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Cyranos Wochenchronik
Fünfzehn Jahre später: 1655. Der Klostergarten der Nonnen vom Orden des Kreuzes, in Paris.
Stattliche Bäume. Links das Haus, mit mehreren Türen und einer breiten Freitreppe. In der Mitte der Bühne steht isoliert ein mächtiger Baum, als Mittelpunkt eines kleinen ovalen Platzes. Rechts vorn, zwischen Buchsbaumhecken, eine halbkreisförmige Steinbank.
Längs des ganzen Hintergrundes zieht sich eine Allee von Kastanienbäumen und mündet rechts hinten bei der Tür einer aus dem Laubwerk hervorschimmernden Kapelle. Hinter der doppelten Baumreihe sieht man weite Rasenflächen, andere Alleen, Bosketts, den Himmel. Eine kleine Seitenpforte der Kapelle führt in einen mit rotem Weinlaub übersponnenen Säulengang, welcher sich rechts vorn hinter den Hecken verliert.
Es ist Herbst. Alles Laub über dem frischgrünen Rasen ist rot. Buchs und Taxus heben sich wie dunkelgrüne Flecken davon ab. Unter jedem Baum liegen welke Blätter; sie bedecken die ganze Bühne, rascheln unter den Schritten und lagern zahlreich auch auf der Freitreppe und den Bänken.
Zwischen der Bank vorn rechts und dem Baum ein großer Stickrahmen; davor ein kleiner Stuhl. Körbchen voll Strähnen und Knäueln; angefangene Stickerei. Beim Aufgehen des Vorhangs Kommen und Gehen der Nonnen; einige sitzen auf der Bank; in ihrer Mitte eine ältere Klosterfrau. Welke Blätter fallen.
Mutter Marguerite. Schwester Marthe. Schwester Claire.
Nonnen.
Schwester Marthe
(zu Mutter Marguerite).
Ich sah, daß Schwester Claire heut in den Spiegel blickte,
Wie ihr das Häubchen steht.
Mutter Marguerite
(zu Schwester Claire).
Sehr unrecht, freilich!
Schwester Claire.
Ich sah, wie Schwester Marthe am Kuchen pickte
Und eine Pflaume nahm.
Mutter Marguerite
(zu Schwester Marthe).
Sehr unverzeihlich!
Schwester Claire.
Ein Blickchen nur!
Schwester Marthe.
Ein Pfläumchen nur, ganz klein.
Mutter Marguerite.
Heut abend sag ich's Herrn Cyrano.
Schwester Claire
(erschrocken). Nein!
Dann wird er spotten!
Schwester Marthe.
Daß kokett die Nonnen ...
Schwester Claire.
Naschhaft ...
Mutter Marguerite
(lächelnd). Und liebreich.
Schwester Claire.
Mutter Marguerite,
Seit wieviel Jahren lenkt er seinen Schritt
Allwöchentlich hierher?
Mutter Marguerite.
Schon vierzehn sind verronnen,
Seit seine Base, jedem Troste feind,
Mit unsern Leinwandhäubchen hat vereint
Ihr dunkles Witwenkleid, wie wenn ins Bauer
Ein schwarzes Vöglein fliegt zu lauter weißen.
Schwester Marthe.
Nur er kann sie der unstillbaren Trauer,
Der sie sich hier im Kloster weiht, entreißen.
Alle Schwestern.
Wir sehn ihn gern! Wie spaßig er doch ist!
Stets heiter! Und wie drollig er uns neckt!
Zum Danke backen wir für ihn Konfekt.
Schwester Marthe.
Ich zweifle nur, ob er ein guter Christ.
Schwester Claire.
Wir wollen ihn bekehren!
Die Schwestern.
Ja!
Mutter Marguerite.
Kein Wort!
Ihr dürft nicht ins Gebet ihn nehmen, Kinder;
Denn falls ihr ihn belästigt, bleibt er fort.
Schwester Marthe.
Und Gott ...?
Mutter Marguerite.
Je nun, Gott kennt ihn drum nicht minder.
Schwester Marthe.
Doch jeden Samstag kündet er uns Schwestern
Mit Stolz: »Ich habe nicht gefastet gestern.«
Mutter Marguerite.
Der Ärmste! Wisset, ich vernahm, er faste
Oft tagelang.
Schwester Marthe.
Warum?
Mutter Marguerite.
Aus Not.
Schwester Marthe.
Sie glauben?
Von wem erfuhren Sie's?
Mutter Marguerite.
Von Herrn Le Bret.
Schwester Marthe.
Hilft niemand ihm?
Mutter Marguerite.
Er würd' es nicht erlauben.
(In der Allee wird Roxane sichtbar, schwarz gekleidet, mit Witwenhaube und langem Schleier. Guiche, gealtert und prunkvoll, geht neben ihr. Sie schreiten langsam. Mutter Marguerite steht auf.)
Nun aber kommt hinein! Mit einem Gaste
Lustwandelt Frau Madeleine in der Allee.
Schwester Marthe
(leise zu Schwester Claire).
Ist das der Herzog von Grammont?
Schwester Claire
(hinschauend). Ja, richtig.
Schwester Marthe.
Lang blieb er fern.
Die Schwestern.
Sein Amt ist zu gewichtig!
Der Dienst bei Hof! Der Krieg!
Schwester Claire.
Weltliche Sorgen!
(Sie gehen ab. Guiche und Roxane kommen schweigend nach vorn, bleiben in der Nähe des Stickrahmens stehen. Pause.)
Roxane. Herzog von Grammont, einstiger Graf Guiche.
Dann Le Bret, Ragueneau.
Herzog.
Bleibt Ihre Jugend stets der Welt verborgen?
Stets trauernd?
Roxane.
Stets.
Roxane.
Auch das.
Herzog
(nach einer Pause). Und mir
Vergaben Sie noch nicht?
Roxane
(neue Pause). Das lernt man hier.
Herzog.
War er so einzig?
Roxane.
Oh, man mußt' ihn kennen!
Herzog.
Mag sein. Ich kannt' ihn kaum. Und niemals trennen
Sie sich von seinem letzten Brief?
Roxane.
Beständig
Auf meinem Herzen ruhn die teuren Zeilen.
Herzog.
Sie lieben noch den Toten?
Roxane.
Ja, zuweilen
Glaub ich, daß ihn der Tod mir nicht entriß;
Denn seine Lieb' umschwebt mich wie lebendig.
Herzog
(nach einer neuen Pause).
Und kommt Cyrano manchmal?
Roxane.
O gewiß.
Der alte Freund ersetzt für mich die Zeitungsblätter.
Hier unterm Baum hat er bei schönem Wetter
Sein Lieblingsplätzchen. Ich erwart ihn stickend,
Und pünktlich mit dem Glockenschlage stets
Erkenn ich seinen Schritt, kaum aufwärts blickend.
Er spottet meiner ew'gen Stickerei,
Setzt sich und plaudert und erzählt dabei
Die Wochenchronik ...
(Le Bret erscheint auf der Freitreppe.)
Herr Le Bret!
(Le Bret kommt herab.) Wie geht's
Dem Freunde?
Le Bret.
Schlecht.
Herzog.
Oh!
Roxane
(zum Herzog). Nein, er übertreibt!
Le Bret.
Vereinsamung und Not so mußt' es kommen!
Nur neue Feinde schafft ihm, was er schreibt!
Er greift die Stutzer an, die falschen Frommen,
Maulhelden, Pfuscher kurz, die ganze Welt!
Roxane.
Er ist gefeit; sein unbesiegter Degen
Schreckt jeden Feind.
Herzog
(achselzuckend). Das sei dahingestellt.
Le Bret.
Nicht seine Händel sind's, die mich erregen.
Ich kenne weit gefährlichere Dränger:
Frost, Einsamkeit und der Entbehrung Jammer
Ziehn heimlich ein in seine dunkle Kammer!
Schon schnallt er täglich seinen Gürtel enger;
Die Farbe seiner armen Nase gleicht
Dem Pergament; sein Rock ist abgetragen ...
Herzog.
Beklagt ihn nicht! Er hat nicht viel erreicht;
Jedoch ...
Le Bret
(mit bitterem Lächeln). Herr Marschall!
Herzog.
Ist er zu beklagen?
Er konnte stets auf eignen Füßen stehn
Und blieb von Rücksicht und von Zwang befreit.
Le Bret
(wie oben).
Herr Herzog!
Herzog
(hochmütig). Ja gewiß, ich bracht' es weit;
Er nicht. Doch schätz ich ihn.
(Zu Roxane.) Auf Wiedersehn!
Roxane.
Ich führe Sie.
(Der Herzog grüßt Le Bret und wendet sich mit Roxane der Freitreppe zu.)
Herzog
(bleibt, während sie die Stufen hinansteigt, stehen).
Fast könnt' ich ihn beneiden.
Denn wer zum Ziel der kühnsten Wünsche kam,
Muß, auch wenn schwere Schuld ihn nicht belastet,
Vom eignen Herzen manchen Vorwurf leiden;
Nicht Reue fühlt er, aber leise Scham.
Dieweil von Stufe man zu Stufe hastet,
Schleift unsres reichen Herzogmantels Schleppe
Ein Heer von toten Illusionen mit,
Wie jetzt Ihr Trauerkleid bei jedem Schritt
Die welken Blätter nachzieht auf der Treppe.
Roxane
(ironisch).
Plötzlich so träumerisch?
Herzog.
Ja.
(Im Begriff, abzugehen, kurz.) Herr Le Bret!
(Zu Roxane.)
Vergebung!
(Er geht zu Le Bret; halblaut.)
Ihren Freund zu fordern wagt
Wohl keiner; aber vielen tat er weh.
Gestern bei Hof hat jemand mir gesagt:
»Dieser Cyrano scheint mir seines Lebens
Nicht sicher.«
Le Bret.
Ah?
Herzog.
Drum dürft' ihm Vorsicht frommen.
Le Bret
(die Arme zum Himmel hebend).
Vorsicht! Ich werd ihn mahnen; doch vergebens!
Roxane
(welche noch auf der Freitreppe steht, zu einer auf sie zukommenden Schwester).
Was gibt's?
Die Schwester.
Herr Ragueneau.
Roxane.
Er möge kommen.
(Zum Herzog und zu Le Bret.)
Längst bilden nur noch Klagen sein Programm.
Als Autor jäh gescheitert, ward er schnell
Schauspieler ...
Le Bret.
Bader ...
Roxane.
Organist ...
Le Bret.
Pedell ...
Roxane.
Barbier ... Was er wohl jetzt ist?
Ragueneau
(erregt und eilig eintretend). Oh, Madame!
(Er begrüßt Le Bret.)
Roxane
(lächelnd).
Gleich. Sie berichten Ihre Schicksalsschläge
Inzwischen Herrn Le Bret.
Ragueneau.
Doch ...
(Roxane geht, ohne ihn zu hören, mit dem Herzog ab. Er eilt zu Le Bret.)
Le Bret. Ragueneau.
Ragueneau.
Nun ich
Sie hier finde,
Ist's freilich besser, wenn sie nichts erfährt!
Zu unserm Freund war just ich auf dem Wege.
Dem Haus schon nah, seh ich, wie er's geschwinde
Verläßt und um die Straßenecke kehrt.
Ich lauf ihm schleunigst nach, erblick ihn wieder:
Da wirft aus einem Fenster ein Lakai
War's bloßer Zufall? ein Stück Holz hernieder.
Le Bret.
O Schurkenstreich!
Ragueneau.
Ich eile schnell herbei ...
Le Bret.
Nun?
Ragueneau.
Unser Dichter liegt am Boden, bleich,
Die Stirn gespalten wie von einem Hammer!
Le Bret.
Tot?
Ragueneau.
Nein; jedoch ... mein Gott, ich bracht' ihn gleich
Zu seinem Haus, in seine dürft'ge Kammer.
Le Bret.
Er leidet?
Ragueneau.
Sein Bewußtsein ist geschwunden.
Le Bret.
Und kam ein Arzt ...?
Ragueneau.
Aus Mitleid, ja.
Le Bret.
Mein lieber,
Mein armer Freund! Sie darf erst nach und nach
Die Wahrheit hören! Und der Arzt?
Ragueneau.
Er sprach
Ich weiß nicht recht von einem Hirnhautfieber ...
Ach, wenn Sie jetzt ihn sehn die Stirn verbunden! ...
Wir müssen eilen! Niemand ist zur Stelle,
Und aufstehn darf er nicht; es würd' ihn töten!
Le Bret
(ihn nach rechts fortziehend).
Der Weg ist kürzer! Komm! Durch die Kapelle!
Roxane
(erscheint auf der Freitreppe und sieht, wie Le Bret sich durch den Säulengang, welcher zu der kleinen Tür der Kapelle führt, entfernt).
Le Bret!
(Le Bret und Ragueneau schnell ab, ohne zu antworten.)
Geht er und hört mich nicht? Was mag
Der gute Ragueneau von seinen Nöten
Erzählt ihm haben?
(Sie steigt herab.)
Roxane, allein. Dann zwei Schwestern.
Roxane.
Welch ein schöner Tag!
Vorm Lenz bebt meine Trauer scheu zurück;
Doch sanfter Herbst erleichtert ihr die Fessel.
(Sie setzt sich an ihren Stickrahmen. Zwei Schwestern
bringen aus dem Haus einen großen Lehnstuhl und stellen ihn unter den Baum.)
Ah, meines alten Freundes Lieblingssessel.
Habt Dank!
Schwester Marthe.
's ist unser bestes Möbelstück.
(Die Schwestern entfernen sich.)
Roxane.
Nun kommt er bald.
(Sie schickt sich zur Arbeit an. Eine Uhr schlägt.)
Da schlägt die Uhr. Wohin
Tat ich den Knäuel? Hier! Sie schlug die volle Zahl.
Seltsam! Kommt er zu spät zum erstenmal?
Mein Fingerhut? Die Schwester Pförtnerin
Ermahnt ihn wohl zur Buße.
(Kleine Pause.) Ja, sie hat
Ihn wohl ermahnt. Deshalb! Ein welkes Blatt!
(Sie wirft mit einem Finger das auf den Stickrahmen gefallene Blatt herunter.)
Was könnt' ihn sonst Die Schere? ... Hier im Pack!
Am Kommen hindern?
Eine Schwester
(erscheint auf der Freitreppe).
Herr von Bergerac.
Roxane. Cyrano. Später Schwester Marthe.
Roxane
(ohne sich umzuwenden).
Ich wußt' es ja!
(Sie stickt. Cyrano erscheint, sehr bleich, den Filzhut tief in die Stirn gedrückt. Die Schwester, die ihn geleitet, geht ins Haus zurück. Er steigt langsam die Treppe herab, sich auf seinen Stock stützend und mit sichtbarer Anstrengung sich aufrecht haltend. Roxane arbeitet weiter.)
Die Farben sind zu fahl ...
(Zu Cyrano, mit gutmütigem Schmollen.)
Seit vierzehn Jahren heut zum erstenmal
Verspätet!
Cyrano
(ist zum Sessel gelangt und hat sich gesetzt; mit einer Heiterkeit, die seinem Aussehen widerspricht).
Unerhört! Ich tob und fluche
Vor Ärger, daß ich aufgehalten ward!
Roxane.
Von wem?
Cyrano.
Von einem lästigen Besuche ...
Roxane
(stickend, zerstreut).
Ach so!
Cyrano
... der, wenn er einmal kommt, verharrt.
Roxane.
Sie schickten ihn nach Haus?
Cyrano.
Ich sprach: Verzeihen Sie;
Doch heut ist Samstag; in Beschlag genommen
Bin ich durch einen Gang, den ich noch nie
Versäumt. Sie können später wiederkommen.
Roxane
(leichthin).
Der Mensch soll warten, wenn er doch nicht weicht!
Vorm Abend laß ich Sie nicht gehn.
Cyrano.
Vielleicht
Muß ich schon früher fort.
(Er schließt die Augen. Kurze Pause. Schwester Marthe kommt aus der Kapelle und geht quer über die Bühne zur Freitreppe. Roxane bemerkt sie und macht ihr mit einer leichten Kopfbewegung ein Zeichen.)
Roxane
(zu Cyrano). Sie necken sich
Heut nicht mit Schwester Marthe?
Cyrano
(die Augen aufschlagend, rasch).
Doch!
(Laut, mit drolliger Stimme.)
Vorbild aller Schwestern!
(Schwester Marthe nähert sich ihm schüchtern.)
Ha, ha! Stets tief gesenkt die schönen Augen!
Schwester Marthe
(hebt lächelnd ihre Augen zu ihm empor). Ich ...
(Sie bemerkt sein verändertes Aussehen; mit einer Bewegung des Erstaunens.)
Oh!
Cyrano
(leise, auf Roxane deutend).
Still!
(Laut, mit großsprecherischem Ton.)
Ich habe nicht gefastet gestern.
Schwester Marthe
(für sich).
Drum ist er auch so bleich!
(Schnell und leise.)
Ich will sofort
Im Refektorium eine kräft'ge Brühe
Bestellen. Und Sie kommen?
Schwester Marthe.
Das ist vernünftig.
Roxane
(hört sie miteinander flüstern).
Gibt sie nun sich Mühe,
Sie zu bekehren?
Schwester Marthe.
Niemals!
Cyrano.
Heut so mild?
Sie, sonst im frommen Eifer so beredt,
Sie predigen mir nicht? Ist das zu glauben?
(Mit scherzhafter Heftigkeit.)
Zum Henker, wenn's Unglaublichkeiten gilt,
Dann will ich Ihnen meinethalben erlauben ...
(als ob er nach einem guten Scherzwort gesucht und es gefunden hätte)
Mich einzuschließen heut in Ihr Gebet.
Roxane.
Oh!
Cyrano
(lachend).
Nun, wo bleibt der Überraschungsschrei?
Schwester Marthe
(sanft).
Bevor Sie mir's erlaubten, tat ich's schon.
(Sie geht ins Haus.)
Cyrano
(sich wieder Roxane widmend, die über ihren Stickrahmen gebeugt ist).
Potz Blitz, das Ende dieser Stickerei
Möcht' ich erleben!
Roxane
(lächelnd). Stets der alte Hohn!
(Ein Windhauch weht Blätter herab.)
Cyrano.
Die Blätter!
Roxane
(blickt auf und sieht nach den Alleen hin).
Sie sind venetianisch blond.
Cyrano.
Und wie sich jedes noch im Fallen sonnt!
Trotz ihrer Angst, zu faulen auf der Erde,
Verwandeln sie den kurzen Todeszug,
Damit ihm eine letzte Schönheit werde,
In einem anmutvollen Flug.
Roxane.
So melancholisch Sie?
Cyrano
(sich besinnend). Nein, Gott bewahre!
Roxane.
Von welken Blättern reden wir, anstatt
Daß Ihre Neuigkeiten ich erfahre ...
Die Chronik ...!
Cyrano.
Gut!
Roxane.
Ah!
Cyrano
(immer bleicher werdend und gegen die Schmerzen ankämpfend).
Letzten Samstag hat
Der König achtmal Traubenmus gegessen;
Doch von den Ärzten ward sein Magenpressen
Als Majestätsbeleidigung verdammt,
Und sein erhabner Puls ist hergestellt.
Am Sonntag großer Ball bei Hof, umflammt
Von tausend Kerzen aus schneeweißem Wachs.
Johann von Österreich ward besiegt im Feld.
Fünf Hexen hängte man; dem kleinen Dachs
Von Madame d'Athis gab man ein Klystier ...
Roxane.
Still, bitte!
Cyrano.
Montag nichts. Nur Lygdamire
Nahm wieder einen neuen Liebsten.
Roxane.
Oh!
Cyrano
(dessen Züge sich mehr und mehr verändern).
Am Dienstag war der Hof in Fontainebleau.
Den Grafen Fiesque frug Mittwoch die Montglat:
Nein! Donnerstag: ob die Mancini Ränke spinne.
Am Freitag gab er ihr zur Antwort: Ja.
Und heute, Samstag ...
(Er schließt die Augen. Sein Kopf fällt vornüber. Pause.)
Roxane
(von seinem Schweigen überrascht, wendet sich um, sieht ihn an und steht erschrocken auf).
Schwanden ihm die Sinne?
(Sie eilt zu ihm hin und ruft.)
Cyrano!
Cyrano
(die Augen wieder aufschlagend, mit schwankender Stimme).
Ja ... Was gibt's?
(Er sieht Roxane, die sich über ihn gebeugt hat, setzt schnell seinen Hut fest und weicht in seinem Sessel erschreckt vor ihr zurück.)
Besorgt? Nein, Possen!
's ist gar nichts!
Roxane.
Aber ...
Cyrano.
Meine Wunde nur ...
Von Arras ... spukt noch manchmal ...
Roxane.
Armer Freund!
Cyrano.
Das schadet nichts. Es geht vorbei.
(Mit Anstrengung lächelnd.) Schon gut.
Roxane
(vor ihm stehend).
Auch meine Wunde hat sich nie geschlossen
Und schmerzt beständig. Ihre frische Spur
(sie legt die Hand auf die Brust)
Birgt hier der Brief, den schon das Alter bräunt;
Doch zeigt er noch die Tränen und das Blut.
(Es beginnt zu dämmern.)
Cyrano.
Sie sagten, einst dürft' ich ihn lesen. Halten
Sie dieses Wort?
Roxane.
Sie wollen?
Cyrano.
Ich bewerbe
Mich heut darum ...
Roxane
(gibt ihm das Beutelchen, welches sie an einem Bande auf der Brust getragen). Hier.
Cyrano
(nimmt es). Darf ich ihn entfalten?
Roxane.
Nur zu!
(Sie geht zu ihrem Stickrahmen zurück, legt ihn zusammen, ordnet ihre Stickwolle.)
Cyrano
(liest). »Roxane, lebe wohl; ich sterbe!«
Roxane
(stutzt).
Sie lesen laut?
Cyrano
(liest). »Bald ruft mich mein Geschick!
Wie voll mein Herz von Zärtlichkeit gewesen,
Hast du's geahnt? Nie wird mein trunkner Blick,
Nie mehr in sel'ger Lust ...«
Roxane.
Wie schön Sie lesen!
Cyrano
(fortfahrend).
»Die Lüfte küssen, die du Zauberin
Mit lieblichen Gebärden leis bewegt;
Wie deine Hand sich an die Stirne legt,
Ich seh's im Geist, und Grüße send ich hin ...«
Roxane.
Sie lesen seinen Brief so ...
(Es wird allmählich Nacht.)
Cyrano.
»Tausend Grüße.
Leb wohl! ...«
Roxane.
Sie lesen ihn ...
Cyrano.
»Du Holde, Süße ...«
Roxane.
Mit einer Stimme ...
Cyrano.
»Du Geliebte ...!«
Roxane.
Nein,
Die Stimme hör ich nicht zum erstenmal!
(Sie nähert sich ganz leise, ohne daß er es bemerkt, tritt hinter den Sessel, beugt sich sacht vornüber und betrachtet den Brief. Die Dunkelheit nimmt zu.)
Cyrano.
»Mein ganzes Herz ist auch im Tode dein,
Und alle Glut, die liebend ich dir zolle,
Flammt noch in meiner Augen letztem Strahl ...«
Roxane
(ihm die Hand auf die Schulter legend).
Wie können Sie noch lesen? Es ist Nacht.
(Er zittert, wendet sich um, sieht sie dicht hinter sich, macht eine Bewegung des Schreckens, senkt das Haupt. Lange Pause. Es ist völlig dunkel geworden. Endlich sagt sie langsam, mit gefalteten Händen.)
Und vierzehn Jahre spielt er diese Rolle
Der alte Freund zu sein, der Späße macht!
Cyrano.
Roxane, nein!
Roxane.
Sie waren's!
Cyrano.
Nein, Roxane!
Roxane.
Und ich erriet es nicht!
Cyrano.
Nein, nein!
Roxane.
Genug!
Sie waren's!
Cyrano.
Nein, ich schwör's!
Roxane.
Umsonst. Ich ahne
Den ganzen heldenmütigen Betrug.
Das ist
Ihr Brief ...
Cyrano.
Nein!
Roxane.
Jedes süße Wort
Von Ihnen ...
Cyrano.
Nein!
Roxane.
Die nächt'ge Stimme Sie!
Cyrano.
Ich schwör's!
Roxane.
Sie schenkten Ihre Seele fort!
Cyrano.
Ich liebte Sie ja nicht.
Roxane.
Doch!
Cyrano.
Er allein!
Roxane.
Sie liebten mich!
Cyrano.
Nein!
Roxane.
Schwächer wird Ihr Nein.
Cyrano.
Nein, nein, geliebtes Kind, dich liebt' ich nie!
Roxane.
Was tot ist, und was ... lebt, verschmilzt in eins!
Warum nur schwiegen Sie seit vierzehn Jahren?
Die Tränen hier auf diesem Briefe waren
Ja doch die Ihrigen!
Cyrano
(ihr den Brief hinreichend).
Das Blut war seins.
Roxane.
Wenn edle Rücksicht Ihre Zunge band,
Warum grad heut ...
Cyrano.
Warum?
(Le Bret und Ragueneau kommen in größter Eile.)
Vorige. Le Bret. Ragueneau.
Le Bret.
Der Unverstand,
Ich hab's mir wohl gedacht!
Cyrano
(richtet sich lächelnd auf). Ei sapperlot!
Le Bret.
Daß er hierher kam, tötet ihn!
Roxane.
Mein Gott!
So war's vorhin nicht nur die alte Wunde ...?
Cyrano.
Nun ja denn, meine Chronik setzt' ich fort:
... Und heute Samstag, in der Abendstunde,
Fiel Herr von Bergerac durch Meuchelmord.
(Er nimmt seinen Hut ab; Stirn und Kopf sind von einem Verband bedeckt.)
Roxane.
Was sagt er? Was geschah? Sein Haupt umschnürt!
Cyrano!
Cyrano.
»Einem Helden unterlegen,
Ruhmvoll im Herzen den geschliffnen Degen!«
Mein Schicksal wollt' es anders und gebot,
Daß einem Streiche, den ein Knecht geführt,
Und feiger Hinterlist ich unterläge!
Alles mißglückte mir, sogar mein Tod.
Ragueneau.
Ach, schändlich!
Cyrano.
Alter, weine nicht so sehr!
(Er reicht ihm die Hand.)
Womit verdienst du nun dein Brot, Kollege?
Ragueneau
(unter Tränen).
Ich ... ich bin Lampenputzer bei Molière.
Cyrano.
Molière!
Ragueneau.
Doch morgen geh ich von ihm fort,
Weil gestern im »Scapin« ich voll Empörung sah:
Ein Auftritt ist entlehnt von Ihnen.
Le Bret.
Ja.
Ragueneau.
Der Scherz mit der Galeere Wort für Wort.
Le Bret.
Die Szene stahl er dir!
Cyrano.
Still! Er tat recht.
(Zu Ragueneau.)
Wie machte sich die Szene? Wohl nicht schlecht?
Ragueneau
(schluchzend).
Man lachte, Herr, man lachte ...!
Cyrano.
Ich war immer
Der, welcher einbläst und im Schatten steht.
(Zu Roxane.)
Gedenken Sie des Abends, als im Schimmer
Des Monds Christian um einen Kuß gefleht?
So war mein Los: Ich, der die Worte lieh,
Stieg nicht empor, den Kuß des Ruhms zu spüren,
Und dennoch darf ich keine Klage führen:
Christian war schön, Molière ist ein Genie.
(Die Glocke der Kapelle hat zu läuten angefangen. Durch die Allee des Hintergrundes begeben sich die Nonnen zum Gottesdienst.)
Das Glöcklein schallt; sie schreiten zum Gebet.
Roxane
(erhebt sich und ruft).
Ihr Schwestern!
Cyrano
(sie zurückhaltend).
Gehn Sie nicht, sie mir zu bringen!
Eh' Sie zurück sind, wär' es schon zu spät.
(Die Nonnen sind in die Kapelle eingetreten; man hört die Orgel.)
Nun hör ich noch ein wenig Wohllaut klingen.
Roxane.
Ich liebe Sie!
Cyrano.
Nein, nur im Märchenreiche
Schmilzt des verschämten Prinzen Häßlichkeit,
Wenn ihn der Liebe Sonnenwort befreit ...
Du würdest sehn, daß ich noch stets der Gleiche.
Roxane.
Ich war Ihr Unglück!
Cyrano.
Willst du dich verlästern?
Die Mutter selbst fand mich nicht hübsch, und Schwestern
besaß ich nicht. Vor jedem Liebestraum
Ließ mich die Furcht vor Spott erbeben.
Dir dank ich's, dir allein, daß durch mein Leben
Gestreift ist eines Frauenkleides Saum.
Le Bret
(zeigt ihm den Mond, welcher durch die Zweige scheint).
Dein alter Freund!
Cyrano
(dem Monde zulächelnd). Ich seh's!
Roxane.
Ein einzig Wesen
Nur liebt' ich und verlier's zum zweitenmal!
Cyrano.
Le Bret, zu diesem leuchtenden Opal
Werd ich heut ohne Hilfsmaschinen steigen.
Roxane.
Was sagen Sie?
Cyrano.
Ja, dort werd ich genesen;
Dort werden in der Geister sel'gem Reigen
Mir Sokrates und Galilei nahn
Und als bescheidnen Schüler mich empfahn.
Le Bret
(ausbrechend).
Ingrimm und Zorn vereinen sich dem Weh!
Solch edles Leben flieht! Und nicht zu retten!
Fluch seinen Mördern!
Cyrano.
Brumme nicht, Le Bret!
Le Bret
(in Tränen).
Mein teurer Freund ...
Cyrano
(sich aufrichtend, mit wirrem Blick).
Das sind die Gascogner Kadetten ...
Kopernikus ... Ja! ... Das Gesetz der Schwere ...
Le Bret.
Gelehrsamkeit im Fieber!
Cyrano.
Die Natur
Gibt Aufschluß ...
Roxane.
Oh!
Cyrano.
»Was Teufel wollt' er nur,
Was Teufel wollt' er nur auf der Galeere?«
Musiker und Reimedrechsler,
Physiker, Philosoph und Fechter,
Zungenfertiger Schlagwortwechsler,
Mondreisender ohne Sack und Pack,
Liebhaber auch jedoch ein schlechter!
Hier ruht und wartet des Jüngsten Gerichts
Cyrano Savinien Herkules von Bergerac,
Der alles gewesen und dennoch nichts.
Doch nun verzeiht; nun muß ich euch verlassen:
Ihr seht, der Strahl des Mondes will mich fassen.
(Er ist zurückgesunken; Roxanens Tränen rufen ihn zur Wirklichkeit zurück; er sieht sie an und streichelt ihren Schleier.)
Sie sollen Ihren Christian stets beweinen;
Nur bitt ich, geben Sie, wenn ich der Fessel
Des Erdenseins entledigt bin,
Dem schwarzen Schleier einen Doppelsinn,
Um ihn und mich auch trauernd zu vereinen.
Roxane.
Ich schwör es Ihnen!
Cyrano
(von Frost geschüttelt, erhebt sich gewaltsam).
Nein, nicht hier im Sessel!
(Man will zu ihm eilen.)
Und niemand soll mich stützen!
(Er lehnt sich an den Baum.) Nur der Stamm!
(Pause.)
Er kommt, mir Marmorstiefel anzulegen,
Handschuh' von Blei!
(Sich aufraffend.)
Er kommt. Ich will ihm stramm
Ins Antlitz schauen,
(den Degen ziehend) in der Hand den Degen.
Le Bret.
Cyrano, hör!
Roxane
(einer Ohnmacht nahe).
Cyrano!
(Alle weichen erschrocken zurück.)
Cyrano.
Schielt er nicht
Nach meiner Nase, der stumpfnäs'ge Wicht?
(Den Degen erhebend.)
Ihr sagt, es sei vergeblich? Wohl, ich weiß!
Schlägt man sich nur in Hoffnung auf den Sieg?
Weit schöner ist ein aussichtsloser Krieg.
Was kommt dort an? Welch lästiges Geschmeiß?
Der ganze Troß der alten Widersacher!
Die Lüge?
(Er sticht mit seinem Degen ins Leere.)
Da! Der überlebte Brauch,
Feigheit und Vorurteil!
(Er sticht wieder.)
Glaubt ihr, ich treibe Schacher?
Niemals, niemals! Aha, die Dummheit auch!
Ich weiß, ihr triumphiert und bleibt im Rechte;
Was liegt daran? Ich fechte, fechte, fechte!
(Er tut wilde Ausfälle und hält endlich keuchend inne.)
Entreißt mir nur den Lorbeer und die Rosen!
Mir bleibt ein Gut, trotz aller Stürme Tosen,
Das niemals ward befleckt im Kampfgefild'
Und das ich heut, am Ende meiner Tage,
Getrost zur blauen Himmelsschwelle trage;
Dies Gut
(er tut mit erhobenem Degen einen Schritt nach vorwärts) es ist ...
(Der Degen entsinkt seiner Hand; er taumelt und fällt in die Arme von Le Bret und Ragueneau.)
Roxane
(sich über ihn beugend und ihn auf die Stirn küssend).
Es ist ...?
Cyrano
(öffnet noch einmal die Augen, erkennt sie und sagt lächelnd).
Mein Wappenschild.
Vorhang