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Seit dieser Stunde fühlte ich mich nicht mehr vor ihm sicher. Ja, nicht allein vor ihm fühlte ich mich unsicher, sondern auch vor aller Welt. Wer war Solowejczyk? Wer war Lutetia? Was war Paris? Wer war ich selber?
Unsicherer noch als vor allen anderen war ich vor mir selber! War es mein eigener Wille, der meinen Tag, meine Nacht, alle meine Handlungen noch bestimmte? Wer trieb mich zu tun, was ich damals tat? Liebte ich Lutetia? Liebte ich nicht allein meine Leidenschaft oder aber lediglich mein Bedürfnis, mich selbst, meine Menschlichkeit sozusagen, durch eine Leidenschaft bestätigen zu können? Wer und was war ich eigentlich: ich, der Golubtschik? Wenn Lakatos da war, hörte ich auf, Krapotkin zu sein, das schien mir sicher. Auf einmal war es mir klar, daß ich weder Golubtschik noch Krapotkin zu sein imstande war. Halbe Tage bald und bald halbe Nächte verbrachte ich bei Lutetia. Ich hörte längst nicht mehr, was sie mir sagte. Sie redete übrigens belanglose Dinge. Ich merkte mir viele Ausdrücke, die mir bis dahin unbekannt waren, den Tonfall der Worte und der Sätze – was meine Fortschritte im Französischen betraf, hatte ich ihr viel zu verdanken. Denn so ratlos ich auch in jenen Tagen war, so vergaß ich doch auch niemals, daß es für mich wichtig werden konnte, ›Sprachen zu beherrschen‹ – wie Solowejczyk geraten hatte. Gut, nach wenigen Wochen beherrschte ich sozusagen Französisch. Zu Hause vergrub ich mich manchmal in englischen, deutschen, italienischen Büchern, ich betäubte mich geradezu an ihnen, und ich bildete mir ein, ich bekäme durch sie wirklich eine Existenz, eine wirkliche Existenz. Ich las englische Zeitungen, in der Hotelhalle zum Beispiel. Und während ich sie las, kam es mir vor, als sei ich ein Landsmann jenes weißhaarigen und bebrillten englischen Obersten im Lehnstuhl nebenan – eine halbe Stunde lang bildete ich mir ein, ich sei ein Engländer, ein Oberst aus den Kolonien. Weshalb sollte ich auch kein englischer Oberst sein? War ich denn etwa Golubtschik? War ich denn etwa Krapotkin? Was und wer war ich eigentlich?
Jeden Augenblick fürchtete ich, Lakatos zu begegnen. Er konnte in die Hotelhalle kommen. Er konnte in das große Modellhaus des mondänen Schneiders kommen, bei dem ich zuweilen vorfuhr, um Lutetia abzuholen. Er konnte mich jeden Augenblick verraten. Er hatte mich sozusagen in der Hand. Er konnte mich schließlich bei Lutetia verraten – und das war das schlimmste. In dem Maße, in dem meine Furcht vor Lakatos stieg, wuchs auch meine Leidenschaft für Lutetia. Eine übertragene Leidenschaft, sozusagen eine Leidenschaft zweiten Ranges. Denn es war in Wirklichkeit, meine Freunde, längst, das heißt seit einigen Wochen, keine wahre Liebe mehr, es war eine Flucht in die Leidenschaft, wie die Mediziner heutzutage bestimmte Krankheitserscheinungen mancher Frauen eine ›Flucht in die Krankheit‹ nennen. Ja, es war eine Flucht in die Leidenschaft. Sicher, einzig und allein sicher meiner selbst, meiner Identität sozusagen, war ich nur in den Stunden, in denen ich Lutetias Körper hielt und liebte. Ich liebte ihn, nicht etwa, weil es ihr geliebter Körper war, sondern weil er gewissermaßen eine Zuflucht war, eine Zelle, eine Klause, ungefährdet und gesichert vor Lakatos. Allerdings geschah leider, was sich notgedrungen ereignen mußte. Lutetia, die mich ebenso für unermeßlich reich hielt, wie sie sich selbst für eine Lumpensammlerstochter halten mochte, brauchte Geld und immer mehr Geld. Sie brauchte immer mehr Geld. Es zeigte sich bald, nach wenigen Wochen schon, daß sie ebenso schön wie begehrlich war. Oh, nicht etwa, daß sie versucht hätte, Geld zurückzulegen, auf die heimtückische Weise, die viele kleine Bürgerinnen auszeichnet. Nein! Sie brauchte in der Tat! Sie verbrauchte!
Sie war wie die meisten Frauen ihrer Art. Sie wollte nicht ›ausnutzen‹! Aber es wollte in ihr die Gelegenheiten, alle Gelegenheiten, benützen. Schwach war sie und unermeßlich eitel. Bei den Frauen ist die Eitelkeit nicht nur eine passive Schwäche, sondern auch eine höchst aktive Leidenschaft, wie bei den Männern nur das Spiel. Sie gebären immer aufs neue diese Leidenschaft, sie treiben sie an und werden von ihr zugleich getrieben. Der Leidenschaft Mütter und Kinder sind sie gleichzeitig. Die Leidenschaft Lutetias riß mich mit. Ich hatte bis dahin nicht geahnt, wie viel eine einzige Frau auszugeben vermag, und immer in dem Glauben, sie gäbe ›nur das Notwendige‹ aus. Ich hatte bis dahin nicht geahnt, wie ohnmächtig ein liebender Mann – und ich war damals bemüht, ein liebender Mann zu sein: was einem wirklich Verliebten gleichkommt – gegenüber den Torheiten einer Frau sein kann. Gerade das Törichte und Überflüssige, das sie tat, erschien mir als das Notwendige und Natürliche. Und ich will auch gestehen, daß ihre Torheiten mir schmeichelten, mir gleichsam eine erlogene fürstliche Existenz bestätigten – ich brauchte Bestätigungen dieser Art. Ich brauchte alle diese äußerlichen Bestätigungen, als da sind: Kleider für mich und für Lutetia, die Untertänigkeit der Schneider, die mir Maß nahmen, im Hotel, mit behutsamen Fingern, als wäre ich ein zerbrechlicher Götze; die kaum den Mut hatten, meine Schultern und meine Beine mit dem Zentimetermaß zu berühren. Ich brauchte, eben weil ich nur ein Golubtschik war, alles, was einem Krapotkin lästig gewesen wäre: den Hundeblick in dem Auge des Portiers, die servilen Rücken der Kellner und Bedienten, von denen ich nichts anderes zu sehen bekam als die tadellos rasierten Nacken. Und Geld, Geld brauchte ich auch.
Ich begann, möglichst viel zu verdienen. Ich verdiente viel – und ich brauche euch nicht zu sagen, auf welche Weise. Manchmal war ich für Lutetia und alle Welt eine Woche lang unauffindbar und sozusagen verreist. An solchen Tagen trieb ich mich in den Kreisen unserer politischen Flüchtlinge herum, in kleinen Redaktionen versteckter und armseliger Zeitungen, war schamlos genug, kleine Darlehen zu nehmen von den Opfern, nach denen ich jagte, nicht weil ich das armselige Geld brauchte, sondern um vorzutäuschen, daß ich es brauchte, in kärglichen, verborgenen Stuben die kärglichen Mahlzeiten zu teilen mit den Verfolgten, den Geschmähten, den Hungrigen; war niedrig genug, es hie und da mit der Verführung der Frauen zu versuchen, die sich, oft beseligt und manchmal aus einer Art weltanschaulich fundierten Pflichtbewußtseins, einem Gesinnungsgenossen hingaben – alles in allem: ich war, was ich immer im Grunde gewesen war, von Geburt und Natur: ein Schurke. Nur hatte ich bis dahin die Schurkerei nicht in diesem Maße ausgeübt. Ich bewies mir gewissermaßen in jenen Tagen selbst, daß ich ein Schurke sei, und welch einer!
Ich hatte Glück, der Teufel lenkte alle meine Schritte. Wenn ich an bestimmten Abenden bei Solowejczyk erschien, konnte ich ihm mehr berichten als viele meiner Kollegen. Und ich erkannte an der wachsenden Verachtung, mit der er mich behandelte, daß ich großartige Dienste leistete. ›Ich habe Ihre Intelligenz unterschätzt‹, sagte er mir einmal. ›Ich habe, nach der Dummheit, die Sie in Petersburg begangen haben, gedacht, Sie seien ein kleiner Schurke. Alle Achtung, Golubtschik! Ich werde Sie gut bezahlen.‹ – Zum erstenmal hatte er mich Golubtschik genannt, er wußte wohl, daß es für mich war wie ein Hieb mit einer Nagaika. Ich nahm das Geld, viel Geld, kleidete mich um, fuhr in mein Hotel, sah die Rücken und die Nacken, sah wieder Lutetia, die Nachtlokale, die gemeinen und soignierten Lordgesichter der Kellner und vergaß alles, alles. Ich war Fürst. Ich vergaß sogar den fürchterlichen Lakatos.
Ich vergaß ihn zu Unrecht.
Eines Tages – es war ein milder Frühlingsvormittag, ich saß in der Halle des Hotels, und obwohl sie keine Fenster hatte, war es doch, als strömte die Sonne gleichsam durch die Poren der Wände, ich war sehr heiter und gedankenlos hingegeben der ekelhaften Wollust, die mir das Leben bereitete – ließ sich Lakatos bei mir melden. Er war heiter wie der Frühling selbst. Er nahm gewissermaßen bereits den Sommer voraus. Er kam herein wie ein Stückchen, wie ein menschliches Stückchen des Frühlings, losgelöst von der anmutigen Natur, im viel zu hellen Überzieher, mit einer blumenübersäten Krawatte, in einem hellgrauen Halbzylinder, das Rohrstöckchen schwenkend, das ich schon so lange kannte. ›Durchlaucht‹ und ›Fürst‹ nannte er mich abwechselnd, und manchmal sagte er sogar, nach der Art der kleinen Dienstleute: ›Euer durchlauchtigste Hochwohlgeboren!‹ Mit einemmal verfinsterte sich für mich dieser helle Vormittag. Wie es mir die ganze lange Zeit ergangen sei, fragte mich Lakatos, so laut, daß es alle in der Halle hörten und der Portier vorne in der Loge. Ich war einsilbig, ich antwortete kaum, aus Furcht, aber auch aus Hochmut. ›Ihr Herr Vater hat Sie also doch anerkannt?‹ fragte er mich leise, indem er sich so nahe zu mir herüberbeugte, daß ich sein Maiglöckchen-Parfüm roch, seine Brillantine, die in schweren Wellen aus dem Schnurrbart duftete, und daß ich deutlich ein rötliches Glimmen in seinen blanken braunen Augen sah. ›Ja!‹ sagte ich und lehnte mich zurück.
›Dann wird es Sie freuen‹, sagte er, ›das, was ich Ihnen mitzuteilen habe.‹
Er wartete. Ich sagte nichts.
›Ihr Herr Bruder ist seit gestern hier!‹ sagte er gleichmütig. ›Er wohnt hier in seinem Hause: er hat eine ständige Wohnung in Paris. Er will hier, wie jedes Jahr, ein paar Monate bleiben. Ich glaube, Sie haben sich ausgesöhnt?‹
›Noch nicht!‹ sagte ich und konnte meine Ungeduld und meinen Schrecken kaum verbergen.
›Nun, ich hoffe‹, sagte Lakatos, ›daß es jetzt gehen wird. Ich jedenfalls stehe Ihnen immer zur Verfügung.‹
›Danke!‹ sagte ich. Er erhob sich, verbeugte sich tief und ging. Ich blieb sitzen.
Ich blieb nicht lange. Ich fuhr zu Lutetia. Sie war nicht daheim. Ich fuhr in das Atelier des mondänen Schneiders. Mit einem Blumenstrauß drang ich vor, wie mit einer gezückten Waffe. Ich konnte sie ein paar Augenblicke sehen. Sie wußte noch nichts von der Ankunft Krapotkins. Ich verließ das Atelier. Ich setzte mich in ein Café und bildete mir ein, ich könnte durch angestrengtes Nachdenken auf irgendeinen klugen Einfall kommen. Aber jeder meiner Gedanken war angenagt von Eifersucht, Haß, Leidenschaft, Rachsucht. Bald stellte ich mir vor, es wäre am besten, ich bäte heute noch Solowejczyk darum, mich nach Rußland zurückzuschicken. Dann wieder überfiel mich die Angst, die Angst davor, mein Leben aufzugeben, Lutetia, meinen erstohlenen Namen, alles das, was meine Existenz ausmachte. Ich dachte auch einen Augenblick daran, mich umzubringen, aber ich hatte eine grauenhafte Angst vor dem Tode. Viel leichter war es, viel besser, aber keineswegs bequemer, den Fürsten umzubringen. Ihn aus der Welt schaffen! Ein für allemal befreit sein von diesem lächerlichen Burschen, einem wahrhaft lächerlichen und nutzlosen Burschen. Im gleichen Augenblick aber und gleichsam mit der Logik, die mir mein Gewissen diktierte, sagte ich mir, daß, wenn er ein nutzloser Bursche sei, ich ein noch schlimmerer, nämlich ein böser und schädlicher wäre. Aber kaum eine Minute später schien es mir klar zu sein, daß die Ursache meiner Schädlichkeit und meiner Schlechtigkeit er allein sei, dieser Bursche eben, und daß ihn zu töten eigentlich eine sittliche Tat sein müßte. Denn indem ich ihn auslöschte, tötete ich auch die Ursache meiner Verderbnis, und ich hatte dann die Freiheit, ein guter Mensch zu werden, zu büßen, zu bereuen, meinetwegen ein anständiger Golubtschik. Aber damals schon, während ich solches überlegte, fühlte ich keineswegs die Kraft in mir zu morden. Ich war, meine Freunde, damals noch lange nicht sauber genug, um töten zu können. Wenn ich daran dachte, einen bestimmten Menschen umzubringen, so war es bei mir, in meinem Innern, gleichbedeutend mit dem Entschluß, ihn auf irgendeine Weise zu verderben. Wir Spitzel sind keine Mörder. Wir bereiten lediglich die Umstände vor, die einem Menschen unweigerlich den Tod bereiten. Auch ich dachte damals nicht anders, ich konnte gar nicht anders denken. Ich war ein Schurke von Geburt und von Natur, wie ich euch schon sagte, meine Freunde! ...
Unter den vielen Menschen, die zu verraten und auszuliefern damals meine schändliche Aufgabe war, befand sich auch eine gewisse Jüdin namens Channa Lea Rifkin aus Radziwillow. Niemals werde ich ihren Namen, ihren Geburtsort, ihr Gesicht, ihre Gestalt vergessen. Zwei ihrer Brüder waren in Rußland wegen der Vorbereitung eines Attentats auf den Gouverneur von Odessa zur Katorga verurteilt worden. Sie waren bereits seit drei Jahren in Sibirien, an der Grenze der Taiga, wie ich aus den Papieren wußte. Der Schwester war es gelungen, rechtzeitig zu fliehen und noch einen dritten Bruder mitzunehmen, einen halblahmen jungen Menschen, der den ganzen Tag im Lehnstuhl sitzen mußte. Er konnte nur den rechten Arm und das rechte Bein bewegen. Es hieß, daß er ein außergewöhnlich begabter Mathematiker und Physiker sei und ein ungewöhnliches Gedächtnis besitze. Organisationspläne und die Formeln, mit deren Hilfe man, auch ohne die komplizierten technischen Hilfsmittel, Sprengstoffe herstellen konnte, stammten von ihm. Bruder und Schwester lebten bei Schweizer Freunden, französischen Schweizern aus Genf, einem Schuster und seiner Frau. Die russischen Genossen versammelten sich oft in der Werkstatt des Schusters. Ich war ein paarmal dort gewesen. Dieses edle jüdische Mädchen war entschlossen, nach Rußland zurückzukehren und ihre Brüder zu retten. Sie nahm alle Verantwortung auf sich. Ihre Mutter war gestorben, ihr Vater war krank. Drei unmündige Geschwister blieben ihr noch. In zahlreichen Eingaben an die russische Botschaft hatte sie erklärt, daß sie bereit sei, nach Rußland zurückzukehren, gäbe man ihr nur die Zusicherung, daß ihre unschuldigen und nur durch ihre, der Schwester, geheime Handlungen schuldig gewordenen Brüder befreit würden. Uns, das heißt der russischen Polizei, handelte es sich jedenfalls darum, der Frau habhaft zu werden; aber zugleich auch darum, die Botschaft keine offiziellen Zusicherungen geben zu lassen. Das konnte, das durfte auch eine Botschaft nicht. Jene Channa Lea aber ›brauchte‹ man dringend. ›Wir brauchen sie‹, hieß es in den Zuschriften wörtlich.
Bis zu dem Tage, an dem ich Lakatos' Besuch empfangen hatte, war es mir, dem Schurken von Geburt und Natur, dennoch nicht möglich gewesen, diese Menschen zu verderben. Diese Menschen, ich meine das Mädchen und ihren Bruder, waren die einzigen unter all den Russen, die zu verraten meine Aufgabe war, welche noch an den Rest meines menschlichen Gewissens rührten. Wenn ich damals überhaupt noch irgendeine Vorstellung von Todsünde haben konnte, so waren es die beiden Menschen allein, die sie in mir zu wecken imstande waren. Von dem schwachen, sanften Mädchen – wenn es jüdische Engel gibt, dann müssen sie eigentlich so aussehen, in dessen Angesicht die Härte und die Lieblichkeit sich dermaßen vereinigten, daß man deutlich zu sehen vermeinte, die Härte sei eine Schwester der Lieblichkeit –, von diesem schwachen und zugleich kräftigen Mädchen ging eine zauberische Gewalt aus – eine zauberische Gewalt – ich kann es nicht anders sagen. Sie war nicht schön – was man so schön heißt in diesem Leben, wo wir das Verführerische schön nennen. Nein, diese kleine und unansehnliche Jüdin berührte unmittelbar meine Seele, und sogar auch meine Sinne berührte sie; denn wenn ich sie ansah, war es, als hörte ich ein Lied zum Beispiel. Ja, es war, als sähe ich nicht, sondern als hörte ich etwas Schönes, Fremdes, Niegehörtes und dennoch sehr Vertrautes. Manchmal, in stillen Stunden, wenn der lahme Bruder, auf dem Sofarand sitzend, in einem Buch las, das auf einem hohen Sessel vor ihm aufgeschlagen lag, der idyllische Kanarienvogel friedlich trällerte und ein schmaler Streifen guter Frühlingssonne auf den nackten Holzdielen ruhte, saß ich so dem edlen Mädchen gegenüber, betrachtete sie still, ihr blasses, breitgebautes, aber abgehärmtes Angesicht, in dem gleichsam das Leid aller unserer russischen Juden zu lesen war, und war nahe daran, ihr alles zu erzählen. Ich war gewiß nicht der einzige Spitzel, den man zu ihr geschickt hatte, und wer weiß, wie viele meiner Kollegen ich hie und da bei ihr getroffen haben mochte. (Denn wir kannten einander nur selten.) Aber ich bin überzeugt, daß es allen oder den meisten ebenso erging wie mir. Dieses Kind hatte Waffen, denen wir unterliegen mußten. Es handelte sich darum, sie entweder nach Rußland zu locken, unter der Vorspiegelung, daß ihre Brüder bestimmt freikämen; aber es war natürlich nicht leicht, sie zu täuschen, und jedem anderen Versprechen als dem gezeichneten, vom Botschafter des Zaren gezeichneten, hätte sie niemals getraut. Es hätte aber auch zur Not vielleicht genügt, von ihr die Namen all ihrer Kameraden zu erfahren, die in Rußland verblieben waren. Aber, meine Freunde, ich sagte euch schon, ich sei ein Schuft von Geburt und Natur gewesen. Im Anblick dieses jungen Mädchens nun zerrann meine Schuftigkeit, und ich fühlte manchmal, wie mein Herz weinte, wie es auftaute, wörtlich genommen.
Die Monate vergingen, es wurde Sommer. Ich gedachte, mit Lutetia irgendwohin abzureisen. Eines Tages erschien in meinem Hotel ein weißhaariger, ernst angezogener und sehr feierlicher Mann. Mit seinem dichten silbernen Haupthaar, mit seinem Ehrfurcht heischenden weißen und sauber gestrählten Backenbart, mit seinem schwarzen, feinen Stock aus Ebenholz, dessen silberne, matte Krücke aus dem gleichen Material gemacht zu sein schien wie sein Haupt- und Barthaar, machte er mir den Eindruck eines hohen und makabren Würdenträgers am Hofe des Zaren. So, stellte ich mir vor, mußten die kaiserlichen Hofbeamten aussehn, die in der Sterbestunde und beim Begräbnis eines Zaren ihre Funktionen ausüben. Als ich ihn aber eine längere Weile angesehen hatte, schien er mir plötzlich von irgendwoher bekannt. Sein Gesicht, sein dichtes Haar, sein Backenbart und seine Stimme tauchten empor aus einer längst versunken geglaubten Kindheit. Und auf einmal, nachdem er mir gesagt hatte: ›Es freut mich, Sie nach so langen Jahren wiederzusehen, Herr Golubtschik!‹, wußte ich auch, wer es war. Er mochte uralt sein. Einmal hatte ich seine Stimme hinter einer Tür erlauscht, eine Sekunde lang hatte ich einst im düsteren Hausflur seine silbrige und schwarze Gestalt gesehn. Er war der Leibsekretär des alten Fürsten. Vor Jahren, vor Jahren – wie lang war es her – war er zu meinem Pensionsvater gekommen, um für mich zu bezahlen. Er reichte mir kaum die Hand. Drei kalte, hagere, geradezu steinerne Fingerspitzen fühlte ich für den Bruchteil eines Augenblicks. Ich bat ihn, sich zu setzen. Als wollte er meinem Stuhl nicht zuviel Ehre antun, setzte er sich nur an den alleräußersten Rand, so daß er sich auf seinen Stock zwischen den Knien stützen mußte, um nicht vom Sessel hinunterzugleiten. Zwischen zwei Fingern hielt er seinen feierlichen, schwarzen, steifen Hut. Er ging sofort, wie es im Lateinischen heißt, in medias res. ›Herr Golubtschik!‹ sagte er, ›der junge Fürst ist hier. Der alte Herr dürfte auch auf der Durchfahrt nach dem Süden eine Weile hierbleiben. Sie haben beiden Herrschaften, unberechtigt und sogar auf eine nicht noble Weise – um ein stärkeres Wort zu unterdrücken –, überaus viel zu schaffen gemacht. Sie nennen sich hier Krapotkin. Sie unterhalten gewisse Beziehungen zu einem Fräulein Dingsda. Sie hat auch mehrere Namen. Der junge Fürst ist nun einmal entschlossen, diese Ihre Beziehung nicht zu dulden. Das ist eine Marotte. Aber Nebensache. Der junge Herr ist sehr großzügig. Überlegen Sie kurz, und sagen Sie mir gradheraus: Wieviel verlangen Sie, um ein für allemal aus unserm Gesichtskreis zu verschwinden? Sie haben schon einmal erfahren, wie groß unsere Macht ist. Sie laufen, wenn Sie hartnäckig bleiben, weit mehr Gefahr als jemals eines der Opfer, die von Ihnen verfolgt werden. Ich habe natürlich nichts gegen Ihren Beruf sagen wollen. Er ist, sagen wir, nicht ehrenhaft, aber äußerst notwendig, äußerst notwendig – im Staatsinteresse, versteht sich. Unser Vaterland braucht gewiß Ihresgleichen. Aber der Familie, die ich seit vierzig Jahren schon hie und da zu vertreten die Ehre hatte, sind Sie einfach unangenehm. Die Familie Krapotkin ist bereit, Ihnen zu einer neuen Existenz in Amerika, aber auch in Rußland zu verhelfen. Also, überlegen Sie, wieviel brauchen Sie?‹ – Und bei diesen Worten zog der silberhaarige Mann seine schwere goldene Uhr aus der Tasche. Er behielt sie in der Hand, etwa wie ein Arzt, der den Puls seines Patienten fühlt. – Ich dachte nach. Ich dachte wirklich nach. Es schien mir aussichtslos, vor diesem Mann, vor mir selbst noch Ausflüchte zu machen und mir überflüssige und höchst lächerliche, nichtsnutzige Atempausen einzureden. Seine Uhr tickte unermüdlich. Die Zeit verrann. Wie lange würde er noch warten?
Ich hatte keinen Entschluß gefaßt. Aber der gute Geist, der uns nie verläßt, auch nicht, wenn wir Schufte von Geburt und Natur sind, gab mir plötzlich die Erinnerung an Channa Lea ein. Und ich sagte: ›Geld brauche ich nicht. Ich brauche eine Protektion des Fürsten. Wenn er mächtig ist, wie Sie sagen, wird er sie mir verschaffen können. Kann ich ihn sehen?‹
›Sofort!‹ sagte der Silberhaarige, steckte die Uhr ein und erhob sich. ›Kommen Sie mit mir!‹
Die Pariser Privatkalesche des Fürsten Krapotkin – des echten – wartete vor dem Hotel. Wir fuhren. Wir fuhren vor die Privatwohnung des Fürsten. Es war eine Villa im Bois de Boulogne, und in dem Lakaien, der einen Backenbart trug wie der Leibsekretär, glaubte ich einen jener Diener zu erkennen, die ich vor langen, langen Jahren in der Odessaer Sommerresidenz des alten Fürsten gesehen hatte. Ich wurde angemeldet. Der Sekretär ging vor. Ich wartete eine lange halbe Stunde mindestens. Ich saß, bekümmert und verdrückt, unten im Vorzimmer, wie ich einst im Vorzimmer des alten Fürsten gesessen hatte. Noch weniger war ich gleichsam als der Golubtschik von damals. Damals hatte die Welt noch vor mir offengestanden, und heute war ich ein Golubtschik, der die Welt bereits verloren hatte. Aber ich wußte es ja. Und es machte mir dennoch wenig aus. Ich mußte mich nur zwingen, an Channa Lea Rifkin zu denken, und es machte mir gar nichts mehr aus.
Ich kam endlich ins Zimmer des jungen Fürsten. Er sah noch genauso aus wie damals, als ich ihn durch den Spalt in der Wand im Chambre séparée mit Lutetia beobachtet hatte. Ja, er sah noch genauso aus; wie soll ich ihn euch beschreiben, ihr kennt den Typ: ein nobler und verbrauchter Windbeutel. Er sah einem Stück abgebrauchter Seife nicht unähnlich, so blaß und fade war seine Haut. Er sah aus wie ein Stückchen verbrauchter gelber Seife mit einem dünnen schwarzen Schnurrbart. Ich haßte ihn, wie ich ihn seit eh und je gehaßt hatte.
Er ging kreuz und quer durch sein Zimmer, und als ich eintrat, blieb er auch nicht einen Augenblick stehen. Er ging weiter herum, als hätte der Silberhaarige nicht mich, sondern eine Puppe mitgebracht. Er wandte sich auch nicht an mich, sondern an ihn und fragte: ›Wieviel?‹ ›Ich selbst möchte mit Ihnen verhandeln‹, sagte ich.
›Ich möchte es nicht‹, erwiderte er, hielt nicht im Herumwandern inne und sah den Sekretär an. ›Verhandeln Sie mit ihm!‹
›Ich brauche kein Geld‹, sagte ich. ›Wenn Sie wirklich so mächtig sind, wie Sie sagen, so können Sie alles von mir haben, wenn Sie zwei Männer von der Katorga befreien und ein Mädchen vor Strafe. Und sofort. Wenn Sie innerhalb einer Woche die beiden befreien!‹
›Ja!‹ sagte der Sekretär. ›Bis dahin aber halten Sie sich möglichst verborgen. Geben Sie mir die Daten!‹
Ich gab ihm die Daten der Gebrüder Rifkin. In ein paar Tagen sollte ich Auskunft haben.
Ich wartete ein paar Tage. Ich wartete, ich muß sagen, in großer Ungeduld, sozusagen in einer moralischen Ungeduld. Ich sagte: eine moralische Ungeduld, denn es überfiel mich damals die Sehnsucht nach der Reue, und ich glaubte, gerade damals wäre der Augenblick gekommen, in dem ich mit einer einzigen sogenannten guten Tat mein ganzes schurkisches Leben wettmachen könnte.
Ich wartete. Ich wartete.
Endlich erhielt ich eine Einladung, mich in der Privatwohnung des Fürsten einzufinden.
Der alte, würdige Sekretär empfing mich sitzend. Er machte eine einladende Handbewegung, aber eine nur sehr flüchtige, aber er sagte nicht etwa, ich möchte mich setzen, sondern als verscheuchte er mich vielmehr, wie man eine Fliege verscheucht.
Aus Trotz setzte ich mich aber und schlug ein Bein über das andere. Aus Trotz sagte ich auch: ›Wo ist der Fürst?‹
›Für Sie nicht zu Hause‹, sagte der Alte milde. ›Der Fürst kann sich überhaupt nicht um politische Dinge kümmern, so läßt er Ihnen sagen. In schmutzige Sachen läßt er sich nicht ein. Er will auch mit Ihnen keine Tauschgeschäfte machen. Sie wären überdies imstande, ihn anzuzeigen, wie Sie es schon einmal getan haben, und ihn als den Beschützer unserer Staatsfeinde hinzustellen. Sie begreifen. Wir können Ihnen nur Geld anbieten. Wenn Sie es nicht annehmen, haben wir Mittel, Sie auf eine andere Weise aus Paris wegzuschaffen. Gar so unentbehrlich dürften Sie unserm Staat nicht sein. Es gibt sicherlich andere, die ebensoviel oder gar mehr leisten.‹
›Ich werde kein Geld nehmen‹, erwiderte ich, ›und ich werde bleiben.‹ Ich dachte dabei an meinen sympathischen Vorgesetzten Solowejczyk. Ihm wollte ich alles ganz genau erklären. Ihm wollte ich vertrauen. Ich hatte dabei vollkommen vergessen, welchen toten Blick Solowejczyk mir das letztemal gezeigt hatte. Ich bildete mir ein, Solowejczyk hielte zu mir, ja, er liebte mich.
Ich beschloß auch, sofort zu ihm zu gehen.
Ich erhob mich und sagte feierlich (heute kommt es mir lächerlich vor): ›Ein echter Krapotkin‹, ich betonte das Wort ›echter‹, ›nimmt keine Abfindungssumme. Ein falscher bietet sie an.‹
Ich erwartete eine Geste, ein Wort der Empörung aus dem Munde des Alten. Aber er rührte sich nicht. Er sah mich nicht einmal an. Er sah nur auf die glatte schwarze Tischplatte, als lägen dort Papiere, als läse er im Holz und als stünde im Holz der Satz geschrieben, den er ein paar Sekunden später äußerte.
›Gehn Sie‹, sagte er, ohne den Blick, geschweige denn sich selbst zu erheben, ›und tun Sie, was Ihnen bekömmlich ist.‹
Das Wort ›bekömmlich‹ machte mich erröten.
Ich ging, ohne Gruß. Es regnete, und ich befahl dem Portier, mir einen Wagen zu holen. Noch kam ich mir wie ein Fürst vor, während ich bereits wußte, daß ich wieder der Golubtschik war; höchstens noch ein paar Tage konnte ich Krapotkin sein.
Aber ich war froh, meine Freunde, trotzdem, daß ich in ein paar Tagen meine alte Existenz und meinen mir gebührenden Namen wiederfinden würde. Glaubt mir, ich war froh. Und wenn mich etwas damals betrübte, so war es der Umstand, daß ich der Jüdin Rifkin nicht hatte helfen können. Hatte ich doch gedacht, es gäbe eine Gelegenheit, alles Böse wettzumachen, das ich begangen hatte. – Nun! – So hatte ich wenigstens meine eigene Existenz gerettet, vielleicht auch ein bißchen gereinigt.
Ich war froh.