schon in meinem Buche standen. Schließlich erbat ich mir auch die Adresse des Fräulein Hoffmann und ließ mir dann das ganze kleine Adressenbüchlein geben; ich wollte auf alle Fälle die Namen der darin verzeichneten Persönlichkeiten durchsehen, vielleicht daß da ein Weg – ein Fingerzeig nach den Quellen des Verbrechens zu finden war.
»Auch darüber, wie ihr Sohn die letzten Tage verbracht hatte, gab mir Frau Angerer genaue Auskunft, und jedes ihrer Worte war dabei so überzeugend, daß ich den Eindruck gewann, daß sie jedenfalls aus bestem Wissen und auch mit dem Willen, nur die Wahrheit zu berichten, redete. Ihr war, wie sie mir sagte, an ihrem Sohne auch in der letzten Zeit gewiß nichts Ungewöhnliches besonders aufgefallen. Am Tage vor dem Diebstahl sei er nach Schluß des Bureaus direkt nach Hause gekommen und überhaupt nicht mehr fortgegangen. Er habe bei Bureauarbeiten bis etwa zehn Uhr neben ihr im Wohnzimmer gesessen, dann sei er zu Bett gegangen – und in dem Zimmer, in dem wir sprachen, sei er auch in der ganzen Nacht, in der der Einbruch geschah, unzweifelhaft gewesen. Der Hausmeister, der ja allein den Schlüssel zu dem Haustor habe, würde mir das bestätigen. Am nächsten Tage – also gestern – sei ihr Sohn nach dem Dienst wie immer Freitags in die Stadt gegangen – eben in seine Sprachstunde; er sei dabei nicht länger weggeblieben als sonst – um etwa acht Uhr abends sei er wieder zurückgewesen. Und da er wiederum den starken Kopfschmerz fühlte, der ihn in dieser letzten Zeit so oft befiel, so habe er dann nur noch wenig gesprochen und sich noch früher als sonst zur Ruhe gelegt. Auch heute früh habe er noch über den seltsam drückenden Kopfschmerz geklagt – sei aber trotz des Zuredens, zu Hause zu bleiben, dennoch zur selben Zeit wie sonst zum Dienst gegangen. – –
»Verhielt sich all das wirklich so – und die Nachprüfung dessen konnte ja keinesfalls auf große Schwierigkeiten stoßen – dann ergab sich, daß der junge Angerer jedenfalls nicht bei dem Raube direkt beteiligt gewesen war. Dann konnte er erst tags nach dem Einbruche – in jener Zeit, in der er angeblich zu seinem Sprachlehrer gegangen war – oder gar erst heute morgen, unmittelbar vor seinem mißglückten Versuch, die Steine zu verkaufen und der daran sich anschließenden Verhaftung, in Berührung mit dem eigentlichen Verbrecher gekommen sein.
»Ich beschloß, zunächst hierüber völlige Klarheit zu suchen, und so trat nun, nachdem ich von Frau Angerer erfahren hatte, was irgend Bezug auf den Fall haben konnte, noch die zweite schwere Aufgabe an mich heran, die wiederum manche herbe Träne kostete: ich hielt Haussuchung im Zimmer des Verhafteten.
»Aber auch hierbei fand ich nichts, was belastend gegen den Festgenommenen gewesen wäre – im Gegenteil, all die kleinen Beobachtungen, die ich im Verlaufe dieser Haussuchung machen konnte, trugen nur dazu bei, das Bild des jungen Angerer, so wie es mir nach der Schilderung seiner Mutter erschien, noch mehr abzurunden und zu festigen: Das war nach allem, was ich da fand, ein bescheidener, ruhiger, junger Mann, der sich mit ernstem Streben weiterbilden wollte, der mehr als sonst die jungen Leute in seinen Jahren an seiner Mutter hing, eine mehr zaghafte als kräftige Natur, die sich vom Leben führen ließ und die nicht selber führte. Ein junger Mensch, der, wie ich aus seinem, merkwürdigerweise in den letzten Wochen nicht ergänzten Tagebuch ersah, mit einer wahrhaft rührend tiefen, sehnsüchtigen Liebe an seiner Verlobten hing, der in jeder Hinsicht peinlich geordnet lebte und dessen Zukunftswünsche über das Ziel eines gesicherten, bescheidenen Glückes an der Seite seiner künftigen Frau nicht hinauszugehen schienen. Jedenfalls also ein Mensch, den man sich als Verbrecher oder als wissenden Genossen eines solchen kaum denken konnte. – –
»Als ich die stille Wohnung da draußen an der Südbahn verlassen hatte, fuhr ich direkt in das Bureau, in dem Hermann Angerer tätig war. Alles drängte mich, meine Erhebungen so sehr wie möglich zu beschleunigen – nicht zum wenigsten der wehmütige und versorgte Schmerz, mit dem die arme Frau und Mutter, von der ich kam, mich um Hilfe für ihren Sohn gebeten hatte. Eine so tiefe Überzeugungskraft hatte der Glaube der alten Frau an die Unschuld ihres Sohnes, daß ich mich nun, während mein Wagen in eiligster Fahrt über das Pflaster der Straßen ratterte, immer wieder dabei ertappte, wie meine Gedanken Kombinationen und Möglichkeiten nachgingen, die mehr einem Sachwalter des jungen Mannes anstehen mochten – als einem Detektiv im Dienste der Sicherheitspolizei. Und immer wieder mußte ich mir dann, um mich zur nötigen objektiven Anschauung des Falles zurückzuführen, sagen: der Mann ist festgenommen worden, als er scheu und verdächtig einen Teil der in der Kirche geraubten Edelsteine verkaufen wollte – das ist eine Tatsache! Diese Tatsache kann nicht verwischt werden – sie bleibt – sie beweist, daß dieses Mannes Hände sich mit den Händen des Einbrechers zusammenfanden. –
»Offen und ungelöst blieben allein die Fragen nach dem Wann? und Wo? Und nach der Lösung dieser Fragen zergrübelte ich mir das Hirn, während der Wagen weiter durch die Straßen rollte und all der tausendfältige Lärm der mittägigen Stunde mich umbrandete.
»Dann hielten wir – ich war am Ziel und betrat das ausgedehnte Gebäude, in dem sich die Beamtenlaufbahn unseres Arrestanten bisher abgespielt hatte.
»Ich traf den Bureauchef, dem Hermann Angerer unterstellt war, zum Glück an und wurde sogleich in das Privatkontor geführt, wo ich mich einem Herrn von etwa sechzig Jahren gegenüberfand, dessen ernstes, ein wenig welkes Gesicht von unermüdlicher Arbeit im Bureaudienst sprach. Der alte Herr, der, wie er mir sagte, noch mit Hermann Angerers Vater zusammen gearbeitet hatte, nahm meine Mitteilung mit der größten Betroffenheit auf. Auch ihm schien der Vorgang nach dem ganzen Charakter seines Mitarbeiters völlig unbegreiflich. Er schilderte mir den jungen Beamten als ein Muster von Pünktlichkeit und Pflichttreue, als einen Untergebenen, der – wenn er auch gerade kein großes Lumen sei – sich doch noch nie in den acht Jahren seiner Tätigkeit in dem Bureau auch nur das Geringste hätte zu Schulden kommen lassen.
»Ich ging auf einen Satz seiner Mitteilung näher ein: ›Sie halten den jungen Herrn Angerer für nicht begabt?‹
»Der alte Herr hob zögernd die Schultern. ›N – nein – – aber so habe ich das eigentlich nicht gemeint. Begabung im Sinne einer raschen Auffassung und unbedingte Zuverlässigkeit ist schon vorhanden – nur das, was dann gerade auf den höheren Stufen der Beamtenlaufbahn, auf selbständigeren Posten, so nötig ist – die eigene Initiative, die rasche Entschlußkraft, die Fähigkeit, nach eigenem Willen und Plan zu disponieren – die vermisse ich an ihm. Ein wenig zu weich, zu fügsam unter jeden neuen Eindruck war er mir – –. Aber das sind schließlich intime Dinge, die ja für Ihre Untersuchung nur von untergeordneter Bedeutung sein können – –‹
»Ich widersprach. ›Sie irren – gerade diese psychologischen Beobachtungen sind unschätzbar für uns und können uns wertvoller sein als greifbare Ergebnisse. Sie sagen, daß er unselbständig und fügsam ist – das gibt die Möglichkeit, ihn als den vielleicht durch Furcht und Drohungen eingeschüchterten Genossen eines stärkeren Complicen aufzufassen – das gibt dem uns noch unbekannten Bande, das unseren Arrestanten mit dem Einbrecher verbinden muß, doch immerhin eine bestimmte Farbe.‹
»Dann bat ich um eine genaue Schilderung dessen, was man an Hermann Angerer im Laufe des heutigen Vormittags in dem Bureau beobachtet hatte. Aber darüber wußte der Bureauchef nichts zu sagen, doch ließ er mir gerne die beiden jungen Leute holen, die Pult an Pult mit dem Verhafteten arbeiteten und denen daher nichts entgangen sein konnte.
»Wenige Minuten später waren diese Herren – dieselben, deren Namen mir schon die alte Frau Angerer genannt hatte – zur Stelle, und ich konnte meine Fragen an sie richten.
»Was ich aus den Mitteilungen der jungen Leute entnahm, war interessant genug. Nach ihrer Meinung mußte etwas Drückendes, Außergewöhnliches schon seit Tagen, vielleicht seit Wochen, auf Angerer gelastet haben, denn so lange war es schon her, daß er schweigsamer, zerstreuter und verträumter geworden war, als das früher in seiner Art gelegen hatte. Anfangs hatten sie das irgend einer Verstimmung privater Art oder einer Überanstrengung durch häusliche Arbeit zugeschrieben – dann aber, als er auf ihre Fragen beides verneinte – hatten sie sich eine rechte Erklärung dafür nicht gewußt. Aber augenscheinlich blieb sein Zustand verändert. Er hielt zwar nach wie vor die Dienststunden aufs peinlichste ein, aber er klagte oft über Kopfschmerzen und Schwindelgefühle, gab konfuse Antworten oder starrte auch minutenlang wie geistesabwesend vor sich hin. Bei all dem tat er seine Arbeit mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit.
»Das war bis gestern abend, da er zur gewohnten Stunde das Bureau verlassen hatte, so gewesen.
»Auch heute sei er – so sagten mir die Herren – morgens pünktlich zum Dienste angetreten – aber es sei von Anfang an etwas wie eine nervöse Hast in ihm gewesen, und das habe sich gesteigert und sei gewachsen, je mehr die Zeit verging. Als ob ihn etwas unklar beschäftige, worüber er zu keinem Entschluß kommen könne, sei es gewesen, als ob er mit sich kämpfe und keine Entscheidung finde, so habe es sich angesehen. Auf ihre Fragen, ob ihm etwas fehle, habe er nur kurz abwehrend den Kopf geschüttelt, wie einer, der mit sich allein vollauf beschäftigt ist und jede Störung von sich abhalten will. Nur, daß er Kopfschmerz habe, sagte er einmal, und dabei griff er sich, als wäre dieser Schmerz mit Händen faßbar, mit einer jähen Geste nach den Schläfen. – Und dann wuchs seine Unruhe immer mehr – –. Er sah fortwährend nach der Uhr – es machte den Eindruck, wie wenn er auf irgend etwas wartete, das an eine bestimmte Zeit gebunden war, und ein paarmal tastete er auch nach der Brusttasche, in der er irgend etwas zu tragen schien, das mit seiner Unruhe vielleicht im Zusammenhang stand.
»Und dann mit einem Male – es war im Augenblick, als das Schlagwerk der Bureauuhr zum Schlag der zehnten Stunde ausgeholt hatte – ging er, als wäre er nun zum Entschluß gekommen, auf den Schrank zu, in dem die Herren ihre Überkleider verwahrten, griff nach seinem Hute und ging mit dem gleichen bestimmten Schritt ohne Gruß und ohne seine Kollegen auch nur eines Blickes zu würdigen, aus dem Zimmer.
»Der eine von den Herren, dem dieses befremdliche Benehmen ganz unerklärlich war, sprang auf von seinem Pult und schritt dem Fortgehenden bis zur Tür nach. Er öffnete und rief ihn in den Flur hinaus noch einmal an: Was er denn habe? Ob er unwohl sei? Ob sie ihn bei dem Chef entschuldigen sollten? Ob er bald wiederkäme? – –
»Hermann Angerer aber antwortete nicht und sah sich nicht um. Starr und gerade aufgerichtet ging er den langen Flur entlang, und so sahen die zwei Zurückgebliebenen, als sie ans Fenster traten, ihn dann auch unten über die Straßen gehen. –
»Das war um zehn Uhr gewesen – und eine halbe Stunde später war er bei dem Versuche, die Steine zu verkaufen, verhaftet worden. – – –
»Wieder saß ich in meinem Wagen, und wieder rasselten und ratterten die Räder über das Granitpflaster der Straßen. Und mein Gehirn suchte aufs neue die Eindrücke und Mitteilungen zu einem Bilde zusammenzuschweißen, Klarheit in diese widerspruchsvollen Vorgänge zu bringen.
»Angerer hatte nach der Aussage seiner Kollegen in dieser Vormittagsstunde, in der er so unruhvoll und zerstreut gewesen war, um dann plötzlich Schlag zehn Uhr zu dem Entschlusse seines Fortgehens zu kommen, wiederholt nach seiner Brusttasche gegriffen, in der er einen Gegenstand zu tragen schien, der im Zusammenhänge stand mit seiner Erregung. Ich schloß wohl richtig, wenn ich annahm, daß es sich hierbei um die Schachtel mit den Perlen und Steinen handelte, deren Verkauf er freiwillig oder erzwungenerweise übernommen und für die ersten Vormittagsstunden zugesagt hatte. Für das letztere sprach die Tatsache seines inneren Kampfes und Zauderns. – Aber da wuchs eine neue Frage auf: Wenn der Mann wirklich nur durch Furcht oder Drohungen eingeschüchtert, sich zu der Übernahme dieses heiklen Auftrages entschlossen hatte – warum nannte er uns seinen Bedränger nicht? Warum gab er, der seine ganze Lage in diesem Fall durch Darlegung der Wahrheit so wesentlich verbessern konnte, den Mann nicht an, der ihn zu diesem Gang gezwungen hatte? War er also vielleicht doch schwererwiegend an dem Verbrechen beteiligt, als ich nun, verführt durch die günstigen Aussagen seiner Mutter und seines Vorgesetzten, annehmen mochte? War nicht doch die Möglichkeit vorhanden, daß sich unter der unscheinbaren Persönlichkeit dieses Hermann Angerer ein schwer Mitschuldiger verbarg?
»Immer mehr, je länger ich sann und grübelte, verstrickte ich mich in diese Annahme.
»War es überhaupt denkbar, daß der zweifellos ganz außerordentlich kühne und überlegte Dieb – und nur ein solcher kam für den glänzend ausgedachten und durchgeführten Einbruch in der Stephanskirche in Betracht – sich erst nach der Ausführung des Raubes an diesen scheinbar so still und zurückgezogen lebenden jungen Menschen herangemacht hatte, um ihn zur Verwertung der Beute zu bewegen? Sollte der Einbrecher, der, wie die Einzelheiten des Verbrechens zeigten, in bewundernswerter Umsicht mit jeder denkbaren Möglichkeit gerechnet hatte, sich nicht auch vor der Tat schon seiner ergebenen und verläßlichen Verschärfer versichert haben? Als solchen nun, als Verkäufer der Beute hatten wir diesen Angerer abgefaßt – sollten da seine Beziehungen zu dem Einbrecher nicht doch schon älter sein? Und war es dann nicht möglich, daß der Verhaftete nur darum schwieg, weil sein Sprechen vielleicht noch mehr dunkle Vorgänge in seiner scheinbar so biederen Vergangenheit aufdecken konnte?
»Aber dann, mitten in all diesen Erwägungen, stand wiederum das Bild des jungen Menschen vor mir, so wie ich es leibhaftig gesehen hatte, während ich mich vergeblich bemühte, Näheres über die Vorgänge aus ihm herauszubekommen. Und auch all die guten Eindrücke, die ich in seinem Heim und in seinem Bureau empfangen hatte, rangen aufs neue nach Geltung. Und wieder sagte mir, im Gegensätze zu allen Deutungen und Schlüssen meines Verstandes, eine Stimme des Gefühls: Der Mann kann kein Verbrecher sein – es ist kaum möglich, daß sich in diesem stillen jungen Menschen, der selber aussah, als wäre eine Katastrophe über ihn hereingebrochen, ein Verbrecher barg!
»Trotzdem beschloß ich, ihn noch einmal vorzunehmen – noch einmal den Versuch zu machen, ihn zum Reden zu bringen.
»Als wir vor dem Polizeigebäude hielten und ich mein Arbeitszimmer erreicht hatte, ließ ich ihn mir sogleich vorführen. Aber – daß ich es nur gleich sage – der Erfolg war um kein Haar besser als das erste Mal.
»Mit allen Mitteln suchte ich auf ihn zu wirken – aber keines führte mich zum Ziele. Ich redete ihm von seiner Mutter, bei der ich gewesen war, und von dem schweren Schlage, den seine Festnahme der armen Frau versetzt hatte – er schluchzte fassungslos wie ein unglückliches Kind – aber auf alle Aufforderungen, zu gestehen, woher er die Steine habe, von wem sie ihm gegeben worden, wann er sie erhalten habe, schüttelte er nur immer wieder den Kopf. Und immer wieder kamen dabei seine Beteuerungen: ›Ich weiß es ja nicht, ich schwöre es, daß ich nichts weiß davon – bei meiner Mutter – bei allem, was mir heilig ist, kann ich's beschwören!‹
»›Aber Sie werden doch nicht leugnen, daß Sie heute früh in dem Bureau die Schachtel mit den Steinen in Ihrer Brusttasche hatten und mehrmals danach fühlten? Ihre Kollegen haben das selbst beobachtet und mitgeteilt!‹
»›Meine Kollegen? – Heute früh – –?!‹ Er starrte mich mit suchenden, irr blickenden Augen an, und seine Finger tasteten zitternd an seinen Schläfen. ›Mein Gott – – mein Gott-!‹ sagte er dann. ›Ich weiß das alles ja doch nicht – und kann nichts tun als sagen, daß ich es nicht weiß – –‹
»Endlich ließ ich ab von meinen Versuchen – die nur meine schon früher gewonnene Erfahrung bestärkt hatten, daß ich auf den Festgenommenen und seine etwaigen Aussagen bei meinen Bemühungen zur Klärung dieses rätselhaften Falles nicht rechnen durfte.
»Warum er schwieg? Ich konnte mir auch jetzt darauf keine Antwort geben – nur eines fühlte ich mit Sicherheit, daß es nicht Verstocktheit war. Ob ihn – wie ich das früher angenommen hatte – maßlose Furcht vor der drohenden Rache eines Complicen zu seinem Benehmen bewog? Es kamen mir, wie ich ihn vor mir sah, nun auch an dieser Annahme Zweifel um Zweifel. Aber was war es denn, das ihn beherrschte, ihn Dinge leugnen ließ, die doch bewiesen waren, ihn anspornte, sein Wissen um Vorgänge, die über allem Zweifel standen, zu bestreiten? Warum log der Mann? – – Ja, log er denn – –?
»Phantastische Gedanken stiegen in mir auf – aber ich verwarf sie, denn ich fühlte, daß ich mit ihnen den sicheren Boden meiner Forschungen verlassen würde, daß sie mich in das unbegrenzte Reich von Möglichkeiten locken wollten, für die hier keine Chancen lagen. Die Erinnerung an einen vor Jahren begangenen Mord im Zustande eines pathologischen Rausches, an einen Mord, dessen furchtbare Erinnerungsbilder zugleich mit dem Rausche aus dem Gedächtnis des Täters entschwunden waren – der Gedanke an die grauenvolle Tat eines Epileptikers, der nach Ausführung eines Leichenraubes gleichfalls von tiefer Amnesie über das Geschehene befallen worden war, stiegen vor mir auf. Aber das alles waren Fälle, deren Voraussetzungen bei dem jungen Menschen vor mir fehlten: der hatte sich nachweislich nicht berauscht und war gesund – kein Epileptiker.
»Als ich ihn wieder in seine Zelle hatte abführen lassen, war für Augenblicke eine arge Mutlosigkeit in mir – dann aber raffte ich mich auf, und meine Willenskraft gewann die Oberhand. Ich nahm das Tagebuch des Hermann Angerer und die Notizen, die ich mir gemacht hatte, vor und durchgrübelte sie im Zusammenhalt mit dem vorliegenden Aktennationale immer aufs neue. Mit Anspannung aller meiner Kräfte suchte ich nach einem Faden, der mich bei meinen weiteren Schritten leiten konnte, nach einer geeigneten Angriffsstelle, an der ich zunächst einsetzen mochte, um zu einiger Klarheit zu gelangen.
»So erregt wurde ich bei diesem Sinnen und Suchen, daß ich gar nicht daran dachte und ganz übersah, wie die Mittagsstunden längst vorübergegangen waren, ohne daß ich auch nur einen Bissen zu mir genommen hätte. Erst durch das Gefühl heftigen Hungers, das sich dann mit einem Male zu melden begann, wurde ich um etwa vier Uhr aus meinem Sinnen geweckt.
»Ich sagte dem Diener, daß ich in einer Viertelstunde wiederkommen würde, und ging rasch in ein kleines Restaurant, das dem Polizeigebäude gerade gegenüber lag. An einem kleinen Tischchen aß ich eilig eine Kleinigkeit – immer noch dabei in Gedanken bei meinem Falle, der mich nun ganz in Anspruch nahm. An einem zweiten Tisch unweit von mir saß eine Gesellschaft von drei Personen – anscheinend Fremde –, die sich lebhaft unterhielten. Als ich beim Verlassen des Restaurants an ihnen vorüberschritt, drangen ein paar englische Sätze an mein Ohr. Die ganze Sache wäre eindruckslos, nichtig, wie sie war, an mir vorübergegangen, wenn mir nicht durch sie die Erinnerung an den Sprachlehrer, bei dem der Hermann Angerer seine englischen Stunden nahm, mit einem Male wieder lebendig geworden und in den Vordergrund meiner Gedanken getreten wäre. Sidney Jones – so hatte er ja wohl geheißen – das war der Mann, den ich zunächst über den Verhafteten hören mußte! Bei dem war unser Häftling allem Anscheine nach gestern abend noch gewesen – dort konnte ich erfahren, ob er die Abendstunde wirklich bei englischen Studien verbracht hatte, oder ob er etwa diesen Weg nur vorgeschützt, in der Tat aber diese Zeit zu anderem verwendet hatte! Ich beschloß, den Gang nach der Habsburgergasse gleich zu machen, und nur noch rasch vorher auf mein Arbeitszimmer im Polizeigebäude zu gehen, um den Diener über mein Wegbleiben zu unterrichten.
»Als ich aber dann wieder oben vor meinem Schreibtische stand und eben dem Diener läuten wollte, da trat dieser auch schon bei mir ein und übergab mir eine Karte, deren Bringerin, eine junge Dame, mich – wie er mir bestellte – dringend zu sprechen wünschte.
»Erst wollte ich das kleine weiße Blatt ohne weiteres auf den Schreibtisch werfen und die Besucherin bitten lassen, zu einer mir gelegeneren Zeit mich wieder aufzusuchen. Ich hatte einen Damenbesuch von irgend welcher Bedeutung nicht zu erwarten und wollte fort – es trieb mich, all die widerstreitenden Gedanken, die mich seit Stunden nun beschäftigten, durch weitere Ermittelungen zu klären. Es drängte mich, nachdem nun alles Material des Falles Angerer in mir gefestigt war und ausgebreitet lag, die Spannung meiner Nerven durch eine Handlung zu lösen; ich fühlte, daß ich eine Unterbrechung meiner Arbeit durch irgend eine andere gleichgültige Angelegenheit gerade jetzt nicht über mich ergehen lassen dürfte.
»›Sagen Sie der Dame, ich hätte heute keine Zeit, sie möge sich an einen der anderen Herren wenden oder gelegentlich einmal wiederkommen.‹
»Der Diener, der sonst an ein militärisch knappes Wesen gewohnt war und Widerspruch nicht kannte, zögerte ein wenig.
»›Nun, Dieffenbach – was gibt's noch?‹
»›Entschuldigen, Herr Kommissär – nur weil das Fräulein sagt, daß es so dringend wäre – –‹
»›Dringend!‹ Ich wurde ungeduldig. »Was wird's denn wieder sein! Ihr Kanarienvogel wird ihr davongeflogen sein, und wir sollen ihn fangen – oder eine gute Freundin hat ihr eine anonyme Karte geschrieben, und wir sollen das feststellen. Ich habe Wichtigeres zu tun – –‹
»Der Diener wollte gehen – aber da kam nun doch ein Bedenken über mich, ob es auch richtig war, die Besucherin so ohne weiteres wegzuschicken, und ich rief ihm nach: ›Fragen Sie immerhin, um was es sich handelt!‹
»Eine Minute später aber – ich stand schon im Überrock, den Hut auf dem Kopfe, bereit, fortzugehen – kam er wieder und gab mir Bescheid: ›Die Dame sagt, es handelt sich um die Angelegenheit des verhafteten Hermann Angerer.‹
»Und jetzt erst warf ich einen Blick auf die Karte, die auf dem Schreibtisch lag – meine Besucherin war Anna Hoffmann, die Braut unseres Häftlings!
»Im Nu hing mein Überrock wieder im Kleiderschranke, und wenige Sekunden später saß mir das junge Mädchen mit den frischen, energischen und doch feinen Gesichtszügen gegenüber, dessen Bild ich schon am Vormittage auf dem Schreibtische des Verhafteten gesehen hatte.
»Eine leichte Befangenheit lag erst über ihr, während sie mir nach den ersten begrüßenden Worten den Grund ihres Kommens aussprach – aber die verflog und verschwand mit jedem Satze mehr und wich einer klaren, ruhigen Bestimmtheit. Ihre Stimme war hell und weich, und die leise Färbung des Wiener Dialektes gab ihr etwas überaus Sympathisches. Und sympathisch war das ganze Wesen des jungen Mädchens, das etwa zweiundzwanzig Jahre zählen mochte, und das nun hierher aus eigenem Antrieb als Anwältin für ihren Verlobten gekommen war.
»Sie erzählte, daß Frau Angerer mittags, gleich nach meinem Weggehen von der alten Frau, nach ihr geschickt und ihr, noch immer völlig hingenommen von dem Schmerz über die Ereignisse, den ganzen Vorgang mitgeteilt habe. Lange hätten sie über alles das gesprochen – sie beide, die Mutter und die Braut des Verhafteten, die ihn doch näher kennen mußten als irgend jemand sonst! – und beide wären sie ganz überzeugt, daß der nicht das geringste mit einem Verbrechen zu tun haben könnte!
»›Und um mir das zu sagen, sind Sie zu mir gekommen?‹
»Sie sah mich aus ihren lebendigen blauen Augen voll an. ›Ja – um Ihnen das zu sagen – und überhaupt – ich kann das nicht so erklären – aber ich hab' halt das Gefühl gehabt: wenn dem Hermann hier etwas droht, dann g'hör' ich auch her – dann muß ich mit den Herren reden und ihnen sagen, daß sie kein' Unsinn machen soll'n – und nicht ein paar Menschen unglücklich machen soll'n, die ihr Lebtag nie was Böses oder Unrechtes getan haben!‹
»Sie hatte sich in Erregung gesprochen und schien nun selbst ein wenig besorgt zu sein um die Wirkung ihrer hastig hervorgesprudelten Worte. Als sie aber dann sah, daß auf meinem Gesicht keinerlei Zorn oder Ärger über diese nicht gerade sehr vertrauensvoll klingende Rede zu sehen war, strich sie sich das in widerspenstigen Löckchen an den Schläfen vorfallende Haar mit ihrer runden, festen Hand zurück und begann mit raschem Entschluß von neuem.
»›Kann ich ihn sehen?‹
»›Den Verhafteten – Ihren Bräutigam?‹
»›Ja – –‹
»›Nein, liebes Fräulein, das ist ausgeschlossen.‹
»›Ausgeschlossen? Ja, aber warum denn – –‹
»›Untersuchungshäftlinge werden grundsätzlich völlig isoliert gehalten.‹
»›Ja, aber das ist doch eine Quälerei ohnegleichen für den Armen – –! Ich mein', wenn man so einen armen Menschen unschuldig verhaftet, das wär' doch wirklich genug – wenigstens den Trost könnt' man ihm doch lassen, daß seine Leut' ihm sagen können, daß sie an seine Unschuld glauben – daß sie ihm in seinem Unglück beistehen wollen. Wenigstens das sollt' er doch wissen, daß er von uns nicht verlassen ist – –‹
»Wieder ein halb besorgter, halb trotziger Blick auf mich, und dann, als ich ihr die Erfüllung noch einmal abschlagen mußte, eine tiefe, schmerzliche Enttäuschung.
»›Es tut mir selbst leid, Fräulein Hoffmann, aber die Bestimmungen dürfen auf keinen Fall durchbrochen werden – sehen oder sprechen darf Ihr Verlobter zunächst niemand von seinen Angehörigen – weder Sie noch seine Mutter noch sonst jemand?‹
»›Ja aber – mein Gott – wenn schon solche Bestimmungen getroffen sind – man muß doch irgend einen vernünftigen Grund dafür haben?‹
»›Den Grund – den kann ich Ihnen schon sagen. Denken Sie doch nur an die Folgen, wenn jeder festgenommene Verbrecher so ohne – –‹
»›Der Hermann ist kein Verbrecher! – – Und dann – es könnte ja doch irgend jemand – Sie oder sonst ein Beamter – dabei sein, wenn ich mit ihm spreche!?‹
»›Liebes Fräulein, es ist ausgeschlossen.‹
»Jetzt saß sie ein paar Augenblicke still mit einem desperaten Ausdruck in dem noch ganz heiß erregten Gesicht. Aber sie gab den Kampf für ihren Verlobten nicht auf – an ihren Augen und an ihrer Stirne konnte ich sehen, wie ihre Gedanken arbeiteten und suchten – sie glaubte an ihn und trat mit einem neuen Anlauf für ihn ein.
»›Seine Mutter hat mir gesagt, daß Sie alles tun wollen, um die Wahrheit zu erfahren – glauben Sie, daß Sie den wirklich Schuldigen bald haben werden? Geradezu eine Sünd' ist es, daß Sie den Hermann festhalten – grad' so gut könnten Sie mich verhaften!‹
»›Fräulein Hoffmann, er ist festgenommen worden, als er die Steine verkaufen wollte.‹
»›Und wenn's zehnmal so wäre – deswegen könnt' ich doch drauf schwören, daß er unschuldig ist!‹
»Ich konnte nur die Achseln zucken, und bei allem Mitleid, das ich mit dem energischen und prächtigen Mädchen hatte, kam eine leise Ungeduld über mich. ›Mein liebes Fräulein, wir bewegen uns da im Kreise und kommen damit nicht weiter – ich habe in der Angelegenheit Ihres Verlobten heute noch viel zu tun –‹
»Sie stand auf und blitzte mich aus ihren lebhaften blauen Augen an; eine nur mühsam unterdrückte Erregung war in ihr – Sorge um ihren Bräutigam und zugleich der tapfere Wille, sich nicht abweisen zu lassen, ohne irgend etwas für ihn getan zu haben. ›Das heißt, ich soll gehen?‹ fragte sie. ›Nun ja – aber eine Bitte hab' ich doch noch vorher – –‹
»Auch ich hatte mich erhoben. ›Wenn ich Ihre Bitte erfüllen kann, soll es mir eine Freude sein.‹
»›Mir kommt das schrecklich vor, daß ich, während der Hermann hier festgehalten wird und während Sie sich um die Aufklärung des Falls bemühen, zu Hause sitzen muß und nichts tun können soll, um ihm zu nützen! Ich will Sie bitten, Herr Plank, daß Sie mich Ihnen helfen lassen – – ich will auch etwas für ihn tun – sicherlich gibt es Gänge oder Wege, die ich Ihnen abnehmen kann – – ich will – –‹
»›Aber Fräulein Hoffmann – –! Ich glaube, Sie stellen sich diese Dinge einfacher vor, als sie sind!‹ Ich mußte trotz ihrer Erregung lächeln bei der Vorstellung, das junge Mädchen als Hilfskraft im polizeilichen Ausforschungsdienst zu verwenden.
»›Einfacher? – Gar nicht! Bitte, lachen Sie nicht – ich spreche im vollen Ernst. – Ich will helfen und nicht unnütz zusehen, wo es sich um mein Glück und um das Glück meines Verlobten handelt. – – Und Fälle, in denen eine Hilfe wie die meinige – ich meine die Hilfe eines Menschen, der mit der Polizei nichts zu tun hat, der aber für den Gefangenen durchs Feuer ginge – für Sie von Wert sein könnte, sind doch sehr wohl denkbar – –‹
»›Gewiß – gewiß – aber, mein liebes Fräulein –‹
»›Bitte, versprechen Sie mir, an mich zu denken, wenn solch ein Fall eintreten sollte – mehr will ich für den Augenblick gar nicht!‹
»Etwas, was mich ergriff und rührte, ging von dem jungen Mädchen aus, die sich so tapfer für ihren Bräutigam ins Zeug legte, und mit einem halben Lächeln streckte ich ihr die Hand entgegen.
»›Gut – das verspreche ich: wenn ich in diesem Falle zur Aufklärung oder auch sonst aus Ihrer Hilfe Vorteil für den Verhafteten ziehen kann, dann sollen Sie es wissen, dann will ich an Sie denken.‹
»Sie legte ihre feste rundliche Hand in die meinige, und mit einem kameradschaftlichen Druck war der merkwürdige Pakt geschlossen.
»›Danke, Herr Plank!‹ sagte sie. ›Ich werde in jeder Stunde auf Ihre Nachricht warten!‹
»Als ich dann die Tür hinter ihr geschlossen hatte, schüttelte ich den Kopf und mußte wieder lächeln. Das war ja ein richtiger Draufgänger, dieses Mädel! Und der Angerer, der Bursch – wenn der wirklich unschuldig war und das Mädel da einmal bekam – der konnte sich gratulieren! Die ersetzte dann an Energie ganz reichlich, was ihm daran fehlte! – – Dann aber, während ich mir wiederum den Überrock aus dem Schranke holte und mich zum Gehen fertig machte, war es mir, als hätte ich ihr diese letzte Zusage doch nicht geben sollen. – – Aber schließlich, was lag daran?! Ich würde ja doch wohl kaum in die Lage kommen, mein Wort einlösen zu müssen. – –
»Gleich darauf sagte ich dem Diener Dieffenbach, daß ich am Abend noch einmal herkommen würde – das sollte er, falls der Polizeirat Franz nach mir fragte, dem übermitteln – dann machte ich mich auf den Weg zu dem Sprachlehrer Sidney Jones, bei dem der Hermann Angerer seine englischen Stunden genommen hatte.« – –
Richard Plank hielt ein in seiner Erzählung, strich sich mit der Linken über die Stirne und blies den Rauch seiner Zigarre in die Luft. Und erst nach einer Weile nahm er den Faden seiner Erzählung wieder auf.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich an die Habsburgergasse erinnern – so, wie sie damals aussah, in der Zeit, in der diese merkwürdige Geschichte mit dem ›Puppenspieler‹ sich abgewickelt hat. Es ist dort viel gebaut worden in den letzten Jahren – neue Häuser sind eines neben dem anderen in kurzer Zeit an Stelle der alten getreten, andere wieder hat man renoviert – die ganze Gasse hat ein völlig neues Gesicht bekommen. Damals aber trug sie noch ganz den Stempel ›Altwien‹ an sich. Nur gegen den ›Graben‹ zu standen ein paar prächtige Paläste – aber was sich dahinter dann aneinanderreihte, das waren Bauten, die meist schon mehr als ein Jahrhundert an sich hatten vorüberziehen sehen. Da waren altersgraue Häuser mit riesigen doppelflügeligen Toren und winkeligen Höfen, in denen alte Brunnen standen, und zwischen aufgestapelten Kisten, Handkarren und dergleichen die Kinder spielten. Häuser, auf deren steinernen Treppen jeder Schritt seltsam hallte, in deren gewölbten Gängen mit den meterdicken Mauern und Pfeilern oft so seltsame Geräusche aufkreischten – die vielleicht von einer längst übermauerten Eisentür kamen, die in der Zugluft eines Kamins in ihren Angeln schrie und knarrte – oder von dem Winde, der sich im Schornstein fing, und da dann einen Ausweg suchend durch die Essen heulte – – wer mag das wissen. Ich selbst habe mit meinen Eltern als Kind in einem solchen Hause, in dem die Wände nachts zu stöhnen schienen, gewohnt – –. Nun ja – solcher Art waren also diese alten Bauten, die sich damals noch in der Habsburgergasse eng und düster aneinanderreihten, und in deren einem der Sprachlehrer Sidney Jones sein Quartier aufgeschlagen hatte. Nummer siebzehn war es – ich entsinne mich dessen noch ganz genau – auf alles besinne ich mich noch, was irgend mit dem Falle zusammenhängt, klar und scharf, als zählte meine Erinnerung an diese Dinge erst seit Tagen. Durch ein breites Haustor, an dem noch ein Sphinxkopf mit einem Ring im Munde als Türklopfer angebracht war, ging es in eine düstere Einfahrt, deren Wände über und über mit zahlreichen Firmentafeln, Geschäftsschildern und Namenstäfelchen bedeckt waren. Eines unter ihnen, das reinlicher und jünger schien als die meisten anderen, trug auch den Namen des Mannes, den ich aufsuchen wollte,
SIDNEY JONES
II. Aufgang, 3 Treppen. |
stand da zu lesen. Eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger wies am Schlusse dieser Aufschrift in der Richtung nach dem dumpfen Hofe, über den man gehen mußte, um zu dem zweiten Aufgange zu gelangen.
»Langsam stieg ich die drei Treppen empor – auch sie trugen mit dem schmucklosen, ehemals weißgestrichenen Treppenhause, den Wänden, deren Kalkbewurf hier und da abgebröckelt war, den Charakter des ganzen Hauses – alt und durch die jahrzehntelange Benützung arg mitgenommen war das alles, und niemand gab sich Mühe, gegen diesen stillen Verfall einzuschreiten, hier noch viel auf Besserung des äußeren Ansehens zu wenden. Wenn mir etwas noch auffiel, so war es die Ruhe, die auf der Treppe und in den Gängen herrschte, und die in angenehmem Gegensatz stand zu dem brandenden Lärm der Straße, von der ich kam.
»Auf mein Läuten an der Tür, die den Namen des Sprachlehrers trug, blieb es zunächst völlig still. Dann hörte ich, wie in der Wohnung eine Tür geöffnet wurde, wie Schritte näher kamen, und ich hatte das Gefühl, als würde ich ein paar Augenblicke lang durch das Guckloch scharf gemustert – als stünde da hinter der Tür jemand, der mit sich kämpft um den Entschluß, ob er mir öffnen solle. Aber das waren nur Sekunden, und gleich darauf wurde die Tür aufgemacht, und ich stand einem hoch gewachsenen Mann von etwa fünfundvierzig Jahren gegenüber, der sich stark vorgebeugt hielt, und den ich mit seiner schön entwickelten hohen Stirn und den unter halbgeschlossenen Lidern hervorblickenden kühlen Augen unter anderen Verhältnissen weit eher für einen Gelehrten als für einen Sprachlehrer genommen hätte. Auch die auffallende Blässe seines ausdrucksvollen, glattrasierten Gesichts und die abgescheuerten Stellen an den Ärmeln seines braunen Samtjaketts schienen mir auf einen Stubengelehrten, der reichlich viel Zeit am Schreibtische verbrachte, hinzuweisen.
»›Habe ich die Ehre, Herrn Sidney Jones – –?‹
»Er trat ein paar Schritte zurück und lud mich, während er sich leicht verbeugte, mit einer Gebärde seiner Hand ein, näherzutreten.
»›Mein Name ist Jones.‹
»›Plank – Richard Plank.‹
»›Und Sie wünschen mich zu sprechen?‹
»›Ja, wenn Sie ein paar Minuten für mich übrig haben?‹
»Ein prüfender Blick ging über mich hin, dann nickte Herr Jones.
»›Gerne.‹
»Er öffnete eine Tür des Vorraumes, in den wir getreten waren, und ließ mich vorangehen in ein kleines Zimmer – anscheinend sein Arbeitszimmer, – in dem er bisher gesessen haben mochte. Auffallend und seltsam, wie der Mann selbst mit seinen glattrasierten, schon ein wenig verwitternden Zügen, die etwas seltsam Anziehendes und doch etwas Befremdliches hatten zugleich, war auch dieser in seiner ganzen Ausstattung bis zur Ärmlichkeit bescheidene Raum, der so recht geschaffen schien, um konzentrierter, ungestörter Arbeit zu dienen.
»Das schmucklose Fenster, durch das die Stube ihr, jetzt schon in der vorgerückten Nachmittagsstunde stark dämmeriges Licht erhielt, hatte die kahle Mauer eines Nebenhauses als Gegenüber und war zudem bis über Augenhöhe mit milden Milchglasscheiben undurchsichtig gemacht. Vor diesem Fenster stand ein schmaler, länglicher Tisch so aufgestellt, daß er gleich einer Barre quer in das Zimmer schnitt, und zu beiden Seiten dieses Tisches waren Sitzgelegenheiten angeordnet. Hier ein breitarmiger, hölzerner Arbeitsstuhl – ein altmodisches unbequemes Möbel, von dem, wie aus der Stellung des Stuhls noch zu sehen war, der Sprachlehrer soeben sich erhoben haben mochte – und gerade gegenüber, jenseits des Tisches, als einziges Prunkstück des Raums, ein etwas niedriger, bequem gepolsterter Fauteuil – vielleicht der Platz, den Sidney Jones jeweilig seinen Schülern anwies, wenn er mit ihnen seine Sprachstudien trieb.
»Und daß hier viel gearbeitet wurde, nicht nur in den Stunden, in denen diese Schüler da ihrem Lehrer gegenüber saßen, sondern auch dann, wenn dieser sich allein in seinem Zimmer befand, das konnte man schon auf den ersten Blick erkennen. Der Tisch war vollgeräumt mit Büchern und Skripturen, ein paar deutsche und englische Journale lagen dazwischen umher, und auch an der Wand hinter dem Fauteuil war ein Bücherbord angebracht, das eine stattliche Zahl, wie es mir schien, wissenschaftlicher Werke trug. Sonst waren die Wände kahl – kein Bild, kein Farbenfleck, kein weiterer Schmuck zerstreute den, der sich hier in ein Studium versenken wollte.
»Herr Jones wies mir den Fauteuil und lud mich, während er sich selbst wiederum niederließ, gleichfalls zum Sitzen ein.
»Seine langen, mageren Hände griffen ein paar mit Zahlenreihen und, wie mir in dem Dämmerlichte schien, mit mathematischen Formeln bedeckte Blätter zusammen – er schien auf meine Anrede zu warten. Und da ich, sei es in Betrachtung dieses seltsam kahlen Raums, sei es in Gedanken über das, was ich ihm sagen wollte, noch immer schwieg, begann er selbst zu reden.
»›Sie kommen gewiß wegen des Unterrichts – Herr Plank?‹
»›Nicht doch so ganz – –.‹
»Er schien meinen Einwurf überhört zu haben, denn er fuhr fort, seine Annahme weiter auszuführen und zu entwickeln. Seine Stimme klang dabei weich und angenehm – etwas sehr Mildes, beinahe Streichelndes war in ihr. Und er sprach ein nahezu dialektfreies Deutsch, nur hier und da schien mir ein leiser Anklang den Deutsch-Engländer oder Amerikaner zu verraten.
»›Nun ja – also ich nehme an, Sie haben auch eines meiner Inserate in den Blättern gelesen und möchten sich meinem Unterricht anvertrauen. Das freut mich, und ich glaube Ihnen sagen zu können, daß Sie diesen Entschluß nicht bereuen werden. Was nun zunächst – ehe wir von meiner Methode sprechen wollen – die Fragen allgemeiner Art betrifft – –‹
»Ich unterbrach ihn und mußte lächeln, während ich sprach:
»›Pardon, Herr Jones – hier liegt ein kleines Mißverständnis vor –‹
»›Ein Mißverständnis?‹ Seine Augen hoben sich für einen Augenblick von den weißen Blättern, auf denen sie bisher geruht hatten, und blickten fragend zu mir herüber.
»›Ich spreche selbst leidlich gut Englisch und bin leider nicht gekommen, um Sie um Ihren gewiß ganz vortrefflichen Unterricht zu bitten – –‹
»›Nicht? – –‹ Eine Enttäuschung schien in seiner Frage zu liegen deutlich klang eine leise Erregung aus dem einen Wort, und ich dachte, während ich weitersprach: Armer Kerl – gewiß geht es ihm nicht sehr glänzend, und er hat sich schon über den ›neuen Schüler‹ gefreut!
»›Nein – es ist eine rein persönliche Angelegenheit, die mich zu Ihnen führt: ich möchte eine Auskunft über einen Ihrer Schüler von Ihnen erbitten.‹
»›Eine Auskunft?‹
»Herr Sidney Jones schien sehr erstaunt, und wieder trafen mich dabei für eine Sekunde seine fragenden Augen. Und seltsam – ich fühlte jetzt etwas wie eine leise Unruhe, ein vages Unbehagen unter dem Blick dieser ganz auffallend glasharten, grünen Augen mit den winzigen, kaum stecknadelkopfgroßen Pupillen – –. Ich hätte es nicht zu sagen gewußt, was es war, ob das Befremdliche der Farbe oder der starre Glanz – –.
»›Es handelt sich um den Bahnbeamten Hermann Angerer, der seit einiger Zeit Unterricht in der englischen Sprache bei Ihnen genommen hat – –‹
»›Angerer – –?‹ Herr Sidney Jones nickte zustimmend, und bei einer leichten Bewegung, die er ganz unwillkürlich dabei mit seinem linken Arme machte, geschah es, daß eins von den Büchern, die da vor ihm auf dem Tische lagen, zu Boden fiel. Rasch bückte er sich, den Band aufzuheben – aber das gelang nicht gleich – das Blut stieg ihm zu Kopf, wie er sich niederbeugte. Dann hatte er das Buch und legte es wieder zu den anderen Bänden ›Pardon,‹ sagte er, ›ich war ungeschickt. Angerer – Emil Angerer – nicht wahr?‹
»›Nein, Hermann.‹
»›Ach ja! Hermann. Sie haben ganz recht: Hermann Angerer – Gott, man kommt sich persönlich ja nur so wenig nahe – da kann einem der Vorname schon einmal entfallen. Gewiß – der junge Mann nimmt Unterricht bei mir – und ich darf wohl sagen, daß er in der doch erst kurzen Zeit schon recht schöne Fortschritte gemacht hat – was ja natürlich zum besten Teile seinem Fleiß und seinem ganz entschiedenen Sprachtalent zuzuschreiben ist.‹
»›So? – Nun, mich interessiert eigentlich etwas anderes mehr. – Wollen Sie mir sagen, Herr Jones, wann der Herr Angerer zum letzten Male bei Ihnen gewesen ist?‹ –
»Herr Sidney Jones zögerte.
»›Entschuldigen Sie, wenn ich da erst eine Gegenfrage stelle,‹ sagte er dann, ›Sie sind gewiß ein Verwandter des Herrn Angerer?‹
»›Nein.‹
»›Oder sind vielleicht von ihm zu Ihrer Frage autorisiert?‹
»›Auch nicht‹.
»›Hm – Es schien Herrn Jones peinlich, weiter zu sprechen, aber er überwand das. ›Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, Herr Plank. – – Aber ich möchte dann doch bitten, mir die Beantwortung Ihrer Frage zu erlassen.‹ –
»Ich richtete mich auf in dem bequemen Fauteuil – die Sache begann für mich interessant zu werden.
»›Haben Sie bestimmte Gründe für diese Zurückhaltung, Herr Jones – und darf ich vielleicht wenigstens wissen, was für Gründe es sind, die Sie dabei leiten?‹
»›Meine Gründe – ja – es ist nichts weiter, als eine Diskretion, die ich meinen Schülern wohl schuldig bin – –‹
»Ich nickte. ›Ich vermag Ihr Feingefühl gewiß zu würdigen, Herr Jones – aber ich kann Ihnen zu Ihrer Beruhigung sagen, daß meine Frage, wenn auch nicht mit der Autorisation des Herrn Angerer, so doch in seinem Interesse gestellt war. Ich sehe schon, daß ich deutlicher werden muß: Nun – Ihr Schüler ist in eine sehr unangenehme Angelegenheit verwickelt, die zur Zeit in den Händen der Polizei liegt. Ich bin mit den Feststellungen betraut – es liegt uns viel daran, genau zu wissen, wo und wie Herr Angerer seine Zeit in den letzten Tagen verbracht hat. Ich bitte Sie also, meine Frage als eine amtliche Anfrage aufzufassen.‹
»Mein Gegenüber hatte mit gespanntem Interesse zugehört, und es war, je weiter ich sprach, eine um so deutlicher erkennbare Verstimmung über ihn gekommen.
»›Eine Angelegenheit, die in den Händen der Polizei liegt – –?‹ wiederholte er dann, ›wie ist das nur möglich – ach, das ist mir aber peinlich – –.‹ Herr Jones drückte die Hand an die Stirn – die ganze Sache war ihm augenscheinlich höchst unangenehm. ›Ja – natürlich muß ich Ihnen dann genaue Auskunft geben – nun – ich weiß ja nicht, seit wann diese Angelegenheit spielt – aber, wenn Sie mich als Amtsperson fragen – nun gut: Ich habe Herrn Angerer am vergangenen Dienstag zum letzten Male bei mir gesehen – und gestern, Freitag abend – habe ich ihn vergebens zu der verabredeten Stunde hier erwartet. – – Nun erklärt sich das also – da war Herr Angerer wohl gestern schon – –‹
»Er zögerte und sah mich hastig mit fragendem Ausdruck aus diesen hellen, grünen Augen an. Und wieder hatte ich das seltsame Gefühl von Unbehagen.
»›Sie meinen, er wäre gestern schon verhaftet gewesen und hätte daher nicht kommen können? Nein – Herr Angerer ist erst heute vormittag festgenommen worden. – Nach den Angaben seiner Umgebung hat er geäußert, daß er gestern abend wie sonst zu Ihnen ginge – er ist dann auch in der Tat während der Zeit, die er sonst bei Ihnen zu verbringen pflegte, vom Hause abwesend gewesen – –‹
»Herr Jones hatte sich aus seinem Sessel erhoben und schritt nervös in dem kleinen Raume auf und ab.
»›Nein – wie mir das unangenehm ist,‹ sagte er. ›Wie mir das peinlich ist! – – Und ein scheinbar so anständiger, bescheidener junger Mann. – – Wie man sich doch in den Menschen täuschen kann! – – Darf ich fragen, um was für ein Vergehen es sich handelt – –?‹ Und da ich – beschäftigt mit Gedanken, die sich an die folgenschwere Aussage des Sprachlehrers knüpften – nicht gleich antwortete, fuhr er fort. ›Die jungen Leute von heutzutage – –! Es wird wohl wieder das Übliche sein: Unterschlagung im Bureau – Mißbrauch einer anvertrauten Kasse – – und in solche Dinge wird man dann förmlich mit hineingezogen!‹ Eine erregte Erbitterung schien über den bisher so ruhigen Mann zu kommen, eine zornige Hast sprach aus seinen Worten und aus seinen heftigen Gebärden ›Durch solche Dinge wird man dann aus seinen Studien gerissen – wird einem mit Zeugenaussagen, Verhandlungen und tausend Quälereien die kostbare Zeit genommen, in der man still an seiner Lebensarbeit schaffen könnte – –!‹
»Nun wurde ich doch aufmerksam – aber ich war noch immer nicht ganz bei der Sache, als ich fragte: ›Sind Ihnen Ihre Sprachstudien denn gar so sehr ans Herz gewachsen, Herr Jones?‹
»›Meine Sprachstudien!‹ Beinahe wegwerfend klang das. Meine Lehrtätigkeit ist mir die melkende Kuh – man muß doch nun einmal so und so viel verdienen, damit man sich ehrlich durchs Leben schlägt – aber meine Wissenschaft – das, wofür ich lebe – das ist die Mathematik! Da – da!‹ und er wies auf die Bücher auf dem Wandregal und auf die Drucksachen und Skripturen auf seinem Schreibtische. ›Das ist meine wahre Arbeit und meine Erholung zugleich!‹
»›Wie, – Sie treiben Mathematik zur Erholung?‹
»›Sie ist mir das Größte überhaupt! Denn sie ist stärker als alle anderen Künste. Der Schlüssel zu allem unbekannten Wissen ist sie. Alles erschließt sie, was unerforschlich scheint!‹ Er redete sich immer mehr in Eifer – er schien nun, da er auf dieses Thema gekommen war, alles andere völlig zu vergessen. Seine Augen blitzten mich mit den scharfen, winzigen Pupillen an – etwas Ekstatisches war über diesen Mann gekommen, der jetzt gerade aufgerichtet vor seinem Arbeitstische mir gegenüberstand. ›Philosophie, sagen die einen – Logik – Genialität – Phantasie sagen die anderen – – ist ja alles Unsinn! Man soll mir tausend Schritte vom Leibe bleiben mit all dem Rüstzeug der qualitativen Wahrscheinlichkeit! Nein, lieber Herr, mit all diesen Analogie- oder Beziehungsschlüssen da ist man doch ein wenig allzusehr in Gottes Hand! – – Allein die zahlenmäßig ausdrückbare quantitative Wahrscheinlichkeitsbestimmung kann eine Basis geben, von der aus wir einen Eroberungszug ins Land der uferlosen Worte wagen können. – Schicksal? Fügung? Zufall? Wie dumm das alles klingt – – nur Formeln gibt es, nach denen sich die Dinge abrollen und abrollen müssen – – und wer die Formeln kennt, der zwingt das ›Schicksal‹, die ›Fügung‹, den ›Zufall‹ in diese vorgeschriebene Bahn!‹ Vom Schreibtisch griff er ein paar mit mathematischen Berechnungen eng vollgeschriebene Blätter auf und hielt sie mir hin: ›Da – sehen Sie nur – marschieren sie nicht wie Soldaten – sind sie nicht ganze Armeen, mit denen man Siege erfechten kann? – – Da gibt es phantasielose Menschen, die die Mathematik für nüchtern halten! – Diese albernen Leute! Gigantisch ist sie in ihrer ragenden Großartigkeit! Wissen Sie etwas von der Lehre von den Kombinationen? Von der Methode der kleinsten Quadrate? Hier – – hier,‹ er warf ein paar Bücher vor mich hin, ›kennen Sie das – – und das?‹
»Und während ich, ganz benommen von diesem Ausbruch jäh sich entladender Leidenschaftlichkeit dieses bisher so ruhigen und scheinbar so vernünftigen Mannes, mehr mit den Augen als mit dem Bewußtsein auf die Titel der Bücher niederblickte: – » Venn, The logic of the chance« – »Cournot, Exposition de la théorie des chances et des probabilités« – »Todhunter, A history of the mathematical theory of probability« – ging mir jäh die Erkenntnis durch den Kopf: Der Mann ist geisteskrank – ein Monomane – so wie der Mensch vor dir benimmt sich kein Gesunder – – solche Ideen, wie sie der seltsame Prophet da eben ausgesprochen hatte, konnten in keinem gesunden Hirn erwachsen sein!
»Etwas Beengendes ergriff mich bei diesem Bewußtsein – ein Gefühl lähmenden Unbehagens – ein ansteigendes Grauen, wie ich es sonst nicht kannte. Ich hatte vorher hundertmal in todernsten Momenten Verbrechern feindlich Aug' in Auge gegenübergestanden, aber stets waren meine Sinne völlig gefaßt geblieben, meine Tatkraft sicher und ungeschwächt. Aber hier war es anders. Ich fühlte deutlich, daß – wie ich nun wieder aufblickte und in die kleinen stechend auf mich gerichteten Pupillen des Mannes mir gegenüber sah – etwas wie ein Schwindel über mich kam – etwas Entkräftendes – – so sehr, daß meine Hand nach rückwärts, nach der Lehne des Fauteuils tastete, um eine Stütze zu finden.
»Nur einen Augenblick lang währte das – dann war es vorüber – ich war wieder Herr meiner selbst – mein kaltes Blut gewann die Oberhand.
»Ich redete und war mein eigener Zuhörer zugleich und staunte über meine Sätze und Gedanken und über die kühle Besonnenheit, die nun auf einmal in mir war.
»Ich hatte mich vorher niemals mit psychiatrischen Problemen viel beschäftigt. Ich kann wohl sagen, daß ich Laie war in diesen Dingen. Aber vor mir stand der Gedanke, – den ich einmal wohl irgendwo gehört oder gelesen hatte – daß es vergebens wäre, gegen solch krankhafte, fixe Ideen mit Vernunftgründen anzukämpfen, daß man dergleichen ausgelöste Anfälle immerhin noch am ehesten zum Stillstand brächte, wenn man die Kranken nicht durch Widerspruch erregte, wenn man auf ihre Ausführungen einzugehen schiene.
»Ich wüßte heute nicht mehr zu sagen, was ich damals gesprochen habe – aber ich muß wohl meine Erinnerungen aus meiner Gymnasiastenzeit und aus den Jahren, da ich als aktiver Offizier die Militärakademie besuchte, ganz gründlich ausgeschlachtet haben. Gauß, Legendre und Laplace flossen mir nur so von den Lippen – ich äußerte den Wunsch, mir den Titel eines Werks, das ich angeblich noch nicht kannte, aufzuschreiben – und in der Tat gelang es mir, den erregten Mann äußerlich zu beschwichtigen. Bereitwillig suchte er mir ein Blättchen Papier hervor, auf das ich nun – immer sprechend, zustimmend – den Titel von Courrots »Exposition« notierte. Unmerklich suchte ich dabei seine Gedanken von dem gefährlichen Gebiete abzulenken. Ich sprach aus, wie schön es wäre, daß er neben seiner reinen Berufsarbeit sich den Sinn für die Lösung wissenschaftlicher Aufgaben erhalten hätte – um so rühmenswerter, je mehr seine Zeit durch den Unterricht in Anspruch genommen sei – redete dann von seinen Schülern überhaupt und kam so wieder auf den Hermann Angerer im besonderen und auf die Anfrage, derentwegen ich gekommen war.
»Er hörte jetzt still zu, etwas Nachdenkliches war über ihn gekommen und prägte sich in seinem ganzen Wesen aus, wie er nun mit verschränkten Armen und zusammengezogenen Brauen mir gegenüberstand.
»›Seit wann beschäftigt sich denn die Polizei mit den Theorieen der Wahrscheinlichkeitsrechnung?« fragte er plötzlich mitten in meine Rede hinein.
»›Die Polizei?‹
»›Nun ja – Sie sind doch bei der Polizei.‹
»›Aber Herr Jones – das bißchen, was ich weiß, verdanke ich meinen Privatstudien, die mit meinem Dienste nichts zu tun haben!‹
»Er sah mich mißtrauisch an.
»›So? – Na – immerhin –‹
»Er stierte wieder vor sich hin – und schien befangen von Gedanken, die ihn erfüllten.
»›Haben Sie sich auch schon mit zusammengesetzten Wahrscheinlichkeiten beschäftigt?‹ warf er dann hin.
»Ich tat, als hätte ich seine Frage überhört, dankte ihm für die Auskunft, die er mir gegeben hatte, und dachte an meinen Rückzug.
»Sidney Jones aber stand still und starrte vor sich nieder auf die mit Zahlen und Formeln vollgeschriebenen Blätter. Unbewegt stand er da, er schien meine Worte nicht mehr zu hören, mich selbst nicht mehr zu sehen. Aber hinter seiner hohen Stirne, hinter den eng zusammengezogenen Brauen schien es zu arbeiten und zu gären.
»Und ich dachte: Nun hat es ihn völlig umfangen – nun ist er ganz im Banne seines Wahns.
»Leise schritt ich zur Tür, über den Vorraum und aus der Wohnung – und atmete auf, als ich draußen in dem gewölbten Treppenhause stand und die hallenden, steinernen Stufen hinunterstieg.
»Unten im Hofe kam mir ein noch junger Herr von lässiger Eleganz entgegen, der seltsam ernst, als sähe er mich nicht, an mir vorüber ging und dann hinter mir das Treppenhaus betrat. Ich achtete kaum auf ihn, so sehr erfüllt war ich von dem Erlebnis. Mit Gewalt mußte ich das Bild des halb genialen – geisteskranken Sidney Jones zurückdrängen in mir – mußte ich mich zwingen, bei dem zu verweilen, was wichtiger, bedeutsamer war für mich: bei seiner Aussage, daß der verhaftete Hermann Angerer während der angeblich in der englischen Stunde verbrachten Zeit in der Tat nicht bei dem Sprachlehrer gewesen war!« – –
Richard Plank schwieg, richtete sich ein wenig auf und horchte auf die Schläge der Turmuhr, die durch die milde Winternacht zu dem ein wenig geöffneten Fenster herein in das Zimmer klangen.
»Mitternacht?« sagte er dann und erhob sich von seinem Platze. »Schön lang habe ich heute wiederum einmal geschwätzt – aber das wissen Sie ja, lieber Freund, ein Jäger, der aus seinen Jagderlebnissen erzählt, und ein Polizeionkel, der auf seine alten Abenteuer zu sprechen kommt, die finden kein Ende! Aber genug für heute – Sie sollen schlafen jetzt und morgen vielleicht mehr.«
Ich wollte protestieren.
»Schlafen? Jetzt – nach der Erzählung? – –«
Er nickte und streckte mir die Hand hin.
»Versuchen Sie's – es wird schon gehen – zwar, mich hat damals, als ich das erlebte, der Schlaf in mancher Nacht geflohen. Auf morgen denn – und baldige Besserung Ihrem Fuße!«
Er ging – ich aber saß noch stundenlang wach und erregt und sann den seltsamen Dingen nach, die mir mein Freund Richard Plank erzählt hatte, und quälte mich vergebens, eine Lösung der geheimnisvollen Vorgänge vor mir zu sehen.
* * *
Als Richard Plank am nächsten Abend wieder zu mir kam, war er ein wenig erstaunt, das Schachspiel nicht wie sonst schon aufgestellt zu finden. Das Schachbrett lag zusammengeklappt im Schranke, und die Figuren ruhten still in ihrem Kasten. Nur Wein und grüne Römer warteten wie sonst.
Und Richard Plank, der rasch den Grund dieser Veränderung erriet, nickte mir lächelnd zu und meinte: »Also das Spiel auf unserem schwarz und weißen Brett soll heute ruhen?«
»Soll? Lieber Freund – es muß!«
»Was zwingt uns denn – –?«
»Ich möchte Ihnen, lieber Plank, einen so wenig aufmerksamen, so zerstreuten Spieler nicht zumuten, wie ich es heute wäre.«
»Nicht zumuten? Wo fehlt es denn? Schmerzt etwa gar der Fuß heut mehr als gestern?«
»Der Fuß tut kaum noch weh und ist, wie mich der Arzt heute versicherte, in wenig Tagen ganz geheilt! Nein – es sind andere Ursachen – Sie wissen es ja doch, was mich so sehr beschäftigt – ich sehe es Ihnen ja an – Ihre Erzählung ist es!«
»Meine Erzählung?! So –?«
Richard Plank lächelte befriedigt vor sich hin, während er sich auf seinen Stuhl behaglich niederließ. Ein leises Rot stand dabei in seinem hageren Gesichte, es schien ihm Freude zu machen, daß mich seine Mitteilungen so lebhaft gefesselt hatten.
»Ja –. Seit Sie gestern weggegangen sind, hat mich die Sache eigentlich beinahe ohne Unterlaß beschäftigt! Sogar in meinen Schlaf ist sie mir mitgegangen und hat mir Herrn Hermann Angerer und Ihren wahnsinnigen Sprachlehrer in einem wüsten Traume, wild miteinander ringend, vorgeführt!«
»Die beiden miteinander ringend?« Richard Plank sah mich aufmerksam an. Etwas Forschendes war in seinem Blick.
»Ja – ringend, und der Sprachlehrer war Sieger.«
»Seltsam – wie kamen Sie zu dem Gedanken?«
»Es war kein Gedanke – ein Traum war es nur, mit dem mein Denken, mein Bewußtsein nichts zu tun hat.«
Jetzt schüttelte er den Kopf.
»Auch unsere Träume sind die Kinder unseres Gehirns – und oft gar nicht die schlechtesten. – Aber Sie sagen, daß die Sache Sie beschäftigt hat: Haben Sie einen Weg, eine Erklärung – die Möglichkeit einer Erklärung finden können?«
»Nein – – das heißt, ich habe natürlich alles mögliche vermutet – aber schließlich habe ich diese Vermutungen doch alle wiederum verworfen. Denn – nicht wahr? – erwiesen war ja nur das eine, daß dieser Hermann Angerer am Tage, ehe er die Steine verkaufen wollte, nicht bei dem Sprachlehrer gewesen war – –«
Richard Plank nickte: »So sagte der Herr Jones.«
»– Und, damit war es eigentlich gewiß – beinahe gewiß, daß er in dieser Zeit, die er sonst für die englische Stunde verwendete, mit jenem Menschen zusammengekommen war, der ihm die Steine übergab.«
»Ganz recht – so habe ich damals auch geschlossen.«
»Und war es denn nicht wirklich so?«
Richard Plank zog die Achseln hoch.
»Es war so – und war doch anders –« Eine Weile schwieg er, dann sah er jäh auf und begann zu reden.
»Ich habe gestern in meiner Erzählung an jener Stelle abgebrochen, da ich das Haus des Sprachlehrers verlassen hatte. – Als ich zurück ins Polizeigebäude kam, meldete mir der Diener, daß der Polizeirat Franz nach mir gefragt und daß er hinterlassen hätte, ich möge mich doch gleich nach meiner Rückkunft zu ihm bemühen.
»Der Polizeirat hatte, als ich in sein Zimmer trat, mit in die Hand gestütztem Kopf vor seinem Schreibtische gesessen. Jetzt stand er auf, grüßte mich wortlos durch ein Nicken und wies auf einen Stuhl, der seinem Platze gegenüber stand.
»Ich setzte mich.
»›Sie haben in der Sache des Raubs in der Stephanskirche recherchiert?‹ fragte er.
»›Ja.‹
»›Hm! –‹ Er schwieg, strich sich über die sorgenvoll gefaltete Stirne und begann von neuem. ›Sie erinnern sich, lieber Plank, was ich Ihnen heute früh über meine Eindrücke von all diesen Verbrechen der jüngsten Zeit sagte: daß mir immer wieder, trotz aller gegensätzlichen Vernunftgründe, dieser Gedanke kam, als hätten wir es hier mit einer ganzen Clique – nun ja, das Wort muß doch gesprochen werden – mit einer wohlorganisierten Bande gemeinsam arbeitender Verbrecher zu tun – –?‹
»›Gewiß erinnere ich mich.‹
»›Wir haben durch den Vergleich der Fingerabdrücke festgestellt, daß der verhaftete Hermann Angerer den Raub nicht verübt hat – es ist also außer ihm sicher noch ein anderer in die Sache verwickelt: das wären zunächst zwei Menschen – zwei Verbrecher. Und nun passen Sie auf!‹
»Der Polizeirat zog eine Seitenlade seines Schreibtisches auf und entnahm dieser zwei gleichartige Holzschächtelchen von ovaler Form, die er vor sich hin stellte.
»›Sie wissen, daß der Raub gestern früh entdeckt wurde. Nachmittags – die Feststellungen konnten seitens der Domschatzverwaltung früher nicht beigebracht werden – gingen dann die Beschreibungen der geraubten Stücke zugleich mit der Warnung vor Ankauf an alle Goldarbeiter und Pfandleiher der Stadt. Auch die Abendblätter waren schon kurz über die fehlenden Pretiosen unterrichtet. – – Nun, die Räuber haben schneller gearbeitet als wir!‹
»Er öffnete das eine von den Schächtelchen und holte daraus etwas Funkelndes und Blitzendes hervor, ein seltsames Geschmeide aus Diamanten, die in alter goldener Fassung saßen. Mit vor Erregung zitternden Händen hielt er mir diese kostbare und feine Arbeit hin, die in dem grellen Licht der Schreibtischlampe in allen Farben strahlte. Und da sah ich, daß dieses Gebilde aus Gold und Edelsteinen die Formen einer Rose, die Linien eines Blütenkelches und zarten Blattwerkes zeigte.
»›Wissen Sie, was das ist?‹ Ganz heiser klang seine Stimme.
»›Die Diamantene Rose – –!?‹
»Er nickte. ›Ja, mein lieber Plank: die Diamantene Rose der Maria von Pötsch! Das Schmuckstück, das die Kaiserin Eleonore Magdalene Theresia vor über zweihundert Jahren der ›Schwarzen Madonna‹ gestiftet hat, und das dem Kirchenräuber als Hauptstück seiner Beute in die Hände fiel!‹
»›Aber wie kamen Sie zu diesem Stück – –?‹
»›Leider nicht auf dem direkten Wege aus der Hand des Verbrechers – denn der war, wie ich Ihnen ja schon sagte, schneller als wir. Der Inhaber einer der ersten Antiquitätenhandlungen hat mir das Ding heute klagend und jammernd gebracht: dem ist es gestern vormittag – ehe noch irgend jemand in den weiteren Kreisen von diesem Raube etwas wußte – von einem scheinbar vornehmen Herrn zum Kaufe angeboten worden, und der hat es für dreitausend Gulden bar erworben! Erst als der Händler dann in der Zeitung von dem Verbrechen las, ist ihm der Gedanke gekommen, daß dieses Stück das geraubte sein könne.‹
»›Und was weiß dieser Händler über den Verkäufer – –?‹ Wie Fieber war es nun in mir. Da bot sich eine neue Angriffsstelle; ich wollte alles ausschöpfen, was ich erfahren, was mich weiter führen konnte.
»Der Polizeirat strich mit spitzen Fingern beinahe zärtlich über das wiedergewonnene Kleinod hin.
»›Der Verkäufer – ja, lieber Plank – der ist, wenn meine Theorie zur Wahrheit wird, der dritte Mann in unserer Bande! Ein eleganter Mensch – ein wenig müde in seinem Wesen – höchst sorgfältig gekleidet – ein Mann von etwa dreißig Jahren, der sich Oeden von Balassy nannte, und der – wie Sie hier sehen können – mit diesem Namen auch die Quittung über den empfangenen Betrag unterzeichnet hat. – Ein Mann, der sicher schien in seinem Auftreten, der im Fiaker vorgefahren kam und seinen Wagen vor dem Hause warten ließ – und der dem Händler eine längere Geschichte auf die Nase band: daß dieses Kleinod schon seit Jahrhunderten als kostbares Erbstück in seiner altadligen Familie sei – daß es ihm bitter schwer fiele, sich jetzt davon zu trennen – daß aber große Spielverluste, die er im Jockeiklub in der Nacht vorher erlitten hätte, und die nun Ausgleich innert vierundzwanzig Stunden heischten, ihn dennoch zwängen, das Geschmeide hinzugeben – –.‹
»›Oeden von Balassy – –?‹
»›Ja – sehen Sie, hier steht der Name.‹ Der Polizeirat reichte mir die Quittung hin, und ich sah nieder auf die schattenlose Schrift, in der die Buchstaben so seltsam weitgezogen standen. ›Es gibt auch,‹ fuhr er fort, ›sowohl eine Familie dieses Namens, wie einen Baron ›Oeden von Balassy –‹ ich habe mich darüber natürlich sofort unterrichtet. Daß aber dieser Kavalier, der sich zur Zeit auf seinem Gute bei Szegedin aufhält, mit dieser ganzen Gaunerei nicht das geringste zu tun hat, brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen. Der Gauner hat einfach den alten und vertrauenerweckenden Namen des ungarischen Magnaten annektiert – und wie Sie sehen, hat er seine Rolle gut gespielt – –‹
»›Und Sie haben noch keine Spur von ihm?‹ unterbrach ich der Polizeirat.
»Der schüttelte mit tief gefurchter Stirne den Kopf.
»›Nichts – bisher wissen wir nicht das geringste.‹
»Versonnen sah er ein paar Augenblicke vor sich hin, dann richtete er sich mit einer raschen Bewegung ein wenig auf.
»›Ja – das war also Nummer drei! Und Nummer vier?‹ Jetzt nahm er von der zweiten Schachtel, die vor ihm stand, den Deckel fort – ein Perlenhalsband lag darin und eine Berlocke mit leuchtenden Rubinen. ›Die Nummer vier hier stammt von einer Dame. Und wissen Sie, woher die kommt? Vom k. u. k. Versatzamt in der Dorotheenstraße! Dorthin hat eine distinguierte Dame in tiefer Trauer die Schmuckstücke schon gestern in den ersten Amtsstunden gebracht, und der Beamte hat die beiden Stücke anstandslos abgeschätzt und mit rund tausend Gulden belehnt. Auch hier ist uns ein Name angegeben. Frau Rittmeister Lori Herbeck – und eine Adresse: Rathausstraße 5; – Der Beamte hat aus Vorsicht, während die Dame wartete, den Namen im Adreßbuch nachgesucht – in dem angegebenen Hause wohnt in der Tat eine verwitwete Offiziersdame mit diesem Namen. Aber auch sie hat weder jemals ein derartiges Perlenhalsband oder Berlocke besessen noch sonst eine Ahnung von diesem ganzen Vorgange. Sie ist eine alte Dame, die, wie ich mich selbst überzeugte, seit Monaten ans Bett gefesselt ist, und die unzweifelhaft dem Mißbrauch ihres Namens ganz ferne steht.‹
»Der Polizeirat war aufgestanden und ging jetzt mit auf dem Rücken ineinandergreifenden Händen in dumpfem Schweigen im Zimmer auf und nieder. Nach einer Weile blieb er stehen, aber sein Blick, der unter den zusammengezogenen Brauen am Boden haftete, erhob sich nicht. Und so, als spräche er mehr vor sich hin als zu mir, begann er aufs neue.
»›Das sind also die jüngsten Überraschungen für uns – Tatsachen, denen wir klar ins Auge sehen müssen, so unangenehm sie auch sein mögen, – die wir stillschweigend einfügen müssen in unser Gesamtbild des Falls – und aus denen wir unsere weiteren Folgerungen ziehen werden. – – Gut. – Und was folgt daraus? Vor allem, daß nicht zwei, sondern drei oder vier Menschen gemeinsam den Einbruch und den Vertrieb des Raubes besorgt haben: Hermann Angerer – dieser famose Oeden von Balassy – die falsche Rittmeisterswitwe und der unbekannte Kirchenräuber selbst. Der Räuber könnte mit dem Herrn Balassy identisch sein – ohne weiteres anzunehmen ist das nicht – denn von einer Verletzung der Hand will der Antiquitätenhändler bei seinem Kunden nichts bemerkt haben. Bleibt also die Wahrscheinlichkeit von vier Genossen. Und was folgt weiter? Daß diese Bande von einem ganz hervorragend umsichtigen und scharf denkenden Kopf geleitet wird, von einem ganz genialen Strategen des Verbrechens, der, ich möchte sagen, mit mathematischer Sicherheit sich, ehe er den Raub ausführte, schon alle weiteren Maßnahmen genau berechnet und klar vorbereitet hatte, die zur raschen, allen polizeilichen Maßregeln vorgreifenden Verschärfung der Beute nötig waren. Rechnen wir nach: Um etwa sechs Uhr früh entkam der Räuber aus der Kirche – um zehn Uhr schon bietet der falsche Oeden von Balassy die Diamantene Rose zum Kaufe an, und etwa um dieselbe Zeit versetzt auch schon die Dame in der Trauerkleidung das Perlenhalsband und die Rubinberlocke. Ausführliche Verabredungen in der kurzen Zwischenzeit sind kaum denkbar – beide Verschärfer mußten also ihre ›Rollen‹, die sie nachher so erfolgreich spielten, schon kennen, als sie von dem Räuber selbst die Schmuckstücke empfingen. Alles das mußte vorher bis ins kleinste abgeredet und festgelegt gewesen sein – alles das war sicherlich ebenso genau berechnet, wie der Raub in der Kirche selbst. Nur so war es möglich, daß es den Gaunern gelang, sich der kostbaren Stücke so rasch zu entledigen, sie so schnell in Geld umzusetzen, noch ehe eine polizeiliche Warnung vor dem Ankauf die Verwertung des Raubs unmöglich machte. Wie kühle Rechner, die vor ihrer Tat sich jede Chance des Verbrechens, jedwede Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit genau und umsichtig zu Faden schlugen, so sind die Mitglieder dieser Bande vorgegangen, so hat der Kopf, der diesen Plan entworfen und der die Ausführung geleitet hat, das Ganze durchgeführt – –‹
»Der Polizeirat hielt für einen Augenblick ein in seiner Auseinandersetzung, und seine Augen hoben sich nun auf zu mir, der ich den Worten mit dem regsten Interesse und mit einer grübelnden Erregung gefolgt war. All die Erlebnisse des Tags, all die vielfältigen Eindrücke, die ich im Laufe der jüngsten Stunden empfangen hatte, drängten sich jäh in meinem Kopfe, und all mein Sinnen suchte da und forschte mit über alle Maßen angespannten Kräften, als müßte es Zusammenhänge finden, als müßte es in dieser Wirrnis von Bildern und Gestalten einen Weg erkennen, der zur Klarheit führte, einen Faden aufnehmen können, der mich zum Ziele leiten konnte. Alles, alles, was ich bisher gesehen und erforscht hatte, stand beinahe gleichzeitig und in hellem Licht vor mir, bereit, beim leisesten Anklang sich zu melden, mitzuschwingen, laut zu werden – wie stille Saiten klingend werden, wenn ein verwandter Ton sich über ihnen regt. Beinahe peinlich ward mir diese Überempfindlichkeit meiner Erinnerungsbilder bewußt, denn nicht nur das, was meiner Überzeugung nach zusammengehörte, trug sie mir zusammen, sie assoziierte mir auch Eindrücke, die meiner Überzeugung nach keinesfalls einander zugehören konnten. So war, als da der Polizeirat von diesem Herrn von Balassy gesprochen hatte: ›ein eleganter Mensch – ein wenig müde in seinem Wesen‹ auf einmal die Gestalt des Mannes vor mir aufgetaucht, den ich beim Weggehen von Sidney Jones im Hofe jenes Hauses für einen Augenblick gesehen hatte. Warum? Wieso das kam? Ich hätte es nicht sagen können – ich wußte nur, daß ich damals, als ich den Menschen sah, den kaum bewußten Eindruck: ›lässige Eleganz‹ empfangen hatte. Und doch, so seltsam ist das stille Schaffen unseres Gehirns unter der Schwelle dessen, was uns zum Bewußtsein dringt: Jetzt sah ich jenen Menschen klar vor mir. – Und auch die Worte über jene kühl berechnenden Verbrecher, ›die jede Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit im Auge behielten‹, hatten sofort das Bild des geisteskranken Sprachlehrers in mir geweckt – sicherlich nur, weil dieser Mann sich mit verrückten, mathematischen Problemen plagte … Ich aber fühlte, daß solche Gedankensprünge mich von der Basis klarer Folgerungen lockten, und wies sie von mir, immer nur darauf bedacht, wie sich eine verstandesgemäße Brücke zwischen den Tatsachen und den Wahrscheinlichkeiten schlagen ließe, die mein Chef vor mir entwickelte.
»Aber da sprach der auch schon wieder weiter.
»›So also, lieber Plank, mag die Geschichte gewesen sein – und bis dahin war alles tadellos und gut gedreht von diesen Gaunern. Und dann – ja, dann setzt – wenn ich richtig kombiniere – der Fehler ein – dieser eine Mißgriff oder diese eine Dummheit, die glücklicherweise auch den geriebensten Verbrechern so gerne unterläuft: der Fall Angerer! – Statt nun, da doch die Hauptstücke des Raubes glücklich verwertet waren, sich zu beruhigen – unterzutauchen – und ja, um alles in der Welt, nicht noch in letzter Stunde einen Fehlschlag zu wagen, der uns dann eine Handhabe gewähren könnte – wird diesem Herrn Hermann Angerer in einer Zeit, da das Verbrechen längst bekannt, da jedem Goldarbeiter die gestohlenen Juwelen angegeben sind – noch der Verkauf von einem Rest des Raubes übertragen! Der letzte Coup mißlingt – Herr Angerer gerät in unsere Hände. – Das ist nicht viel, aber es ist – da wir von allen anderen Beteiligten bisher auch nicht die kleinste Spur gefunden haben – doch etwas, und es kann und muß uns auf die Fährte auch dieser anderen bringen!
»›Und das ist's, was ich Ihnen sagen wollte, Sie sehen, Ihre Aufgabe ist mächtig angewachsen in den wenigen Stunden, seit Sie es übernommen haben, die Vorgänge bei diesem Kirchenraub zu klären. Bedienen Sie sich ohne jede Einschränkung all unserer Hilfsmittel – es steht Ihnen an Kräften, Geldern und von unserem Ermittlungsapparat zu Diensten, was Sie wollen – nur schaffen Sie uns Klarheit in der Sache, damit wir nach den vielen ungelösten Fällen dieser letzten Zeit endlich einmal auch wiederum einen Erfolg verzeichnen können.‹ – –
»Das waren also die Eröffnungen gewesen, die mir mein Chef an jenem Abend machte, da ich von meinem Besuche bei Herrn Sidney Jones zurück ins Polizeigebäude kam.
»Was sie für mich bedeuteten, brauche ich nicht zu sagen. Auch mir war klar, daß in der Hypothese meines Chefs, der ohne weiteres von einer Bande sprach, ein starker Kern von Wahrheit sitzen mußte – daß jedenfalls der Unbekannte, in dessen Kopf der Plan zu diesem Verbrechen entsprungen war und der die Ausführung leitete, hoch emporragte über die Menge der Verbrecher, mit denen sonst der Alltag uns Kriminalisten zusammenführt. Und mit dieser gesteigerten Bedeutung der rätselhaften Vorgänge wuchs auch in mir die Jägerleidenschaft, all den Beteiligten auf die Spur zu kommen, zu einer neuen Höhe. Mit einem wahrhaft fieberischen Eifer, in einem Arbeitsdrang, der alle meine Kräfte zum Äußersten ihrer Leistungsfähigkeit erhob, ging ich an meine Aufgabe heran.
»Tag und Nacht war ich bei der Arbeit. Ich gönnte mir kaum Rast, um eine Mahlzeit einzunehmen, und das Bedürfnis, nachts zu schlafen, schien mir in jenen Tagen ruhelosen Forschens und Suchens beinahe zu entschwinden. Keine Möglichkeit ließ ich unberücksichtigt, und so viel wie irgend möglich wollte ich selbst erheben. Nur zu Forschungen von geringer Bedeutung zog ich die mir gewährten Hilfskräfte heran.
»Was alles an Untersuchungen in jene Tage drängte, ist schwer zu sagen – so viel war es in seiner Menge, so mannigfaltig in seiner Art. Da nahm ich wiederum und wieder den in der Haft behaltenen Hermann Angerer vor, um zu erfahren, wo er die Zeit verbracht hatte, während der Sidney Jones ihn vergebens zum Unterricht erwartete. Aber meine Fragen, Vorstellungen und Reden prallten von ihm, als spräche ich zu einer Wand, und allen meinen Worten setzte er nach wie vor nur die klagenden Beteuerungen seiner Unschuld entgegen und die Versicherung, daß er um alles das, dessen man ihn beschuldigte, nichts wisse. – Da ließ ich mir den Antiquitätenhändler kommen, bei dem der sogenannte Herr von Balassy die Diamantene Rose verkaufte, und den Beamten des Versatzamtes, der mit jener Frau Rittmeister Lori Herbeck – der Dame in Trauer – verhandelt hatte. Mit beiden sah ich stundenlang die Bände des Verbrecheralbums durch – die Schweren Jungen, die Hochstapler und die Verschärfer – um zu ermitteln, ob sie da unter dem reichen Material vielleicht die Bilder der Gesuchten fänden. Auch diese Mühe war vergebens. Da ließ ich wiederum und wieder in allen ›Tschecherln‹ – den kleinen und obskuren Kaffeestuben, des Gesindels – in all den zahllosen Kaschemmen, ebenso wie in den verrufenen Nachtcafés mit Damenkundschaft meine Agenten Umschau halten und in jene Tiefen tauchen. Sie kamen wieder, brachten wohl auch das und jenes mit, was uns auf anderen Gebieten wissenswert und auch willkommen war – aber zur Lösung jenes Falls, des Einbruchs in der Stephanskirche oder der anderen vorhergegangenen und ungelösten Fälle wurde durch sie auch nicht das geringste gefördert. – Alles, was an verbrecherisch veranlagten Naturen damals von Wien beherbergt war, wurde in jener Zeit auf Schritt und Tritt durch Vigilanten und Agenten in meinem Auftrage beobachtet. Von beinah jedem hätte ich nach den Berichten, die ich so vereinigte, leicht sagen können, wo und wie er jene Nacht des Einbruchs und den Tag darauf verbrachte – –. Auch diese neue außerordentliche Siebung des Gelichters brachte uns manchen guten Fang – aber sie war ganz ergebnislos mit Hinblick auf den eigentlichen Zweck.
»Und neben dieser Hauptarbeit ging hundertfältige Kleinarbeit einher. Ein Beispiel: Wer war der Fiaker, in dem der ›Herr von Balassy‹ bei dem Antiquitätenhändler vorgefahren war? Die scheinbar bedeutungslose Frage war von Wichtigkeit: der Mann konnte uns sagen, wo sein Fahrgast eingestiegen war, und wohin er nach dem gelungenen Verkauf der Rose fuhr. Er konnte uns vielleicht auch eine Beschreibung des Verbrechers geben. Es gelang, den Fiaker Nummer 967 als den Gesuchten zu ermitteln. Der Kutscher erinnerte sich auch der Fuhre noch genau. Er hatte seinen Standplatz auf dem Neuen Markt und dort war der Herr eingestiegen und hatte die Adresse des Antiquitätenhändlers – Straße und Hausnummer – angegeben. Auffällig war dem Kutscher nur, daß sich der Herr zu einer Strecke, die man in acht Minuten gehen konnte, einen Fiaker nahm. Als der Herr dann wieder aus dem Antiquitätenladen kam, hätte er sich in die Goldschmiedgasse vor den Trattnerhof fahren lassen. Dort wäre er dann ausgestiegen und hätte mit einer Fünfguldennote, die er aus der Westentasche nahm, bezahlt, ohne sich herausgeben zu lassen. Und er, der Fiaker, hätte sich gefreut, ›daß' halt doch noch Kavalier' gäb' in Wien‹. – Wir nahmen also diese Fährte auf. Der Trattnerhof ist ein Gebäude, das etwa sechshundert Menschen beherbergt – nun, Sie kennen ja diesen Riesenbau aus der Altwiener Zeit. Jede Partei des Hauses wurde ausgeforscht – von dem geheimnisvollen ›Kavalier‹ fanden wir keine Spur. Kein Wunder! Der Trattnerhof ist eben ein Durchhaus, der ›Herr von Balassy‹ war wahrscheinlich bei dem einen Eingang in der Goldschmiedgasse hineingegangen – beim anderen am ›Graben‹ hinausgeflitzt und dann dort im Menschenstrom des vormittägigen Verkehrs untergetaucht. Also blieb uns als Endergebnis all dieser neuen Arbeit wiederum nur das Nachsehen!
»So ging es uns in einem Falle wie dem anderen – überall stießen wir zum Schluß auf Stellen, an denen sich die mühevoll verfolgten Spuren mit einem Male verloren. Als ob uns jedes Glück verlassen hätte war's – Mißerfolg reihte sich an Mißerfolg.
»Wie unsere Stimmung in den Tagen war, ist kaum zu sagen. Der Polizeirat Franz, der früher kaltblütig wie nur je einer gewesen war, litt unter seinen Nerven als ein direkt kranker Mann. Ich selbst drohte, nachdem all diese Nachforschungen ergebnislos etwa acht Tage angedauert hatten, unter der Last der Arbeit und unter der Erschöpfung nahezu zusammenzubrechen. Und dazu kamen täglich noch als erster Morgengruß – als gutes Omen für die neue Tagesarbeit – aufreizende und höhnische Artikel in den Blättern! – Schlimmer noch als diese Angriffe in der Presse war anderes. Im Rathaus war auf Interpellation eines Gemeinderates die Angelegenheit zur Sprache gekommen, und dabei waren scharfe Tadelworte über die Tätigkeit der Polizei gefallen. Der Bürgermeister hatte darauf den Polizeirat Franz zu sich gebeten, und auch er hatte in der Unterredung, die sich da entspann, seinem Befremden über die Erfolglosigkeit unserer Bemühungen in nicht mißverständlicher Weise Ausdruck gegeben.
»Und uns blieb allem diesem gärenden Treiben gegenüber nichts anderes als die zähneknirschende Arbeit – als ein Weiterforschen mit ohnmächtig zusammengepreßten Lippen und geballten Fäusten, ein Weitersuchen, das nicht nachgeben durfte, von dem uns kein neuer Mißerfolg, kein neuer Fehlschlag abbringen durfte. Ununterbrochen war ich an jenen Tagen unterwegs, suchte ich bald selbst das oder jenes aufzuklären, fertigte ich Hilfskräfte ab, die mir unterstellt waren, oder nahm ich die Berichte meiner Agenten entgegen. Und nachts saß ich dann grübelnd über meinen Akten und bohrte meine Augen in die Blätter, als müßte, müßte es mir doch gelingen, dem schweigenden Papier das Geheimnis der wahren Zusammenhänge zu entreißen.
»Wie im Fieber war ich dabei oft, und eine so wild verbissene Erregung erfüllte mich manchmal in den Augenblicken, daß mir die Pulse flogen, und daß ich mein Herz als glühendes Wesen in meiner Brust sich abarbeiten fühlte.
»Und in einer solchen späten Nachtstunde war es, daß mir das Seltsame geschah – –
»Ich hatte im Suchen nach einer Notiz, die ich benötigte, mein Taschenbuch durchblättert, als mir ein kleiner Zettel in die Hände fiel, auf den ich mich im ersten Augenblick kaum besann – ein Blättchen kaum halbspannlang und, wie es schien, aus irgend einem Schreibheft ausgerissen.
»› Cournot, Exposition de la théorie des chances et des probabilités – Paris 1843‹ stand da von meiner eigenen Hand notiert – nun wußte ich es, es war das kleine Blatt, auf das ich damals bei dem geisteskranken Sprachlehrer, bei Sidney Jones, da sich der Mann so auffallend erregt gebärdete, den Titel jenes mathematischen Werkes notiert hatte.
»Schon wollte ich das kleine Blatt in meiner Hand zusammenknüllen, um es in den Papierkorb neben mir zu werfen, da fiel mir, während ich das Stück Papier zwischen meinen Fingern schon zerknitterte, auf, daß auch die Rückseite beschrieben war. Und halb mechanisch, und mit dem Gedanken noch immer bei der fehlenden Notiz, die ich in meinem Taschenbuche suchen wollte, strich ich das Blättchen wieder glatt und sah hernieder auf die Worte, die da geschrieben standen: › … year has twelve months or four seasons.‹
»Und plötzlich fühlte ich, wie mir das Blut gleich einer heißen Welle nach dem Kopfe drang – wie meine Schläfen bebten. – – Ich war aufgesprungen und starrte weit vorgebeugt auf dieses kleine Blatt und auf die Worte, die es trug. Und dabei hielt ich jetzt mit beiden Händen die Kante meines Arbeitstisches umgriffen, denn wie ein Rausch, ein jäher Schwindel war es über mich gekommen. Tausend Gedanken drängten sich in mir – jagten einander – leuchteten auf und rangen sich empor – und bei dem allem schrie es in mir: Nur ruhig jetzt – nur kaltes Blut bewahren – nur keine Übereilung – keinen Irrtum jetzt und keinen Trugschluß!
»Zum Zerspringen klopfte mein Herz, und dabei wuchs in mir etwas wie eine wilde, ungemessene Freude – ein Jubel, der nur als ein rauher, unverständlich wilder Ton aus meiner Kehle drang, und der doch wie eine Erlösung war für mich nach all den Niederlagen.
» A year has twelve months or four seasons.« – Ein Jahr hat zwölf Monate oder vier Jahreszeiten.
»Und was weiter? Das war die Weisheit eines Schülerhefts, ein Übungssatz, den irgend einer, der Englisch lernte, auf dieses Blatt geschrieben hatte. Und doch stand er in diesem Augenblicke mit leuchtenden Buchstaben vor mir – mit Lettern, die das heiß ersehnte Licht auch endlich in das starre, unerforschte Dunkel tragen sollten, das um uns lag. – –
»Ich saß wieder in meinem Stuhl und hielt den Kopf in beiden Händen. Fest hatte ich die Augen geschlossen und suchte all der jagenden Erregung Herr zu werden – all diese stürmenden Bilder zu unterdrücken, die mein klares Denken überfluten wollten.
»Die Schrift – – die Schrift! Ich kannte doch die Schrift, in der dieser gleichgültige Satz geschrieben war – – diese schattenlose Schrift, in der die Buchstaben so seltsam weit gezogen standen!
»Und da stand klar und scharf vor meinen festgeschlossenen Lidern, wie ich es mir wohl hundertmal in diesen ruhelosen Nächten in die Erinnerung geprägt, das Bild der Unterschrift, die der Verkäufer der Diamantenen Rose unter die Quittung des Antiquitätenhändlers gesetzt hatte: ›Oeden von Balassy‹ –
»Der war's! Derselbe Mann, der jene Quittung unterfertigt hatte – gleichgültig, ob er damals seinen wahren Namen oder einen erborgten unterzeichnete – von dem waren auch diese Zeilen geschrieben worden!
»Ich stand auf. Aus dem eisernen Schranke, in dem ich das Material dieses Falls verwahrte, suchte ich mit zitternden Händen jene Quittung hervor. Dann legte ich sie neben das so unschätzbar wertvoll gewordene kleine Blatt, und wieder alle lockenden Gedanken zunächst mit Willenskraft beiseite schiebend, begann ich Buchstaben um Buchstaben auf beiden Blättern zu vergleichen.
»Immer ruhiger wurde ich nun bei dieser Arbeit, immer klarer. Bald wußte ich, daß jeder Zweifel ausgeschlossen war.
»Bei › year‹ das y glich auf das Haar dem y am Schlusse seines Namenszugs, das › as‹ in dem Wörtchen › has‹ des englischen Satzes war nahezu ein Abklatsch der zwei gleichen Buchstaben in seinem Namen ›Balassy!‹
»Als ich sicher war – ganz sicher – legte ich die beiden Blätter gerade vor mich hin auf dem Schreibtische, lehnte mich zurück in meinem Arbeitssessel und starrte auf diese Papiere nieder. Das Glück einer Befreiung von einer beinahe erdrückenden Last war in mir – streicheln hätte ich diese beiden Zettel mögen – ich fühlte es, jetzt kam wiederum fester Boden unter meine Füße, mit der Entdeckung, die ich da gemacht hatte, mußte ich vorwärts dringen können in das unbekannte Land dieser Verbrechen.
»Nur sekundenlang gab ich mich diesem aufatmenden Genusse des Erfolges hin – dann trieb es mich schon weiter; all das, was ungeklärt in mir nach Sichtung und nach Überlegung drängte, forderte jetzt sein Recht.
»Erst wollte ich die beiden Schriftstücke in dem eisernen Schrank verschließen – aber bald entschloß ich mich anders. Ich konnte mich nicht losreißen von diesen Blättern. Etwas wie Aberglaube mag dabei in mir gewesen sein – vielleicht auch war es nur die Freude am augenfälligen Genuß des schwererrungenen Besitzes, an dem Bewußtsein, daß nun etwas wie ein Schlüssel zu den Geheimnissen greifbar und körperlich da vor mir war.
»Unsagbar wohltätig umfing mich die Beruhigung, die von den beiden Blättern ausging.
»Still wollte ich nun das verfolgen, was sich aus ihnen ableiten ließ – ich wollte durch die bisher festverschlossenen Tore gehen, die sie mir öffneten.
»Ich drehte den Knopf der elektrischen Arbeitslampe. Ganz still war es jetzt – nichts störte mich. Und da begannen meine Gedanken sich in klare Formen zu kleiden und vor mich hinzutreten.
»Was war bewiesen?
»Bewiesen war, daß jener angebliche Herr von Balassy, der bei der Verwertung der Beute aus dem Kirchenraube eine so schwerwiegende Rolle spielte, ein Blatt Papier beschrieben hatte, das mir von Sidney Jones gegeben worden war.
»Was ging daraus hervor?
»Daß dieser Herr von Balassy mit Sidney Jones in Berührung stehen mußte. Und da das Blatt zweifellos einem englischen Übungshefte entnommen war, so war der Schluß berechtigt, daß der Gesuchte zu den Schülern des Sprachlehrers gehörte – –
»Zu seinen Schülern? – Mir ging es seltsam. Mir stand auf einmal die Erinnerung an jenen Abend vor Augen, da mir der Polizeirat zum ersten Male von dem Herrn von Balassy gesprochen hatte: ›ein eleganter Mensch – ein wenig müde in seinem Wesen!‹ Damals war mir wie durch ein groteskes, mir unerklärliches Spiel meiner Phantasie der Mensch jäh eingefallen, den ich kaum eine halbe Stunde früher beim Weggehen von Sidney Jones im Hof von dessen Haus für einen Augenblick gesehen hatte. Und jetzt? Jetzt leitete mich unabweisbar klar ein ganz bestimmter Hinweis zu der Stelle, zu der schon damals meine Phantasie eine luftige Brücke hingeschlagen hatte. Damals war ich dem dunklen Fühlen nicht gefolgt, weil jeder feste Grund zu fehlen schien – jetzt, aber lagen vor mir die Beweise.
»Wie sonderbar! Und Hermann Angerer, der beim Verkaufe eines Restes der Beute aus dem gleichen Raube verhaftet worden war, hatte gleichfalls zu seinen Schülern gehört!
»Konnte das Zufall sein? Nein – nein! So spielt kein Zufall – das war ein handgreiflicher Zusammenhang! – Hatte also der angebliche Herr von Balassy den Herrn Angerer bei dem Sprachlehrer kennen gelernt, sich an ihn herangemacht und ihn zum Genossen seines Verbrechens gewonnen? Die Angabe des Herrn Sidney Jones, daß Angerer am Tage vor seiner Verhaftung nicht bei ihm gewesen sei, ließ die Möglichkeit offen, daß er sich in der Zeit, die sonst für die Sprachstunde bestimmt war, mit jenem anderen getroffen habe. Hierbei konnte der ›Herr von Balassy‹ – dem der Verkauf der Diamantenen Rose schon vormittags geglückt war und dem zu weiteren Verkäufen der Boden nun für seine eigene Person doch allzu heiß werden mochte – den Angerer durch Zureden, Versprechungen oder durch Zwang veranlaßt haben, mit jenem Rest der Beute noch den Verkaufsversuch zu wagen!
»Oder war schließlich dieser sonderbare Sprachlehrer mit im Spiel? Hatte der mich belogen? Stand er selbst als ein Glied in der Kette der Verbrecher?
»Ich rief mir jeden Augenblick der Besprechung, die ich damals mit Sidney Jones gehabt hatte, zurück in mein Gedächtnis: Die Art, wie er mich, da ich kam, für einen neuen Schüler hielt – seine Enttäuschung, als ich diesen Irrtum richtigstellte – sein diskretes Zurückhalten, da ich mit Fragen über seinen Schüler in ihn drang – seine, wie es schien, völlige Ahnungslosigkeit über die Vorkommnisse mit diesem Herrn Angerer. – Und ich sagte mir: Das alles hat den Eindruck der Echtheit gemacht – nur ein ganz unerhört raffinierter, kaltblütiger Gauner könnte so täuschend jeden Schein der Wahrheit spielen! Der sonderbare Mensch mit seinem von dem Wuste mißverstandener Mathematik erfüllten Kopfe, dieser Phantast, der allen Ernstes glaubte, das Heil der Welt und aller Fragen Lösung im Formelkram zu finden, und der diese grotesken Pläne, ohne zu fragen, mir als sein Lebenswerk gepriesen hatte, der konnte kaum an diesem mit beispielloser Klarheit ausgeführten Raube beteiligt sein!
»Und doch – und doch! – –
»Ich kam nicht los von ihm, und etwas war in mir, das sträubte sich dagegen, den Mann, der da, scheinbar nur seiner Wissenschaft und seinem Berufe lebend, in jenem kahlen, ärmlichen Zimmer mir gegenübergestanden hatte, so völlig aus dem Spiel der Möglichkeiten auszuschalten. Ich dachte seines Blickes, der seltsam harten, grünen Augen mit ihrer winzigen Pupille, ich dachte seiner langfingerigen Hände, und dann der Art, wie er mich erst zaudernd durch das Guckloch seiner Tür gemustert hatte, ehe er mir öffnete – –.
»Und ich beschloß, auf alle Fälle bei meinen Untersuchungen, die ich sofort am nächsten Morgen in dem alten Hause der Habsburgergasse aufnehmen wollte, mit allergrößter Vorsicht zu verfahren – jedenfalls auch diesem Sidney Jones gegenüber nur mit verstecktem Blatt zu spielen.
»Bis beinahe zum Morgendämmern saß ich in dieser Nacht vor meinem Arbeitstische. All diese Müdigkeit der letzten arbeitsschweren Tage, die Abspannung der überreizten Nerven war nun, da ich ein neues Ziel vor mir erblickte, wie weggeblasen, und mit der Zuversicht, daß ich nun tiefer in die Rätsel der ungelösten Vorkommnisse würde dringen können, wuchsen meine Kraft und meine Ruhe. Schritt um Schritt überlegte ich, wie ich jetzt vorgehen wollte. – Niemand sollte zunächst von meiner Entdeckung dieser Nacht etwas wissen – auch der Polizeirat nicht. Kein übereilter Schritt durfte geschehen – nichts, was die Gauner vor dem gegebenen Augenblicke kopfscheu machen konnte. Und sachte wollte ich mich an sie heranbirschen, Faden um Faden lockern von dem Schleier, hinter dem sie sich bargen. –
»Als ich mich dann für kurze Stunden zur Ruhe auf das harte Sofa meines Arbeitszimmers streckte, da löste sich da unten auf den Straßen schon wiederum der Lärm des neuen Tages gemach aus dem Dämmerdunkel der schwindenden Nacht.
»Aber auch in mir war es heller geworden, vor mir stand jetzt der Weg, den ich gehen wollte, um Klarheit zu finden in all den Dingen, über denen noch dicht und schier undurchdringlich das Dunkel des Geheimnisses lag. – –«
Richard Plank hatte eine Pause gemacht in seiner Erzählung. Er griff nach seinem Glase, trank und nickte mir zu. Dann brannte er eine neue Zigarre an, lehnte sich wiederum zurück, und während er jetzt sinnend in das grünliche Gold der neugefüllten Römer niederschaute, in dem das Licht der Lampe seine Strahlen brach, begann er langsam wiederum zu reden.
»Ich war im allgemeinen nie ein Freund von Masken und Verkleidungen bei dienstlichen Erhebungen – ich glaube überhaupt, daß man die Anwendung von derlei Mitteln seitens der Detektive und des gesamten polizeilichen Aufklärungspersonales im Publikum arg überschätzt. In diesem Falle, von dem ich Ihnen hier erzähle, habe ich doch, gegen meine sonstige Gewohnheit, von einer Maske Gebrauch gemacht.
»Es mochte gegen neun Uhr vormittags sein, als ich mich als wohlbeleibter Beamter der Steuerbehörde, geziert mit einem kurz gehaltenen, grauen Vollbart, mit einer gleichfalls schon von hellen Fäden durchzogenen Perücke und einer Brille auf den Weg nach der Habsburgergasse machte.
»Mein Plan ging dahin, wie immer die Dinge liegen mochten, jedenfalls den Sprachlehrer zunächst nicht zu beunruhigen, nicht aufmerksam zu machen. Ich wollte fürs erste so viel wie irgend möglich von anderen Bewohnern des Hauses erfahren, wer denn bei Sidney Jones ein und aus ging, und ob an einzelnen von seinen Schülern oder an ihm und seiner Art, zu leben, Besonderheiten aufgefallen wären. Hatte ich auch nur einiges Glück, so konnte ich auf diese Weise schon manches erfahren; des weiteren aber wollte ich Herrn Sidney Jones veranlassen, mir seine Wohnung unfreiwillig auf ein paar Stunden zur genauen Untersuchung zu überlassen.
»Als ich die Toreinfahrt des Hauses betrat, war da eben ein alter Mann in hellblauem, verwaschenem Zwilchjanker und mit vorgebundener Schürze damit beschäftigt, die Fliesen zu kehren. Ein dämmeriges Halbdunkel lag über dem hallenden Gange, an dessen beiden Wänden die vielen verstaubten Firmenschilder hingen.
»Ich grüßte – wollte scheinbar schon vorüber – und blieb dann doch stehen. ›Sind Sie der Hausmeister hier?‹
»Der alte Mann hielt ein im Kehren, zog den Reisigbesen an sich und nahm die Pfeife aus dem zahnlückigen, runzlig zusammengezogenen Mund.
»›Jawohl – –‹
»›So – na ja – das is mir eigentlich ganz recht, daß ich Sie seh' – da hat man doch gleich jemand vor sich, der sich auskennt mit die Leut' im Haus.‹
»Ich klopfte auf die Tasche, die ich umhängen hatte, öffnete sie, kramte eine Weile in den Papieren und holte endlich ein Blatt hervor: ›Sidney Jones – Sprachlehrer – der wohnt doch da bei Ihnen –?‹
»Der Hausmeister nickte. ›Freili – ja – –. Gelt, von der Steuer sein S'?‹
»›Wird schon so sein –.‹ Und dann, ihm zuzwinkernd, ein wenig überlegen und doch so, daß sich der Alte von der Vertraulichkeit des k. u. k. Beamten geschmeichelt fühlen mußte: ›Sagen S', was is denn das für a Herr?‹
»›Der Herr Jones?‹
»›Ja – –‹
»›No mein – was soll ma' da sagen – –?‹
»Ich schwieg einen Augenblick, dann winkte ich ihm, mit mir noch weiter in den Schatten der Einfahrt zu treten. Jetzt war seine Neugier rege, und zugleich rührte sich in ihm die Eitelkeit, daß er von der Behörde da so vertraulich um seine Meinung angegangen wurde. Und während seine Augen mich erwartungsvoll ansahen, sprach ich weiter: ›Wissen S' – wir auf der Steuer, wir glauben halt, daß der Herr Jones vielleicht sein Einkommen ein bissel niedriger an'geben hat, als sich's in Wirklichkeit macht. Drum möcht' ich, eh daß wir uns an den Herrn selber wenden, gern von jemand, der die Verhältnisse kennt, hören, ob da was dran is – –. Ganz vertraulich – verstehen S' – ganz unter uns – –‹
»Der Hausmeister war ganz Aufmerksamkeit und fingerte an seiner ausgegangenen Pfeife.
»›Freili – freili – –‹
»›Also – das werd'n S' ja wissen: hat er recht viel Schüler, der Herr Jones?‹
»›Schüler? Ah ja – da hat er gnua. Alle Augenblick fragt jemand nach ihm bei uns. Aber natürlich: gleich is das auch net immer. Manchesmal geht's halt besser mit'm G'schäft – dann laßt's wieder mehr aus. Wie's halt überall is – –‹
»›So? Und was sind das für Leute – seine Schüler?‹
»›Junge Leut' halt meistens. Ang'stellte aus Geschäften und Beamte – auch a paar Damen sind schon drunter g'wesen – bessere Herrschaften halt.‹
»›Und gibt der Herr Jones viele Stunden in den Häusern außerhalb? Ich mein', geht er viel fort – und bleibt er, wenn er fortgeht, lange aus?‹
»Der Hausmeister hob die Achseln. ›So genau könnt' ich das wirklich net sagen – – Fortgeh'n tuat er hier und da – aber ob er da zum Stundengeben geht oder ob er spazieren geht – das weiß i net. In der Kirchen bin i ihm letzthin einmal begegnet – vierzehn Tag' – drei Wochen wird's her sein – –‹
»›In der Kirchen?‹
»›Ja, in der Stephanskirchen. Recht andächtig hat er grad 'bet't – net amal g'sehn hat er, daß ich 'n grüaßt hab'.‹
»›So – –.‹ Ich mußte an mich halten, um ruhig zu bleiben. Wie das doch seltsam war! Sidney Jones der Mathematiker, der aller Dinge Lösung in einer Formel finden wollte, dem die exakte Wissenschaft allein das Höchste war – der war vor etwa vierzehn Tagen, wenige Tage vor dem rätselvollen Raube, in der Stephanskirche gesehen worden – betend – andächtig ins Gebet versunken! Ob das nicht doch ein Irrtum war? – – ›Sie sagen, daß Herr Jones damals in der Kirche gebetet hat –,‹ warf ich ein, um mehr zu hören – ›ich hab' gemeint, daß der als Ausländer gar nicht katholisch is?‹
»Aber der Hausmeister schüttelte den Kopf. ›Nein – nein – i täusch' mi net. Ganz genau hab' ich'n g'seh'n. Ganz still is er dag'sessen mit g'faltete Händ' und hat nur immer aufig'schaut zu dem Bild von der Schwarzen Madonna – wissen S', zu dem, das später dann beraubt worden is.‹
»›Hm –!‹ Ich war so erschüttert von dieser Mitteilung, die wiederum das Netz der Fäden dichter wob, die von dem seltsamen Verbrechen und seinem Schauplatze zu dem geheimnisvollen, scheinbar geisteskranken Sprachlehrer leiteten, daß ich für Augenblicke schweigend stand. – War das Zufall? Konnte das noch Zufall sein, daß dieser Mann, in dessen Haus zwei Teilnehmer an dem Verbrechen zweifellos ein und aus gegangen waren, daß der wenige Tage vor der Ausführung des Raubes am Tatorte erschienen war – –? Zufall? Nein! So spielt der Zufall nicht. Was hatte Sidney Jones, der kühle Skeptiker – was hatte der im Gotteshaus zu suchen – gerade an der einen Stelle, vor jenem Bilde – –?! Das war ein klarer, unverkennbarer Zusammenhang, und der verdichtete all das, was bisher nur ein vages Ahnen, ein tastender Verdacht in mir gewesen war, zur Sicherheit und Überzeugung.
»Erst als ich merkte, daß der Hausmeister mich fragend ansah, riß ich mich aus den Gedanken und suchte meine Rolle, so gut es gehen wollte, weiterzuspielen. – Ich dankte dem Alten für seine Auskunft, legte ihm nochmals nahe, über unser Gespräch strenges Schweigen einzuhalten und ging dann über den Hof in das Treppenhaus, das zur Wohnung des Sprachlehrers führte.
»Aber ich ging nicht direkt zu diesem selbst. – Im ersten Stock schon hielt ich ein, holte aus meiner Ledertasche ein amtliches Formular und schrieb die offenen Rubriken mit der Füllfeder aus. Es war eine Ladung, die dem Sprachlehrer Sidney Jones auftrug, sich um zwölf Uhr mittags mit entsprechenden Legitimationspapieren auf der Steuerbehörde einzufinden. Dann erst schritt ich weiter die steinernen Stufen der alten, ausgetretenen Treppe empor, drückte die Schirmmütze tiefer in das Gesicht und läutete an der Türe des Herrn Jones.
»Und wieder, wie damals, da ich zum ersten Male an dieser Stelle stand, blieb es zunächst still, bis dann das Knarren einer Tür innen klang, bis Schritte über den Flur näher kamen und wieder jenes Gefühl in mir entstand, als würde ich durch das Guckloch scharf beobachtet.
»Dann öffnete der Sprachlehrer und blieb im Spalt der Tür stehen. Er sah blaß aus – entschieden bleicher noch als damals – nur seine Augen glänzten fieberhaft.
»›Guten Morgen,‹ sagte ich.
»Er nickte nur, ohne zu sprechen.
»›Sind Sie Herr Jones – Sidney Jones?‹ Ich redete mit rauher Stimme und sprach den Namen absichtlich so aus, wie man ihn schreibt.
»›Bin ich.‹ Er musterte mich eine Sekunde lang mit seinen scharfen, harten Augen, und ich trat unwillkürlich einen Schritt weiter in den Schatten, denn mir war es, als zuckte es dabei überlegen in seinem Blicke auf.
»›Eine Zustellung hätt' ich.‹
»Aha! – Nun, geben Sie nur her.‹
»Ich holte meine Vorladung heraus und reichte sie ihm hin.
»›Von der Steuer?‹ Er betonte das letzte Wort seltsam ironisch, während er das Blatt überflog. ›Und für heute noch um zwölf Uhr? Bißchen plötzlich – nicht? Aber immerhin – nicht übel – nicht übel. Die Freude können wir den Herren ja machen – –.‹ Das alles murmelte er vor sich hin, während er auf das Formular niederschaute. Mit einem beinahe spöttischen Blick sah er dann mit einem Male wieder auf. ›Sonst noch etwas gefällig?‹
»›Ich habe weiter nichts. Guten Morgen.‹ Ich wollte mich schon zum Gehen wenden, da sah ich, wie es in seinem Gesicht zuckte.
»›Warten Sie 'mal – Herr Obersteuerrat, oder was Sie sind – nun sind Sie drei Treppen hoch zu mir geklettert, das macht Durst. Da werden Sie dann schon unten ein Glas auf meine Gesundheit trinken – nicht?‹
»Er kramte in seinem Portemonnaie – schien aber die rechte Münze nicht zu finden, und ich stand zögernd da und überlegte, daß es das Richtigste sein mochte, das Trinkgeld ruhig und unauffällig anzunehmen. Die sonderbaren Redensarten des Sprachlehrers gingen mir im Kopf herum, während ich mich zustimmend verbeugte.
»›Warten Sie – –‹ sagte er, ›ich habe kein kleines Geld bei mir – –‹ und dabei trat er rasch zurück, ging in sein Arbeitszimmer und kam nach wenigen Sekunden wieder, ein Zehnkreuzerstück zwischen den Fingern.
»Er reichte mir die Münze, ich nahm sie dankend, schob sie in die Tasche und ging. Die Tür hinter mir fiel zu, und mir war es, als klänge jetzt von innen ein hartes, hämisches Lachen.
»Langsam, versonnen, schritt ich die Treppe hinunter – langsam ging ich auch über den Hof.
»In der Einfahrt stand immer noch der Hausmeister. Ich blieb stehen im Vorübergehen.
»›Ein komischer Herr das, der Herr Jones!‹
»›Ja, ja – a bissel verdraht is er schon.‹
»›Wohnt der ganz allein da oben – ohne Dienstboten?‹
»›Alles macht er sich selber.‹
»›Komische Leut' gibts!‹ Ich nickte ihm zu und verließ das Haus.
»Drei Straßen durchmaß ich noch, dann stieg ich in einen Wagen, und zehn Minuten später stand ich wieder in meinem Zimmer im Polizeigebäude und war damit beschäftigt, aus der Haut eines alten Steuerbeamten herauszukriechen, um wieder Richard Plank zu werden. Eilig wusch ich mich, eilig kleidete ich mich an, denn keine Minute durfte jetzt verloren werden, eine Fülle von Arbeit lag vor mir.
»Zunächst setzte ich mich mit der Steuerbehörde in Verbindung, gab ihr Kenntnis von der fingierten Vorladung, die ich bei dem Sprachlehrer abgegeben hatte, und ersuchte, den Herrn Jones, wenn er um zwölf Uhr kommen würde, möglichst lange, mindestens aber eine Stunde dort aufzuhalten. Diese Zeit, in der er dann mit Sicherheit von seiner Wohnung abwesend war, wollte ich zu der geplanten Haussuchung bei ihm verwenden. Denn das war mir klar: so dringend auch in mir der Verdacht gegen den Sprachlehrer geworden war – zur Begründung einer Verhaftung des Mannes reichten all diese vorliegenden Dinge nicht aus. Fand ich aber in seiner Wohnung etwas, was mit dem ungeklärten Verbrechen im Zusammenhange stand – etwas, das von einem der Raubfälle herrührte – dann konnte ich kurzen Prozeß machen und den Mann nach seiner Rückkehr von der Steuerbehörde festnehmen lassen.
»Des weiteren sandte ich einen meiner verläßlichsten Vigilanten vor das Haus in der Habsburgergasse. Er sollte die Personen, die ein und aus gingen, scharf im Auge haben und sollte vor allem dem Sidney Jones, wenn der seine Wohnung verließ, unauffällig überallhin folgen. – Und dann ließ ich mir geben, was irgend ich an Material über den Sprachlehrer auf der Polizei auftreiben konnte. Ich wollte mich genau darüber unterrichten, wer denn der Mann eigentlich war, der nun mit einem Male so sehr in den Vordergrund meiner Untersuchungen trat.
»Aber da war nicht viel zu sehen! Er stammte angeblich aus Milwaukee, war sechsundvierzig Jahre alt und hatte sich vor zwei Jahren hier in Wien niedergelassen. Nahezu ebenso lang bewohnte er auch schon die Wohnung in der Habsburgergasse. Sein letzter Aufenthalt vor seiner Übersiedlung nach Wien war nach seiner Angabe Oxford bei London gewesen. Als Beruf war die Erteilung von Sprachstunden und die Anfertigung von Übersetzungen angegeben. Polizeiliche Vorstrafen oder Konflikte waren nicht vermerkt.
»Um halb zwölf stand ich, ausgerüstet mit all dem kleinen Handwerkszeug, das mir zur Öffnung der Wohnung nötig schien, wohlgedeckt in der Nähe seines Hauses und wartete auf Sidney Jones.
»Bald darauf trat er aus dem Hause und entfernte sich in der Richtung nach dem Graben zu. Er schien völlig sicher zu sein, denn er schritt ruhig, ohne auch nur einmal umzusehen, dahin. Ein Dienstmann, der bisher rauchend an einem Laternenpfahl gelehnt hatte, folgte ihm in einiger Entfernung langsam nach. Ich aber trat jetzt in das Haus, kam unbemerkt über den Hof, die Treppe hinauf, vor seine Wohnung.
»Und einige Minuten später stand ich im Flur und schloß die Tür hinter mir von innen zu.
»Eine starke Erregung war in mir, der Bund mit den Nachschlüsseln zitterte klirrend in meinen Händen, und mein Herz schlug in raschen Schlägen – ich war mir klar bewußt, daß mir vielleicht die nächsten Augenblicke schon die Lösung all der Fragen, die mich nun seit Wochen quälten, bringen konnten.
»So öffnete ich die Tür zum Arbeitszimmer des Sprachlehrers. Still und kahl wie damals, da ich es zum ersten Male betreten hatte, lag es auch jetzt. Nur die Bücher an der Wand, die Bücher und Skripturen auf dem Tische, der ganz den Anblick bot, als wäre er vor wenig Augenblicken von seinem bis dahin in Arbeit vertieften Herrn verlassen worden, gaben Zeugnis von dem Geiste, der sonst hier tätig war.
»Ich trat an den Tisch heran und blickte auf die bunte Menge von Heften, losen Blättern, Schreibrequisiten, aufgeschlagenen Werken und Journalen nieder, die vor mir lag. Eine Scheu, die Dinge zu berühren, stieg in mir auf – ein Gefühl der Abwehr, das ich beinahe stets in solchen Fällen überwinden mußte, wenn es galt, in anderer Leute Geheimnisse hinter dem Rücken des Besitzers einzudringen. Erst der Gedanke, daß der Mann hier im Verdacht der Mitwisserschaft an einem Verbrechen stand, ließ mich dies Zaudern überwinden. Und da setzte ich denn mit meiner Arbeit ein.
»Eilig und immer darauf bedacht, daß ich die Dinge ganz in ihrer alten Ordnung belasse, prüfte ich Blatt um Blatt, das ich da fand. Es waren in der Hauptsache mathematische Arbeiten – komplizierte, zusammengesetzte Wahrscheinlichkeitsrechnungen mit zahllosen eingestreuten Formeln und Verklausulierungen. Ziemlich achtlos ging ich über diese Blätter hin, ich suchte Besseres, Wichtigeres. Dann fand ich einige Schreibhefte, die von Schülern stammen mochten – aber weder die Schrift des Herrn von Balassy, noch jene der Dame in Trauer war hier vertreten. Als ich die Skripturen auf der Platte des Schreibtisches erledigt hatte, öffnete ich die Laden. – Auch sie enthielten nichts, was im Zusammenhange mit dem Verbrechen stehen konnte, und meine Enttäuschung wuchs, je länger ich unter diesen Schriftstücken, Broschüren und Notizblättern suchte.
»Und doch – und doch – –! Ich fühlte es trotz dieses Mißerfolges stärker als je zuvor: Hier bei dem Sprachlehrer, zu dem nun schon so viele Verdachtsmomente führten, mußte die Lösung aller Dinge liegen.
»Vorsichtig schloß ich die Laden wieder und suchte weiter. Nicht nur das ganze Arbeitszimmer durchmusterte ich mit spähender Sorgfalt, auch auf den puritanisch einfachen Schlafraum nebenan, auf den Flur und die Küche dehnte ich meine Nachforschungen aus. Aber nirgends fand ich Spuren, die mich dem Ziele meines Suchens näher gebracht hätten.
»Im Küchenherde waren vor ganz kurzer Zeit größere Mengen von Papieren verbrannt worden – die schwarzgrauen Aschenteilchen der verkohlten Blätter lagen zuoberst in dem Feuerraume, und die Platte des Herdes strömte noch eine gelinde Wärme aus. Aber diese Asche, die ich suchend durchmusterte, ob ich nicht hier oder dort ein im Zusammenhang verbliebenes Blättchen fände, aus dem ich die Art der verbrannten Skripturen erkennen könnte, war mit dem Feuerhaken in winzige Teilchen zerrührt worden.
»Als sähe ich das ironisch lächelnde Gesicht des hageren Mannes vor mir, so war es mir, als ich meine Bemühungen, aus diesen Aschenresten mir einen Sinn zu schöpfen, endlich aufgab. Aber alles in mir sträubte sich dagegen, das Feld meiner Untersuchungen hier so völlig erfolglos zu räumen. All die seltsamen Verstecke fielen mir ein, an denen verfolgte Verbrecher ihr Schränkzeug, ihre Beute, belastende Wertstücke und dergleichen ›Kabore zu legen‹ pflegen, und ich kann wohl sagen, daß ich trotz der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung stand, kaum ein Winkelchen in der Wohnung des Sprachlehrers undurchsucht ließ, daß kaum irgend ein Möbelstück oder Gerät, das zum Verstecke irgend welcher Papiere oder sonstiger Dinge dienen konnte, meiner Prüfung entging. Ich klopfte Möbel und Wände auf verborgene Hohlräume ab, durchsuchte die Polsterung des bequemen Ledersessels, der in dem Arbeitszimmer dem Sitzplatz Sidney Jones' gegenüber stand, besah das Innere der Öfen und prüfte den Dielenbelag des Fußbodens auf verdächtige Stellen. Aber ich fand bei all dieser Mühe nichts – nichts!
»Erst als es ein Uhr geworden war, ich also gehen mußte, wenn ich mich nicht der Gefahr einer Überraschung durch Herrn Jones aussetzen wollte, gab ich meine Nachforschungen auf und verließ die Wohnung, in die ich eine Stunde früher mit so hochgestimmten Hoffnungen, mit so gespannten Erwartungen getreten war. Eine herbe Enttäuschung erfüllte mich, als ich das Schloß der Türe hinter mir wieder versorgte und als ich dann, nachdem ich vorsichtig die Straße wiederum gewonnen hatte, das unerwartet nichtige Ergebnis dieser Haussuchung übersann.
»Die Überzeugung, daß der Sprachlehrer in innigem Zusammenhange mit den Verbrechern stand, war durch den Umstand, daß ich greifbare Beweise hierfür in seiner Wohnung nicht gefunden hatte, natürlich keineswegs in mir erschüttert. Die Tatsache, daß auf dem Herde ganz kurz vor meinem Kommen Skripturen in größeren Mengen verbrannt worden waren, hatte meinen Verdacht nur noch bestärkt. Ich hätte mir nach allem dem nun kein Gewissen mehr daraus gemacht, den Mann ohne weiteres zu verhaften – aber, wenn selbst ich das tat, was kam dabei heraus? Wiederum mußte ich mir sagen: All das, was meinen Verdacht stützte, das waren noch lange keine Beweise für seine Schuld – und er würde sich hüten, etwas zuzugeben und zu gestehen, das man ihm zunächst keineswegs beweisen konnte! Das alles waren Momente, die ihn wohl verdächtig machten, die aber anderseits auch völlig harmlos gedeutet werden konnten, und die auf jeden Fall dem zwischen den Fingern zu nichts zerrannen, der auf sie den Bau eines Indizienbeweises stellen wollte. – So würde ich mit der Verhaftung nur einen Schlag ins Wasser geführt haben – es würde damit zu den zahlreichen, voreiligen Verhaftungen der letzten Zeit nur noch ein neuer weiterer Fall kommen. Nein – mit Gewalt war hier zunächst nichts zu machen!
»Aber was tun –? Was tun?!
»Und wie ich so in machtlosem Eifer mein Hirn danach zergrübelte, wie ich wohl dem Manne am besten beikommen könnte, da war es mir – wie früher schon – als sähe ich das hagere, ironisch lächelnde Gesicht spöttisch und hochmütig vor mir.
»Das Blut stieg mir vor Scham und Zorn zu Kopf, und gleich als hätte mich der Mann zum Kampf herausgefordert, so war mir zu Mut. Nur jetzt nicht nachgeben! rief es in mir, nur jetzt nicht locker lassen!
»Ich schritt weiter durch die Straßen und sah die Menschen nicht, an denen ich vorübereilte, und hörte nichts von all dem regen Leben, das brausend rings um mich her toste. Nur dieser Mann mit dem mitleidig überlegenen Lächeln stand vor mir, und er erfüllte all mein Denken. Die ganze Gestalt des Sprachlehrers rückte in dieser Stunde, je mehr ich grübelnd sann und überlegte, für mich in ein ganz neues Licht, und Lösungen, die ich noch in der Nacht vorher als allzu kühn und als phantastisch von mir gewiesen hatte, erschienen mir mit einem Male nicht mehr als außerhalb von dem Bereiche der Möglichkeiten.
»Mit jener Witterung, die uns auf unserer Jagd nach dem Verbrechen oft mehr als alle klare Logik, als alle faßbaren Beweise dem Ziele nahe bringt, fühlte ich unumstößlich klar, daß hier die rechte Fährte war. Und alles in mir fieberte, die neue Spur, die mich nach all den bösen Mißerfolgen nun endlich vorwärts bringen sollte, um keinen Preis mehr loszulassen.
»Als ich im Polizeigebäude nach meiner Rückkehr den Polizeirat Franz traf, und der – wie täglich mehrmals – wiederum nach dem Stand der Dinge fragte, da ging mir's seltsam: Ich konnte es nicht über mich gewinnen, ihm ausführlich von dem zu sprechen, was mich seit dieser Nacht so unablässig beschäftigte und erfüllte. – Mag es der ehrgeizige Wunsch gewesen sein, ihn erst mit einem vollen, abgeschlossenen Erfolg zu überraschen oder die eifersüchtige Sorge, daß sonst vielleicht ein anderer mit mir zugleich in die weitere Entwicklung der Dinge eingreifen würde, und daß damit mein eigener Anteil an ihrer glücklichen Lösung vermindert werden könne – ich wüßte heute nicht zu sagen, was es war. Ich weiß nur, daß ich über die Entdeckung, die ich in der verflossenen Nacht gemacht hatte, ebenso wie über die Ereignisse des Vormittags schwieg. Und seltsam – ich empfand das Schweigen in diesem Falle nicht einmal als Unrecht!
»Als wäre dieser Kampf mit dem Herrn Sidney Jones – der Kampf um eine Lösung der geheimnisvoll verwirrten Fäden, die in dem alten Hause des Sprachlehrers zusammenliefen, mein eigenstes Gebiet geworden, auf dem zu schürfen ich allein berufen war, so war es mir. Ich hatte immer klarer ein Gefühl, als ob das alles zusammenliefe in ein Ringen zwischen dem hageren Mann und mir – und ich war bereit, diesen Kampf Mann gegen Mann mit ihm zu wagen.
»Ich unterschätzte meinen Gegner nicht – doch eben darum wollte ich ihn auch allein besiegen.
»So beschloß ich denn, ihn noch einmal in seiner Wohnung aufzusuchen und den Versuch zu machen, ob es mir nicht doch mit List gelänge, Vorteile über ihn davonzutragen.
»Es mochte etwa vier Uhr nachmittags geworden sein, als ich wiederum die Klingel vor der Tür von Sidney Jones zog.
»Aber diesmal mußte ich nicht lange warten, und auch die Musterung durch das Guckloch unterblieb. Schon wenige Sekunden, nachdem der dünne Klang der Glocke herausgedrungen war, hörte ich innen Schritte, die Tür wurde aufgetan, und Sidney Jones stand vor mir. Schmal und lang stand er da mit ein wenig vorgestrecktem Kopf, und seine scharfen, grünen Augen ruhten sekundenlang in den meinen, während sich der bartlose Mund zu einem leisen, hochmütigen Lächeln verzog.
»›Guten Tag, Herr Jones – –,‹ sagte ich.
»Er verbeugte sich ein wenig, und sein Lächeln blieb dabei bestehen. ›Herr Plank – wenn ich nicht irre? Herr Richard Plank von der Sicherheitspolizei?‹
»›Ganz recht – mein Name ist Plank – ich hatte schon vor zehn Tagen etwa das Vergnügen – –‹
»Er trat in den Flur zurück und lud mich mit einer überhöflichen Geste ein, näherzutreten.
»›Ja – ja gewiß – ich erinnere mich genau – es war in der Angelegenheit von einem meiner verflossenen Schüler – wie hieß er doch? – ja, Angerer, Hermann Angerer –‹
»Ich nickte. ›Ja – und in einer Sache, die mit jener Angelegenheit im engsten Zusammenhange steht, bin ich auch heute wieder gekommen.‹
»Er hatte die Tür seines Arbeitszimmers geöffnet und war dann hinter mir eingetreten.
»Nun wies er, mich zum Sitzen auffordernd, auf den bequemen Ledersessel und setzte sich mir gegenüber. Zögernd nahm ich Platz – ein Gefühl von erregter Beklemmung war in mir, und ich mußte denken: in diesem gleichen Raume bist du vor wenigen Stunden allein und heimlich gewesen, hier hast du all die Habseligkeiten des Mannes durchsucht, der jetzt da vor dir sitzt – nichts davon ahnend vor dir sitzt. Und zugleich wurde es mir in diesem Augenblicke noch einmal klar, was für mich mit der Unterredung, die jetzt vor mir lag, auf dem Spiele stand. Als ob sie sich verbinden wollten, um eines zu werden in dem bevorstehenden Kampfe, so drängten all die Verdachtsgründe, die gegen Sidney Jones erstanden waren, sich jäh in meinem Kopf zusammen. Keine Miene dieses Mannes, nicht die leiseste Bewegung – nicht der geringste Zug seines Gesichtes sollte mir entgehen – sprungbereit wollte ich auf der Lauer liegen und jeden kleinsten Vorteil wahren. Und wehe, wenn er sich dann eine Blöße gab!
»›Es hat sich da nämlich im Laufe der Unter – –‹
»Ich sah auf und stockte.
»Da saß Herr Jones, sah mich mit diesen kleinen, scharfen Pupillen, die wie zwei blanke Nadelköpfe aus seinen grünen Augen stachen, an, wiegte bedächtig leise seinen Kopf, lächelte seltsam und rieb sich seine Hände.
»Und ohne sich um das zu kümmern, was ich sagen wollte, meinte er langsam und versonnen: ›Es ist doch höchst merkwürdig – seltsam ist es – beinahe an geheimnisvolle Dinge, an telepathische Phänomene möchte man glauben – –. Man lernt es wenigstens verstehen, wie manche sonst ganz leidlich kluge Menschen sich doch mit derlei Zeug befassen können. Gerade, als ob es so etwas wie Fernwirkung gäbe – –‹
»Ich schwieg noch immer still und sah nur fragend zu dem hageren Manne, der sich jetzt mit den langen schmalen Fingern über die Schläfe fuhr und immer noch ganz unverwandt auf mich herüberstarrte. Ein Unbehagen kam über mich und wuchs an, je länger ich so seine Augen auf mir haften fühlte.
»›Sie glauben nicht an Fernwirkungen?‹ fragte er dann.
»›Nein – ich glaube nicht daran – –.‹ Halb mechanisch hatte ich geantwortet, immer noch erfüllt von den Fragen: Was sollte das? Wo wollte das hinaus?
»Und wieder fuhr mein Gegenüber langsam und versonnen zu sprechen fort: ›Nun ja – das ist sehr wohl begreiflich – gerade Sie als Detektiv sind ja von vorneherein ein Mann greifbarer Tatsachen. – Und doch – was werden Sie mir sagen, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich etwa seit zwei Stunden beinahe fortwährend an Sie gedacht habe?!‹
»›An mich?‹ Ich fühlte meine Erregung.
»Aber Herr Jones blieb gleichermaßen ruhig.
»›Ja, an Sie, Herr Plank – und da, wie ich nach all dem Denken eben zu einem Entschlusse komme und mich daran machen will, an Sie zu schreiben, um Sie um eine Unterredung zu bitten – da läutet es – ich gehe zu öffnen – und Sie stehen vor mir! Seltsam ist's doch auf jeden Fall – –‹
»Ich zuckte die Schultern und sah gleichgültig in das fragende Gesicht des Sprachlehrers.
»›Ein Zufall, wie irgend einer! – Sie sagen, daß Sie mich um eine Unterredung ersuchen wollten? Um was handelt es sich?‹
»Sidney Jones kniff die Brauen zusammen und strich sich sinnend über das spitze, glattrasierte Kinn. Dann sprach er, und eine lauernde Ironie lag dabei in dem Klang seiner Stimme: ›Ich wollte Ihnen eigentlich nicht vorgreifen, Herr Plank. In der Tat lassen mich ja Ihre ersten Worte vermuten, daß ich Ihren Besuch doch nicht ›der Macht telepathischer Kräfte‹ zu verdanken habe, daß vielmehr auch Sie durch ganz bestimmte Gründe zu Ihrem Kommen veranlaßt wurden. Ist es nicht so? Nun ja, es ist so – –. Aber da Sie mich so liebenswürdig fragen, so wäre es unrecht, wenn ich schweigen wollte. Nun also: Ich wollte Ihren fachmännischen Rat – Ihren Beistand erbitten. Ich habe Beweise dafür, daß irgend ein Unbekannter während der Zeit meiner Abwesenheit in den Stunden zwischen etwa halb zwölf und halb zwei Uhr mittags mit Nachschlüsseln in meine Wohnung eingedrungen ist und sich hier eingehend mit der Durchwühlung meines Eigentums zu schaffen gemacht hat – –‹
»Seine kalten Augen mit dem stechenden Blick lagen unverwandt auf mir. Und dabei hatten seine Züge einen so undeutbaren, so seltsam wesenlosen Ausdruck angenommen, daß es mir – trotz der scharf beobachtenden Ruhe, zu der ich mich bei aller inneren Erregung zwang – zunächst nicht möglich war, das eine zu erkennen: Sprach dieser Mann hier wahr – wollte er meinen Rat – oder durchschaute er mein Tun, wußte er, daß ich selbst hier meine Haussuchung vorgenommen hatte, und spielte er da jetzt ein höhnisches, ein überlegen spottendes Spiel mit mir. Dann stand auch noch ein anderes Fragen vor mir auf: Was hatte er gesagt? ›Ich habe Beweise – –‹ Beweise? Ja, hatte ich nicht die größte Vorsicht angewendet? Mich immer wiederum vergewissert, daß alles in der alten Ordnung verblieben war –? Und während ich dies alles in drängender Eile überdachte, fragte ich schon: ›Wie – man hat bei Ihnen eingebrochen? Man hat Sie beraubt?‹
Beraubt? Vielleicht – –. Wertgegenstände oder Wertpapiere zähle ich leider nicht zu meinem Besitz, und ob der Einbrecher, dessen besondere Absichten ich ja nicht näher kenne, auf seine Rechnung kam, vermag ich nicht zu sagen. Ich möchte beinahe daran zweifeln. – – Tatsache aber ist auf jeden Fall, daß jemand in der angegebenen Zeit in meiner Wohnung war, und daß dieser Jemand sowohl all die Skripturen hier auf meinem Tische, wie auch den Inhalt meiner Laden, mein Mobiliar und meinen sonstigen Besitz durchschnüffelt hat – –. Und weil derlei doch recht ungemütlich ist, so wollte ich – da ich nun einmal das Vergnügen habe, Sie, Herr Plank, als ein besonders findiges Mitglied der Sicherheitspolizei zu kennen – Sie bitten, diese Sache in die Hand zu nehmen.
»Wieder trafen meine Augen scharf in die seinen, aber wieder begegnete ich da nur jenem undeutbaren Fragen, das als höflich gelten konnte oder als forschend, als ironisch oder überlegen.
»›Sie sagten, daß Sie Beweise in Händen hätten?‹ fragte ich.
»Jetzt stand ein leises Lächeln um die Lippen Sidney Jones'.
»›Ich dachte es mir, daß Sie gerade für diesen Umstand besonderes Interesse zeigen würden, Herr Plank. Beweise – ja – gewiß – aber meine Beweise sind nur subjektiver Art. Der Mann hat mir natürlich nicht seine Visitenkarte, dagelassen – aber das kann man auch wirklich nicht von ihm verlangen. Immerhin, er hat seine Spuren hinterlassen, die mich überzeugen. Ich weiß zum Beispiel, daß sich die Lage zweier Zettel zueinander in meinem Schreibtisch bei meinem Weggehen ein wenig anders verschnitt als bei meinem Wiederkommen, daß mein Papierkorb dort vorher um nahezu einen Zentimeter weiter rechts stand als nachher – und dergleichen mehr. Sie werden mich vielleicht jetzt fragen wollen, wieso ich die frühere Stelle des Papierkorbes, die frühere Lage der Zettel so genau kenne – denn man beachtet doch derlei im allgemeinen nicht – –?‹
»Ich nickte nur, aber ich muß sagen, mir war recht unbehaglich zu Mute bei diesen Auseinandersetzungen.
»Und Sidney Jones fuhr fort: ›Nun sehen Sie, Herr Plank, ich will Sie um Ihre Hilfe bitten, da muß ich offen zu Ihnen sein. Ich ahnte so etwas – und habe mir daher, ehe ich ging, ein paar kleine Merkzeichen gemacht: Die Stellung des Korbes, die Lage der Zettel – und noch einige Scherze dieser Art –. Wieso ich dazukam, derlei zu ›ahnen‹?‹ Er lächelte jetzt wiederum ein wenig und blickte seine langen mageren Finger an. ›Ich bin mißtrauisch von Natur – und dann – ich möchte Ihnen nicht nahetreten –: aber unser Wien ist doch recht unsicher geworden. Die Zeitungen sind voll von den Berichten über kühn durchgeführte Verbrechen, die Polizei scheint diesem Überhandnehmen der bösen Elemente nicht mehr gewachsen zu sein. Man ist ja wahrhaft seines Eigentums nicht mehr sicher – kein Mensch kann dem andern mehr trauen. – Denken Sie selbst: vor vierzehn Tagen sagten Sie mir, daß sogar einer meiner Schüler, ein junger Mann, der hier auf diesem Stuhl gesessen hat, den Sie jetzt innehaben, Anteil an einem Einbruch hat! – Und dazu kam, daß heute vormittag ein Mann hier war, der mir verdächtig schien – –‹
»›Nein, so meine ich das nicht; der Mann war Staatsbeamter – Steuerbote, und er ist unschuldig und steht der Sache fern – das weiß ich jetzt.‹
»›So – –?‹ Ich atmete erleichtert auf.
»›Ja, denken Sie, so nach neun Uhr war dieser Mann bei mir und brachte mir eine Vorladung, die mich für zwölf Uhr auf das Steueramt berief. Da war ich mißtrauisch – denn wie gesagt: was kommt nicht alles vor! Da dringen in dem einen Falle die Gauner als Installateure in die Wohnung, dort kommen sie als Telephonbeamte, als Briefträger – und was weiß ich, in wieviel anderen Masken! Der Termin für die Ladung schien mir kurz, und eines Rückstandes in der Steuerzahlung war ich mir nicht bewußt – –. Ich fürchtete, das Ganze sei nur darauf angelegt, mich zum Fortgehen zu veranlassen, um meine Abwesenheit zu einem Einbruch zu benutzen! Und in dem Mißtrauen – ich gebe zu, daß es vielleicht übertrieben war – dachte ich mir: zeichne den Mann! Mache dir ein Merkzeichen an ihm, so daß du ihn später unbedingt identifizieren kannst – dann folge ruhig der Ladung auf die Steuerbehörde; falls aber diese Vorladung sich dort als Finte erweisen sollte, fahre so schnell wie möglich zurück – ertappe ihn auf frischer Tat und übergib ihn dann der Polizei! – – Nun, ich sagte Ihnen schon, der Mann kommt nicht in Betracht – ich wurde auf dem Steueramte in der Tat erwartet. Leider aber hielt man mich dort recht lange hin – inzwischen aber ist ein Eindringling bei mir gewesen.‹
»›Haben Sie einen bestimmten Verdacht gegen eine Persönlichkeit?‹ fragte ich, nur um etwas zu sagen, und die Pause, die eingetreten war, nicht allzulang werden zu lassen.
»Sidney Jones, der sich wiederum lebhaft für seine Fingernägel interessiert hatte, schien die Frage zu überhören. Aber plötzlich lachte er dann kurz auf und sah mich voll an.
»›Übrigens – auf was für Ideen man nicht kommt! – ganz originell, wie ich mir da den Steueronkel ›gezeichnet‹ habe.‹ Er griff nach einem Blechkästchen, das auf dem Schreibtische stand, und öffnete; es enthielt ein Stempelkissen und einen Namenstempel. ›Das ist unauslöschliche Stempelfarbe – ›unauslöschlich‹ – na! – drei oder vier Waschungen wird sie etwa überdauern. Ich habe nun ein Zehnkreuzerstück genommen, habe es auf das Kissen gepreßt und dann mit der farbigen Seite nach unten dem guten Manne als Trinkgeld in die Hand gedrückt. So etwa – –‹
»Das Herz begann mir mit einem Male wie rasend zu schlagen. Ein violetter Farbenfleck, den ich beim Ausziehen der Uniform eines Steuerboten und später, als ich mir die Hände wusch, an meiner Hand bemerkt hatte, ohne ihn aber im Drange meiner Gedanken viel zu beachten, fiel mir ein. Unwillkürlich zuckte ich jetzt mit dem Arm zurück. Aber da hatte Sidney Jones auch schon meine Hand ergriffen – sah den Fleck, der, nur ein wenig heller geworden, immer noch an meinem Handteller saß, blickte dann scheinbar ganz verdutzt auf mich und begann endlich laut und anhaltend zu lachen. Aber etwas Höhnisches, hochmütig Spottendes lag in diesem grellen Lachen und in dem Blick seiner triumphierenden Augen, und das alles traf mich wie Peitschenhiebe.
»Die seltsamen Redensarten, die Sidney Jones vor sich hin gemurmelt hatte, während ich in der Maske des Steuerboten vor ihm gestanden, und die ich erst für die Äußerung eines krankhaften Gehirns genommen hatte, fielen mir jäh aufs neue ein. Es war mir in dem Augenblicke klar, daß nicht ich ihn, daß er mich überlistet hatte, daß er wohl wußte, wer der geheimnisvolle Besucher seiner Wohnung war, und daß er nur sein überlegen höhnendes Spiel mit mir getrieben hatte und weiter mit mir treiben wollte.
»Schon wollte ich auffahren, um diesem für mich unwürdigen Zwiegespräch ein rasches Ende zu machen, um diesem Mann hier, in dem ich nach dieser Probe seiner Verschlagenheit erst recht einen ganz gefährlichen Burschen sah, in klaren Worten die Wahrheit zu sagen, da zwang ich mich doch wiederum zur Ruhe nieder. Und während ich bei aller inneren Erregung mich zu sammeln suchte und meine Gedanken nach einem Mittel rangen, dem Mann auf irgend eine Weise beizukommen, sprach er auch schon wieder: ›Was sagen Sie jetzt, Herr Plank? Gibt es nicht doch noch Zufälle auf dieser Welt? Da sieht man es doch wieder einmal klar, was auf derlei ›Beweise‹ zu geben ist! Könnte ich jetzt nicht dreist und ohne weiteres behaupten, Sie und der ›Steueronkel‹ und – wenn ich nicht zu mißtrauisch gewesen bin – auch dieser seltsame Einschleicher wären ein und dieselbe Person? – Ich tue das natürlich nicht, schon darum nicht, weil ich –‹ er lächelte mich höhnisch an – ›von Ihnen, der Sie ja als ganz hervorragend auf Ihrem Gebiete gelten, doch nicht glauben mag, daß Sie auf diesen plumpen Streich mit meiner Stempelfarbe hereingefallen wären – wenn Sie inkognito mir und meiner Wohnung Ihren freundlichen Besuch hätten abstatten wollen. Nein – nein, für so talentlos halte ich Sie nicht – denn wären Sie's, dann könnte Ihnen jeder tüchtige Vertreter einer nicht gerade auf das Gesetzbuch eingeschworenen Lebensanschauung nur einen Rat erteilen: Gehen Sie nach Hause, mein lieber Herr Plank, und stecken Sie die Sache auf – denn mit Ihnen werde ich noch zehnmal fertig! – – Ja – –‹
»Sidney Jones machte eine kleine Pause. Selbstzufriedener Hohn und Haß sprühten aus den kleinen spitzigen Pupillen seiner Augen. Und während ich mit aufeinandergebissenen Zähnen innerlich bebend vor Zorn und doch machtlos diesem Schurken gegenübersaß, der es ja kaum noch für der Mühe wert zu halten schien, mir viel zu verbergen, der mich mit seinem Spotte überschüttete und der sich da in überlegener Verachtung vor mir spreizte, lenkte er verbindlich lächelnd wieder ein: ›Nun – – und was den violetten Fleck an Ihrer Hand betrifft, Herr Plank – nicht wahr, da gibt es ja doch tausend Möglichkeiten, auf die man sich ein solches kleines Farbenfleckchen an der gleichen Stelle der gleichen Hand zur gleichen Zeit – durch Zufall zuziehen kann. – Sie interessieren sich ja, wie Sie mir da letzthin sagten, auch für derlei Wahrscheinlichkeitserscheinungen, die man so töricht ›Zufälle‹ nennt?‹
»Er grinste, stockte, und ein irres Flackern kam in seinen Blick – wie damals war es, als ich zum ersten Male bei ihm gewesen war.
»›Wissen Sie denn, mein lieber Herr, wie sich die ›Zufallschance‹, wie sich die mathematische Wahrscheinlichkeit in diesem Falle stellen würde – –? Da gibt es eine Stelle bei Poincaré – nein, im › Calcul des probabilités‹ des Bertrand – – ein Siebenmillionstel dürfte die Chance etwa betragen – ein bißchen wenig – nicht? Nein, warten Sie – – warten Sie – –!‹
»Er hatte ein Blatt Papier an sich gezogen und begann mit einem Male in fieberhafter Hast Zahlen und Buchstaben zu Gleichungen zu reihen.
»Ich stand auf und beugte mich vor über den Tisch.
»›Herr Jones, haben Sie den Namen Oeden von Balassy schon gehört?‹
»Er schrieb Zahlen an Zahlen und schien mich nicht zu hören. Seine Finger zitterten über das Papier hin, und auf seiner hohen Stirne standen die Adern in blauen Strängen. Sein Hirn, das bisher mit so furchtbar zersetzender Schärfe gearbeitet hatte, schien lahmgelegt, und nur die fiebernd jagenden Gedanken seiner krankhaften Phantasieen beherrschten ihn.
»Da versuchte ich ein letztes. Ich nahm den Zettel aus der Brieftasche, den ich von ihm erhalten hatte, den Zettel, der in jener Schrift des angeblichen Herrn von Balassy die Worte trug: › – – year has twelve months or four seasons‹. Ich hielt ihm dieses Blatt vor Augen hin und griff ihn derb an seiner Schulter, daß er aufsehen mußte.
»›Herr Jones, welcher von Ihren Schülern hat das hier geschrieben – –?‹
»Er sah mich an und fuhr mit seiner hageren Linken vor, als hätte er mir Wichtiges zu verkünden.
»›Weniger noch – – noch weniger! Ein Siebenmillionstel ist zu hoch geschätzt! Und wenn ich Ihre Chance in einen Bruch zusammenfasse, dessen Nenner die Anzahl aller möglichen Fälle, dessen Zähler die Menge aller günstigen Fälle zählt – so wird der Bruch noch kleiner – –!‹
»Und hastig schob er meine Hand von seiner Schulter und starrte wieder stier und fiebernd auf das Blatt vor ihm, auf dem er weiter Zahlen und Buchstaben aneinanderreihte, als wäre das allein noch von Bedeutung und alles andere Tun und Sein um ihn erstorben und versunken.
»Da ging ich so, wie ich damals, als ich zum ersten Male hier gewesen, auch gegangen war. Still – ohne Gruß. Aber ich wußte, während ich die Wohnung und das Haus von Sidney Jones verließ, ganz unumstößlich klar, daß dieser Mann, der jetzt aufs neue von seiner Wahnidee umfangen wurde, in seinen lichten Stunden ein ganz gefährlicher Verbrecher war. – Und ich schwor mir, noch zitternd vor Zorn über all den Hohn, den ich hatte erdulden müssen, daß ich nicht rasten würde und nicht ruhen, bis es mir gelungen war, den Übervorsichtigen, Überschlauen dennoch zu überlisten, ihm das Geheimnis seines lichtscheuen Wandels abzuringen!«
Richard Plank schwieg.
Er sah minutenlang sinnend, mit vorgebeugtem Kopf, vor sich hin, in die Erinnerung an jene Vorgänge versunken, von denen er erzählte.
Und ich störte ihn nicht in seinem Sinnen, so sehr auch jede Fiber an mir danach drängte, mehr von dem seltsamen, geheimnisvollen Kampf zu hören, der sich da zwischen ihm und jenem Sidney Jones entsponnen hatte.
Erst als von draußen hallend die Schläge der Turmuhr an die Scheiben schlugen – zehn klare Töne, pochend und schwer wie fallende Tropfen – da schüttelte er das Träumen von seiner Stirne und aus seinen Augen, richtete sich ein wenig auf und sprach weiter:
»Deutlich sehe ich noch die Stunde, da ich damals nach jener Aussprache mit Sidney Jones, in der er mich mit kaum verhülltem Hohn und Spott geschlagen hatte, die Treppe seines Hauses hinunterstieg und unten durch die Straßen taumelte. – – Ja, taumelte – denn all die mühsame Beherrschung, die ich mir oben in dem kahlen Zimmer dieses Mannes mit Anstrengung von allen Kräften abgerungen hatte, fiel nun von mir, und Scham und Zorn und Wut übermannten mich.
»Wie ich dann durch die nächsten Straßen kam, in denen alles Leben des versinkenden Nachmittags brandete, das habe ich auch damals nicht gewußt. Ich habe nur ganz dunkel die Erinnerung behalten, daß ich erst nach dem ›Graben‹ wollte, dann aber vor dem Menschenstrom, der sich dort wälzte, unwillkürlich stockte, umkehrte und zurückging nach der anderen Seite. – Allein sein! schrie es in mir. Ruhig werden! Zur Klarheit kommen! – Und in diesem Drange nach Ruhe und nach der Möglichkeit, mich zu sammeln, mag ich dann wohl durch die Augustinergasse hingegangen sein, denn auf der Albrechtsrampe, die einsam, menschenleer über dem Treiben unten auf dem Platz und in den Straßen lag, fand ich mich wieder. Dort saß ich mit geballten Fäusten und mit zusammengepreßtem Munde auf einer Bank unter einem der alten, breitästigen Kastanienbäume und war erfüllt nur von dem einzigen Drange, die Schmach, die mir der Mann angetan hatte, von mir zu weisen, sie durch seine Überführung zu sühnen.
»Daß er schuldig war, furchtbar schuldig, daran zu zweifeln wäre nach seinen eigenen Worten, nach dieser Art, wie er sich, halb um mich zu höhnen, und halb vielleicht aus Eitelkeit, mir preisgegeben hatte, Narrheit gewesen. Der Mann war ein Verbrecher, und er war überreif für das Gericht!
»Aber es sollte kein Gericht an ihn heran, ehe nicht ich mich noch einmal mit ihm gemessen hatte, ehe nicht ich ihm den Beweis erbringen konnte, daß er nicht ›zehnmal mit mir fertig würde‹, wie er das prahlend ausgesprochen hatte!
»Mehr denn je war nach dem Vorgang des Nachmittags der Kampf mit Sidney Jones mein Feld, mein Recht geworden, und mehr denn je war ich bereit zu diesem Kampfe!
»Daß ich beim ersten Ansturm unterlegen war, das sollte nur ein neuer Antrieb sein. Ich hatte meinen Gegner unterschätzt, davor wollte ich mich in der Folge hüten. – –
»Lange saß ich auf der einsamen Bank, und ich wurde ruhiger, je mehr die Dämmerung sich niedersenkte. Die Nerven, die nach all der Überanstrengung der letzten Zeit unter dem Ansturm dieser jüngsten Stunden beinahe ihren Dienst hatten verweigern wollen, kräftigten sich aufs neue. Was anfangs wirr gewesen war in mir, verflog, ich fand die Klarheit meines Denkens wieder, und all mein Sinnen richtete sich auf ein einziges Ziel: den rechten Weg zu finden, auf dem es mir gelingen konnte, ihn zu überführen.
»Daß es mir nicht von heute auf morgen möglich sein konnte, mir Beweise gegen Sidney Jones zu schaffen, die zwingend waren, das war mir ohne weiteres klar. Ich hatte Proben von der Vorsicht und Verschlagenheit des Mannes und wußte, daß er nun, da er mich als Gegner geradezu herausgefordert hatte, doppelt auf der Hut sein würde! Der Mann war sich bewußt, daß ich mit allen Mitteln gegen ihn arbeiten würde, und es war zweifellos, daß er nun auch nach allen seinen Kräften sich bemühen würde, meine Versuche zu schanden zu machen.
»Natürlich durfte ich selbst in dieser nächsten Zeit in keiner Weise direkt an ihn herantreten – am besten war's vielleicht, wenn er glaubte, daß ich den Kampf mit ihm verloren gäbe. Dann konnten zuverlässige Leute seine Überwachung übernehmen, bis es vielleicht gelang, ihn eines Tages doch bei einer Unvorsichtigkeit – einer Zusammenkunft mit seinen Genossen – einer dunklen Tat – zu überraschen.
»Unten auf dem Platze und in den Straßen flammten die ersten Lichter auf, als ich mich von der Bank unter dem Kastanienbaume erhob, und die Albrechtsrampe hinunterschritt, um nach dem Polizeigebäude zu gehen.
»Aber nun, wie ich wieder durch die Straßen eilte, war keine wirre Erregung mehr in mir. Jetzt arbeiteten Hirn und Nerven wieder in straffer Disziplin und woben Masche an Masche zu dem neuen Netze, in dem ich diesen Sidney Jones fangen wollte. Was Scham und Zorn gewesen war, trieb mich als neue stachelnde Energie vorwärts, damit ich die Scharte auswetze, die ich erlitten hatte.
»›Den Mann beobachten lassen.‹ – – An dem Gedanken spann mein Sinnen weiter. Durch wen? – Ich musterte im Geiste die Menge meiner Hilfskräfte, der Detektive und Vigilanten, und prüfte die Fähigkeiten eines jeden – und verwarf sie alle. Da war einer, der war zuverlässig und sicher – aber er war mir nicht schlagfertig genug, dort war ein anderer, der wiederum gewandt und klug wie irgend einer war – aber den Mann kannten die schweren Jungen alle zu gut, und war ein Mißtrauen erst wach geworden, dann war natürlich diese ganze Campagne verloren.
»Am liebsten hätte ich jemand gehabt, den ich ruhig in die Wohnung des Mannes hätte schicken können, irgend einen völlig unverdächtigen Menschen, der als Schüler zu Herrn Jones gegangen wäre: ›Ich habe Ihr Inserat gelesen – ich möchte englischen Unterricht bei Ihnen nehmen.‹ Ein solcher Mensch, der dann in jeder Woche ein paar Stunden lang da oben saß und scheinbar völlig harmlos seine Studien betrieb, der konnte doch vielleicht so manches auffangen und sehen, woraus ich Nutzen ziehen konnte. – Aber wem konnte ich diese Mission wohl anvertrauen, ohne daß Sidney Jones unter dem neuen Schüler einen Spion witterte? Wieder und wieder ging ich die Reihe der verfügbaren Kräfte durch, und wieder mußte ich mir sagen, daß unter ihnen keiner war, der sich für diese schwierige und auch nicht gefahrlose Aufgabe so eignen mochte, daß nicht doch der Erfolg des Versuches arg gefährdet erschienen wäre.
»Ich hatte auch, so sehr ich mich nach einem Ausweg quälte, die passende Persönlichkeit noch nicht gefunden, als ich mein Zimmer im Polizeigebäude wiederum betrat.
»Kaum hatte ich mir dort Licht gemacht und mich an meinen Arbeitstisch gesetzt, als der Diener mir meldete, daß eine junge Dame – Fräulein Hoffmann – mich schon seit einer halben Stunde erwartete.
»Hoffmann – Anna Hoffmann – das war die Verlobte dieses Hermann Angerer. – – Einen Moment sann ich nach. Was mochte sie denn wollen? Wieder fragen, ob sie nicht ihren Bräutigam sprechen könne? – Ausgeschlossen! – Das hatte ich ja auch der Mutter des Untersuchungshäftlings verweigern müssen, so oft sie auch in diesen Wochen darum gebeten hatte. – Hören, ob wir noch keine Klarheit in dem Falle hätten? – Nein – wir waren in all der Zeit um keinen Schritt weiter gekommen! – – Eine Ungeduld kam bei diesem Gedanken über mich. Ich hatte jetzt wahrhaftig Wichtigeres zu tun, als mich mit Fräulein Hoffmann aufzuhalten! Schon wollte ich dem Diener sagen, daß ich dem Fräulein mitteilen ließe, ich hätte heute keine Zeit – da kam mir die Erinnerung an ihre tapfere Art, an diese prächtige Festigkeit, mit der sie damals für ihren Verlobten, diesen armen Teufel von Beamten, eingetreten war, und ich gab Auftrag, sie hereinzuführen.
»Wenige Sekunden später stand sie mir gegenüber jung, energisch und bereit, eine neue Lanze für ihren Verlobten zu brechen, wie damals, als sie zum ersten Male hier bei mir gewesen war. Und richtig kamen jetzt diese Fragen hervorgesprudelt, die ich erwartet hatte und auf die ich ihr doch nur verneinenden Bescheid geben konnte.
»Eine arge Enttäuschung legte sich über die frischen, resoluten Züge des jungen Mädchens, als sie meine Auskunft hörte. Ein paar Augenblicke schwieg sie überlegend, und das Blut drang ihr dabei zu Kopf in ihrem quälenden Unmute.
»›Und wie lang kann denn das noch dauern, daß man den Armen hier unschuldig festhält?‹ fragte sie dann erregt. All ihre Sorge um den Geliebten, ihre feste Überzeugtheit von seiner Unschuld und ihr Wille ihm zu helfen lagen in dem Klang der zitternden Stimme.
»Sie tat mir leid – sie rührte mich – und doch, ich konnte nichts für sie tun und durfte jetzt auch keine Zeit unnütz verlieren; ich mußte zu Ende kommen
»›Wie lange? Liebes Fräulein, am Tage – in der Stunde – in der seine Unschuld erwiesen ist, ist er frei. Ich kann Ihnen jetzt wirklich mehr nicht sagen.‹ Ich öffnete zum Zeichen, daß ich die Besprechung damit für beendet hielt, die Aktenmappe mit den jüngsten für mich bestimmten Einläufen, die vor mir lag. Aber da trat sie dicht vor meinen Schreibtisch hin, so daß ich zu ihr aufsehen mußte.
»›Und Ihr Versprechen, Herr Plank – –?‹ fragte sie.
»›Mein Versprechen?‹ Ich wußte in dem Augenblicke nicht, was sie wohl meinte.
»›Sie haben mir doch zugesagt, mich sogleich zu verständigen, wenn Sie mich in der Untersuchung zur Aufklärung von diesem Fall irgendwie brauchen könnten.‹
»›Hat sich denn da bisher gar nichts ergeben – ich mein', gibt es keine Möglichkeit, daß ich dem Hermann – meinem Bräutigam – von Nutzen werden könnt'?‹
»Ich schwieg. Eine seltsame Idee schoß mir durch den Kopf. Ich sah dieses energische, kluge, tatbereite Mädchen vor mir – und etwas war in mir, das rief mir zu: Die halte fest – die schicke zu dem Sidney Jones, wenn sie den rechten Mut dazu besitzt – die ist die Rechte!
»Sie aber, die mein Schweigen sich nicht deuten konnte, sprach weiter:
»›Sie haben mir das damals doch versprochen, Herr Plank, und ich hab' seitdem an jedem Tage auf Ihre Nachricht sehnsüchtig gewartet. Sie glauben vielleicht, daß es mir an Mut fehlt, um für Sie verwendbar zu sein – aber Sie irren, was irgend einer sich getraut, das will ich gern wagen. Denken Sie doch, was für mich auf dem Spiele steht – er ist doch mein Verlobter – – wir sind zusammen aufgewachsen – ich kenn' ihn, wie ihn außer seiner Mutter niemand kennt – und ich weiß, daß er unschuldig leidet. – – Wagen Sie es mit mir – wie immer es ist – Sie sollen nicht enttäuscht sein. Nur lassen Sie mich irgend etwas tun für ihn – –.‹
»Da gingen noch einmal prüfend meine Augen über sie, und dann war ich entschlossen und schlug meine Aktenmappe wieder zu.
»›Gut, Fräulein Hoffmann, wenn Sie ernstlich wollen, dann sollen Sie den Versuch machen, an der Klärung dieses Falles mitzuwirken – –‹
»›Ja? Sie haben eine Aufgabe für mich, die vielleicht dazu führen kann, daß man die Unschuld meines Bräutigams erkennt – –?!‹
»Ich nickte. ›Ich habe eine solche Aufgabe, zu deren Lösung Sie mir mehr geeignet scheinen, als alle meine anderen Mitarbeiter. Und es ist eine Aufgabe, die Ihre ganze Klugheit, Ruhe und Überlegung fordern wird.‹
»›Ja? Was ist es? Was soll ich tun?‹ Sie war Feuer und Flamme vor Eifer und hing an meinem Munde, als sollte ich ihr eine heiß ersehnte Botschaft verkünden.
»›Was Sie tun sollen? – – Ruhiger sollen Sie vor allem sein – denn Ruhe ist in erster Linie nötig, bei dem, was ich für Sie im Auge habe. Und dann sollen Sie von morgen an englischen Unterricht nehmen – –‹
»›Wie – –?‹ Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, und da ich nicht gleich antwortete, fragte sie noch. ›Was soll ich –?‹
»Und weil sie gar so entsetzt drein blickte, als hätte ich mir, all ihrer ehrlichen Hilfsbereitschaft zum Trotz, einen Scherz mit ihr gemacht, lächelte ich ihr beruhigend zu.
»›Ja, ja – die Sache ist schon so: englischen Sprachunterricht sollen Sie von morgen an nehmen – das kann sehr wichtig werden für Ihren Verlobten, den wir noch in Untersuchungshaft halten müssen. Aber jetzt setzen Sie sich vor allem und lassen Sie uns das, was nottut, in Klarheit und Ruhe besprechen. Es ist nicht wenig, und es will bei solchen Dingen alles genau verabredet sein – es muß jede Möglichkeit, soweit das angeht, erwogen werden.‹
»Immer noch ein wenig unsicher, aber mit erwartungsvollen Augen, aus denen schon ein Schimmer des kommenden Vertrauens brach, ließ sie sich jetzt mir gegenüber nieder.
»›Vor allem eins: Wollen Sie mir versprechen über das, was wir in der Folge verabreden werden, unbedingtes Stillschweigen gegen jedermann zu bewahren?‹
»›Ja, das versprech' ich!‹ sagte sie. Ganz feierlich klang ihre Stimme dabei.
»›Gut. – Wissen Sie, wer Sidney Jones ist, Fräulein Hoffmann?‹
»›Sidney Jones – das ist doch der Sprachlehrer, bei dem mein Verlobter Unterricht genommen hat – bei dem er auch am Abend, ehe man ihn festgenommen hat, noch einmal war – –?‹
»›Ja – dieser Sprachlehrer – – das heißt in einem Punkte gehen die Angaben auseinander. Herr Jones behauptet, Ihren Bräutigam an jenem Abend nicht gesprochen zu haben, er gibt an, Ihr Verlobter wäre mehrere Tage vor dem Einbruche in der Stephanskirche zum letzten Male bei ihm gewesen. – Nun liegt die Sache so: Ich habe allen Grund, diesen Herrn Jones für einen ganz gefährlichen Patron zu halten, dessen Hände vielleicht in mehr als einem Falle nicht sauber sind, der aber bei dem Einbruche in der Stephanskirche – bei der Beraubung der ›Madonna von Pötsch‹ – jedenfalls in irgend einer Weise seine Finger mit im Spiele hatte. – Verstehen Sie, wie ich das meine? Können Sie folgen?‹
»Sie nickte eifrig. ›Ja, Herr Plank –‹
»› Welchen Anteil der Herr Jones an dem Verbrechen hatte, weiß ich nicht. Daß er bei der Ausführung selbst seine werte Person den Gefahren ausgesetzt hätte, scheint mir aus verschiedenen Gründen nicht wahrscheinlich. Aber vielleicht stammt der Plan von ihm – dafür spricht die Tatsache, daß er wenige Tage vor dem Raube vor dem Bilde in der Stephanskirche gesehen wurde – vielleicht war er als Hehler der Beute, als Mittelsperson beim Verschärfen der Sore – Pardon – ich meine beim raschen Verwerten des Raubes beteiligt. – Nehmen wir nun das Letztere an – sehen Sie ein, welche Bedeutung es für Ihren Verlobten hat, einen Beweis für diese Annahme zu finden?‹
»Anna Hoffmann saß mit vorgebeugtem Oberkörper und lauschte, daß ihr ja kein Wort entgehe. Jetzt ging es wie ein Leuchten über ihr Gesicht.
»›Natürlich – –‹ sagte sie, ›wenn Sidney Jones dem Hermann diese Steine an jenem Abend zum Verkauf gegeben hat, dann hat der Mann ja doch das allergrößte Interesse daran, sein Zusammensein mit dem Hermann einfach abzuleugnen und zu behaupten, er hätte meinen Verlobten mehrere Tage vor dem Raub zum letzten Male gesehen – –‹
»›Sehr gut, Fräulein Hoffmann! – Sie fassen ja auf wie ein geschulter Kriminalist!‹
»Sie hörte mein Lob kaum. Ihre Gedanken waren nur bei dem Schicksal ihres Verlobten.
»›Gewiß war's so!‹ rief sie. ›Aber wie können Sie den Hermann dann noch festhalten?! Daß die Steine von einem Raube stammen, hat er sicherlich nicht gewußt – und damit fällt dann doch jede Schuld von ihm – –!‹
»Jetzt aber mußte ich doch abwehren. ›So weit sind wir eben noch lange nicht, mein liebes Fräulein. Erklären Sie zunächst nur folgende Fragen: Warum gibt Ihr Bräutigam nicht zu, die Steine von Herrn Jones erhalten zu haben? Warum – wenn die Dinge wirklich so günstig für ihn liegen – stellt er nicht offen die Zusammenhänge dar? Warum erduldet er die Schmach und Qual einer jetzt beinahe zweiwöchigen Untersuchungshaft, ohne von seiner doch gewiß recht unglaubwürdig erscheinenden Aussage, er wisse nicht, woher die Steine stammten, und auf welche Weise sie in seinen Besitz gekommen wären, abzugehen. Warum schließlich weist er, wenn er durch diesen Sidney Jones oder durch einen Mitschuldigen und Genossen des ›Sprachlehrers‹ – vielleicht ganz gegen seinen eigenen Willen – in den Kreis des Verbrechens mit hineingezogen wurde, mit keinem Worte auf jene Männer hin, deren Schuld jedenfalls schwerer als seine wiegt? – Sie sehen, Fräulein, die Sache ist keineswegs klar, die Klarheit muß vielmehr erst gefunden werden. Wo wir sie suchen müssen, das wissen wir – –‹
»›Bei Sidney Jones – –?‹
»›Ja.‹
»›Und dabei werd' ich Ihnen helfen dürfen?‹
»›Wenn Sie Ihr Anerbieten von früher jetzt nicht etwa bereuen?‹
»›Nein – nie!‹
»›Auch nicht, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Aufgabe darin bestehen wird, mit diesem Herrn Jones in direkte nahe Fühlung zu treten, ihn um seinen Unterricht zu bitten, dann regelmäßig dort Ihre Stunden zu nehmen, dabei aber unauffällig mit offenen Augen auf alles zu achten, was bei ihm vorgeht?‹
»›Ja, Herr Plank, das alles will ich,‹ sagte sie, ›und ich glaube, daß ich finden werde, was Sie suchen.‹
»Und dann besprachen wir die Einzelheiten dieser Sache.
»Ich suchte ihr aus einer der Zeitungen aus den letzten Tagen das Inserat des Sprachlehrers heraus, in dem er sich als Lehrer empfahl. Auf diesen Ausschnitt sollte sie sich tags darauf berufen, wenn sie zu Sidney Jones ging. Sie sollte, wenn darauf die Rede kam, angeben, daß sie die Absicht habe, sich als kaufmännische Korrespondentin auszubilden, und daß sie hierzu auch englischer Sprachkenntnisse bedürfe. Ich schlug ihr vor, mit Jones drei Unterrichtsstunden für jede Woche zu verabreden, wir bestimmten dann noch einen fingierten Namen und ebenso eine apokryphe Adresse, die sie dem Sprachlehrer angeben sollte, verabredeten, daß sie jedenfalls nach der ersten Stunde und dann in der Folge – falls sie Besonderes beobachtet und zu berichten hätte – sofort zu mir in das Polizeigebäude kommen möge. Ich schärfte ihr für diese Gänge die größte Vorsicht ein, sie sollte sich jeweils versichern, daß ihr auch gewiß niemand nachginge, daß ihre Verbindung mit mir auch unbedingt geheim bliebe. Und zum Schlusse gab ich ihr noch aus meinem Schreibtische für alle Fälle einen kleinen Taschenrevolver, eine handliche, sichere und gut gearbeitete Waffe, die mich selbst früher bei manchem gefährlichen Gange begleitet hatte.
»›Das Ding hier nehmen Sie,‹ sagte ich ihr – Hoffentlich brauchen Sie es nicht. Immerhin tragen Sie es stets bei sich, wenn Sie in Ihre ›Stunden‹ gehen. – – Daß dieser Herr Jones ein gefährlicher Patron ist, wissen wir – also Vorsicht und Mut! Jedenfalls wird es Ihre innere Sicherheit erhöhen, wenn Sie stets wissen, daß Sie nicht ganz hilflos sind!‹
»Sie nahm den kleinen, scharf geladenen Revolver, wog ihn in ihrer runden, festen Hand und ließ ihn in ihre Tasche gleiten.
»›Danke,‹ sagte sie einfach. Aber ich hatte das Gefühl, daß dieses energische, klarsichtige Geschöpf sich völlig ihres Weges und seiner Gefahren bewußt war – und daß sie dennoch gerne ging, weil es dem Wohle ihres Verlobten galt.
»›Auf Wiedersehen, also morgen abend! Und recht viel Glück auf Ihren Weg!‹
»›Auf Wiedersehen – –.‹
»Wir drückten uns kameradschaftlich die Hände, dann war sie gegangen.
»Für mich aber begann neue Arbeit. Die Aktenmappe mit den jüngsten Einläufen lag vor mir, und ich las und sichtete und erledigte all diese laufenden Dinge – und tat das doch nur wie im Traume, immer zugleich in Gedanken bei Sidney Jones und meinen heutigen Erlebnissen. Ein Drang war in mir, mit diesem Kleinkram fertig zu sein, all dies Skripturenzeug vor mir beiseite schieben zu können, um mich dann ganz in diesen einen Fall zu versenken, der nun in seiner Bedeutsamkeit all jene anderen so weitaus überragte.
»Als ich dann aber endlich so weit fertig war, da kam nach der vorhergegangenen schlaflosen Nacht, nach den Erregungen und nach der schweren Arbeit dieses Tages eine so unbezwingliche Erschöpfung über mich, daß ich's genug sein lassen mußte für diesen Abend. – – Und erst am nächsten Tage nahm ich meine Pläne wieder auf und begann ich meinen neuen Feldzug gegen Sidney Jones einzuleiten.
»Hierbei war es eine meiner ersten Arbeiten, daß ich an das Meldeamt der Polizei in London depeschierte. Ich fragte an, ob näheres bekannt sei über einen Mann, dessen Papiere auf den Namen Sidney Jones aus Milwaukee lauteten und der sich vor etwa zwei Jahren in Oxford bei London aufgehalten haben dürfte. –
»Um etwa fünf Uhr nachmittags wurde mir Fräulein Anna Hoffmann wieder gemeldet, und ich ging ihr voll Erwartung bis zur Tür meines Zimmers entgegen.
»›Nun, liebes Fräulein – wie war Ihr Versuch?‹
»Sie grüßte und folgte meiner Einladung, Platz zu nehmen. Tief holte sie Atem. ›Ich war bei Herrn Jones,‹ sagte sie dann.
»›Und es ist alles programmmäßig verlaufen? Ich meine, er ahnt nichts?‹
»›Nein – sicherlich kann er nichts ahnen – ich hab' alles so gemacht, wie wir es verabredet haben.‹ Sie sah mich an, aber eine gewisse Unsicherheit schien mir in ihrem Blick zu liegen, die frische Energie vermißte ich, die gestern doch in ihr gewesen war.
»›Sie sind müde?‹ fragte ich.
»Sie zauderte. ›Ein bisserl abgespannt vielleicht. – – Ich hab' gleich die erste Stunde bei Herrn Jones genommen. – – Das ist ungewohnt für mich – und eine gewisse Aufregung war es natürlich auch.‹ – – Sie strich sich mit der Hand über die Stirne und lächelte wieder mit jenem Anflug von Verlegenheit, der mir schon bei den ersten Worten aufgefallen war.
»Ich nickte. Diese Ermüdung schien mir als Rückschlag auf die erregende Begegnung, die das Mädchen hinter sich hatte, durchaus verständlich und erklärt. Und um ihr ihre Unbefangenheit und Frische wiederzugeben, faßte ich die ganze Lage mit Absicht sorgloser und freier an, als es wohl nötig war.
»›Nun, Fräulein Kollegin, dann erzählen Sie jetzt aber im Zusammenhang, wie Ihr Debüt als Detektiv verlaufen ist – ja?«
»›Gern – –. Ich bin etwa um halb vier Uhr dort gewesen. Herr Jones hat mir selbst geöffnet – er war allein zu Haus', und es ist auch sonst niemand dort gewesen in der ganzen Zeit. Ich hab' ihm den Inseratausschnitt gezeigt und hab' die Stunden mit ihm verabredet – –.‹
»Sie sprach das alles langsam – beinahe zögernd, als müßte sie sich jeder Einzelheit erst besinnen. Und mich beschlich, während sie redete, eine leise Ungeduld. Ich hatte eine lebhafte Schilderung der Eindrücke erwartet, die sie dort gewonnen hatte – statt dessen sickerte da ein farbloser Bericht.
»›Wieviel Stunden haben Sie verabredet?‹
»›Ich werde zunächst täglich hingehen.‹ – –
»›Täglich? Wir hatten doch gestern besprochen, daß etwa drei Stunden in der Woche am unauffälligsten wären.«
»›Ich hab' Herrn Jones gesagt, daß ich nächsten Monat eine Stellung annehmen werde – dann würde ich weniger oft kommen – bis dahin wäre ich noch frei, und da möchte ich die Zeit möglichst ausnützen. – – Und dann hab' ich gleich die erste Stunde genommen – –.‹ Ihre Stimme klang, während sie das sprach, wieder so eintönig und sinnend, daß ich nun doch noch einmal auf diese seltsame Veränderung in ihrem Wesen zu sprechen kam.
»›Sagen Sie, Fräulein Hoffmann – was ist denn das heute mit Ihnen? Hat dieser Versuch Sie so sehr abgespannt? Oder sind Sie nicht ganz wohl – fehlt Ihnen etwas? – – – Sie kommen mir so verändert vor in Ihrer Art sich zu geben!«
»›Ich – –?‹ Jetzt lächelte sie wieder hilflos und zugleich mit dem Versuche, ihre Befangenheit von sich zu weisen. ›Nein – ich wüßt' nicht – – das heißt, ich hab' natürlich in der ganzen Zeit sehr auf alles geachtet – und dann – es war mir doch ungewohnt – –. Nur ein bissel müd' bin ich vielleicht – –‹
»›So – Nun, dann wird das ja wohl vorübergehen. Wollen Sie mir nun sagen, wie die ›Stunde‹ verlaufen ist? Wie hat sich Herr Jones benommen? Womit hat er den Unterricht begonnen? Beschreiben Sie mir das alles ein wenig.«
»Wieder ein Zögern, ehe sie sprach.
»›Im Zimmer des Herrn Jones steht ein bequemer Lederstuhl, den hat er mir angeboten – er hat mir gegenüber gesessen, der schmale Tisch, der vollgeräumt ist mit Skripturen – mit mathematischen Werken und Arbeiten, soviel ich gesehen hab' – hat zwischen uns gestanden. Der Raum, in dem ich war, ist seltsam leer – man wird nicht abgelenkt – ich hab' immer nur den Herrn Jones angeschaut, der vorgebeugt über den Tisch mir seine Methode erklärt hat und dann mit praktischen Übungen begonnen hat. Und das Zimmer ist dämmerig gewesen – –«
»›Und wie ist die Methode des Herrn Jones?‹
»›Er sagt, er wollte mich erst den Charakter der Sprache kennen lehren – ihr Wesen. Er hat das sehr hübsch erklärt – seine Stimme klingt sehr angenehm – aber ein bissel leise – –.‹
»›Und worin bestanden die praktischen Übungen?‹
»›Er hat mir gezeigt, wie die einzelnen Laute im Englischen ausgesprochen werden – die Mundstellungen – die Stellung der Lippen. Er hat mir das vorgemacht – ich habe versucht, die Laute nachzusprechen – –. Dann hat er englische Worte gesprochen und die deutsche Bedeutung dazu. Das alles hab' ich wieder nachsprechen müssen, und er hat korrigiert, wenn es nicht richtig war.«
»›Und es ist Ihnen in dieser ersten Stunde gar nichts aufgefallen? Ich meine, Sie haben gar nichts beobachtet, was zur Stützung bestimmter Verdächtigungen gegen Herrn Jones verwertbar wäre?‹
»Sie besann sich einen Augenblick, ehe sie antwortete, und ihre Finger nestelten an dem Kettchen einer kleinen Handtasche, die ihr im Schoße lag.
»›Nein,‹ sagte sie dann. ›Herr Jones hat nur Sachliches geredet – er hat sich viel Mühe gegeben – ich kann mich an nichts erinnern, das auffällig gewesen wär. – – – Dann kann ich also für heute gehen?‹ fragte sie nach einer Weile.
»›Wenn Sie mir nichts mehr mitzuteilen haben –‹
»Sie schwieg und sah nur wieder auf ihr Handtäschchen nieder. Dann erhob sie sich.
»›Ich werde also morgen wieder zu Herrn Jones gehen – aber später als heute, erst um halb fünf Uhr.‹
»›Schön. Und ich sehe Sie dann, wenn Sie irgend etwas Auffälliges gefunden haben.‹
»›Ja. – –‹
»Sie ging. Und ich blieb zurück und konnte die Gefühle einer herben Enttäuschung und einer unklaren Beunruhigung nicht von mir bannen.
»Was, zum Teufel, war denn in dieses Mädel gefahren! Die war doch seit dem Tage vorher wie ausgewechselt? Gestern die aufgeweckte Energie und Tatkraft selbst und heute schlafmützig und abgespannt, unsicher, gleichgültig und ohne jeden Elan – jedenfalls unbrauchbar für den besonderen Zweck, den sie mit ihren Besuchen bei Sidney Jones erreichen sollte! Und überhaupt ihr ganzes Wesen: all das, was mich an ihr bestochen und für sie eingenommen hatte, all das, was mir an ihr als Vorzug erschienen war, der sie zu dem nicht ungefährlichen Versuch geeignet machte, wie weggeblasen! Wie war sie gestern voll Eifer und voll Schlagfertigkeit im Erfassen der Lage gewesen – und dagegen ihr Zustand jetzt! Noch etwas: Gestern waren ihr Verlobter und sein Wohl die Triebfeder ihres ganzen Sinnens und Wollens gewesen – heute hatte sie nach Hermann Angerer und seinem Befinden mit keinem Worte gefragt!
»Was gab's denn da – was lag denn da nur vor?
»Daß irgend etwas an der Sache nicht in Ordnung war, das fühlte ich, darüber kam ich nicht hinaus. Aber was?! Was?!
»Ich dachte alles das, was mir das Mädchen über ihren Besuch bei Sidney Jones mitgeteilt hatte, wieder und wieder durch. Ich glaubte, daß ich hier vielleicht doch irgend eine Spur des Grundes von ihrem so veränderten Benehmen finden müßte. Ich sah das Bild förmlich vor mir, wie sie ihm gegenüber saß, – sie in dem weichen bequemen Ledersessel, er vorgebeugt über den Tisch, auf sie einredend mit seiner manchmal so seltsam weichen, streichelnden Stimme.
»Und etwas war in mir – ein unklar tastendes Gefühl, das wies mich immer wieder zu diesem Bilde. –
»Ihre Worte fielen mir ein, die sie zur Antwort auf meine Frage gesprochen hatte: – – ›ich habe natürlich in der ganzen Zeit sehr auf alles geachtet – und dann – es war mir doch ungewohnt – –. Nur ein bißchen müde bin ich vielleicht – –‹
»Aber ich kam nicht weiter mit diesem Suchen und Sinnen – meine Unruhe blieb, und ich hatte schließlich die Überzeugung, daß ich eine Torheit begangen hätte, als ich, den Bitten dieser Anna Hoffmann nachgebend, ihr die Aufgabe in der Habsburgergasse zuwendete.
»Nicht, daß ich ein Mißtrauen gegen sie gehabt hätte, das lag mir ferne, und ich vertraute ihrem guten Willen so sicher wie nur je. Aber ich glaubte jetzt, daß ich doch ihre Kraft und Ruhe vielleicht überschätzte – und nahm mir endlich vor, mit dem Mädchen, wenn sie wiederkam, ernsthaft hierüber zu sprechen und ihr zugleich die ganze Sache wieder aus den Händen zu nehmen. Auf irgend welche große Erkundungen durch sie war unter diesen Umständen doch nicht zu hoffen, anderseits waren die Wege zu Sidney Jones für Anna Hoffmann, wenn sie nicht frischer, schlagfertiger und umsichtiger war, ebenso gefährlich wie für mich.
»Am besten war es wohl, ich schrieb ihr gleich, daß sie mich jedenfalls am Tage darauf aufsuchen möge – dann konnte ich ihr das auf alle Fälle sagen. Erst als ich meinen Brief an sie dem Diener zur Besorgung übergeben hatte, trat diese Sache wieder etwas mehr zurück in mir, und meine Gedanken wurden freier.
»Und bald genug waren sie auch von einem neuen Vorfall, der an mich herangetreten war, so rege und so völlig in Anspruch genommen, daß dahinter die Sorge um das so seltsam veränderte Wesen des Fräulein Hoffmann zunächst ganz zurücktrat.«
Richard Plank hielt einen Augenblick ein in seiner Erzählung. Er griff in die Brusttasche seines Rockes und holte das kleine Konvolut von Briefschaften und Zeitungsausschnitten wieder vor, das er schon einmal am Abend vorher – da er mir den Bericht der »Neuen freien Presse« über den »Raub in der Stephanskirche« vorlas – in Händen gehalten hatte. Jetzt suchte er eine vergilbte Depesche aus den Papieren heraus, strich sie glatt und sah auf sie nieder.
»Das hier«, sagte er dann, »ist jene Nachricht, die mich damals noch mehr beschäftigte als alles andere. Es ist die Antwort, die ich von der Polizei aus London an jenem Abend auf meine Anfrage über Herrn Sidney Jones erhielt, und sie hat folgenden Wortlaut:
›Edgar Sidney Jones, Diamantenmakler aus Milwaukee hielt sich vor drei Jahren zwecks Abschlusses größerer Verkäufe in London aus. Er verließ am 3. Oktober abends sein Hotel, um eine Vergnügungshalle zu besuchen, und wurde gegen drei Uhr morgens am 4. Oktober in der stillen Burman-Street – Surrey-Side – ermordet aufgefunden. Der Leichnam zeigte Würgespuren am Hals, und die Fingereindrücke ließen erkennen, daß der Diamantenhändler von einem außerordentlich starken Manne mit den bloßen Händen erdrosselt worden war. Ebenso war der Tote der Schuhe und aller Oberkleider beraubt. Der oder die Täter konnten nicht ermittelt werden. Wir nehmen an, daß Verbrecher, die den Händler Jones im Besitze bedeutender Summen wähnten, ihm auflauerten, und daß er deren Opfer wurde.
Kriminalpolizei London.‹
»Das war ja eine merkwürdige Nachricht!
»Ich frage nach den Notizen und Aufzeichnungen über einen Lebenden, den ich kenne, und richte meine Anfrage an das Meldeamt der Londoner Polizei – und erhalte darauf eine Antwort von der Kriminalabteilung, die mir anzeigt, daß der Mann, nach dem ich frage, vor drei Jahren schon ermordet wurde.
»Im ersten Augenblick dachte ich an eine Verwechslung – aber nur den Bruchteil einer Sekunde lang währte das. Dann war ich mir klar, daß mir das Schicksal selber hier den Faden in die Hand gegeben hatte, der unerbittlich mich bis in die tiefsten Geheimnisse des Sprachlehrers führen würde.
»So erschüttert war ich, als ich damals im Scheine meiner Arbeitslampe diese Depesche las, daß mir das Blatt in den Händen zitterte, und daß ich ein paar Herzschläge lang brauchte, um die mich jäh bedrängenden Gedanken zu überblicken.
»Zwei Möglichkeiten gab es nur in diesem Falle: Entweder der Tote, den die Londoner Polizisten in jener Nacht beraubt und halb entkleidet in der Burman-Street gefunden hatten, wurde nur irrtümlich für den in London verschollenen Sidney Jones gehalten – oder der Diamantenmakler Sidney Jones aus Milwaukee starb damals unter Mörderhänden – seine Papiere aber, die ihm mit den Kleidern und seiner sonstigen Habe geraubt wurden, die dienten heute als Ausweise jenem Unbekannten, der mir als Gegner in dem alten, düsteren Hause der Habsburgergasse gegenüberstand!
»Meine Augen gingen wieder über die Zeilen der Depesche – und ich verwarf die erste dieser Möglichkeiten. Nein, was man mir da schrieb, war klar, und das gab keinem Zweifel Raum. Der Mann, den man erwürgt gefunden hatte, war sicherlich jener, der den Namen Sidney Jones allein mit Recht führen durfte – sein Leichnam war von seinen Handlungsfreunden, von den Beamten des Hotels, in dem der Mann gewohnt hatte, zweifellos als jener des Diamantenmaklers erkannt und bestätigt worden.
»Blieb also nur die zweite Möglichkeit – ein Unbekannter barg sich hinter jenen Dokumenten!
»Aber da entglitt die Depesche meinen Fingern und sank vor mich hin auf den Schreibtisch. In meinem fieberhaft erregten Hirne war eine neue Frage aufgeschossen.
»Ein Unbekannter? Und wie war der Unbekannte denn in den Besitz der Dokumente des Ermordeten gelangt?!
»Ich fühlte, wie das Blut mir heiß zu Kopf und zu dem Herzen stieg, wie meine Pulse flogen – – und zwang mich bei dem allen doch zur Ruhe, zur Sammlung und zur klaren Überlegung. Ich stand auf von meinem Arbeitsplatze und durchmaß das Zimmer. Ich öffnete das Fenster weit, daß die wehende Luft des Abends mich umfächelte – und schloß es erst wieder, als ich fühlte, wie diese Überspannung meiner Nerven gewichen war. Dann kehrte ich zum Schreibtische zurück – – und wieder stand vor mir die fürchterliche Frage: Wie war der Unbekannte, der sich hier in Wien seit Jahren als Sidney Jones niedergelassen hatte, in den Besitz der Papiere des Ermordeten gelangt?!
»Wie Schweigen, das die Worte fürchtet, war es in mir. Sekunden gingen so – bis endlich eine leise Stimme zögernd und selbst nicht recht glaubend, was sie sprach, sich aus dem drückend dumpfen Schweigen löste: Vielleicht, daß er sie von dem Mörder kaufte – wie ja so viele, deren eigene Papiere nicht frei von Makeln sind, da oder dort – oft selbst nicht ahnend, woher diese neuen Dokumente stammen, solch linke Fleppen erwerben – –.
»Aber die zagen Worte fanden keinen Widerhall in mir und löschten aus, und wieder war das Schweigen.
»Doch statt der neuen Worte reckten sich aus ihm jetzt groß und knochig zwei gewaltige Hände – sehnig und schwer mit ausgreifenden Fingern. Und diese Hände, die ich kannte, die ich gesehen hatte bei dem hageren Manne, die griffen in die Luft als würgten sie ein Etwas – – als hielten sie den Hals ihres Opfers gleich Schraubstöcken ehern umschlossen und gäben ihn nicht frei und ließen nicht von ihm, bis nicht der Körper bleiern und leblos niedersank.
»Ich wußte es: der Mann, der heute den Namen jenes toten Diamantenmaklers trug, der hatte selbst das Opfer hingestreckt. – – Und während dieses Wissen stark und unerschütterlich in mir erstand, fühlte ich auch, daß damit Sidney Jones, der Sprachlehrer, und sein verwegenes Spiel verloren waren – daß mir hieraus der Sieg über den kühnen Verbrecher zufallen mußte. Tragisch beinahe war's zu nennen: nicht eine jener dunklen Taten, die er in dieser jüngsten Zeit begangen haben mochte, und derentwegen sich der Kampf entspannen hatte zwischen ihm und mir – nicht eines dieser Verbrechen gab den Mann in meine Hand – nein, eine Tat war es, die er vor Jahren wagte, die durch so lange Zeit dunkel und ungesühnt geblieben war, und die doch jetzt ans Licht des Tages drängte.
»Das Bild des stillen Ringens, das sich in jener Oktobernacht jenseits der Themse in der dunkeln Burman-Street abgespielt haben mochte, stand vor mir. Ich sah den Kampf – das Würgen dieser Hände – das Unterliegen des Diamantenhändlers, der in dem dunkeln Winkel eines Haustors niedersank, und dann die raschen Griffe seines Mörders, der jetzt Brieftasche, Börse, und was sonst an Wertobjekten das Opfer bei sich trug, erraffte – –
»Und wer war dieser Mörder?! Wer verbarg sich unter den Papieren des Erwürgten?!
»Wieder sah ich auf die Depesche nieder, und gleich den Perlen eines Rosenkranzes rannen mir die Worte durch den Sinn. Dann aber schüttelte ich jäh den Kopf: mein Bild war falsch! Nicht nach der Brieftasche und nach der Börse seines Opfers hatte der Mörder gegriffen – der Tote war der Schuhe und aller Oberkleider beraubt gefunden worden!
»Wie war das zu erklären? Von welchem Werte konnten für den Mörder, der hier durch ein paar rasche Griffe vielleicht Tausende erbeuten konnte, die Kleider dieses Toten sein? Was konnte den Verbrecher dazu treiben, statt mit der rasch gewonnenen Beute aus den Taschen des Erwürgten zu entfliehen, hier, wo doch die Gefahr, entdeckt zu werden, mit jedem Augenblicke furchtbar wuchs, so lange bei dem Toten auszuharren, bis er ihm seine Kleider weggenommen hatte?!
»Da waren neue Rätsel, die nach Lösung riefen! Und ich kam nicht mehr los aus diesem neuen Schwall von Fragen. Die ganze Leidenschaft meiner Berufsfreude ward wach in mir, ich fühlte, daß ich keine Ruhe finden konnte, ehe ich nicht dieses verschlungene Gewirr von Fäden entwirrt und ausgebreitet vor mir sah.
»Mit allen Sinnen suchte ich einzudringen in das, was ungelöst geblieben war – anschaulich daß ich glaubte die Dinge greifen zu können, stellte ich die Vorgänge vor mich hin. Hier den angeblichen Sprachlehrer – den Mann, an dem mir alles jetzt als Lug und Trug erschien bis auf die irren mathematischen Wahnideen, die ihn beherrschten, – dort die Tatsachen des Verbrechens und den Schauplatz des Mordes.
»Ich kannte London, und kannte auch die Surrey-Seite, auf der der Schauplatz des Verbrechens lag. Wie oft war ich nicht dort die Waterloo Road hinuntergeschritten! Auch der kleinen und engen Burman-Street, die zwischen der St. Georges Road und der London Road als eine nur wenig benutzte Bindader lief, erinnerte ich mich – –
»Aus meinem Bücherschrank griff ich den Plan von London und breitete ihn vor mir aus, daß er neben dem Telegramm im Licht der Lampe lag. Und hier saß ich dann grübelnd, sinnend und wie im Fieber Stunde um Stunde. Mein Hirn arbeitete unter dem höchsten Druck des Bluts – ich dachte nicht daran, daß ich seit Mittag keinen Bissen über meine Lippen gebracht hatte, und bemerkte es nicht, wie draußen die tiefe Nacht hereingesunken war. Unbeweglich beinahe saß ich über den Plan gebeugt, und nur, wenn ich nach einer neuen Zigarette griff, sah ich auf.
»Es war drei Uhr geworden, als ich dann endlich diese Papiere beiseite schob und nach der Feder langte. Jetzt hatte ich die Lösung! Was nun noch folgte, sollte nur die Probe sein auf das Exempel!
»Ein tiefes Ausatmen ging mir durch die Brust.
»Ich schrieb und läutete, als ich das Blatt beschrieben hatte, dem Diener, der draußen auf dem Korridor des Hauses den Nachtdienst zu besorgen hatte. Ihm gab ich das Schriftstück, daß er es sogleich in die Telegraphenabteilung trage.
»Was ich geschrieben hatte, war wieder eine Depesche nach London. Aber sie war diesmal nicht an die Polizei gerichtet.
»Sie trug die Adresse:
›Direktion Irrenanstalt Bedlam, London, St. Georgens Road,‹ und hatte den Wortlaut:
›Bitte um sofortiges genaues Signalement des Mannes, der vor drei Jahren in der Nacht vom dritten auf den vierten Oktober aus Ihrer Anstalt entsprungen ist.
Richard Plank, Polizeidirektion, Wien.‹«
* * *
Richard Plank war aufgestanden und hatte, schon stehend, sein Glas noch einmal an den Mund geführt und bis zur Nagelprobe ausgetrunken.
»Genug für heute,« sagte er. »'s ist nahe an Mitternacht geworden!«
Ich drängte ihn, zu bleiben – noch zu erzählen, wie er denn zu dem Wissen gekommen wäre, das aus seiner Depesche nach Bedlam sprach, und wie sich der Fall des Sprachlehrers entwickelt hätte – doch er blieb fest: »Morgen!« Und erst am nächsten Abend kam er auf seine Erinnerungen zurück. –
»Sie haben mich gefragt,« begann er – »wieso ich zu dem Wissen kam, das aus meiner Depesche nach der Irrenanstalt Bedlam sprach – woher es mir bekannt geworden war, daß in der Nacht vom dritten zum vierten Oktober ein Kranker dort entsprungen war. – Die Sache sieht schwieriger aus, als sie war. Mein Wissen war das einfache Ergebnis scharfen Denkens, die Frucht des konzentrierten Sinnens in jener arbeitsvollen Nacht – der Erfolg eines Systems von Schlüssen, die ich uneingeengt durch Vorurteile aneinanderreihte.
»›Erinnern Sie sich an den Schlußsatz des Telegramms, in dem die Londoner Polizei mir Nachricht von der Ermordung des Diamantenmaklers Edgar Sidney Jones gab? Er lautete: ›Wir nehmen an, daß die Verbrecher, die den Händler Jones im Besitze bedeutender Summen wähnten, ihm auflauerten, und daß er deren Opfer wurde.‹
»Diese Annahme lag nahe für die Londoner Polizei, da sie festgestellt hatte, daß ein Diamantenmakler überfallen und beraubt worden war – aber sie war ein Trugschluß. Und da sich in der Folge dann alle Nachforschungen der Behörden auf dieser falschen Voraussetzung aufbauten, so kam man von der rechten Fährte völlig ab, und es blieb das Verbrechen ungesühnt!
»Ich ging bei meinen Überlegungen von einem andern Gesichtspunkt aus, der zunächst diese Annahme der Londoner Polizei nicht gelten ließ, der nur die Tatsachen des Verbrechens zu Grunde legte und aus ihnen allein seine Schlüsse zog.
»Und so etwa hat sich die Kette meiner Schlüsse aufgebaut:
»Ein Mann, der nachts zu später Stunde durch die stille Burman-Street schreitet, wird plötzlich überfallen, ermordet und beraubt.
»War die Tat vorbereitet oder nicht? Hat der Mörder dem Manne nach wohlerwogenem Plane aufgelauert oder ist das Verbrechen erst knapp vor seiner Ausführung beschlossen worden?
»Der Diamantenmakler wurde mit bloßen Händen erdrosselt! Das spricht dafür, daß keine Vorbereitung der Tat vorangegangen ist – ein Mörder, der wohlvorbereitet auf sein Opfer lauert, würde mit Dolch oder Schlagring oder mit dem Totschläger vorgegangen sein und hätte nicht den furchtbaren, wahnsinnig grauenvollen Kampf des Würgers gewagt.
»Die Tat geschah also infolge eines raschen Entschlusses! Und noch etwas folgt aus der Art, wie sie vollführt wurde: daß der Mörder nur über seine bloßen Hände als Mordwerkzeuge zu verfügen hatte, daß keine Waffe ihm zur Ausführung seines verbrecherischen Anschlags zur Verfügung stand.
»Also ein waffenloser Mörder, der, getrieben von der Macht des Augenblicks, den Händler überfällt, erdrosselt und beraubt. Nicht aber – wie nun zu erwarten wäre – in diesem unerhört gefährlichen Augenblick – nur die rasch errafften Wertobjekte an sich reißt, um dann zu fliehen, sondern ein Mörder, der trotz all der Gefahr, die ihm von den auch nachts belebten Linien der London Road zur Rechten und St. George's Road zur Linken droht, es wagt, Minuten bei dem hingestreckten Opfer zu verweilen, um dessen Schuhe und Oberkleider an sich zu nehmen!
»Nicht also das Bargeld und die Edelsteine sind allein Zweck des Raubes. Wichtiger noch als sie sind dem Mörder die Kleider des Toten! Er weiß es vielleicht gar nicht, daß dieses Opfer, das hier unter seinen würgenden Händen endet, der Diamantenhändler Jones ist, daß er später in den Taschen dieses Mannes bares Geld und wertvolle Steine finden wird – er hat den Mann erdrosselt, weil er dessen Kleider haben muß – koste es, was es wolle!
»Und wodurch können diese Kleider für einen unbekannten Menschen so unentbehrlich werden, daß er um ihretwillen einen Raubmord wagt?
»Dadurch, daß er selbst keine, oder keine unauffälligen Kleider trägt, daß der Besitz von solchen Kleidern für ihn durch äußere Umstände zur Lebensfrage wurde – und daß er sich anders als durch eine solche Tat keine Kleider verschaffen kann.
»Und nun fassen wir das zusammen!
»Der Mann, auf dessen verzweifelte Lage das alles paßt, konnte nur ein Häftling gewesen sein, der, sei es aus einem Gefängnisse, sei es aus einer anderen Anstalt in jener Nacht entsprang, und der verloren war, wenn es ihm nicht rasch gelang, seine gleich einem Steckbrief wirkende Anstaltskleidung mit bürgerlichen Kleidern zu vertauschen.
»Der Diamantenhändler Sidney Jones ist das Opfer dieses verzweifelten Flüchtlings geworden – von der unfernen Westminster Bridge oder dem Albert Embankment aus mag der in den Kleidern des Ermordeten glücklich Geborgene die verhaßte Anstaltskleidung dann in die Themse geworfen haben!
»Das alles schien mir klar – jetzt blieb noch eine Frage: Woher kam der Mörder – aus welcher Haft war jener Mann, der damals in den Kleidern seines Opfers die Dokumente Sidney Jones' gefunden hatte, und der sich heute mit diesen Ausweisstücken weiterhalf, damals entsprungen?
»Der Plan von London lag vor mir – –
»Weit konnte der Entflohene in seiner auffälligen Anstaltskleidung nicht gekommen sein – der Ort, dem er entfloh, mußte sich also in der unmittelbaren Nähe vom Schauplatz des Verbrechens finden. Ein Blick auf die Karte löste das letzte Rätsel: Ich habe Ihnen gesagt, daß die Burman-Street eine wenig benutzte Verbindungsader zwischen der St. George's Road und der London Road ist – an der Ecke der Lambeth Road und der St. George's Road aber liegt Bedlam – das ›Bethlehem Hospital‹ – die älteste Irrenanstalt nicht nur Englands, sondern der ganzen Welt!‹
»So war ich zu dem Wissen meiner Depesche gekommen!
»Der Schleier, der über dem Vorleben des ›Sprachlehrers‹ gelegen hatte, war gelüftet – Flucht aus dem Irrenhause und Verbrechen lagen am Wege dieses Mannes, und die Antwort, die ich auf meine Anfrage an die Direktion von Bedlam erwartete, sollte mir in der Hauptsache nur noch bestätigen, was ich durch einfache Schlüsse aufgeklärt hatte. –
»Aber diese Antwort blieb aus! Sie kam nicht am nächsten Vormittag und war auch nach Tisch noch nicht da, als ich wiederum in meinem Arbeitszimmer im Polizeigebäude erschien.
»Gegen fünf Uhr besuchte mich der Polizeirat Franz in meinem Zimmer, und wieder, wie mehrmals schon in diesen Tagen, sah er mich forschend mit den müden Augen an.
»›Wie steht's, lieber Plank – wissen Sie Neues zu unserm Raube in der Stephanskirche oder zu sonst einem der ungeklärten Fälle?‹
»Ich zuckte die Achseln. ›Ja – und nein. Ich habe eine Spur – einen Verdacht – und möchte doch noch schweigen, bis ich Ihnen mehr sagen kann.‹
»Er nickte trübe vor sich hin und ließ sich auf einen der Sessel schwer nieder.
»›Ja, ja – Sie sind rege – ich hab's bemerkt. Nun – mögen Sie diesmal Glück haben – –.‹ Er schwieg ein paar Sekunden, sah ziellos vor sich hin und schüttelte den Kopf. ›Mein lieber Plank, wir wollen uns nicht selber täuschen, wir haben bisher trotz der großen Mühe nur Mißerfolg gehabt. Ich habe mich seit Monaten in dieser Sache aufgerieben – was eines Menschen Hirn hergeben kann, um all den ungeklärten Fällen auf den Grund zu kommen, habe ich dran gewendet. Es war umsonst. Sie sagen, daß jetzt eine neue Spur vor Ihnen liegt – wie oft in dieser schweren Zeit habe ich das gedacht – und immer ist die Spur zum Schluß versickert und entschwunden – –.‹
»In mir ging Seltsames in diesen Augenblicken vor. Ich hörte die müdgewordene Stimme meines Chefs, dieses früher so unerschöpflich hoffnungsfrohen Mannes und sah, wie er, der sonst stets jede Enttäuschung überwunden hatte, um endlich doch sein Ziel zu nehmen, diesmal an dem Erfolge verzweifelte. Und ich wußte, daß ich ihm neue Hoffnung geben konnte, wenn ich ihm den ganzen Umfang meiner neuen Spur enthüllte, wenn ich ihm all das offen sagte, was ich bis zum entscheidenden Schlüsse als eigenes Geheimnis hatte bewahren wollen. Ein kurzer Kampf war noch in mir, dann hatte ich die Eitelkeit, den Fall allein zu enden, überwunden, und ich erzählte ihm all das, was sich zwischen dem Sprachlehrer und mir begeben hatte und was ich sonst an Schritten gegen diesen Sidney Jones einleitete.
»Mein Chef hörte mir mit gespanntem Ausdruck zu, und seine Augen wurden frischer, je mehr ich sprach, seine Züge gewannen erhöhtes Leben.
»Hier und da warf er eine Frage ein, ich fühlte, wie er mitkam, wie sich seine Tatkraft an dem, was ich ihm sagte, neu entzündete.
»Auch von meinem Versuche mit dem Fräulein Hoffmann redete ich mit ihm, von der seltsamen Nachricht, die aus London gekommen war, und von den Schlüssen, zu denen mich die unerwartete Auskunft der englischen Kriminalpolizei geleitet hatte.
»Als ich endlich schwieg und fragend auf ihn blickte, da sah ich, daß in seinem Wesen wieder die alte Spannkraft rege war. Wortlos sah er mich lange an, dann stand er auf und reichte mir die Hand.
»›Was Sie da halten, Plank, das ist eine Spur. – – Was da an Fäden ineinanderläuft und auf den Mann hinweist, das kann nicht trügen – und wenn uns Ihre Arbeit zum Erfolge führt, wie ich das jetzt trotz all der herben und entmutigenden Fehlschläge der letzten Zeit doch wieder hoffen will: wie ich Ihnen das danken soll – das weiß ich nicht – –.‹
»Eine Weile war es still in dem Zimmer. Ich hielt noch immer seine Hand, und wenn ein Rest von Bedauern in mir gewesen war, darüber, daß ich mein Geheimnis preisgegeben hatte, dann fiel der Rest in diesem Augenblicke sicherlich von mir.
»Dann sprachen wir aufs neue von der Arbeit, die vor uns lag. Und wieder wie an jenem Tage gleich nach meiner Rückkehr aus Kuba, als mein Chef mir zum ersten Male Mitteilungen über die Reihe seltsamer und ungeklärter Verbrechen der letzten Zeit gemacht hatte, kam er auch jetzt auf den Zusammenhang zu reden, der seiner Meinung nach ganz unbedingt zwischen allen den Einzelfällen vorhanden war. Er brachte seine Auffassung, daß ein wohlorganisiertes Bandenwesen all diesen Vorkommnissen zu Grunde liegen müsse, wieder vor und wies mit Nachdruck darauf hin, wie die Verbindung, die ganz zweifellos zwischen dem Sidney Jones, dem Hermann Angerer, dem sogenannten Herrn von Balassy und der geheimnisvollen Dame in Trauer bestand, ein Beweis hierfür sei.
»›Und so ist Sidney Jones nach Ihrer Meinung ein Mitglied dieser Bande wie all die anderen auch?‹ fragte ich.
»›Ein Mitglied jedenfalls – vielleicht nach all dem, was Sie sagen, auch mehr!‹
»Ich nickte. ›Das letztere ist meine Meinung! Wie weit diese vorhergegangenen Fälle mit auf das Konto dieses Mannes kommen, vermögen wir noch nicht zu übersehen, daß er jedoch, trotz seiner irren mathematischen Manie, ein Mensch ist, der von furchtbarer Gefährlichkeit sein kann – das ist mir klar geworden – auch ohne die bestätigende Nachricht der Direktion von Bedlam, daß er der Mörder jenes Diamantenhändlers ist. Haben wir aber diese Antwort erst in Händen, dann soll der Mann die längste Zeit die unverdiente Freiheit genossen haben!‹
»Schon während ich noch gesprochen hatte, war an der Tür meines Zimmers geklopft worden, jetzt wiederholte sich das Pochen, und gleich darauf schob sich der Kopf des Dieners Dieffenbach in die Spalte der geöffneten Tür.
»›Ja – was ist's denn?‹
»Der Diener öffnete ganz und kam auf mich zu.
»›Ich bitt', Herr Kommissär, das Fräul'n wär' wieder da – die gleiche, die schon gestern und vorgestern dagewesen ist – –.«
»›Fräulein Hoffmann?‹
»›Ja.‹
»Ich warf einen fragenden Blick auf den Rat Franz, und der nickte und streckte mir die Hand hin. ›Lassen Sie sich nicht stören,‹ sagte er, ›die Sache kann von Wichtigkeit sein.‹
»›Aber wollen Sie nicht vielleicht mit anhören, was es Neues gibt? Ich will die Sache mit den ›englischen Stunden' der Dame ohnehin abstellen – die ganze Angelegenheit scheint mir zu gewagt nach dem, was wir jetzt von dem Sprachlehrer wissen.‹
»Einen Augenblick besann sich mein Chef, dann war er entschlossen zu bleiben. – Und gleich darauf ließ der Diener das Fräulein Hoffmann in das Zimmer treten.
»Sie schien sichtlich betreten, als sie außer mir noch den Polizeirat erblickte, und ganz leise und ausdruckslos klang ihre Stimme, als sie grüßte.
»Mit wenig Worten stellte ich ihr den Polizeirat vor, dann schob ich ihr einen Stuhl zurecht und hieß sie Platz nehmen. Sie zögerte einen Herzschlag lang, warf einen hastigen Blick auf die Uhr, die meinem Schreibtisch gegenüber an der Wand hing, und ließ sich dann nieder.
»Unwillkürlich waren meine Augen den ihrigen gefolgt; ich bemerkte, daß es in acht Minuten sechs Uhr war, und es geschah wohl nur, um eine Einleitung für das zu finden, was ich mit ihr besprechen wollte, als ich fragte. ›Haben Sie's eilig, Fräulein?‹
»Sie machte eine unruhige Bewegung und errötete: ›Wieso – –?‹
»›Weil Sie nach der Uhr sahen – –. Nun, zunächst bitte ich um Ihren Bericht: Haben Sie heute etwas Auffälliges bei Herrn Jones bemerkt?‹
»Sie strich sich über die Stirne mit jenem seltsam suchenden Ausdruck, der mir schon tags zuvor an ihr aufgefallen war. ›Es war wie gestern,‹ sagte sie. ›Herr Jones gibt sich viel Mühe – –.‹
»›Und was hat er denn heute mit Ihnen durchgenommen?‹
»›Erst hat er wiederholt, was er schon gestern gesagt hat, dann hat er Neues auch gebracht. Er hat die Worte wieder vorgesprochen und hat den deutschen Text dazu gesagt – und ich hab' ihm auf seinen Mund und seine Augen sehen müssen, damit ich weiß, wie es zu sprechen ist.‹
»Wie sie alles das sagte, das war wieder diese müde, gequälte Art wie gestern. Nein – diesen Stunden mußte unbedingt sogleich ein Ende gemacht werden!
»›Und hat Sie alles das wiederum so angestrengt? Sind Sie wieder so müde davon geworden?‹
»Sie sah mich hilflos an und rückte unruhig auf ihrem Stuhle hin und her. Und hastig, haschend, als wäre das ein Unrecht, was sie tat, ging ihr Blick dabei wiederum nach der Uhr.
»Der Polizeirat war zu ihr hingetreten. ›Ist Ihnen vielleicht nicht wohl, liebes Fräulein? Sie sind ja ganz blaß geworden?‹
»Auch mir fiel ihre bleiche Farbe auf und ebenso ein starrer Ausdruck, der sich ihr um den Mund und um die Augen legte.
»›Wollen Sie ein Glas Wasser nehmen? Was ist denn das mit Ihnen? Sie haben sich bei dieser Sache mit den Stunden – bei all der Aufregung, die damit im Zusammenhange steht, übernommen – das war eben doch mehr, als Sie ohne Schaden leisten können –.‹
»Sie schüttelte den Kopf. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie sprechen wollte. Aber es kam kein Laut. Sie wollte aufstehen, ließ sich dann wieder nieder und richtete sich jäh gleich darauf dennoch auf. Ein Ausdruck lag dabei auf ihren Zügen, als kämpfte ihr ganzes Wesen, all ihr Wollen gegen ein stärkeres, zwingendes und übermannendes Etwas. – Sie wird uns schließlich hier ohnmächtig! dachte ich – Frauenzimmernerven! – – Ich sah noch, wie sie mit der Hand nach ihrem Täschchen fuhr – krampfhaft und wie mit letzter Kraft – und sprang dabei schon auf, um von dem Tische an der Wand die Wasserkaraffe aufzugreifen und rasch ein Glas mit Wasser voll zu gießen.
»Sekundenlang nur war es, daß ich so ihr und dem Polizeirat Franz halb den Rücken wandte – – und eine seltsame mir selbst auffällige, gesteigerte Erregung war dabei in mir.
»Ich hörte in diesem jagenden Zustande, wie das Wasser aus der Karaffe in das Glas gluckste, wie die Uhr zum Schlage ausholte und schlug – und hörte in dem gleichen Augenblick ein paar rasche Schritte, ein Zupacken, Ringen, dann einen Schrei und einen Schuß, der dröhnend durch das Zimmer hallte – –
»Ich fuhr herum –.
»Blut rieselte mir über meine Hand, und in Scherben lag die Karaffe vor mir auf dem Boden. Mitten im Zimmer aber stand der Polizeirat Franz, ließ Anna Hoffmann, die er eben noch gehalten und gestützt hatte und die ohnmächtig schien, langsam zur Erde gleiten und wies mit einem schreckerfüllten Blick auf den Revolver, der vor dem Mädchen noch rauchend auf der Erde lag.
»Dann sah er meine blutige Hand und, bleich bis in die Lippen, fragte er: ›Hat sie getroffen – –?‹
»Ich bewegte meine Finger – und schüttelte den Kopf – das war nichts von Bedeutung – und konnte nur fragen: ›Was war denn das – wie ist denn das gekommen – –?‹
»Aber der Polizeirat sah das Blut, das mir an meiner Hand herunterlief, und sagte, während er mich am Arme faßte, als wollte er mich halten: ›Doch – doch – Sie bluten ja – sie hat also doch getroffen – –‹
»Und erst als ich ihm zeigte, daß die Kugel nur die Karaffe in meiner Hand zerschmettert hatte und dann unschädlich in den Tisch vor mir gedrungen war, und daß allein ein Stück abgesprengten Glases mir diese Wunde quer über die Hand gerissen hatte, gab er Antwort auf meine Frage.
»›Wie es gekommen ist? Ich weiß kaum mehr als Sie! Verrückt muß sie geworden sein – ich kann es anders nicht erklären. – Sie stand hoch aufgerichtet da – ich dachte, daß sie kämpfe gegen ein Unwohlsein, das sie bedrohte – und da kam diese Tat – –! Sie griff nach ihrem Täschchen – –‹
»›Aber warum! – warum?‹ Ich versuchte meine Wunde mit dem Taschentuche zu verbinden und fühlte jetzt erst, da mein Blick wieder auf jene Stelle auf dem Tische fiel, an der die Kugel sich ihren splitternden Gang tief in das Holz gebohrt hatte, wie ich erbleichte in nachträglicher Erkenntnis der furchtbaren Gefahr, der ich entronnen war.
»Mit zitternder Hand hatte der Polizeirat den Revolver vom Boden aufgehoben und vor sich hin auf den Schreibtisch gelegt.
»›Warum – –?‹ wiederholte er dabei. »›Ich weiß es nicht. Ich sah nur, wie sie mit der Hand ein paar Sekunden lang so still verweilte und wie sie in dem Augenblicke, da die Uhr hier zu schlagen anhob, das Ding da förmlich vorwarf mit dem Arme, als wollte sie nach Ihnen zielen, auf Sie schießen – –. Ganz starr – wie eine Wahnsinnige hat sie ausgesehen – –!‹
»›Und da –?‹
»›Da sprang ich zu – da riß ich ihr den Arm zur Seite – eine Sekunde noch – und es wäre zu spät gewesen – –‹
»Ganz erschüttert standen wir beide.
»Es war still im Zimmer, nur ein leises Röcheln klang jetzt von der Stelle, an der das Mädchen, immer noch ohnmächtig, auf dem Fußboden lag.
»Ich streckte dem Polizeirat meine heilgebliebene Hand hin.
»›Sie haben mir vielleicht das Leben gerettet – –.‹
»Er drückte mir die Hand und sah mir in die Augen und sagte: ›Ich glaube, lieber Plank, wir haben Wichtigeres jetzt zu tun, als sentimental zu sein – –.‹ Und einen Blick auf das Mädchen werfend, die immer noch ohnmächtig auf dem Boden lag, setzte er hinzu: ›Die hier, mag sie nun wahnsinnig oder mag sie eine Verbrecherin sein, bedarf der Arzteshilfe – und dann müssen wir verstehen lernen, wie denn das Furchtbare, das hier beinahe geschehen wäre, sich entwickeln konnte!‹
»Ich nickte, griff ein Kissen von dem Sofa und schob es der Schweratmenden unter den Kopf, während der Polizeirat vor den Schreibtisch trat und auf den Knopf des Läutewerkes drückte. Dabei fiel sein Blick wieder auf den Revolver, den er früher dorthingelegt hatte, und er fragte sinnend: ›Woher sie diese Waffe haben mag – –? Ob uns daraus nicht mancher Aufschluß werden könnte – –?‹
»Auch ich sah jetzt aufmerksam hinüber nach dem kleinen handlichen Ding und mußte dabei bitter lachen trotz aller Erregung, die noch in meinen Nerven zitterte.
»›Herr Rat – diesen Revolver habe ich dem Mädel vorgestern selbst gegeben – er sollte ihr, falls sie bei Sidney Jones in eine gefährliche Lage käme, Schutz bieten oder wenigstens ein Gefühl der Sicherheit gewähren. Jetzt hat sie ihn statt dessen gegen mich gebraucht –.‹ Doch während ich noch diese Worte sprach, ging es mir als ein jähes Erbeben durch den Sinn, ergriff es mich, wie das sekundenlange Stocken meiner Pulse, und vor mir stand als eine Lösung dieses unfaßbaren Vorganges nur der eine Gedanke: Das Mädchen kam von Sidney Jones und schoß auf mich – – sie war die Hand, die diese Waffe hielt, der Wille, der sie lenkte, war der Mann! Die Kugel hier sandte dir Sidney Jones! –
»So sehr erschüttert war ich von diesem Gedanken, der sicher wie eine Erkenntnis mich erfüllte, daß ich nur wie im Traume sah, daß der Diener Dieffenbach wiederum in der Tür erschien, entsetzt auf die Ohnmächtige niedersah und dann, nachdem der Polizeirat ihn geheißen hatte, den Arzt du jour so schnell wie möglich zu holen, wieder verschwand.
»Ich ließ mich in einen Sessel nieder, stützte die Ellbogen auf die Kniee und legte den Kopf in beide Hände. So sann ich vor mich hin, zunächst unfähig zu sprechen. Gleich einem rätselhaften, grauenvollen Etwas lag dieser eine Gedanke – nein, mehr! – diese Gewißheit jetzt vor mir, und mein Sinnen ging darum herum und rannte dagegen an und konnte doch nicht Herr des Rätsels werden! Wie war das alles möglich? Wie hing das zusammen? Ich preßte meine Hände vor die Augen – nichts sollte mich ablenken – nichts stören. Da schwirrte es mir purpurn und hell als Funken vor dem Dunkel, und mir war es, als sähe ich in diesem Leuchten das hagere und überlegen lächelnde Gesicht des Sprachlehrers vor mir: Bohrend und kalt waren die hellen Augen, in denen nadelscharf die winzigen Pupillen blitzten, und der schmale Mund verzog sich hochmütig zu dem spöttischen Ausdruck des Siegers.
»Wieder war ich geschlagen von dem Manne – wieder hatte er mir die Trümpfe aus der Hand genommen in unserm schweigenden, erbitterten Kampfe auf Leben und Tod – – und nur ein Zufall war es, daß er diesmal mir nicht für immer jede Möglichkeit zu neuem Kampf genommen hatte. Wäre der Polizeirat nicht bei mir gewesen, hätte der nicht mit raschem Griff der Waffe eine andere Richtung gegeben – dann würde Sidney Jones in diesem Augenblicke wohl für alle Zukunft befreit und sicher sein vor meiner Gegnerschaft – –.
»Wieder ging die Tür auf, der Arzt trat ein, ich kannte ihn, es war der Doktor Oswald Dorn – derselbe, der inzwischen seine glänzende Methode der Blutidentifizierung unserm Kriminaldienst zugänglich gemacht hatte. Damals war er ein junger Mann von dreißig Jahren, und seine wissenschaftliche Arbeit galt vorwiegend der Erforschung kriminalpsychologischer Probleme.
»Eilig nur drückten wir uns die Hände, dann wandte er sich sofort dem Mädchen zu, das noch immer leise stöhnend und wimmernd mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag. Mit Hilfe des Polizeirates und des Dieners – ich selbst konnte mit meiner verbundenen Hand nur wenig nützen – hob er sie auf und bettete sie auf das Sofa. Sie schlug dabei die Augen auf, sah wirr um sich, strich sich über die Stirne und murmelte, als wollte sie etwas von sich wehren: ›Ich will nicht – – nein, nein, ich kann ja nicht – –‹ Dann sank sie wieder ganz zurück und schloß die Augen.
»Mit wenig Worten berichteten wir dem Arzte, was geschehen war, und der sah sinnend und kopfschüttelnd nieder auf das Mädchen, das sich in seiner Ohnmacht unruhig bewegte. Es war, als kämpfte das wiederkehrende Bewußtsein der Kranken in jähen Attacken gegen den Bann, der es niederhielt. Als Doktor Dorn ihr dann die Hand auf die Stirne legte, wurde sie ruhiger. Schweigend nahm er eine kurze Untersuchung vor. Er hob eines der Augenlider der Kranken und beobachtete die Reaktion der Pupille auf den Lichteinfall. Er ergriff den Daumen ihrer Hand, beschrieb mit ihm mehrmals drehende Bewegungen – und nickte dann, als er sah, wie die Kranke mit diesen Bewegungen fortfuhr, auch als er selbst ihr keine Hilfe mehr dazu gab.
»Endlich richtete er sich wieder auf und wandte sich zu mir. Es fiel mir auf, wie gespannt sein Ausdruck war – der Fall schien ihn im höchsten Grade zu fesseln.
»›Ja – –,‹ sagte er, ›den Zustand, in dem dieses Mädchen hier liegt, würden von tausend Ärzten neunhundertundneunundneunzig als einen schweren Anfall von Hysterie, wenn nicht direkt als den Ausbruch einer manischen Geisteskrankheit auffassen. – Die Sache wäre dann damit wahrscheinlich erledigt und abgetan. Ob man den Kollegen das verübeln könnte? Ich glaube nicht! – Was ich in diesem Falle jedoch im Gegensatz zu einer solchen Auffassung vermute, das ist etwas so Außerordentliches, so Bedeutungsvolles, daß ich ehe ich meine Meinung klarer formuliere, erst noch einige Fragen stellen muß. Wollen Sie mir die beantworten?‹
»›Gern.‹
»›Hatte das Mädchen irgend einen Grund, Ihnen nach dem Leben zu trachten? Gab es Vorteile, die ihr aus Ihrem Tode erwachsen konnten, oder trug sie einen Haß gegen Sie in sich?‹
»Ich schüttelte den Kopf. ›Keines von beiden.‹
»›Ich dachte mir das. – Nun eine zweite Frage: Kam das Mädchen im Laufe der jüngsten Zeit – soweit Sie das wissen können – mit jemand zusammen, für den solche Gründe vorlagen?‹
»›Ja,‹ sagte ich, und während mir wieder wie früher der unabweisbare Gedanke eines Zusammenhanges zwischen dieser Tat und dem verbrecherischen Hasse Sidney Jones' vor der Seele stand, fuhr ich fort: ›Ja – von einem solchen Manne, einem angeblichen Sprachlehrer, kam sie eben – nur ist mir nicht erklärlich, wie es diesem Schurken, der allen Grund hat, mich aus der Welt zu wünschen, gelungen sein soll, dieses Mädchen zu einem solchen Meuchelmord zu überreden –.‹
»In den Augen des Doktors Dorn blitzte es auf. ›Wie ich's mir dachte!‹ sagte er.
»Der Polizeirat war wieder zu dem Sofa hingetreten und wendete sich jetzt zu mir: ›Seltsam ist das! Ehe sie da in Ohnmacht fiel: der starre Ausdruck – mir war es, als hätte ich das alles ebenso schon gesehen. Da haben wir eine andere junge Person hier – auch einer von den ungeklärten Fällen – beinahe ebenso hat sich die gebärdet, als sie festgenommen wurde.‹
»Da nickte der Doktor bedeutungsvoll und sagte: ›Wer weiß – vielleicht löst dieser Fall dann manches von den Rätseln, mit denen Sie in diesen letzten Monaten sich quälten. Jetzt aber soll uns dieses Fräulein Hoffmann sagen, was zwischen ihr und jenem Sprachlehrer heute gesprochen wurde –.‹
»Ich sah fragend auf ihn: ›Aber sie ist ja noch von Sinnen! Wie können wir sie da verhören?‹
»›Das soll schon meine Sorge sein. Herr Polizeirat, lassen Sie, bitte, sogleich einen Stenographen kommen, das Fräulein wird uns keine Antwort verweigern. Wie wenn wir von einer photographischen Platte eine neue Kopie abnähmen, so werde ich eine Kopie der Szene, die zwischen Anna Hoffmann und jenem Sprachlehrer sich abspielte, in ihrer Erinnerung auslösen. Was ich gleich vermutet habe, bestätigt sich mir mit jeder Minute mehr: die hier auf unseren Richard Plank geschossen hat, ist selbst das Opfer eines Verbrechens – sie hat die Tat im willenlosen Zustande einer Hypnose begangen, in die der andere sie versenkte. – Sie hat ihre Kugel auf Richard Plank geschossen, weil es ihr von jenem Verbrecher so befohlen war, und weil all ihr gesunder Gegenwille die Macht jener Hypnose nicht durchbrechen konnte!‹ – –
»Der Stenograph hatte seine Papiere auf dem Schreibtische ausgebreitet und war bereit, jedes Wort, das nun gesprochen wurde, festzuhalten.
»Schweigend und erschüttert von dem, was uns der Doktor Dorn verkündet hatte, standen der Polizeirat und ich. Ganz erfüllt war ich von Interesse an dem Vorgange, der sich da vor mir abspielen sollte, und doch drängten daneben jetzt ungezählte neue Gedanken nach Gehör. –
»Ein Verbrechen im Zustande der Hypnose – eine Mörderin, die, selbst willenlos, allein das Werkzeug in der Hand eines sicher in den vier Wänden seines Arbeitszimmers sitzenden Leiters ist! Die unglückliche Puppe in der Hand eines verbrecherischen Puppenspielers, der unsichtbar und unvermutet die armen Automaten lenkt. – Und wie, wenn jene Andeutung des Doktors in Wahrheit uns die Lösung für die Zusammenhänge der Dinge gab – wenn dieser Sidney Jones mehr solche furchtbaren Verbrechen aus jenem Hinterhalte seines düsteren Hauses begangen hätte? Die Ähnlichkeit in dem Gebaren der Anna Hoffmann mit dem Verhalten einer anderen Untersuchungsgefangenen war dem Polizeirat Franz selbst früher aufgefallen – wie denn, wenn mehr von jenen, die auf der Tat ergriffen, gleich wie Trunkene oder wie Kinder ihre Unschuld laut beteuerten und keinerlei Erinnerung an ihre Taten zeigten – wie also, wenn auch sie Opfer dieses Verbrechers waren? Daß einzelne von diesen Armen bei Sidney Jones verkehrten, stand fest – ich dachte an den Hermann Angerer und an den Verkäufer der ›Diamantenen Rose‹! Wie, wenn sich jetzt Zusammenhänge auch zwischen anderen Verhafteten und Sidney Jones finden ließen?
»Da riß mich das Vorgehen des Doktor Dorn aus diesem Drängen der Gedanken.
»Der Arzt war auf das Fräulein Hoffmann zugetreten und hatte ihr wieder die Hand auf die Stirne gelegt. Jetzt sprach er zu ihr mit fester, klarer Stimme: ›Stehen Sie auf!‹
»Sie rührte sich nicht; sie schien keinerlei Eindruck von seinen Worten empfangen zu haben.
»›Sie schlafen – ich wünsche, daß Sie sich erheben – ich befehle Ihnen das!‹
»Wieder lautlose Stille – und keinerlei Erfolg.
»Die Lage war peinlich. Sollte der Doktor Dorn sich doch geirrt haben? Eine erregte Ungeduld lag auf seinen Zügen, und seine Stirne war zusammengezogen. Aber jetzt plötzlich hellte sich sein Ausdruck auf, und er wandte sich jäh zu uns.
»›Daß ich das vergessen konnte! Natürlich – der Mann hat ihr gesagt, daß nur er sie zu seinen hypnotischen Experimenten gebrauchen könne! Aber das soll ihm nichts genutzt haben! Wie heißt doch dieser ›Sprachlehrer‹?‹
»›Sidney Jones.‹
»Dorn nickte und wandte sich der Schlafenden wieder zu: ›Wissen Sie, wer ich bin?‹
»Keine Antwort – sie blieb unbewegt.
»›Ich bin Sidney Jones!‹
»Jetzt ging mit einem Male ein qualvolles Zucken über ihr Gesicht, und ihre Lippen bebten.
»Da nickte der Doktor Dorn, dessen Erregung nun auch gestiegen war, uns rasch bedeutungsvoll zu und sprach weiter: ›Und ich, Sidney Jones, befehle Ihnen, sich in dem Schlafe, der Sie noch umfängt, aufzusetzen!‹
»Wie ein Automat, der blind dem Willen einer lenkenden Kraft gehorcht, richtete sich Anna Hoffmann mit geschlossenen Augen auf dem Sofa auf.
»Lautlos still war es im Zimmer, wir alle fühlten, daß das, was jetzt geschehen würde, uns Aufschluß über all die ungelösten Fragen geben mußte, die uns quälten und an deren Beantwortung wir schier verzweifelt waren. – –
»Wieder klang die Stimme des Doktor Dorn: ›Sie schlafen ganz tief – so tief, wie nur je – –!‹
»Das Gesicht des Mädchens verlor den qualvollen Zug und wurde ruhiger.
»›Und jetzt erzählen Sie mir genau, was ich, Sidney Jones, heute mit Ihnen gesprochen habe.‹
»Anna Hoffmann bewegte die Lippen – ein paar Laute quollen aus ihrem Munde – aber ein Zögern war über ihrem Wesen.
»›Können Sie sich auf alles besinnen?‹
»Jetzt sprach sie: ›Ja.‹
»›Soll ich Sie fragen?‹
»›Ja.‹ Ihre Stimme klang zaghaft, aber völlig deutlich.
»Da begann der Doktor sein Verhör und stellte seine Fragen – immer in einer Form, als wäre er der Sprachlehrer, der dieses arme Wesen für seine furchtbaren Pläne mißbraucht hatte.
»›Wissen Sie noch, wann Sie heute zu mir gekommen sind?‹
»›Um halb fünf Uhr.‹
»›Was geschah dann?‹
»›Ich hab' mich setzen müssen – in den Fauteuil, und dann haben Sie wieder vorgesprochen, und ich hab' wiederholt – und Sie haben mich angesehen – und ich bin so müd' geworden – –‹
»›Warum habe ich Ihnen vorgesprochen?‹
»›Damit ich die Aussprache lerne.‹
»›Erinnern Sie sich der Sätze, die wir so durchgenommen haben?‹
»›Ja – –‹
»›Wiederholen Sie mir diese Sätze im Zusammenhang!‹
»Da begann sie diese Sätze abzuhaspeln, als lese sie die ab aus einem Buche!
»› I feel a little fatigued – ich bin müde – – very fatigued – sehr müde – – my eyelids are heavy – meine Augenlider sind schwer – – they get always heavier – sie werden immer schwerer – –.‹ Sie stockte.
»›Nun?‹
»› They close – sie fallen zu – – I can no more open them – ich kann sie nicht mehr öffnen – –.‹
»›Weiter, weiter!‹
»Jetzt klang ihre Stimme noch stiller, verträumter: › They remain fermed – sie bleiben zu – –. Quite fermed – ganz zu – – totally fermed – ganz fest zu – –. I sleep – ich schlafe – –.‹
»Der Doktor Dorn wendete sich um und suchte den Polizeirat und mich mit den Augen. Und leise sagte er: ›Der Schuft hat also unter dem Vorwand, ihr eine korrekte Aussprache beizubringen, das arme Ding durch die geschickte und eindringlich gesteigerte Suggestion der Müdigkeit und durch gleichzeitige Fixation in Hypnose versetzt! Wahrhaftig, ein geradezu teuflischer Trick, um das Mädchen zu seinem willenlosen Werkzeug zu machen!«
»Wir konnten nur schweigend zustimmen, doch immer klarer lösten sich für unser Erkennen die Zusammenhänge der geheimnisvollen Vorgänge.
»Der Doktor Dorn kehrte sich der Anna Hoffmann wieder zu und stellte weiter seine Fragen.
»›Erinnern Sie sich, ob ich Sie früher schon einmal auf ähnliche Weise eingeschläfert habe?«
»›Ja – – gestern – wie ich das erste Mal bei Ihnen gewesen bin –‹
»›Können Sie mir noch sagen, welche bestimmten Fragen oder Aufträge ich damals in diesem Schlafzustande an Sie gerichtet habe?‹
»›Ja – –‹
»›Sprechen Sie darüber!‹
»›Sie haben mich gefragt, Herr Jones, ob ich von irgend jemand veranlaßt worden wäre, Sie aufzusuchen. Wie ich Ihnen dann von Herrn Plank gesprochen habe, da haben Sie mich aufgefordert, Ihnen alles das so genau wie möglich darzustellen. Das habe ich getan. Dann haben Sie mir aufgegeben, Herrn Plank aufzusuchen und ihm zu sagen, daß ich nichts Auffälliges bei Ihnen bemerkt hätte. Und zum Schluß haben Sie mir aufgetragen, heute wieder zu kommen. Dann bin ich aufgewacht – –‹
»Wieder ein kurzer bedeutungsvoller Blick des Doktor Dorn auf den Polizeirat und auf mich.
»Ich hatte die Zähne aufeinandergebissen bei diesen Enthüllungen der Hypnotisierten. Scham, Haß und Empörung waren in mir! Kaltblütig und überlegen als souveräner Herrscher über alle Mittel und Behelfe des Verbrechens hatte dieser Sidney Jones das Mädchen, das mir helfen sollte, ihn zu beobachten, ausgenommen. Ich sah ihn wieder, so wie damals vor wenigen Tagen, als er mir gegenübersaß in seinem Arbeitszimmer und lächelnd auf die langen, mageren Finger seiner Hände niederblickte. Wie hatte er doch da zu mir gesagt? ›Ich bin mißtrauisch von Natur – und dann – ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten: aber unser Wien ist doch recht unsicher geworden.‹ Und so hatte sein reges Mißtrauen, seine Bereitschaft, meine Schläge zu parieren, nun auch die neue Schülerin nicht blindlings angenommen. Wie Räuber einen Wehrlosen überfallen und knebeln und berauben, so hatte er durch die Kraft seiner einschläfernden Worte und die Macht seiner Blicke ihren eigenen Willen unterworfen, sie hypnotisiert, wehrlos und hilflos gemacht, um sie dann in aller Ruhe ihres geistigen Besitzes zu berauben, ihr das zu entreißen, was sie bisher als sorgsam gehütetes Geheimnis in sich trug. Und mehr noch – nicht nur beraubt hatte er sie, auch zur Ausführung eines Mordanschlages hatte er sie benutzt!
»Wieder redete der Doktor Dorn jetzt zu dem Mädchen.
»›Gut. Sie sind also heute zu der von mir bestimmten Stunde wieder zu mir gekommen, und ich habe Sie wieder in den Schlaf versenkt. Ich habe mir auch wieder berichten lassen, was zwischen Ihnen und Herrn Plank am Tage vorher und im Anschluß an die erste Unterrichtsstunde gesprochen worden ist?‹
»›Ja – –‹
»›Und was ist dann geschehen?‹
»›Jetzt kam eine qualvolle, zitternde Unruhe über die Schlafende. Ihre Hände zitterten und griffen vor, als wollten sie etwas von sich weisen, um ihre Augen ging ein Zucken, und ihre Lippen bewegten sich in einem vergeblichen Ringen nach Worten.
»Da legte ihr der Doktor Dorn, der diese Qual des Mädchens mildern wollte, wieder die Hand auf die Stirne und sprach: ›Sie werden mir das wiederholen, was ich, Sidney Jones, dann noch mit Ihnen besprochen habe – aber Sie sollen ruhig bleiben und sich nicht so erregen – –‹
»Sie nickte; das Zucken, das um ihre Augen gespielt und über ihren ganzen Körper gezittert hatte, gab nach, und sie saß wieder ruhig, mit festgeschlossenen Lidern. – Sekundenlang war es still. Dann ließ der Arzt die Hand von ihrer Stirne sinken.
»›Also – sprechen Sie!‹
»Das Mädchen aber, das nun doch aufs neue mit einer inneren Erregung rang, stieß hervor: ›Dann haben Sie mir diesen Auftrag gegeben – –‹
»›Welchen Auftrag – –? Wiederholen Sie wörtlich, was ich sagte!‹
»Und Anna Hoffmann, in der Angst und Qual machtlos gegen den Willen des Mannes rangen, deren Stimme beinahe versagte unter der Folter jener furchtbaren Tat, die ihr aufgebürdet worden war, wiederholte stoßweise die Worte des grauenvollen Befehls.
»›Sie haben in Ihrer Tasche den Revolver, den Richard Plank Ihnen gab. Sie werden sogleich zu Herrn Plank gehen. – Sie werden wenige Minuten vor sechs Uhr bei ihm eintreffen. Und Sie werden – ich befehle Ihnen das! – diesen Revolver um Schlag sechs Uhr auf Richard Plank abschießen. Sie werden auf seine Brust zielen. – Von allem dem, was zwischen mir und Ihnen in Ihrem Schlafzustande gesprochen wurde, bleibt Ihnen in Ihrem wachen Zustande keinerlei Erinnerung – und niemand anderer als ich, Sidney Jones, kann Sie in aller Folge einschläfern, und niemand sonst kann in diesem Schlafzustande mit Ihnen sprechen. Gehen Sie!‹
»Bleich und erschöpft, nach Atem ringend, saß sie dann da.
»Und der Doktor, der gleich wie wir die Qual der Armen gern so rasch wie möglich geendet hätte, fragte: ›Und darauf sind Sie gegangen und haben getan, was Ihnen aufgetragen war?‹
»Ein Schauer, der ihr über den Körper lief, war ihre einzige Antwort.
»Jetzt trat der Doktor Dorn zu dem Polizeirat und zu mir: ›Haben die Herren noch Fragen zu stellen? Wenn das der Fall sein sollte, dann bitte ich, mir deren Inhalt jetzt zu sagen – denn ich will der Armen möglichst bald die Erinnerung an alle diese unglücklichen Dinge völlig verwischen – –.‹
»Der Polizeirat schüttelte den Kopf; er war tief erschüttert.
»›Sie haben so geschickt die grauenvolle Szene wieder aufleben lassen, daß zur Klärung kaum noch etwas gefragt werden muß. Oder – Herr Plank –?‹
»Auch ich hatte nur diesen einen Wunsch, das arme Mädel, dem sein Versuch, im kriminalistischen Aufklärungsdienst zu wirken, so furchtbare Folgen eingetragen hatte, rasch von den Leiden seines Zustandes erlöst zu sehen.
»Da ging der Doktor Dorn auf sie zu und redete sie an: ›Ich, Sidney Jones, allein kann Sie einschläfern, das wissen Sie – –?‹
»›Ja – –.‹
»›Ich, Sidney Jones, allein kann Sie aber auch erwecken. Was ich will, müssen Sie tun – was ich aus Ihrer Erinnerung streiche, das ist für Sie nicht mehr vorhanden. Und ich streiche aus Ihrem Gedächtnis alles, was auf mich und Ihre beiden Besuche bei mir Bezug hat – alles, was ich mit Ihnen in diesem Schlafzustande gesprochen habe! Verstehen Sie mich?‹
»›Ja – –.‹ Förmlich freier klang ihre Stimme, als ein Aufatmen ging es über sie.
»Der Doktor aber, der sich überzeugen wollte, ob seine Worte auch den richtigen Erfolg gezeitigt hätten, fragte unvermittelt: ›Um wieviel Uhr sollten Sie auf Richard Plank schießen?'
»Da zog über ihr Gesicht nur etwas wie ein unverstehendes Staunen, und sie fragte: ›Was meinen Sie – –?‹
»Doktor Dorn nickte zufrieden und sprach weiter: ›Sie schlafen noch – ich werde in einigen Minuten bis drei zählen; bei dem Worte drei werden Sie erwachen. Sie werden sich völlig wohl befinden und keinerlei üble Folgen von dem verspüren, was Ihnen in den beiden letzten Tagen geschehen ist – –.‹
»Der Arzt war nach diesen Worten zu uns an den Schreibtisch getreten, wo jetzt der Stenograph, ehe er das Zimmer verließ, das Protokoll über diese merkwürdige Vernehmung rasch herunterlas. – Als wir dann allein im Zimmer waren, legte mir der Doktor noch ein paar Heftpflaster auf die Rißwunden meiner Hand. Und während er über diese hingebeugt und scheinbar nur mit seinem kleinen Heilwerke beschäftigt dastand, sagte er plötzlich mit lauter Stimme: ›Ich, Sidney Jones, zähle: Eins, zwei – drei!‹
»Dann aber fuhr er – als ob er sich mit dem harmlosesten Dinge der Welt befaßte – im gewöhnlichen Gesprächstone und zu mir gewendet, zu reden fort: ›Ja – lieber Herr Plank – die Sache hat keinerlei weitere Bedeutung: Sie haben sich, als Sie mit der Flasche gegen die Tischkante stießen, und als das Glas dabei zerbrach, ein paar Fleischrisse geholt – die sind in wenigen Tagen wieder gut – –.‹
»Schon während er noch sprach, hatte sich Anna Hoffmann auf dem Sofa aufgerichtet. Sie hatte die Augen aufgeschlagen, und ihr Blick ging verwundert und befremdet über die Menschen, die sie hier versammelt sah, und bekam erst Leben und Verständnis, als sie mich erblickte und erkannte.
»Jetzt stand sie aufrecht und ging ein paar Schritte auf mich zu. ›Herr Plank – –‹
»Ich nahm ihre Hand und wendete mich vorstellend zu den anderen Herren. Herr Polizeirat Franz. – Herr Doktor Dorn. – Fräulein Hoffmann, die Verlobte unseres Untersuchungshäftlings Hermann Angerer – ich sprach den Herren ja schon von der Dame.‹
»Anna Hoffmann sah immer noch mit verständnislosem Suchen von einem zum andern. Sie schien zu sinnen, wieso sie denn hierher gekommen war, gleich einem Suchen nach den Zusammenhängen dieses Augenblicks mit der Vergangenheit lag es in ihren angstvollen Augen.
»Da kam der Doktor Dorn ihr rasch zu Hilfe.
»›Ja,‹ sagte er, ›Herr Plank hat uns schon mitgeteilt, daß Sie gekommen sind, um Näheres über den Fortgang der Untersuchung bezüglich Ihres Verlobten zu hören. So ist es doch – –?‹
»Sie nickte. ›Ja – –.‹ Ganz leise kam das heraus, fragend beinahe und doch auch gläubig zugleich. Sie, deren Erinnerung an alle jüngeren Vorgänge hinweggenommen war, klammerte sich an diese mögliche Deutung der Lage. Gewiß – so mußte es sein – was sonst konnte sie hergeführt haben – –? Ihre Unsicherheit schwand nach und nach. Sie strich sich über die Stirne – ein hilfloses Lächeln, ein wenig zage, aber nicht verängstigt, stand um ihren Mund.
»›Störe ich die Herren – –?‹ fragte sie.
»›Nein, liebes Fräulein – wir haben übrigens gute Nachricht für Sie: Wir glauben, daß, wenn sich verschiedene unserer Vermutungen bestätigen, – ja, daß dann Ihr Verlobter wohl morgen schon als unschuldig an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen von uns freigegeben und nach Hause entlassen werden dürfte –!‹
»Wenn es eine Arznei, ein Mittel geben mochte, um die schwer mitgenommenen Nerven des Mädchens wieder mit neuer Kraft zu stärken, um diesem armen Geschöpf, das so furchtbar unter dem verbrecherischen Werke des Sidney Jones gelitten hatte, neuen Lebensmut, neue Freude zu geben, dann war es wohl diese Nachricht unseres Chefs!
»Beinahe unfähig zu sprechen, stand sie erst vor ihrem Stuhle. Dann wollte sie reden: ›Ich hab' es ja gewußt – – ich hab' es ja gewußt, daß er unschuldig ist – – der Arme – –!‹ Da versagte ihr die Stimme, und sie begann laut zu schluchzen in ihrem Glück über die angekündigte Wendung im Schicksale ihres Verlobten.
»Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte, bis sie ihr inneres Gleichgewicht wiederum fand. Dann aber, als sie so weit war, da kam auch die alte Energie, die in den beiden letzten Tagen durch Sidney Jones' unheilvollen Einfluß gelähmt gewesen war, aufs neue kraftvoll zum Durchbruch. Sie wollte sofort zu Hermann Angerers Mutter fahren, um dieser armen Frau, die sich seit Wochen in Sorge um das Schicksal ihres Sohnes zerquälte, die frohe Nachricht zu bringen. Und wir ließen sie auf einen zustimmenden Wink des Doktor Dorn hin ruhig und ohne Sorge allein gehen.
»Dankbar für diesen frohen Trost, den ihr der Polizeirat bezüglich ihres Verlobten gegeben hatte, und mit zuversichtlich strahlenden Augen verließ sie uns – die wir bei allem Anteil an ihr und an dem Schweren, das sie durchlitten hatte, doch danach fieberten, allein zu sein. Wir beide, der Polizeirat Franz wie ich selbst, hatten das Bedürfnis, zunächst noch einige Aufklärungen allgemeiner Art von dem Doktor Dorn zu erbitten, um dann, wenn sich danach als möglich und wahrscheinlich erweisen sollte, was wir beide in gleicher Weise vermuteten, sogleich die praktischen Folgerungen an unser neues Wissen zu schließen.
»Als wir allein waren, forderte mein Chef uns zunächst auf, Platz zu nehmen, dann ging er zur Tür, rief den Diener und sagte ihm, daß wir in unserer Konferenz durch nichts und niemand gestört zu werden wünschten. Er verschloß zum Überfluß die Tür mit dem Riegel und kam dann wieder auf uns zu.
»Wie er jetzt mit ein wenig vorgeneigtem Kopfe, mit gefalteter Stirn und gespanntem Ausdruck vor uns auf dem Sofa saß, auf das wir vor kaum einer halben Stunde das Fräulein Hoffmann gebettet hatten, da standen in seinen Zügen wiederum all die tatkräftige Energie, die umsichtige Klarheit und Ruhe, die ihn früher stets geleitet hatten und die nur im Laufe der jüngsten schweren Wochen durch jene herben Mißerfolge erschüttert worden waren.
»Wohl eine Minute lang saßen wir so in völligem Schweigen, dann begann er zu sprechen: ›Ich weiß nicht, ob sich die Herren gleich mir, im Anschlusse an diesen ganz wunderbaren Vorgang, den wir hier erlebt haben, ein Bild davon machten, inwieweit dieser Einzelfall zur Klärung all der dunklen Vorkommnisse der jüngsten Zeit uns führen kann? Ich nehme an, daß Ihnen, lieber Plank, genau so klar wie mir die Möglichkeit vor Augen steht, daß gleich dem Mordanschlag der Anna Hoffmann, so auch die anderen ungeklärten Verbrechen, der Diebstahl des Zivilingenieurs Hermann Swoboda, die Veruntreuung der Kontoristin Else Linzer, die Defraudation des Bankbeamten Karl Edinger – – und wie die Fälle alle heißen – bestellte, von hypnotisierten Opfern erzwungene Arbeit sein können! Aber nicht nur diese Fälle. Daß dieser Bahnbeamte Hermann Angerer gleich seiner Braut von diesem Herrn Jones gelegentlich des ›Unterrichts‹ – in gleicher Weise wie sie zu dem Mordanschlage – für den Verkauf der Steine aus dem Raube in der Stephanskirche gewonnen wurde, erscheint mir zweifellos! Erinnern Sie sich noch an den Bericht, den die zwei Bureaukollegen des Herrn Angerer über sein Klagen über Kopfschmerz, über sein ganzes zerfahrenes Wesen gaben? Erinnern Sie sich weiter noch an das Verhalten des armen Burschen gelegentlich seiner Verhaftung? Ich glaube, wenn wir damals den Doktor Dorn zur Stelle gehabt hätten, und wenn schon damals unser Wissen um das verbrecherische Treiben des Sidney Jones so reif gewesen wäre wie heute – wir hätten von dem armen Teufel etwa dasselbe erfahren wie heute von seiner Braut. – – Und jener ›Herr von Balassy‹, der die ›Diamantene Rose‹ verkaufte, die ›Dame in Trauer‹ – wer sagt, daß sie nicht ebenso willenlose Werkzeuge dieses gewissenlosen, verbrecherischen Schurken waren?!
»›Das wäre meine Theorie, die ich als Kriminalist auf das Geschehene aufbaue – als Kriminalist – aber als keineswegs gründlicher Kenner auf jenem psychologisch-psychiatrischen Felde, auf dem diese Verbrechen fußen. Nun hätte ich an Sie, Herr Doktor Dorn, als Sachverständigen auf diesem Gebiete einige Fragen zu stellen –.‹
»Der Arzt nickte: ›Bitte, Herr Rat – –!‹
»›Ist das, was ich als Theorie entwickelt habe, nach den Erfahrungen der Wissenschaft möglich? Ist der Fall denkbar, daß ein Mann wie Sidney Jones – ein ebenso kühner wie eigenartiger Verbrecher, der sich darauf beschränkt, seine verbrecherischen Anschläge allein im Plane auszuarbeiten – daß der als ausführende Werkzeuge dann eine Anzahl Opfer benützt, die ihm der Zufall in die Hände spielt? Ist es denkbar, daß er in seiner vorgeschützten Eigenschaft als Lehrer – nach jenem Beispiel, das wir ja jetzt kennen – Dutzende von Schülern vergewaltigt, mit seinen verbrecherischen Aufträgen beladen und auf die Mitwelt losgelassen hätte?‹
»Doktor Dorn, der gespannt zugehört hatte, hob den Kopf.
»›Gewiß, das ist möglich! In welchem Maße ein. geschickter Hypnotiseur Einfluß auf jene nehmen kann, über deren Willen er verfügt, das zeigt in gutem Sinne jeder Arzt, der sich mit Suggestionstherapie befaßt. Nicht Geringeres aber als der heilende Arzt vermag hier der verderbende Verbrecher. Darin sind zahlreiche, wissenschaftlich streng geschulte Forscher einig. Männer wie Liégeois, Forel, Eulenburg, Dalley, Minde und andere treffen sich in der zustimmenden Beantwortung der Frage. Und dafür, daß diese zweischneidige Macht nicht nur in der Theorie, nicht nur in der fürchtenden Fürsorge von Psychologen und Strafrichtern existiert – nein, daß sie in der Tat längst dem geistigen Rüstzeuge der Verbrecher angehört und von diesen angewendet und furchtbar mißbraucht wird, dafür haben wir ja, wie Sie ohnehin wissen, in der Kriminalgeschichte Beispiele genug!‹
»Ich unterbrach den Doktor mit einem Einwurf.
»›Sie denken an den Fall Czynski – an Ceslav Lubicz-Czynski, den verkommenen polnischen Scharlatan, der unter anderem vor wenigen Jahren in München eine Baronin von Zedlitz in der Hypnose zu einer Scheinehe zwang – –?‹
»Der Doktor lächelte.
»›Herr Plank, um Ihr Namensgedächtnis habe ich Sie immer beneidet. Ja – auch an diesen Fall denke ich – aber es gibt noch mehr. Erinnern Sie sich an den Riesenprozeß der Gabriele Bompard in Paris –?‹
»›– – die nach der Annahme des Professors Liégeois als Automat unter dem hypnotischen Zwange des Mörders Michael Eyraud stand und ihm den Huissier Gouffé auslieferte, den jener dann mit ihrer Hilfe ermordete – –?‹
»›Ganz recht! Und noch ein weiterer Fall fällt mir ein, einer der ›drüben‹ spielt und erst vor wenigen Jahren im Staate Kansas vor Gericht verhandelt wurde. In diesem Fall veranlaßte ein Mineningenieur namens Anderson Gray durch suggestiven Einfluß seinen Diener Mac Donald dazu, einen Farmer, Thomas Patton, der mit Grays Geliebter in Beziehungen getreten war, hinwegzuräumen. Patton fiel unter Mac Donalds Kugel, aber das Gericht sprach Mac Donald frei und verurteilte Anderson Gray – obwohl er bei der Mordtat gar nicht zugegen war – zum Tode. Leider ist es diesem Anderson Gray damals gelungen, auf völlig abenteuerliche Weise aus dem Kerker auszubrechen und zu fliehen.‹
»Der Doktor Dorn schwieg, und der Polizeirat Franz fragte: ›Demnach würden grundsätzliche Bedenken seitens der Wissenschaft gegen eine Theorie wie jene, die ich Ihnen früher entwickelt habe, also nicht vorliegen?‹
»›Nein.‹
»›Gut, dann wollen wir diesen Gedankengang dem weiteren Vorgehen zu Grunde legen. Herr Doktor Dorn, Sie würde ich bitten, sich sogleich diejenigen Untersuchungsgefangenen vorführen zu lassen, die ich Ihnen auf einer Liste angeben werde – es sind durchweg Leute, die im Laufe der jüngsten Zeit bei der Ausführung von solchen Verbrechen festgenommen wurden, deren Charakter mit dem Wesen der Verhafteten sich nicht in Einklang bringen ließ. Sie würden versuchen, Herr Doktor, ob es Ihnen in dem oder jenem Falle nicht doch, trotz der dazwischenliegenden längeren Zeit, noch möglich ist, festzustellen, ob auch hier Beeinflussungen der freien Willenstätigkeit vorgelegen habe oder nicht. Unsere Sache wird es dann sein, noch weiter zu erforschen, ob nicht außer diesen psychologischen auch greifbare Fäden zwischen den Untersuchungshäftlingen und dem ›Sprachlehrer‹ Sidney Jones liefen. – – Das wären jene Leute, die ich zu der Bande zählte, von der ich Ihnen, lieber Plank, in unserer ersten Unterredung schon gesprochen habe – –‹
»Der Polizeirat erhob sich – in seinem Gesichte zuckte es auf.
»›Sie sehen,‹ sagte er, ›so ganz hirnverbrannt und von jedem kriminalistischen Instinkt verlassen bin ich doch nicht gewesen, als ich etwas wie einen Zusammenhang zwischen den seltsamen Einzelverbrechen ahnte – und als ich mich in dieser Annahme nicht irremachen ließ, trotz aller Zweifel meiner Mitarbeiter.‹
»Einen Augenblick noch stand er sinnend, dann wendete er sich wieder zu mir.
»›Und wir, mein lieber Plank, wir wollen uns jetzt ganz energisch des Kopfes dieser armen ›Bande‹ versichern, des Mannes, der als einziger in diesem Kreis von Menschen ein wirklich furchtbarer Verbrecher ist – des Sprachlehrers Sidney Jones!‹
»Wir waren aufgestanden, um mit hinüberzugehen in das Zimmer unseres Chefs. Als der jetzt meine Tür wieder aufschloß, und mit uns auf den Flur trat, übergab mir der draußen wartende Diener eine Depesche, die während unserer Konferenz gekommen war.
»Ich brach das Siegel auf: ›Aus London!‹
»Es war die Antwort auf die Anfrage, die ich am Tage vorher an die Direktion der Irrenanstalt Bedlam in der St. George's Road zu London gerichtet hatte. Sie war umfangreicher und ausführlicher, als ich erwartet hatte, und lautete:
»›Ausbruch eines Kranken vor drei Jahren in der Nacht vom dritten auf den vierten Oktober in der Tat erfolgt. Ihr Wissen für uns sehr interessant, da diese Angelegenheit damals, um Beunruhigung des Publikums zu vermeiden, ganz diskret behandelt wurde. Der Geflohene war hier ein Jahr lang als Paralytiker interniert. Er nannte sich Harry Worthmann und gab an, aus dem Staate Texas zu stammen. Ergebnis von bezüglichen Nachforschungen widersprach der Richtigkeit dieser Angabe. Worthmann war groß, hager, hatte stechenden Blick, grünes Auge, spitze gebogene Nase und sprach Englisch und Deutsch. Da er bis auf seine Wahnideen – er glaubte, auf mathematischem Wege ›Weltformeln‹ finden zu können – harmlos schien, wurde Verfolgung des Entwichenen schließlich eingestellt. – Falls Worthmann in Wien aufgetaucht, erbitten wir Nachricht.
Direktion Bedlam.‹
»Meine Augen flogen über die Zeilen der Depesche hin – meine Kombination entsprach also der Tatsache! Der bisher unbekannte Mörder des Diamantenmaklers Sidney Jones aus Milwaukee war gefunden – er war identisch mit dem Manne, der als Harry Worthmann aus der Irrenanstalt Bedlam ausgebrochen war, und der jenem Verbrechen des Mordes, dem er damals die Freiheit und seine Ausweispapiere verdankte, inzwischen hier als angeblicher Sprachlehrer noch weitere Verbrechen in ungezählter Menge angereiht hatte!
»Schweigend reichte ich die Depesche meinem Chef. Auch der las sie nun und gab mir dann das Blatt zurück.
»›Sie haben wiederum einmal recht behalten!‹ sagte er. ›Ich gratuliere Ihnen – und mir. Aber jetzt vorwärts, wir dürfen keine Minute mehr verlieren!‹ – –
»Ja – und dann ist die Stunde gekommen, in der ich diesem rätselhaften Menschen, der halb Genie, halb Wahnsinniger, aber ganz Verbrecher war – in der ich diesem Sidney Jones zum letzten Male gegenübersaß. – –
»Es war acht Uhr abends geworden, als der Fiaker, der den Polizeirat Franz, mich und zwei von unsern verläßlichsten Agenten nach der Habsburgergasse brachte, vor dem Hause des Sprachlehrers hielt.
»Ernst und schweigsam schritten wir durch die düstere, hallende Einfahrt, dann über den Hof und weiter die steinernen Treppen empor. Mit wenigen Worten gab der Polizeirat den beiden Agenten, die uns begleiteten, seine Befehle – sie sollten sich bereithalten, den Mann, zu dessen Verhaftung wir schreiten wollten, in dem gegebenen Augenblicke sofort in ihren Gewahrsam zu nehmen.
»Jetzt standen wir vor der Tür zur Wohnung des Mannes; still und tief atmend standen wir da, und es war keiner unter uns, dem nicht das Herz heftig geschlagen hätte, der nicht erregt der Dinge harrte, die unser warteten. – – Mein Blick ging über die Tür hin. – Da stand auf dem kleinen Schild der Name, den der Verbrecher, der hier wohnte, mit Unrecht trug – da war das kleine Guckloch, durch das er mich gemustert hatte, damals, als ich zum ersten Male gekommen war, um mich nach dem Schüler Hermann Angerer zu erkundigen, und später, da ich als Steuerbote hier erschien – und dann zuletzt vor jener Aussprache, in der er mich mit seinem Hohn übergoß! – Jetzt stand die letzte Abrechnung bevor!
»Auf einen Wink meines Chefs zog ich den Griff der Klingel.
»Wir alle hörten den dünnen schellenden Klang der alten Glocke, und hörten dann in unserem atemlos gespannten Lauschen ein leises Klingen wie von Gläsern, die aneinanderstoßen, ein helles Klirren wie von Schlüsseln, die sich berühren. – – Sonst aber nichts – nicht Schritte und nicht Worte.
»Wohl eine Minute lang standen wir so – dann zog ich nochmals an dem Griffe der Klingel, stärker, länger.
»Und diesmal war der helle Nachklang des dünnen Glockentons noch nicht verklungen, als das Geräusch des Klappens eines Schlosses schon zu uns drang und als gleich darauf die Wohnungstür vor uns geöffnet wurde. Fest und ohne Zaudern, mit einer ruhigen, scheinbar ahnungslosen Sicherheit, die mir für einen Augenblick etwas wie Mitleid mit dem Manne erweckte, der jetzt mit einem erwartenden, fragenden Ausdruck hoch aufgerichtet in dem Rahmen der Tür stand.
»Der Polizeirat war einen Schritt auf ihn zugetreten.
»›Herr Sidney Jones?‹ fragte er.
»Und der Sprachlehrer blickte mit einem leisen, spöttischen Lächeln, das mir aber doch ein wenig erkünstelt zu sein schien, von meinem Chef zu mir und sagte, während seine Augen auf dem Verbande meiner Hand ruhten: ›Herr Richard Plank wird Ihnen gern bestätigen, daß ich der bin. – Ich aber habe wohl die Ehre mit Polizeirat Franz – –?‹
»Ein Nicken meines Chefs war die Antwort.
»Keine Spur von Überraschung oder gar von Furcht lag in den bleichen Zügen des Sprachlehrers. Jetzt trat er ein wenig zurück, so daß der Eingang zu seiner Wohnung frei war.
»›Ich habe die Herren eigentlich schon vor einer Viertelstunde erwartet,‹ sagte er. ›Wollen die Herren nicht nähertreten – –?‹
»Der Polizeirat sah mit ernstem Staunen auf Sidney Jones, der ihn in seiner hageren Größe wohl um Haupteslänge überragte.
»›Ja – die Herren kommen doch in Geschäften –?‹
»›Wir sind gekommen, Herr Jones – oder vielmehr Herr Harry Worthmann – Sie zu verhaften!‹
»Das war bestimmt und mit fester Stimme gesprochen. Aber die Worte, die schon so manchen vor Verfolgung zitternden Verbrecher erbeben machten, schienen keinen Schrecken zu haben für diesen Mann. Beinahe liebenswürdig schien das ironische Lächeln seiner dünnen Lippen, als er sagte: ›Sind das nicht Ihre Geschäfte, Herr Rat? Nicht wahr, so völlig unrecht hatte ich ja nicht – –?‹
»Und als der Polizeirat, betreten durch diese seltsam weltmännische Aufnahme, einen Augenblick fragend aufsah, fuhr Sidney Jones fort: ›Sehen Sie, Herr Rat, ich habe das seit Tagen gewußt, daß meine Partie verloren war – seit der Stunde, da mir Ihr vortrefflicher Mitarbeiter‹ – er verbeugte sich leicht gegen mich – ›meine jüngste Schülerin sandte. Ich hatte eben seinerzeit das furchtbare Unglück, mich in einem komplizierten Falle quantitativer Wahrscheinlichkeitsbestimmung arg zu verrechnen – das war mein Verderben – das war auch später nicht mehr gutzumachen, und das hat sich gerächt – –!‹ Eine düstere Falte schnitt sich in seine hohe Stirne, und er schwieg ein paar Sekunden lang. Dann aber raffte er sich jäh wieder aus diesem Sinnen: ›Pardon,‹ sagte er, ›müssen wir das wirklich zwischen Tür und Angel besprechen? Darf ich die Herren nicht doch bitten, einzutreten?‹
»Mein Chef schüttelte leise den Kopf, aber unwillkürlich klang dann, als er sprach, auch seine Stimme viel höflicher und mehr entgegenkommend als sonst, wenn er im Dienste mit überführten Verbrechern zu tun hatte.
»›Danke – ich wüßte auch nicht, was für Dinge das wären, die wir jetzt hier besprechen sollten; ich glaube, alles das, was noch erübrigt, werden Sie uns ja wohl auch im Polizeigebäude in Gegenwart des Untersuchungsrichters sagen. Jetzt aber – –‹
»Sidney Jones zuckte die Achseln und lächelte wieder. Ein überlegener, wissender Zug war dabei in seinem Gesichte – halb Spott und halb Resignation.
»›Meinen Sie, Herr Rat? Nun, wie Sie wollen, ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen – die ganze Sache war für mich nicht mehr zu halten, das habe ich mir schwarz auf weiß erst heute nacht berechnet, Sie haben alle Chancen für sich, und ich für meinen Teil gebe es auf. Aber trotzdem – wenn ich Ihnen raten darf, so kommen Sie. Ich bin gerade jetzt in einer Laune, über manches zu sprechen, das nach dieser Stunde‹ – er stockte und wiegte sinnend den Kopf – ›sicher nicht mehr über meine Lippen kommen wird –‹
»Wieder wies er mit einer einladenden Geste nach dem Flur seiner Wohnung, und diesmal folgte der Polizeirat nach einem kurzen Blick auf mich.
»Sidney Jones öffnete die Tür seines Arbeitszimmers und hieß uns eintreten. Im Lichte einer kleinen Petroleumlampe, die zwischen einer Anzahl von Büchern neben einem geleerten Wasserglase und einer Karaffe, auf dem heute scheinbar mit Sorgfalt aufgeräumten Tische stand, lag der stille, düstere Raum.
»Auf einen Wink des Polizeirates blieben die beiden mit uns gekommenen Agenten im Flure der Wohnung zurück. Dann schloß der Polizeirat selbst die Tür und wendete sich an den Sprachlehrer, den nun doch eine Schwäche ergriffen hatte, denn er stand bleich und still mit fest geschlossenen Händen gegen die Wand zurückgelehnt.
»›Herr Jones,‹ sagte mein Chef, ›Sie sehen, daß ich auf Ihren Vorschlag eingehe: jetzt sprechen Sie – wir haben keine Zeit unnütz zu verlieren.‹
»Da richtete sich der Sprachlehrer gerade auf, nickte und sagte: ›Ganz recht, Herr Rat, auch meine Zeit ist knapp, wenn Sie gestatten, wollen wir uns setzen, dann sage ich Ihnen gern das, was Ihnen jetzt an Wissen über mich und meine Schicksale noch fehlen mag. Und wenn es Ihnen recht ist, so will ich mich dieses letzte Mal, daß ich in meinem Arbeitszimmer hier verweile, in den bequemen, niederen Fauteuil dort setzen. Die Sache ist doch mehr angreifend, als Sie glauben mögen. – – Sehen Sie, dort habe ich schon fürsorglich ein paar Stühle zurechtgestellt – wenn es Ihnen beliebt – –? Ja – und wenn die Herren sich etwa Notizen machen wollen – –? Ein Plauderstündchen hier bei mir bietet bisweilen doch manche Anregung und manche Überraschung – nicht wahr, Herr Plank? O ja, Herr Rat, wenn auch Ihr liebenswürdiger Mitarbeiter jetzt so ernst vor sich hin schaut, glauben Sie mir, er schätzt mich, und er schätzt auch eine solche Dämmerstunde – –.‹
»Sidney Jones war mit schweren Schritten auf den Fauteuil zugegangen und hatte sich niedergelassen. Der Polizeirat und ich nahmen auf zwei Stühlen ihm gegenüber Platz.
»Und nach einer kleinen Pause, in der der Sprachlehrer gesenkten Hauptes auf seine langen Hände blickte, als müßte er die Nägel seiner Finger genau studieren, hob er mit einem Male den Kopf und begann: ›Harry Worthmann – der Herr Rat hatte früher die Freundlichkeit, mich so zu nennen – nun, er hätte es gerade so bei dem mir jetzt geläufigeren ›Sidney Jones‹ belassen können: denn jenes war eine Episode meines Lebens, wie dieses eine Episode meines Daseins ist. Einzig als Zeichen dafür, daß Herr Plank ein keineswegs zu unterschätzender Gegner war, hat mich die Anrede angenehm berührt – denn, nicht wahr, es ist weniger bitter, daß wir unterliegen, wenn unsere Gegner sich als tüchtig zeigen. – – Mein Vatername ist weder Jones noch Worthmann – in Wahrheit heiße ich Anderson Gray!‹
»›Anderson Gray?!‹ Als eine jähe Frage war mir der Ausruf entschlüpft. ›So hieß doch jener Mineningenieur im Staate Kansas, von dem der Doktor Dorn uns heute sprach, der Mann, der von seinem hypnotisierten Diener Mac Donald den Farmer Thomas Patton ermorden ließ – –?‹
»Der Sprachlehrer nickte. Ein bösartiges Zucken ging um seinen Mund, da ich den Namen ›Patton‹ nannte. Dann aber schwand das, und er nahm mir mit einem harten, zustimmenden Lächeln das Wort vom Munde: ›– – und der vom supreme court – vom Obergerichtshof würde man hier wohl sagen? – im Anschlusse an diesen Vorgang zum Tode verurteilt worden ist. – Ja – das ist eine Reihe von Jahren her – –. Es würde Sie langweilen, wenn ich bei diesem Falle länger verweilen wollte, und unsere Zeit ist gemessen. Wenn Sie jedoch besonderes Interesse auch dafür haben, so mögen Sie sich die Akten von drüben kommen lassen. Sie werden daraus sehen, daß dieser Patton der größte Schuft gewesen ist, der je auf Erden ging – ein Schurke, der ergebene Freundschaft gegen mich geheuchelt hat und der mir dann das Einzige stahl, was ich besessen habe – –. Und weil ich selber mich zur Rache an dem Weib aufsparen mußte, darum habe ich damals meinen Diener gegen ihn gesendet –. Genug davon – –
»›Sie wissen, daß es mir gelungen ist, wenige Tage vor Vollziehung des gegen mich erlassenen Todesurteils aus meinem Kerker auszubrechen. In jener selben Nacht, in der ich mich damals befreite, habe ich mich an jenem Weibe gerächt. Man hat es nie erfahren, was aus ihr geworden ist – – ich weiß es – –!‹
»Er schwieg einen Augenblick mit haßverzerrtem Gesicht. Plötzlich fuhr er jäh mit der Hand nach seinem Herzen. Es war, als hätte ein körperlicher Schmerz ihn ergriffen. Einen Augenblick saß er so völlig still, mit einem Ausdruck im Gesicht, als lauschte er nach innen; dann sprach er weiter.
»›Ich bin verfolgt worden wie ein gehetztes Tier. Dutzende Male war man mir so nahe, daß jede Aussicht auf ein weiteres Entkommen geschwunden schien – ich bin ihnen dennoch entwischt. Es ist mir gelungen, auf ein Schiff zu gelangen und nach Europa herüberzufahren. In London glaubte ich in den Millionen untertauchen zu können – aber man war auch hier hinter mir drein. Ich wußte, daß man nach mir spürte, und ich getraute mich kaum mehr aus meinem kleinen Zimmer, das ich in Piccadilly gemietet hatte. Schlaflose Nächte waren das, in denen ich mir das Gehirn zermartert habe nach einem Ausweg, nach einer Möglichkeit, mich den Verfolgern zu entziehen. – – Und eine solche Nacht war es, in der mir der Gedanke gekommen ist, der mich dann nicht mehr losgelassen hat. –
»›Kennen Sie Bedlam? Seit wohl fünfhundert Jahren werden dort die Irren aufgehoben – gut aufgehoben, kann ich Ihnen sagen – und wer erst hinter diesen Mauern ist, der ist geborgen vor den Menschen draußen. Wenn mir's gelang, in Bedlam Aufnahme zu finden?! Das wäre ein Asyl gewesen, wie ich mir sicherer kein anderes wünschen könnte! Wie ich mich später, wenn das Suchen draußen erst nachgelassen hatte, wieder befreien wollte, das sollte dann schon meine Sorge sein! – Erst habe ich mit dem Gedanken nur gespielt; es war mir noch nicht Ernst darum, als ich eines Morgens in eine von den öffentlichen Bibliotheken schlich und mir ein Handbuch der Psychiatrie dort geben ließ. Stundenlang habe ich es studiert, und je mehr ich mich in die Wesenheit der Krankheitsbilder vertiefte, um so mehr reiften meine Gedanken zum Entschluß. – – Habe ich Ihnen gesagt, daß ich von Beruf Ingenieur war? – Mineningenieur – –? Sehen Sie, damals, in den Tagen, als ich halb wahnsinnig vor Aufregung, gehetzt und keinen Augenblick vor der Entdeckung sicher, den Plan meiner Flucht hinter die Mauern Bedlams wälzte – damals hat mir das Schicksal zum ersten Male den Sinn auf ein Gebiet gerichtet, auf das ich dann mein ganzes Leben stellen konnte!
»›Aber nicht als ein Verstehender habe ich damals dieses Große aufgenommen – nein, wie ein Kind war ich, das eine goldene Kugel aus dem Straßenkote nimmt – nur weil sie glitzert. Und später erst, hinter den Mauern erst, ist mir dann das Begreifen aufgedämmert, daß hinter dem, was mir allein als Mittel zur Erreichung meines Zieles dienen sollte, die Wege zu der Lösung aller Rätsel unseres Daseins stehen! – So kam es, daß ich eines Tages in der belebten Great Russell Street – gerade vor dem ›British Museum‹ – auf einem Treppenansatz stand und der um mich sich ansammelnden Menge mit großen Worten einen Vortrag darüber hielt, wie leicht es möglich wäre, die künftige Gestaltung der englischen Kolonialpolitik durch ein entsprechendes System mathematisch exakter Wahrscheinlichkeitsberechnungen auf unbegrenzte Zeiten vorauszubestimmen. Ich wies auf die Gefahren hin, die für das Königreich aus dieser im Auslande längst bekannten Tatsache erwüchsen, ich stellte ausführlich die mathematischen Methoden dar, die man dort anwendete – – bis mich zwei Policemen in ein Cab packten und nach New Scotland Yard, dem Hauptpolizeiamt von London – und da ich dort die untersuchenden Beamten in gleicher Weise wie die Menge der Great Russell Street belehrte – am selben Tage noch nach Bedlam brachten.
»›Dort hatte ich als Harry Worthmann über ein Jahr verbracht, und niemand hat in mir den zum Tode verurteilten Verbrecher Anderson Gray aus Kansas vermutet – –‹
»Sidney Jones hielt wiederum ein. Sein Atem ging schwer und keuchend, und eine tiefe Erregung zitterte in ihm. Dann strich er sich mit seinen langen Fingern über die Stirne hin und sprach aufs neue.
»›Ja – dort in Bedlam habe ich die große Wahrheit dann gefunden. Wie es kam? Ich sagte ja, daß ich als Simulant mir Eintritt schaffte. Ich habe dann, um meine Wächter dort zu täuschen, mich weiter mit Ideen der Wahrscheinlichkeitsrechnung beschäftigt – und dabei kam es, daß ich fand, wie hinter dem, was ich als unsinnige Narrheit aufgenommen hatte, die Wahrheit stak! Von da ab habe ich die Welt mit neuen Augen gesehen. Ein Jahr lang war ich in diesem Hause – die Hetzjagd, die man draußen nach mir losgelassen hatte, mochte beendigt sein. Ich war für die Gerichte vergessen und verschollen – jetzt mußte ich frei werden, denn jetzt standen unbegrenzte Ziele vor mir! Und mittels meiner mathematischen Methode habe ich mich befreit. – Alles war genau berechnet, jede Chance für und wider erwogen – und meine Flucht gelang. Als ich außerhalb der Mauern war und ganz erfüllt von Aufregung auf meine auffälligen Anstaltskleider niederblickte, dann wieder spannungsvoll ins Dunkel vor mir lauschte, da kam im selben Augenblick, für den ich das vorher berechnet hatte, ein Mann die Burman-Street herunter auf mich zu – –‹
»›Sidney Jones?‹
»Der Sprachlehrer blickte mich fragend an.
»›Sie kennen den Zusammenhang? Ja – Sidney Jones – ein Diamantenmakler aus Milwaukee, wie ich später las. In jenem Augenblicke war er für mich allein ein Mensch, der unauffällige Kleider trug! Ich habe ihn nicht morden wollen – ich wollte ihn allein am Schreien hindern – – aber er starb. – – In seinen Kleidern bin ich dann geflohen – nein, nicht geflohen – ruhig weggegangen. In einem kleinen Boarding House im Westen Londons, in dem kein Mensch nach meinem Namen fragte, habe ich mich am nächsten Tage eingemietet, und als dann ein paar Wochen hingegangen waren, bin ich nach Oxford übersiedelt und habe dort Wohnung genommen. Ein Jahr lang habe ich nur meiner Wissenschaft gelebt. Niemand hat mich in dieser Zeit belästigt – Sie wissen ja, daß man das unbequeme Meldewesen in England nirgend kennt. Die Werke Bertrauds, Poincarés und Cournots, die Schriften Gauß', Todhunters und Venns sind damals Monate hindurch mein einziger Umgang gewesen. Ich habe ihre Höhe bald erreicht und überflügelt, und was keinen von diesen Vorläufern auf meinen Bahnen eingefallen ist, das habe ich in dieser Zeit gewagt und in ein herrliches System gebracht! Ich habe in diese exakten Phantasieen, in diese gigantischen Kunstbauten aus bloßen Zahlenwerten das Leben selber statt der toten Ziffern eingeführt – ich habe die zusammengesetzte Wahrscheinlichkeitsberechnung zu einer Höhe ausgebaut, die mir mit Sicherheit den Blick in die Entwicklung aller Dinge erschloß, die mir in nicht zu ferner Zeit ermöglicht hätte, die letzten Welträtsel mit ihr zu lösen!‹
»Wieder eine Pause, in der nur sein Atem schwer auf und nieder ging.
»Verstohlen hatte ich mit meinem Chef, dem Polizeirat, der gleich mir aufs äußerste gespannt den Ausführungen folgte, einen Blick gewechselt. Ich las in seinen Augen dasselbe Verständnis für die Tragik dieses Verbrecherschicksals, das auch mich erfüllte. Als ›unsinnige Narrheit‹ hatte Sidney Jones diese Gedanken einstmals aufgegriffen, um aus dem Bereiche seiner Häscher nach Bedlam zu gelangen, und dort im Kreise all der Hunderte von Irren hatte dieselbe Narrheit ihn umklammert und nicht mehr losgelassen!
»Sidney Jones hatte die Hand an das Herz gepreßt, seine Stimme klang heiser und stoßweise, als er weiter sprach.
»›In Oxford ging mein Geld zu Ende. Ich mußte neues haben, wenn ich meine Studien weiterführen wollte. Da beschloß ich, meine Sprachkenntnisse zu verwerten und nach Wien zu gehen. Hier in der Wohnung, in der wir jetzt sitzen, habe ich mich vor zwei Jahren als ›Sidney Jones‹ eingemietet. Ich habe die Papiere, die ich in dem Rock des Diamantenmaklers damals gefunden hatte und die ich noch besaß, jetzt vorgesucht – wer sollte noch an diese alte Sache denken! Ich habe hier in Wien dann Sprachstunden gegeben und an meiner Theorie gearbeitet – aber ich kam nicht weiter. Die Stunden nahmen mir alle Zeit und Kraft. Ich habe mich zermürbt dabei und aufgerieben. Und eines Tages kam das Sonderbare – –‹
»Er schwieg und schloß für einen Augenblick die Lider. Ganz weiß war sein Gesicht, und seine Lippen preßten sich zusammen.
»Und der Polizeirat sagte: ›Es strengt Sie an, so viel zu sprechen – Sie sind nicht wohl – –‹
»›Ich muß zu Ende kommen – –. Eine Schülerin war es, die, wie ich so über den Tisch hinweg mit ihr gesprochen und sie scharf angesehen habe, in diesen traumartigen Zustand fiel – –. Ganz jäh – – daß mir auf einmal das Bild meines Dieners Mac Donald aus Kansas wiederum vor Augen stand, der damals diesen Schuft, den Thomas Patton – –. Nun ja – also da ist mir der Gedanke gekommen. Sie hatte Geld – sie war aus gutem Hause, sie konnte ein paar hundert Gulden wohl abgeben. – Und was in diesem ersten Falle durch Zufall kam, das habe ich dann später mit Absicht und Methode bei anderen Schülern herbeigeführt. Ich wollte so viel Geld zusammenkriegen, daß ich allein nur meinen Studien leben konnte – –‹
»›Aber Sie haben Ihre Schüler ja nicht nur beraubt, Sie haben sie ja geradezu zu Verbrechen gezwungen!‹
»›Verbrechen – –? Nun ja – –. Man hört von einem, daß er Bankbeamter ist und große Gelder zu verwalten hat. Man hat die Mittel in der Hand, ihn zu veranlassen, daß er von diesen Geldern einen Teil zu unseren Gunsten unterschlage. Und niemand kann es je erfahren, daß hinter diesem Burschen ein anderer steht – –. Denn daß die Pläne, die ich mathematisch exakt und mit Berücksichtigung jeder Chance für meine Automaten ausgearbeitet habe, daß die die sichersten und besten sind, die je ein Hirn erdacht hat – das wissen Sie so gut wie ich! – – Oder man liest von einem Diamantschmuck von großem Werte, der als ein totes Kapital in einer Kirche an einem Marienbilde hängt – –. Man sieht die Sache an und macht sich einen Plan. Ein jeder Schritt, den unsere Puppen machen dürfen, wird berechnet, jede Minute Zeit wird festgelegt. Was ungünstig erscheint wird durch erhöhte Gegenchancen ausgeschieden – –. O, das macht Arbeit – manche Nacht habe ich mich an diesem Tisch bis in die Morgendämmerung gequält! Aber es macht auch Freude, wenn man dabei methodisch Schritt für Schritt dem Ziele näher kommt. Und dann ist man so weit, daß man die Püppchen an die Arbeit senden kann, und alles rollt sich ab wie Räder in dem Werke einer Uhr – –. Und geht es einmal fehl – mein Gott, wer von uns ist unfehlbar, und wem kann nicht einmal ein kleiner Fehler, ein Versehen unterlaufen? – so hält die Polizei nichts weiter als eines meiner Püppchen, und niemand denkt an mich, der ich hier oben inzwischen längst an neuen Plänen schaffe – –‹
»Er hielt ein und strich sich mit der Hand über die Stirne. Etwas Gequältes, Müdes trat jetzt in seine Züge.
»›Und dann habe ich diesen dummen, großen Rechenfehler übersehen – ich hätte diesen Hermann Angerer bei dem Verkauf der Steine nicht verwenden dürfen! Alles ging gut und glatt, genau nach der Berechnung, und keiner von den anderen, die ich bei diesem Falle in der Stephanskirche noch mitverwendet habe, hat man entdeckt – nur den – und der hat Sie auf meine Spur gebracht – –. Als der Herr Plank hier mich zum ersten Male besuchte, da wußte ich, daß jetzt ein Kampf aufs Messer zwischen ihm und mir entbrennen würde – –. Anfangs war ich im Vorteil – da hoffte ich, die Folgen jenes Fehlers noch aus der Welt schaffen zu können – Unsinn! Als ob sich mathematische Konsequenzen beugen ließen – als ob man eine Flintenkugel, die abgeschossen ist, mit bloßen Händen halten könnte in ihrem Fluge – –‹
»Er schüttelte versonnen den Kopf, sah dann zu mir herüber und versuchte zu lächeln. Aber es war nur das leise Grinsen eines wachsbleichen Gesichts, was ich sah.
»›Nun, ich habe in dem Kampf getan, was möglich war,‹ sagte er. ›Und als ich klar erkannte, daß mein Part verloren war, da wollte ich doch wenigstens noch dafür sorgen, daß Sie nicht allzuviel Freude mehr haben sollten über mein Unterliegen – –. Sie wissen ja: daß Sie jetzt hier mir gegenübersitzen – das ist nicht meine Schuld – –‹
»Seine scharfen, grünen Augen ruhten auf meiner Hand und auf dem Pflaster, das ich trug.
»›Sie hat wohl fehlgeschossen?‹ fragte er.
»›Ja.‹
»Er zuckte mit den Achseln.
»›Ich könnte sagen, daß die Angelegenheit zu übereilt von mir betrieben werden mußte –. Wenn ich das Mädel besser dressiert hätte – – wer weiß – –. Aber schließlich ist's doch allein der Rechenfehler, der sich an mir rächt. Wäre der mir damals nicht unterlaufen – –. Sie hätten mich niemals entdeckt!‹
»Er schwieg.
»Der Polizeirat hatte sich erhoben.
»›Herr Gray – sind Sie zu Ende?‹
»Da lächelte der Mann in dem Fauteuil wieder so grinsend wächsern, daß es mehr ein Verzerren der Muskeln als ein Lächeln war, und zog mit Mühe seine Uhr.
»›Zu Ende? Ja – nur um vier oder fünf Minuten Geduld muß ich noch bitten – dann werde ich zu Ende sein – –. Und da ich doch nicht weiß, ob die Herren Freunde von Überraschungen sind – – ich habe, als Sie kamen‹ – sein Blick ging nach dem Glase auf dem Tische – ›ein Herzgift eingenommen, das ich ziemlich genau auf Zeit dosieren kann. Ich glaube nicht, daß ich Sie werde warten lassen müssen – –‹
»Ich war zur Tür geeilt, während der Polizeirat voll Schrecken nach dem Glase griff – aber ein Blick des Sprachlehrers hielt uns beide.
»›Nein – bleiben Sie – es wäre wirklich zwecklos. Ja – was ich doch noch sagen muß! Ich habe alle meine Berechnungen und meine mathematischen Schöpfungen heute verbrannt – – denn wenn ich selber nicht den letzten Schluß aus meinen Studien ziehen kann, dann soll das auch kein anderer! Aber dort die beiden kleinen Schlüssel – sehen Sie – die öffnen Ihnen mein Safe – mein Schrankfach – in der Stahlkammer der ›Österreichischen Staatsbank‹. Der Staat bietet uns kleinen Kapitalisten doch mehr Sicherheit als irgend eine private Bankgesellschaft.‹
»Wieder ein mühsames Verziehen des Gesichts.
»Wohl eine Minute ging, ohne daß er weitersprach. Er hatte die Hand an das Herz gedrückt und den Oberkörper nach vorne zusammengebeugt. Dann stieß er noch einmal ein paar Sätze hervor.
»›Was Sie dort finden? Eine Aufstellung meines Vermögens und die Papiere – eine Liste der Schüler, die mir gedient haben – –. Wissen Sie jetzt, Herr Plank, warum Sie hier bei mir vergeblich suchten –?‹
»Der Polizeirat war zu ihm getreten und versuchte ihn zu stützen – aber der Sterbende schüttelte den Kopf.
»›Zu dumm – zu dumm – –‹ stieß er hervor. ›Ein Rechenfehler – – daran stirbt man – – – und so nah war ich schon der Lösung – – so nah – –‹
»Er reckte sich, und seine langen Arme fuhren vor, und seine Finger krallten in die Luft, als wollten sie nach etwas greifen, das da vor ihm schwebte – – dann sank er jäh zusammen – er war tot. – –
»Erschüttert haben wir damals in diesem kleinen Raum gestanden, der so viel furchtbare Verbrechen des Mannes gesehen hatte, der jetzt still und verstummt in dem Polsterstuhle lag.
»Wir haben dann die Schlüssel an uns genommen, die zwei Agenten als Wache bei dem toten Sprachlehrer zurückgelassen und sind hinweggegangen, um im Polizeigebäude das für die Akten aufzuzeichnen, was uns der Tote als Beichte seines Lebens zurückgelassen hatte. Wahnsinn und Verbrechen – so eng verschlungen, daß man nicht hüben und nicht drüben trennen konnte – ein Schicksal furchtbar und ergreifend wie wenige –!
»Das war der Fall des ›Puppenspielers‹, wie wir den Mann dann in den Akten nur noch nannten! –«
Richard Plank hielt ein in seiner Darstellung und sah mit in die Ferne schauenden Augen vor sich hin. Er war ergriffen von den Bildern der Erinnerung, in denen er in jenen Jahren seiner Arbeit als Detektiv als wirkende Kraft selbst gestanden hatte. Lange schwieg er, dann strich er sich mit seiner Hand an den Schläfen hin und wiegte den Kopf.
»Was dann noch weiter zu der Klärung des Falles nötig war? Mein Gott – es hat sich beinahe alles von selbst ergeben. – Wir haben in dem Schrankfache der Bank diese Papiere in der Tat gefunden – sie waren uns die beste Hilfe bei den Nachforschungen. Wer da genannt war und in Untersuchungshaft sich fand, wurde sogleich auf freien Fuß gesetzt – und auch die Täter aller unentdeckten Fälle haben wir so gefunden. Sie alle wurden straflos und auf freiem Fuß gelassen – die ganze weitverzweigte Reihe von Verbrechen ist niemals zur Verhandlung vor dem Strafrichter gekommen. Der einzig Schuldige war tot – er hatte sich der Gerechtigkeit, vielleicht auch nur dem dauernden Gefängnis eines Irrenhauses entzogen –.
»In den Blättern hat später unser Doktor Dorn eine wissenschaftliche Darstellung des merkwürdigen Falles gegeben. – Daß die geraubten Gelder an die Verlustträger nach Möglichkeit zurückgegeben wurden, brauche ich nicht zu sagen. – Bleibt noch der Kreis von eng beteiligten Personen, von denen ich Ihnen gesprochen habe.
»Der Hermann Angerer und Anna Hoffmann haben sich wenige Monate nach Abschluß jener Untersuchungen geheiratet. Als sie ein Jahr darauf die Taufe eines Buben feiern konnten, hab' ich selbst den kleinen Kerl über das Taufbecken gehalten.«
Richard Plank griff langsam vor nach seinem Römer. Er hob das Glas und trank den Rest, der da noch goldgelb in dem Licht der Lampe schimmerte.
Dann stand er auf und trat aufs neue zum Fenster hin. –
Draußen sanken jetzt weiche, weiße Flocken in stillem Wiegen durch die Winternacht. Der Mond schien silberblau auf Baum und Strauch, die unberührt und unbewegt in ihren winterlichen Decken standen.
Und Richard Plank sah lange in das Sinken der weichen Flocken, die alle harten Linien so verdeckten, und sagte leise: »Wie das Leben ist es – wie die Zeit. Alles deckt sie zu und alles, was so scharf gewesen ist und grausam, das mildert sie und macht es weicher in unserer sinnenden Erinnerung – –. Der ›Puppenspieler‹! – Wie der Kampf aufs Messer selbst ist mir der Mann damals erschienen. Und heute –?« – er lächelte ein wenig vor sich hin – »heute gedenk' ich seiner – beinahe wehmütig – – denn damals stand ich selber noch frisch in all dem Treiben – –.«
Er kam zu mir, blieb vor mir stehen und reichte mir mit einer jähen Bewegung seine Hand.
»Leben Sie wohl, für heute!« sagte er. »Ich muß allein sein jetzt – ich muß ein Stück durch diese stille Einsamkeit da draußen gehen.«
Ich drückte seine Hand. Er ging.
Und ich saß still noch manche Stunde und sah den Fall der Flocken vor dem Fenster und sann den wunderbaren Dingen nach, die mir mein Freund Richard Plank an diesen Abenden hatte erstehen lassen.
Ende.
* * *