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So traurig mir der Augenblick, in welchem mir die Angst den Gedanken an die Flucht eingab, vorgekommen war, in so bezauberndem Lichte erschien mir der, in welchem ich ihn zur Ausführung brachte. Noch im Kindesalter meine Heimat, meine Verwandten, meine Stützen, meine Hilfsmittel verlassen; aus einer nur halbvollendeten Lehrzeit treten, ohne die genügende Fertigkeit in meinem Handwerke zu besitzen, um davon leben zu können; mich den Schrecken des Elendes aussetzen, ohne ein Mittel zu haben, mich daraus emporzuarbeiten; mich im Alter der Schwachheit und der Unschuld allen Versuchungen des Lasters und der Verzweiflung preisgeben; in fernen Landen Leiden, Verirrungen, Fallstricke, Sklaverei und Tod aufsuchen, mir ein Joch aufladen, das weit schwerer abzuschütteln war als das, welches ich nicht hatte aushalten können: das war es, was ich zu thun im Begriff stand, das war die Aussicht, die ich hätte ins Auge fassen sollen. Wie verschieden davon war die, welche ich mir ausmalte! Die Unabhängigkeit, die ich gewonnen zu haben wähnte, war das einzige Gefühl, welches mich erfüllte. Frei und Herr meiner selbst, glaubte ich alles thun, alles erreichen zu können; ich brauchte nur meine Kraft zu entfalten, um mich emporzuschwingen und in den Lüften zu fliegen. Sorglos trat ich in die weite Welt; meine Talente mußten sich in ihr Geltung verschaffen: auf jedem Schritte mußte ich Feste, Schätze, Abenteuer, dienstwillige Freunde, um meine Gunst buhlende Geliebte finden; wenn ich mich nur zeigte, mußte ich das Weltall mit mir beschäftigen; wenn auch nicht das ganze; ich überhob es gewissermaßen desselben, so viel hatte ich nicht nöthig; eine reizende Gesellschaft genügte mir, und um den Rest kümmerte ich mich nicht. In richtiger Maßhaltung beschränkte ich mich auf einen zwar engen, aber trefflich gewählten Kreis, in dem ich sicher war zu herrschen. Ein einziges Schloß war für meinen Ehrgeiz genügend, als Günstling des Herrn und der Herrin, als Geliebter des Schloßfräuleins, als Freund ihres Bruders und als Gönner der Nachbarn war ich zufrieden; mehr bedurfte ich nicht.
In Erwartung der Erfüllung dieses bescheidenen Zukunfttraumes irrte ich einige Tage um die Stadt herum und fand während derselben bei mir bekannten Bauern ein Unterkommen, die mich alle mit größerer Güte aufnahmen, als es Städter gethan haben würden. Sie nahmen mich auf, sie gaben mir Obdach, sie speisten mich, alles mit zu viel Treuherzigkeit, um ein Verdienst davon zu haben. Man konnte das nicht als eine Almosenspende bezeichnen; dazu nahmen sie nicht genug die Miene der Überlegenheit an.
Auf diesen Reisen und Streifereien durch die Welt kam ich nach Confignon auf savoyischem Gebiete zwei Stunden von Genf. Der Pfarrer hieß Herr von Pontverre. Dieser in der Geschichte der Republik berüchtigte Name fiel mir auf. Ich war neugierig zu sehen, wie sich die Abkömmlinge der Ritter vom LöffelDiese Ritter, Unterthanen des Herzogs von Savoyen, wurden deshalb so genannt, weil sie als Feinde der Genfer, die sie sich mit dem Löffel aufzuessen gerühmt hatten, einen Löffel als Erkennungszeichen um den Hals trugen. Von 1527 bis 1530 fügten sie Genf vielen Schaden zu. ausnähmen. Ich besuchte Herrn von Pontverre. Er empfing mich herzlich, redete mit mir von der Genfer Ketzerei, von der Macht der heiligen Mutterkirche und gab mir zu essen. Auf Gründe, die so endigten, fand ich wenig zu erwidern, und ich schloß, daß Pfarrer, bei denen man so gut speiste, wenigstens eben so viel werth wären wie unsere Prediger. Ich war sicherlich gelehrter als Herr von Pontverre, ein so vollendeter Edelmann er auch war; aber ich war ein zu guter Gast, um ein eben so guter Theologe zu sein, und sein Frangiwein, der mir vortrefflich vorkam, brachte für ihn so unwiderlegliche Gründe vor, daß ich mich geschämt hätte, einem so wackern Wirthe gegenüber das letzte Wort zu behalten. Ich gab deshalb nach oder widersprach ihm wenigstens nicht in das Gesicht.
Erwägt man die Rücksichten, die ich nahm, so hätte man mich für falsch halten können. Man hätte sich geirrt; ich wahrte nur die Schicklichkeit, so viel ist gewiß, Schmeichelei, oder vielmehr Nachgiebigkeit, ist nicht immer etwas Schlechtes; sie ist öfter eine Tugend, namentlich bei jungen Leuten. Die Güte, mit der ein Mensch uns behandelt, stimmt uns freundlich für ihn; man giebt ihm nicht nach, um ihn zu hintergehen, sondern um ihn nicht zu betrüben, um ihm nicht Gutes mit Bösem zu vergelten. Welchen Vortheil hatte Herr von Pontverre davon, mich aufzunehmen, mich freundlich zu behandeln, mich überzeugen zu wollen? Keinen andern als meinen eigenen. Mein junges Herz sagte sich das. Ich war von Erkenntlichkeit und Achtung vor dem guten Priester ergriffen. Ich fühlte meine Ueberlegenheit, wollte ihn aber zum Lohn für seine Gastfreundschaft nicht damit demüthigen. Bei diesem Benehmen war alle Heuchelei außer dem Spiele: ich dachte nicht an einen Religionswechsel, und weit entfernt, mich mit diesem Gedanken so schnell vertraut zu machen, betrachtete ich ihn nur mit einem Abscheu, der ihn lange Zeit von mir fern halten mußte; ich wollte nur denen nicht wehe thun, die mir wohl wollten, wenn sie es auch nur in jener Absicht thaten; ich wollte mir ihr Wohlwollen bewahren und ihnen die Hoffnung des Erfolges lassen, indem ich weniger gewaffnet schien, als ich es in der That war. Mein Fehler in dieser Beziehung läßt sich mit der Koketterie ehrbarer Frauen vergleichen, die, ohne etwas zu gestatten oder zu verheißen, doch zur Erreichung ihres Zwecks es sehr wohl verstehen, mehr hoffen zu lassen, als sie zu erfüllen willens sind.
Vernunft, Theilnahme, Christenpflicht hätten doch gewiß verlangt, daß man, anstatt auf meine Thorheit einzugehen, mich dem Untergange, dem ich entgegenlief, entrissen hätte, indem man mich meiner Familie zurückschickte. Das würde jeder wahrhaft tugendhafte Mann gethan oder sich zu thun bestrebt haben. Allein war Herr von Pontverre auch ein guter Mann, so war er doch sicherlich kein tugendhafter Mann, im Gegentheil, er war ein Frömmler, der nur Bilderanbetung und Hersagen des Rosenkranzes als Tugenden anerkannte; eine Art Missionär, der zum Besten des Glaubens nichts Besseres wußte, als Streitschriften gegen die Genfer Geistlichkeit zu verfassen. Anstatt daran zu denken, mich nach Hause zurückzuschicken, benutzte er mein Verlangen, mich davon zu entfernen, um mich außer Stand zu setzen, dahin zurückzukehren, selbst wenn ich wieder Lust dazu verspüren sollte. Man hätte fest darauf wetten können, daß er mich der Gefahr aussetzte, im Elend umzukommen oder ein Taugenichts zu werden. Das faßte er nicht ins Auge. Er sah nichts als eine der Ketzerei entrissene und der Kirche wiedergegebene Seele. Was kümmerte es ihn, ob ich ein ehrlicher Mensch oder ein Taugenichts wurde, wenn ich nur in die Messe ging? Man darf übrigens nicht glauben, daß diese Denkweise nur den Katholiken eigenthümlich sei; sie wird von jeder Dogmenreligion getheilt, die den Glauben über das Thun stellt.
»Gott beruft Sie,« sagte Herr von Pontverre zu mir. »Gehen Sie nach Annecy; dort werden Sie eine gute und sehr mildthätige Dame finden, welche die Wohlthaten des Königs in den Stand setzen, andere Seelen aus dem Irrthume zu reißen, den sie selbst abgelegt hat.« Es handelte sich um Frau von Warens, eine Neubekehrte, welcher die Priester in der That den Zwang auferlegten, eine ihr von dem Könige von Sardinien ausgesetzte Pension von zweitausend Francs mit dem Pack zu theilen, welches seinen Glauben zu verkaufen kam. Ich fühlte mich sehr gedemüthigt, eine gute und sehr mildthätige Dame nöthig zu haben. Ich sah es gern, wenn man mir gab, was ich gebrauchte, aber Almosen wollte ich nicht, und eine Frömmlerin war für mich nicht sehr anziehend. Allein von Herrn von Pontverre angetrieben, vom Hunger gepeinigt, auch sehr froh darüber, eine Reise zu machen und endlich einen bestimmten Zweck zu haben, entschließe ich mich, wenn auch ungern, dazu und breche nach Annecy auf. Ich konnte den Weg dorthin leicht in einem Tage zurücklegen, aber ich eilte nicht, ich verwandte darauf drei. Ich sah kein Schloß zur Rechten oder zur Linken, ohne mich vor ihm nach dem Abenteuer umzusehen, von dem ich überzeugt war, daß es mich dort erwartete. Da ich sehr schüchtern war, wagte ich nicht in das Schloß einzutreten oder anzuklopfen; aber ich sang unter dem Fenster, wo ich am ehesten bemerkt zu werden hoffte, und war, wenn ich meine Lunge lange angestrengt hatte, sehr erstaunt, weder Damen noch Fräulein erscheinen zu sehen, die die Schönheit meiner Stimme oder der Witz meiner Lieder herbeigezogen hätte, was um so auffallender war, da ich doch bewunderungswürdige wußte, die ich von meinen Kameraden gelernt hatte und bewunderungswürdig sang.
Endlich lange ich an; ich sehe Frau von Warens. Diese Epoche meines Lebens hat über meinen Charakter entschieden. Ich kann mich nicht entschließen, leicht darüber hinwegzugehen. Ich war in meinem sechszehnten Jahre. Ohne das zu sein, was man einen hübschen Jungen nennt, war ich von schönem Wuchse, ich hatte einen hübschen Fuß, ein feines Bein, ein offenes Wesen, belebte Züge, einen niedlichen Mund,Var. . . . einen niedlichen Mund mit häßlichen Zähnen. schwarze Augenbrauen und Haare, kleine und sogar tiefliegende Augen, die aber das Feuer, von dem mein Blut entzündet war, wiederstrahlten. Unglücklicherweise wußte ich nichts von dem allen, und mein Leben lang bin ich nie auf den Einfall gerathen, an mein Aeußeres zu denken, als bis es nicht mehr an der Zeit war, Vortheil daraus zu ziehen. Eben so hatte ich außer der Schüchternheit meines Alters noch die einer sich nach Liebe sehnenden Natur, die sich in steter Angst befand, zu mißfallen. Außerdem fehlten mir, da ich bei aller geistigen Tüchtigkeit die Welt nie gesehen hatte, völlig alle Umgangsformen; meine Kenntnisse boten dafür nicht nur keinen Ersatz, sondern dienten nur dazu, mich noch mehr einzuschüchtern, da sie mir meinen Mangel erst recht fühlbar machten.
Da ich also besorgte, daß meine erste Vorstellung nicht zu meinen Gunsten ausfallen würde, suchte ich mich auf andere Weise in ein vortheilhaftes Licht zu setzen und schrieb einen schönen Brief im Kanzelstile, in dem ich unter Zusammenhäufung von Bücherphrasen und Lehrlingsausdrücken meine ganze Beredsamkeit entfaltete, um mir das Wohlwollen der Frau von Warens zu erwerben. Ich legte den Brief des Herrn von Pontverre in den meinigen ein und machte mich zu der schrecklichen Audienz auf den Weg. Ich traf Frau von Warens nicht an; man sagte mir, sie wäre eben zur Kirche gegangen. Es war der Palmsonntag des Jahres 1728. Ich laufe um ihr zu folgen: Ich sehe sie, ich hole sie ein, ich rede sie an. Unaufhörlich schweifen meine Gedanken zu dieser Stelle hinüber, die ich seitdem oft mit meinen Thränen genetzt und mit meinen Küssen bedeckt habe. O daß ich diese glückselige Stätte mit einem goldenen Gitter umgeben, ihr die Huldigungen der ganzen Erde zulenken könnte! Wer es liebt, die Denkmale des Heils der Menschen zu ehren, sollte sich ihr nur auf den Knien nahen.
Unsere Begegnung fand in einem Durchgange hinter ihrem Hause zwischen einem Bache zur Rechten und der Hofmauer zur Linken statt, der durch eine Hinterthüre zur Kirche der Franziskaner führte. Im Begriff durch diese Thüre zu gehen, wendet sich Frau von Warens beim Klange meiner Stimme um. Wie wurde mir bei diesem Anblick! Ich hatte mir eine alte, höchst mürrische Betschwester vorgestellt; nach meiner Ansicht konnte die gute Dame des Herrn von Pontverre gar nichts Anderes sein. Ich sehe ein Gesicht voller Liebreiz, schöne blaue Augen voller Sanftmuth, eine blendende Gesichtsfarbe, die Umrisse eines bezaubernden Busens. Nichts entging dem raschen Blicke des jungen Proselyten; denn augenblicklich hatte sie mich für ihre Sache gewonnen, da ich überzeugt war, daß eine Religion, von solchen Glaubensboten gepredigt, geraden Weges in das Paradies führen mußte. Sie nimmt lächelnd den Brief, den ich ihr mit zitternder Hand überreiche, öffnet ihn, wirft einen Blick auf den des Herrn von Pontverre und sieht dann wieder in den meinigen, den sie bis zu Ende liest und noch einmal gelesen haben würde, wenn ihr Diener sie nicht daran erinnert hätte, daß es Zeit wäre einzutreten. »Ach, mein Kind,« sagte sie zu mir in einem Tone, der mich heben machte, »Sie sind noch so jung und streifen schon durch das Land! Das ist in der That Schade.« Ohne meine Antwort abzuwarten, fügte sie dann hinzu: »Erwarten Sie mich in meiner Wohnung und lassen Sie sich ein Frühstück geben; nach der Messe werde ich mit Ihnen Rücksprache nehmen.«
Louise Eleonore von Warens war ein geborenes Fräulein de la Tour de Pil; ihre alte adlige Familie wohnte in Vevay, einer Stadt im Canton Waadt. Noch sehr jung hatte sie Herrn von Warens aus dem Hause Loys, ältesten Sohn des Herrn von Villardin von Lausanne geheirathet. Da diese Ehe, aus der keine Kinder hervorgingen, nicht allzu glücklich war, ergriff Frau von Warens, von häuslichem Kummer getrieben, die sich ihr durch die Anwesenheit des Königs Victor Amadeus in Evian darbietende Gelegenheit und fuhr über den See, um sich diesem Fürsten zu Füßen zu werfen, und riß sich so durch eine der meinigen sehr ähnliche Unbesonnenheit, die sie ebenfalls immerdar hat beweinen müssen, von ihrem Gatten, ihrer Familie und ihrer Heimat los. Der König, der gern den eifrigen Katholiken spielte, nahm sie unter seinen Schutz, bewilligte ihr eine Pension von fünfzehnhundert piemontesischen Livres, was für einen im Allgemeinen wenig freigebigen Fürsten eine bedeutende Summe war, und sandte sie, als er wahrnahm, daß man ihn um deswillen für verliebt in sie hielt, von einer Abtheilung seiner Garden geleitet, nach Annecy, wo sie unter der Gewissensleitung des Titularbischofes von Genf, Michael Gabriel von Bernex, im Kloster der Heimsuchung Mariä ihren Glauben abschwor.
Als ich in Annecy eintraf, war sie schon sechs Jahre daselbst und zählte damals achtundzwanzig Jahre, da sie am Anfange des Jahrhunderts geboren war. Ihre Schönheit gehörte zu jenen, die lange Dauer haben, weil sie sich weniger in den Zügen als in dem Gesichtsausdrucke ausprägt; auch war die ihrige noch in ihrem ersten Glanze. Sie hatte eine angenehm berührende und zärtliche Miene, einen sehr sanften Blick, ein engelgleiches Lächeln, einen dem meinigen ähnlichen Mund und aschfarbiges Haar von ungewöhnlicher Schönheit, auf dessen Ordnung sie wenig Sorgfalt verwandte, was ihr etwas ungemein Reizendes verlieh. Sie war nur klein, sogar untersetzt und hatte eine etwas starke, wenn auch nicht unschöne Taille; aber es war unmöglich einen schöneren Kopf, einen schöneren Busen, schönere Hände und schönere Arme zu sehen.
Auf ihre Erziehung hatten gar verschiedene Elemente eingewirkt. Sie hatte wie ich ihre Mutter schon bei ihrer Geburt verloren, und da sie jeden Unterricht, wie er sich gerade darbot, ohne Unterschied erhielt, hatte sie etwas von ihrer Gouvernante, etwas von ihrem Vater, etwas von ihren Lehrern, und viel von ihren Liebhabern gelernt, besonders von einem Herrn von Tavel, welcher Geschmack und Kenntnisse besaß und sie auch seiner Geliebten beibrachte, der sie zur Zierde gereichten. Allein so viele verschiedene Unterrichtsarten schadeten sich gegenseitig, und die Planlosigkeit, mit der sie ihre vielfachen Studien betrieb, trug die Schuld, daß sie geistig durch dieselben wenig gefördert wurde, so begabt sie von Natur auch war. Deshalb ließ sie sich auch, obgleich sie mit den Anfangsgründen der Philosophie und der Physik einigermaßen vertraut war, nicht von ihrer Vorliebe für Quacksalberei und Alchymie abbringen, die sie mit ihrem Vater theilte. Sie bereitete Elixire, Tincturen, Balsame, Recepte; sie behauptete, sich auf Geheimmittel zu verstehen, Schwindler, die sich ihre Schwäche zu Nutze machten, bemächtigten sich ihrer, umlagerten sie, richteten sie zu Grunde und zerstörten unter Schmelztiegeln und Quacksalbereien ihren Geist, ihre Talente und ihre Reize, durch welche sie sich zum Lieblinge der besten Gesellschaft hätte machen können.
Aber wenn niederträchtige Spitzbuben ihre schlecht geleitete Erziehung mißbrauchten, um ihren gesunden Menschenverstand auf Abwege zu führen, so bewährte sich doch ihr vortreffliches Herz und blieb stets das nämliche. Ihr liebevoller sanfter Charakter, ihr Wohlwollen gegen Unglückliche, ihre unerschöpfliche Güte, ihr aufrichtiges, offenes und immerdar heiteres Gemüth war nie einer Wandlung unterworfen, und sogar noch bei herannahendem Alter, von Armuth, Leiden und mancherlei Unglücksfällen bedrängt, erhielt ihr die Ruhe und Reinheit ihrer schönen Seele den ganzen Frohsinn ihrer schönsten Tage.
Der Grund zu ihren Verirrungen lag in einem nie ermattenden Thätigkeitstriebe, der unaufhörlich Beschäftigung verlangte. Sie brauchte keine Weiberintriguen, sondern hatte die Leitung und Durchführung von Geschäften nöthig. Sie war für große Angelegenheiten geschaffen. An ihrer Stelle wäre die Frau von Longueville nur eine Ränkeschmiedin gewesen, sie dagegen hätte an der Stelle der Frau von Longueville den Staat regiert. Mit ihren Talenten war sie nicht am rechten Platze, und was in einer höheren Stellung ihren Ruhm begründet hätte, gereichte ihr in der, in welcher sie lebte, zum Verderben. Bei allen für sie ausführbaren Dingen erweiterte sie ihren Plan stets im Geiste und betrachtete ihren Gegenstand nur im Großen. Da nun die Mittel, die sie anwandte, mehr im Verhältnis zu ihren Entwürfen als zu ihren Kräften standen, so mußte sie aus Mangel an letzteren scheitern, und wenn ihr Plan fehlschlug, wurde sie um ihr ganzes Vermögen gebracht, wo Andere fast nichts verloren hätten. Dieser Thätigkeitstrieb, aus dem für sie so viel Leid erwuchs, hatte in ihrem klösterlichen Zufluchtsorte für sie wenigstens das Gute, daß er sie davon abhielt, sich, wie sie Lust gehabt hatte, dort für immer fesseln zu lassen. Das gleichförmige und einfache Leben der Nonnen, ihr inhaltsloses Geplauder im Sprechzimmer, alles dies konnte auf die Länge einem Geiste nicht genügen, der, in steter Erregung, täglich neue Pläne ersann und deshalb der Freiheit bedurfte, um sich mit ihrer Ausführung zu beschäftigen. Der gute Bischof von Bernex, der sich an Geist mit Franz von Sales nicht messen konnte, glich ihm doch in vielen Punkten, und Frau von Warens, welche er seine Tochter nannte, und die der Frau von Chantal in vielen anderen Punkten ähnlich war, hätte derselben auch in ihrer Zurückgezogenheit ähnlich sein können, wenn ihr Hang nicht mit dem müßigen Leben eines Klosters unvereinbar gewesen wäre. Es war durchaus nicht Mangel an Glaubenseifer, wenn jene liebenswürdige Frau nicht die kleinen Andachtsübungen mitmachte, die sich für eine unter der Leitung eines Prälaten stehende Neubekehrte zu schicken schienen. Was auch der Grund zu ihrem Religionswechsel gewesen sein mochte, so war sie doch der Religion, welche sie angenommen hatte, aufrichtig zugethan. Sie hat ihren Uebertritt vielleicht als einen Fehler bereut, aber nie den Wunsch gehegt, ihn ungeschehen zu machen. Sie ist nicht allein als gute Katholikin gestorben, sie hat auch ihrem Glauben getreu gelebt, und ich, der ich auf dem Grunde ihrer Seele gelesen zu haben glaube, behaupte dreist, daß sie lediglich aus Abscheu vor allem äußeren Wesen ihre Frömmigkeit nicht öffentlich zeigte. Sie besaß eine zu wahre Frömmigkeit, um sich in der Rolle einer Frömmlerin gefallen zu können. Aber hier ist nicht der Ort, mich über ihre Grundsätze weitläufig zu ergehen; es wird sich mir noch andere Gelegenheit darbieten, davon zu reden.
Wer die Sympathie der Seelen läugnet, möge, wenn er es vermag, erklären, wie es zuging, daß mir Frau von Warens vom ersten Begegnen, vom ersten Worte, vom ersten Blicke an nicht allein die lebhafteste Zuneigung, sondern auch ein vollkommenes Vertrauen einflößte, das nie aufgehört hat. Nehmen wir an, meine Gefühle für sie wären wirklich Liebe gewesen, was dem, der dem Verlaufe unseres Verhältnisses folgen wird, wenigstens zweifelhaft vorkommen muß: wie, frage ich, konnte dann diese Leidenschaft von ihrem Entstehen an von Empfindungen begleitet sein, welche sie am wenigsten erweckt, von Herzensfrieden, Ruhe, Frohsinn, Sorglosigkeit, Sicherheit? Wie konnte ich mich, als ich mich zum ersten Male einer liebenswürdigen, gebildeten, blendend schönen Frau näherte, einer Dame, die einem höheren Stande als ich angehörte, wie ich noch nie zu einer Zutritt gehabt hatte, von der gewissermaßen, je nach dem größeren oder geringeren Antheil, den sie an mir nehmen würde, mein Schicksal abhing: wie, sage ich, konnte ich mich bei dem allen augenblicklich eben so frei, eben so behaglich fühlen, als wäre ich vollkommen überzeugt gewesen, ihr zu gefallen? Wie konnte ich auch nicht einen Augenblick verlegen, ängstlich und beklommen sein? Wie konnte ich, da ich von Natur schüchtern und verlegen war und die Welt nicht kannte, ihr gegenüber vom ersten Tage, vom ersten Augenblicke an das ungezwungene Benehmen, die zärtliche Sprache, den vertrauten Ton annehmen, den ich zehn Jahre später im Verkehre mit ihr stets anschlug, als ihn die größte Vertraulichkeit natürlich gemacht hatte? Fühlt man Liebe, ich sage nicht ohne Verlangen, das ich in der That empfand, aber ohne Unruhe, ohne Eifersucht? Will man vom Gegenstande seiner Liebe nicht wenigstens hören, ob man Gegenliebe findet? Diese Frage an sie zu richten, ist mir in meinem Leben ja eben so wenig in den Sinn gekommen, als mich selbst zu fragen, ob ich sie liebte, und auch sie hat sich gegen mich nicht neugieriger gezeigt. In meinen Gefühlen für diese reizende Frau lag sicherlich etwas Eigenthümliches, und man wird späterhin noch Sonderbarkeiten zu hören bekommen, die man schwerlich vermuthet.
Es handelte sich darum, was aus mir werden sollte, und um es ruhiger mit mir besprechen zu können, behielt sie mich zum Essen. Dies war die erste Mahlzeit in meinem Leben, bei der es mir an Appetit fehlte, und ihre Kammerfrau, die uns aufwartete, erklärte mich für den ersten Reisenden meines Alters und Schlages, bei dem sie einen Mangel daran wahrgenommen hätte. Diese Bemerkung, die mir in den Augen ihrer Herrin nicht schadete, zielte auf einen dicken ungeschlachten Burschen, der mit uns speiste und ganz allein so viel verschlang, daß sechs Personen vollkommen damit ausgereicht hätten. Ich für meine Person befand mich in einem Entzücken, das mich nicht zum Essen kommen ließ. Mein Herz nährte sich von einem ganz neuen Gefühle, das mich völlig durchdrang und erfüllte und mir den Sinn für alles Andere raubte.
Frau von Warens verlangte die Einzelheiten meiner kleinen Geschichte zu erfahren. Während dieser Erzählung fand ich all das Feuer wieder, welches ich bei meinem Meister verloren hatte. Je mehr ich diese vortreffliche Seele zu meinen Gunsten einnahm, desto mehr bedauerte sie das Loos, dem ich mich aussetzen wollte. Ihr zärtliches Mitleid gab sich in ihren Mienen, in ihren Blicken, in ihren Bewegungen zu erkennen. Sie wagte nicht mich zu ermahnen, nach Genf zurückzukehren; in ihrer Lage wäre das Hochverrath gegen die katholische Kirche gewesen, und sie wußte sehr wohl, wie sehr sie überwacht und ihre Worte auf die Goldwage gelegt wurden. Aber sie redete zu mir in einem so rührenden Tone von dem Kummer meines Vaters, daß man ihr recht gut anmerken konnte, wie sehr sie sich gefreut hätte, wenn ich, um ihn zu trösten, zu ihm zurückgeeilt wäre. Sie ahnte nicht, wie sehr sie unbewußt gegen sich selber sprach. Abgesehen davon, daß ich meinen Entschluß, wie ich schon gesagt zu haben glaube, einmal gefaßt hatte, war ich, je beredter und überzeugender ich sie fand und je mehr mir ihre Worte zu Herzen gingen, um so weniger im Stande, mich von ihr zu trennen. Ich sah ein, daß ich durch meine Rückkehr nach Genf eine fast unübersteigliche Schranke zwischen ihr und mir aufrichten würde, wenn ich nicht den bereits gethanen Schritt von Neuem thun wollte, und deshalb war die sofortige Durchführung meines Entschlusses jedenfalls am besten. Ich blieb ihm also getreu. Als Frau von Warens die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen sah, trieb sie dieselben nicht so weit, daß sie sich selbst dadurch bloßstellte, sagte aber mit einem Blicke voll Mitleid zu mir: »Armer Kleiner, du mußt gehen, wohin Gott dich ruft; wenn du aber erwachsen bist, wirst du meiner gedenken.« Ich glaube, daß sie selbst nicht dachte, wie grausam sich diese Vorhersagung erfüllen würde.
Die Schwierigkeit meiner Lage blieb nach wie vor gleich groß. Wie sollte ich mich in meinem jugendlichen Alter fern von der Heimat ernähren? Da ich kaum die Hälfte meiner Lehrzeit hinter mir hatte, war ich noch weit davon entfernt, mein Handwerk zu verstehen. Aber selbst wenn ich es verstanden hätte, würde ich in Savoyen, einem Lande, zu arm, um die Künste zu pflegen, nicht davon haben leben können. Der ungeschlachte Bursch, der für uns mit aß, endlich gezwungen sich zur Schonung seiner Kinnbacken einen Augenblick auszuruhen, gab mir einen Wink, der, wie er sagte, vom Himmel käme, der aber, wenn ich an die Folgen denke, weit eher von der entgegengesetzten Seite kam. Er rieth mir nach Turin zu gehen, wo ich nach seiner Behauptung in einem für die Ausbildung der Katechumenen errichteten Hospize so lange meine leibliche wie geistige Speise erhalten würde, bis ich nach meiner Aufnahme in den Schoos der Kirche durch die Mildthätigkeit guter Seelen eine geeignete Stellung fände. »Was die Reisekosten anlangt,« fuhr mein Mann fort, »so wird der hochwürdige Herr Bischof, wenn ihn die gnädige Frau um dieses fromme Werk bittet, nicht ermangeln, denselben reichlich damit zu versehen, und,« sagte er, indem er sich über seinen Teller neigte, »die Frau Baronin, die so mildthätig ist, wird sich gewiß beeilen, ihr Scherflein ebenfalls dazu beizutragen.«
Alle solche milde Gaben kamen mir sehr hart vor; mein Herz war sehr beklommen; ich konnte nichts sagen, und Frau von Warens, die diesen Vorschlag nicht so eifrig aufnahm, wie er gemacht worden war, begnügte sich zu entgegnen, daß jeder nach seinen Kräften zur Förderung des Glaubens behilflich sein müßte, und daß sie mit seiner Hochwürden Rücksprache nehmen würde. Aber der verteufelte Geselle, welcher befürchtete, daß ihre Worte nicht nach seinem Sinne ausfallen würden, und doch gern einen kleinen Vortheil aus dieser Sache ziehen wollte, beeilte sich die Domherren davon in Kenntnis zu setzen und gewann die guten Priester so vollkommen für seinen Plan, daß, als Frau von Warens, die wegen dieser Reise für mich besorgt war, mit dem Bischof darüber reden wollte, sie schon alles geregelt fand und von ihm augenblicklich die zu meinem kleinen Zehrpfennig bestimmte Geldsumme erhielt. Sie hatte nicht den Muth darauf zu bestehen, daß ich dableiben sollte, da ich mich schon einem Alter näherte, wo eine Frau in dem ihrigen schicklicherweise nicht den Wunsch aussprechen durfte, einen jungen Mann bei sich zurückzuhalten.
Da nun von denen, die sich meiner annahmen, meine Reise in solcher Weise festgesetzt war, mußte ich mich ihrem Willen unterwerfen und that es sogar ohne großes Widerstreben. Obgleich Turin weiter als Genf war, so mußte es meines Erachtens als Hauptstadt doch mit Annecy engere Verbindungen haben als eine Stadt, die einem fremden Staate und einem andern Glauben angehörte; und da ich ferner nur abreiste, um Frau von Warens zu gehorchen, so betrachtete ich mich als beständig unter ihrer Leitung stehend, und das hieß mehr als in ihrer Nähe leben. Endlich schmeichelte die Vorstellung einer großen Reise meinem Wandertriebe, der schon hervorzutreten begann. Es kam mir schön vor, in meinem Alter das Gebirge zu durchstreifen und mich über meine Kameraden um die ganze Höhe der Alpen zu erheben. Länder sehen hat einen Reiz, dem ein Genfer nicht leicht widersteht: ich gab demnach meine Einwilligung. Der ungeschlachte Bursche mußte in zwei Tagen mit seiner Frau ebenfalls dorthin reisen. Ihnen wurde ich anvertraut und anempfohlen. Auch meine Börse, die von Frau von Warens noch mehr gefüllt war, wurde ihnen übergeben. Außerdem gab mir aber meine Beschützerin noch im Geheimen eine kleine Summe, über deren Verwendung sie ausführliche Anweisungen hinzufügte, und am Mittwoch in der Charwoche reisten wir ab.
Am Tage nach meiner Abreise von Annecy kam mein Vater daselbst an, der mit einem Herrn Rival, seinem Freunde, meine Spur verfolgte. Dieser, Uhrmacher wie mein Vater, war ein Mann von Geist, Schöngeist sogar, der in der Verskunst La Motte übertraf und im Reden ihm fast gleichkam. Was aber noch mehr sagen will, er war ein vollkommener Ehrenmann, bei dem jedoch die Literatur nicht an ihrem Platze war, denn sie führte nur dazu, aus einem seiner Söhne einen Schauspieler zu machen.
Diese Herrn suchten Frau von Warens auf und begnügten sich damit, mein Loos mit ihr zu beweinen, anstatt mir nachzueilen und mich einzuholen, wie sie leicht hätten thun können, da sie zu Pferde waren und ich zu Fuß. Mein Oheim Bernard hatte es genau eben so gemacht. Er war nach Confignon gekommen, und kehrte von dort, als er vernahm, daß ich in Annecy war, nach Genf zurück. Meine Verwandten schienen sich mit meinem Stern verschworen zu haben, mich dem Geschick, das meiner wartete, zu überliefern. Mein Bruder war in Folge einer ähnlichen Nachlässigkeit verschwunden und so vollständig verschwunden, daß man nie erfahren hat, was aus ihm geworden.
Mein Vater war nicht allein ein Mann von Ehre, er war auch ein Mann von zweifelloser Rechtlichkeit und hatte eine jener starken Seelen, welche die Triebfedern großer Tugenden sind; ja, er war noch dazu ein guter Vater, namentlich gegen mich. Er liebte mich auf das zärtlichste, aber er liebte auch das Vergnügen, und andere Neigungen hatten, seit ich fern von ihm lebte, seine väterliche Liebe ein wenig erkalten lassen. Er hatte sich in Nyon wieder verheirathet, und obgleich seine Frau nicht mehr in dem Alter stand, mir Brüder zu geben, so hatte sie doch Verwandte: das hatte eine andere Familie, andere Verhältnisse, einen neuen Hausstand zur Folge, die ihn nicht mehr so oft an mich erinnerten. Mein Vater alterte und hatte kein Vermögen, sein Alter zu erleichtern. Wir Brüder besaßen von unserer Mutter etwas Vermögen, dessen Zinsen meinem Vater während unserer Abwesenheit zufallen mußten. Der Gedanke hieran wirkte zwar nicht unmittelbar auf ihn ein und hielt ihn von der Erfüllung seiner Pflicht nicht ab, wirkte aber doch unmerklich, ohne daß er selbst sich dessen bewußt wurde, und mäßigte bisweilen seinen Eifer, der ihn sonst weiter getrieben hätte. Hierin liegt, wie ich denke, der Grund, weshalb er, obgleich er mich anfangs bis Annecy verfolgte, mir doch nicht bis Chamberi nachging, wo er überzeugt sein konnte, mich einzuholen, und weshalb er mich, so oft ich ihn nach meiner Flucht besuchte, stets mit väterlicher Zärtlichkeit aufnahm, sich aber nie Mühe gab, mich zurückzuhalten.
Dieses Verhalten eines Vaters, dessen Zärtlichkeit und Pflichttreue ich so gut kannte, hat mir Veranlassung zu Betrachtungen über mich selbst gegeben, die nicht wenig dazu beigetragen haben, mein Herz gesund zu erhalten. Ich habe nämlich daraus die große moralische Lehre gezogen – die einzige vielleicht, die eine erfolgreiche Anwendung zuläßt – mich vor solchen Lebenslagen zu hüten, welche unsere Pflichten mit unsern Vortheil in Widerspruch bringen und uns unser Heil im Nachtheile anderer sehen lassen. Ich ging dabei von der Ueberzeugung aus, daß man, eine wie aufrichtige Liebe man auch zur Tugend hegen mag, in solchen Lagen früher oder später, ohne sich dessen bewußt zu werden, schwach wird. Man wird in der That ungerecht und schlecht, ohne aufgehört zu haben, im Herzen gerecht und gut zu sein.
Dieser Grundsatz, der sich meinem Herzen tief einprägte und von dem ich mich, wenn auch erst ein wenig spät, immerdar leiten ließ, gehört zu denjenigen, die mir in der Welt und namentlich unter meinen Bekannten den Anschein eines wunderlichen und närrischen Menschen verliehen. Man hat mir nachgesagt, ich wollte ein Original sein und anders handeln als andere. In Wahrheit bin ich jedoch weder darauf ausgegangen wie andere, noch anders als sie zu handeln. Ich wünschte immer nur aufrichtig, recht zu thun. Mit aller Gewalt entzog ich mich Lagen, die meinen Vortheil mit dem eines andern Menschen in Widerspruch bringen und mir folglich das geheime, wenn auch unabsichtliche Verlangen nach dem Schaden dieses Menschen einflößen mußten.
Vor zwei Jahren wollte mich Lord Maréchal in seinem Testament bedenken; ich widersetzte mich dem mit aller Kraft. Ich gab ihm zu erkennen, daß ich mich um alles in der Welt in dem Testamente keines Menschen, wer es auch immer sein möchte, und am wenigsten in dem seinigen, wissen wollte. Er fügte sich. Jetzt will er mir eine Leibrente aussetzen, und dagegen erhebe ich keinen Einwand. Man wird sagen, daß ich bei diesem Tausche meine Rechnung finde; wohl möglich. Aber, o mein Wohlthäter und mein Vater, wenn ich das Unglück habe, dich zu überleben, so weiß ich auch, daß ich mit deinem Verluste alles zu verlieren und nichts zu gewinnen habe.
Das ist, denke ich, die beste Philosophie, die einzige dem menschlichen Herzen wahrhaft geziemende. Ich lasse mich von ihrer tiefen Wahrheit täglich mehr durchdringen und habe sie in allen meinen letzten Schriften von verschiedenen Seiten zu beleuchten gesucht; aber die Menschen, die gedankenarm sind, haben sie nicht aufzufassen verstanden. Wenn ich nach Vollendung dieses Werkes noch lange genug lebe, um ein anderes beginnen zu können, so beabsichtige ich in einer Fortsetzung des Emil ein so bezauberndes und schlagendes Beispiel für diese Lebensregel zu geben, daß mein Leser gezwungen sein soll, ihr Beachtung zu schenken.Dieses Beispiel, so schlagend, wie man es nur wünschen kann, ist von ihm schon in der »Neuen Heloise« (3. Thl., Brief XX) gegeben worden, als die jetzt verheirathete Julie Saint-Preux ihren festen Entschluß ausspricht, wenn sie etwa Wolmar verlieren sollte, nie einen anderen Gatten zu nehmen. Aber genug der Betrachtungen für einen Reisenden; es ist Zeit, mich wieder auf den Weg zu machen.
Ich legte ihn angenehmer zurück, als ich hätte erwarten dürfen; mein bäurischer Reisegenosse war keineswegs so grämlich, wie er aussah. Er war ein Mann mittleren Alters, der sein schwarzes, schon ergrauendes Haar in einen Zopf geflochten trug, hatte etwas Soldatenhaftes an sich, eine kräftige Stimme, war heiter, ein tüchtiger Fußgänger und ein noch tüchtigerer Esser und legte sich auf allerlei Gewerbe, weil er kein einziges gründlich verstand. Er hatte, wie ich glaube, die Gründung, ich weiß nicht was für einer Fabrik in Annecy in Vorschlag gebracht. Frau von Warens hatte nicht ermangelt, denselben anzunehmen, und nun reiste er auf ihre Kosten nach Turin, um die Genehmigung des Ministers einzuholen. Unser Mann verstand sich auf das Ränkeschmieden, wobei er sich stets hinter die Priester steckte, und da er sich eifrig bemüht stellte, ihnen Dienste zu leisten, hatte er allmählich in ihrer Schule eine frömmelnde Redeweise angenommen, deren er sich beständig bediente, in dem Wahne, dadurch ein großer Prediger zu sein. Er wußte sogar eine Bibelstelle in der Übersetzung der Vulgata, und da er sie täglich tausendmal wiederholte, so war es eben so gut, als hätte er deren tausend gewußt. Es fehlte ihm übrigens selten an Geld, sobald er etwas in der Börse anderer wußte. Trotzdem war er mehr listig als betrügerisch, und wenn er seine Capuzinaden im Tone eines begeisterten Bekehrers zum besten gab, so glich er Peter dem Einsiedler, wie er mit dem Säbel an der Seite den Kreuzzug predigte.
Was Frau Sabran, seine Gattin betrifft, so war sie eine ganz brave Frau, die sich am Tage ruhiger als des Nachts verhielt. Da ich stets mit meinen Reisegefährten in einem Zimmer schlief, so weckte mich oft die geräuschvolle Schlaflosigkeit der Frau, und hätte mich, wäre mir die Ursache bekannt gewesen, wohl noch wacher gemacht. Allein ich hatte nicht einmal eine Ahnung davon und war über dieses Kapitel in einer Unkunde, die es der Natur allein überlassen hat, für meine Belehrung zu sorgen.
So zog ich mit meinem frommen Führer und seiner lebhaften Gefährtin fröhlich meine Straße. Kein Unfall störte meine Reise; ich fühlte mich leiblich wie geistig so wohl, wie ich je in meinem Leben gewesen bin. Jung, kräftig, voller Gesundheit, Zuversicht und Vertrauen auf mich und andere, befand ich mich in jenem kurzen, aber köstlichen Abschnitt des Lebens, wo dessen strotzende Fülle gleichsam unser ganzes Wesen in all seinen Empfindungen erhebt und erweitert und die ganze Natur in unsern Augen durch den Reiz unseres eigenen Daseins verschönt. Meine süße Unruhe hatte einen Gegenstand, der sie weniger umherschweifen ließ und meiner Einbildungskraft eine bestimmte Richtung gab. Ich betrachtete mich als das Werk, den Schüler, den Freund, ja fast als den Geliebten der Frau von Warens. Die verbindlichen Dinge, die sie mir gesagt, die kleinen Zärtlichkeiten, die sie mir erwiesen; der zärtliche Antheil, den sie allem Anschein nach an mir genommen; die bezaubernden Blicke, die mir Liebe zu verkünden schienen, da sie mir Liebe eingeflößt hatten; alles dies beschäftigte während der Wanderung unaufhörlich meine Seele und versenkte mich in holde Träume. Keine Befürchtung, keine Besorgnis wegen des meiner wartenden Looses störte mich in diesen Träumereien. In meiner Sendung nach Turin lag, wie ich glaubte, die Verpflichtung, dort für meinen Unterhalt zu sorgen und mir eine passende Stellung zu verschaffen. Meinetwegen brauchte ich mir keine Sorge zu machen; diese hatten andere übernommen. So schritt ich leichten Muthes, frei von dieser Last, dahin; jugendliche Wünsche, zauberische Hoffnungen, glänzende Pläne erfüllten meine Seele. Alles, was ich sah, schien mir Bürge meines nahen Glückes zu sein. In den Häusern glaubte ich ländliche Feste zu sehen; auf den Wiesen muntere Spiele; die Flüsse entlang Bäder, Spazierwege und Fischzüge; auf den Bäumen köstliche Früchte; unter ihrem Schatten zärtliche Zusammenkünfte; auf den Bergen Fässer voll Milch und Sahne; reizenden Müßiggang, Frieden, Einfachheit und Lust zu gehen, ohne zu wissen wohin. Kurz, nichts begegnete meinen Blicken, ohne mein Herz mit einem Wonnegefühl zu erfüllen. Bei der Großartigkeit, Mannigfaltigkeit und wirklichen Schönheit des sich mir darbietenden Schauspiels fand dieses Wonnegefühl die Anerkennung der Vernunft; sogar die Eitelkeit fügte eine neue Würze hinzu. So jung nach Italien zu gehen, schon so viele Länder gesehen zu haben, Hannibal über das Gebirge zu folgen, das schien mir ein Ruhm, der über mein Alter hinausging. Dazu darf nicht außer Acht bleiben unsere häufige Einkehr in guten Gasthöfen, mein vortrefflicher Appetit und die Mittel zu seiner Befriedigung, denn es hätte sich in der That nicht verlohnt, mir etwas zu entziehen, da das, was ich verzehrte, im Vergleich zu den Anforderungen, die Herr Sabran für seine Tafel machte, nicht der Rede werth war.
In keiner Zeit meines Lebens bin ich, so viel ich mich erinnern kann, so vollkommen frei von Sorgen und Mühen gewesen, wie in den sieben oder acht Tagen, welche diese Reise in Anspruch nahm, denn Frau Sabrans Schritt, nach dem wir den unsrigen richten mußten, machte nur einen weiten Spaziergang daraus. Diese Erinnerung hat in mir die lebhafteste Vorliebe für alles, was damit in Verbindung steht, besonders für Gebirge und Fußreisen zurückgelassen. Nur in meinen jungen Jahren bin ich zu Fuß gereist und jedesmal mit Vergnügen. Bald aber haben mich Pflichten, Geschäfte, die Mitnahme von Gepäck, gezwungen, den Herrn zu spielen und Wagen zu nehmen; nagende Sorgen, Verlegenheiten, Unbehaglichkeit sind dann mit mir eingestiegen, und während ich sonst auf meinen Reisen nur die Wanderlust empfand, habe ich seitdem nur das Bedürfnis anzukommen empfunden. Lange habe ich in Paris nach zwei Gefährten von gleichem Geschmacke gesucht, die Lust hätten jeder fünfzig Goldstücke von ihrem Eigenthum und ein Jahr von ihrer Zeit dazu herzugeben, mit mir zusammen Italien zu durchwandern, nur von einem Diener begleitet, der uns helfen sollte einen Nachtsack zu tragen. Viele Leute thaten, als wären sie über diesen Plan entzückt, während sie ihn im Grunde sämmtlich für ein Luftschloß hielten, worüber sich plaudern läßt, ohne daß man wirklich die Absicht hegt, ihn auszuführen. Ich erinnere mich, daß ich Diderot und Grimm, denen ich diesen Plan oft mit Leidenschaft auseinandersetzte, endlich Lust dazu einflößte. Einmal hielt ich die Sache schon für abgemacht; das Ganze kam jedoch darauf hinaus, daß sie nur die Absicht hatten, schriftlich eine Reise zu machen, bei der Grimm nichts so drollig fand, als Diderot eine Menge Ruchlosigkeiten begehen zu lassen, und mich an seiner Stelle der Inquisition zu überantworten.
Mein Bedauern, so schnell in Turin anzulangen, wurde durch das Vergnügen, eine große Stadt zu sehen, und durch die Hoffnung vermindert, dort bald eine meiner würdige Rolle zu spielen, denn schon stiegen mir die Dünste des Ehrgeizes zu Kopfe, schon sah ich mich unendlich erhaben über meinen alten Stand als Lehrling: ich war gar weit davon entfernt vorherzusehen, daß ich binnen Kurzem unendlich tief unter demselben stehen würde.
Ehe ich jedoch fortfahre, ist es meine Schuldigkeit, mich bei dem Leser sowohl wegen der unbedeutenden Einzelheiten, die ich erzählt, als auch wegen derjenigen zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, die ich noch späterhin erzählen werde, und die in seinen Augen nichts Interessantes haben. Da ich es aber einmal unternommen, mich dem Publikum ganz wie ich bin zu zeigen, so darf ihm von mir nichts dunkel oder verborgen bleiben; ich muß mich ihm fortwährend vor Augen stellen, es muß mir auf alle Irrwege meines Herzens, in alle Winkel meines Lebens folgen, es darf mich nicht einen Augenblick aus dem Gesichte verlieren, damit es nicht, wenn es auch nur die kleinste Lücke, die kleinste Unterbrechung in meiner Erzählung fände, sich fragt: »Was hat er während dieser Zeit gethan?« und mich beschuldigt, daß ich ihm nicht alles habe sagen wollen. Ich gebe durch meine Mittheilungen der üblen Nachrede der Menschen schon genug Anhalt, so daß ich mich hüten muß, es auch noch durch das zu thun, was ich mit Stillschweigen übergehe.
Die wenigen Nothgroschen, die mir Frau von Warens eingehändigt, waren dahin; ich hatte geplaudert, und meine Begleiter ließen meine Unvorsichtigkeit nicht unbenutzt. Frau Sabran hatte immer neue Ausflüchte bei der Hand, mir alles, selbst ein kleines silberartiges Band abzunehmen, welches mir Frau von Warens als Degenquaste geschenkt hatte, und dessen Verlust ich tiefer bedauerte als den meiner übrigen Habe; sogar der Degen wäre in ihren Händen geblieben, hätte ich weniger kräftigen Widerstand entgegengesetzt. Unterwegs hatten sie getreulich alle Ausgaben für mich bestritten; aber sie hatten mir nichts gelassen. Ohne Kleider, ohne Geld, ohne Wäsche kam ich in Turin an, indem ich meinem Verdienste allein die ganze Ehre überlassen mußte, mein Glück zu gründen.
Nachdem ich die Briefe, die ich bei mir hatte, abgegeben, wurde ich augenblicklich nach dem Hospiz für Katechumenen geführt, um dort in der Religion, für welche man mir meinen Unterhalt verkaufte, unterrichtet zu werden. Beim Hineingehen gewahrte ich ein starkes eisernes Gitterthor, welches, sobald ich hindurchgeschritten, hinter mir doppelt verschlossen wurde. Dieser Eintritt in meine neue Lebensbahn war für mich eher niederbeugend als ermuthigend und fing eben an mir zu denken zu geben, als man mich in einen ziemlich großen Raum eintreten ließ. Die ganze Ausstattung wurde aus einem hölzernen Altar im Hintergrunde des Zimmers, auf dem ein großes Crucifix emporragte, und aus vier oder fünf um ihn stehenden, ebenfalls hölzernen Stühlen gebildet, die dem Anschein nach einst polirt waren, aber lediglich in Folge des langen Gebrauchs einen schimmernden Glanz erhalten hatten. In diesem Versammlungssaale befanden sich vier oder fünf scheußliche Strolche, meine Unterrichtsgenossen, die eher Diener des Teufels zu sein schienen als Gläubige, die sich sehnten, Gottes Kinder zu werden. Zwei von diesen Schuften waren Slavonier, die sich für Juden und Mauren ausgaben und, wie sie mir gestanden, nichts anderes thaten, als daß sie Spanien und Italien durchwanderten und sich überall, wo sich die Bezahlung der Mühe lohnte, zum Christenthum bekehrten und taufen ließen. Nun öffnete man eine andere eiserne Thür, welche einen großen Balkon, der den Hof entlang lief, in zwei Theile theilte. Durch diese Thür traten unsere Schwestern ein, Katechumenen, die gleich mir darauf bedacht waren, ihre Wiedergeburt nicht durch die Taufe, sondern durch eine feierliche Abschwörung ihres Glaubens zu erlangen. Es waren wohl die größten Vetteln und die gemeinsten Landstreicherinnen, die je den Schafstall des Herrn verpestet haben. Eine einzige kam mir hübsch und ziemlich anziehend vor. Sie war ungefähr von meinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Sie hatte schelmische Augen, die den meinigen dann und wann begegneten. Dies flößte mir einiges Verlangen ein, ihre Bekanntschaft zu machen; aber fast zwei Monate lang, die sie noch in diesem Hause zubrachte, wo sie schon drei Monate geweilt hatte, war es mir durchaus unmöglich, sie anzureden, so sehr war sie unserer alten Kerkermeisterin anempfohlen und von dem heiligen Missionar umlagert, der mit mehr Eifer als Schnelligkeit an ihrer Bekehrung arbeitete. Sie mußte äußerst einfältig sein, wenn sie auch gar nicht danach aussah, denn nie hat ein Unterricht längere Zeit in Anspruch genommen. Der heilige Mann fand sie nie zur Abschwörung reif genug. Aber sie wurde des Klosterzwanges überdrüssig und verlangte ihre Entlassung, ob Christin oder nicht. Man mußte sie beim Worte nehmen, so lange sie noch damit einverstanden war, es zu werden, damit sie nicht widerspenstig würde und ihre Absicht aufgab.
Zu Ehren des neuen Ankömmlings war die kleine Gemeinde versammelt. Man hielt uns eine kurze Ermahnungsrede, um mir ans Herz zu legen, daß ich mich der Gnade, die Gott mir erwies, würdig machen sollte, und die andern zur Fürbitte für mich und zu einem erbaulichen Vorbilde aufzufordern. Als unsere Jungfrauen darauf in ihre Klausur zurückgekehrt waren, hatte ich Zeit in aller Muße über die Betrachtungen anzustellen, in der ich mich befand.
Früh am andern Morgen versammelte man uns abermals zum Unterrichte, und nun fing ich zum ersten Male an, über den Schritt, den ich zu thun im Begriff stand, wie über die Veranlassungen, die mich dazu getrieben hatten, nachzudenken.
Ich habe gesagt, und ich wiederhole und werde vielleicht diesen Umstand, von dessen Wahrheit ich mich täglich mehr durchdrungen fühle, noch öfter wiederholen, daß, wenn je ein Kind eine vernünftige und gesunde Erziehung erhielt, ich es war. Aus einer Familie hervorgegangen, die sich durch Sittlichkeit vor der großen Menge auszeichnete, hatten mich alle meine Verwandten nur zur Züchtigkeit angehalten und mir das beste Beispiel gegeben. Obgleich mein Vater vergnügungslustig war, zeichnete er sich nicht allein durch erprobte Rechtlichkeit, sondern auch durch einen echt religiösen Sinn aus. In der Welt ein Lebemann und in seinem Innern ein Christ, hatte er mir früh die Gesinnungen, von denen er erfüllt war, eingeflößt. Von meinen drei Tanten, die sämmtlich für kluge und tugendhafte Frauenzimmer galten, waren die beiden ältesten fromme und die dritte, ein Mädchen nicht allein voller Anmuth, sondern auch voller Geist und Verstand, war es vielleicht noch mehr, ließ sie es auch äußerlich weniger durchschimmern. Aus dem Schooße dieser achtbaren Familie kam ich zu Herrn Lambercier, der, wenn auch ein Diener der Kirche und Prediger, trotzdem im Innern gläubig war, und dessen Handlungen fast ganz mit seinen Werten in Einklang standen. Seine Schwester und er entwickelten die Grundsätze der Frömmigkeit, die sie in meinem Herzen fanden, durch freundlichen und verständigen Unterricht. Diese würdigen Menschen wandten hierzu so richtige, so kluge, so vernünftige Mittel an, daß ich, weit davon entfernt mich in der Predigt zu langweilen, nie von derselben zurückkehrte, ohne innerlich ergriffen zu sein und gute Vorsätze zu einem rechtschaffenen Lebenswandel zu fassen, gegen die ich auch, so lange ich ihrer eingedenk blieb, selten verstieß. In die Frömmigkeit meiner Tante Bernard konnte ich mich weniger finden, weil sie ein förmliches Geschäft damit trieb. Ueber die Frömmigkeit meines Meisters machte ich mir keine Gedanken mehr, ohne jedoch eine andere Meinung gewonnen zu haben. Ich traf nicht mit jungen Leuten zusammen, die mich hätten verderben können. Ich wurde ein Gassenbube, aber nicht liederlich.
Ich besaß also so viel Religion, als ein Kind in meinem Alter haben konnte. Ich besaß sogar mehr, denn weshalb hier meine Gedanken verhehlen? Meine Kindheit war nicht die eines Kindes; ich fühlte, ich dachte beständig wie ein Mann. Erst beim Heranwachsen trat ich in die gewöhnliche Klasse zurück, aus der ich bei meiner Geburt herausgetreten war. Man wird lachen, wenn man sieht, wie ich mich bescheidener Weise für ein Wunderkind ausgebe. Möge es sein; wenn man sich aber ausgelacht hat, möge man mir ein Kind suchen, welches sich in einem Alter von sechs Jahren von Romanen in dem Grade anziehen, fesseln, fortreißen läßt, daß es heiße Thränen vergießt; dann will ich die Lächerlichkeit meiner Eitelkeit einsehen und einräumen, daß ich Unrecht habe.
Wenn ich gesagt habe, man dürfte mit Kindern nicht von Religion sprechen, falls man wollte, daß sie dereinst Religion hätten, und wenn ich die Behauptung aufgestellt habe, sie wären unfähig, Gott auf unsere Weise zu erkennen, so habe ich diese Ansicht aus meinen Beobachtungen, nicht aus meiner Erfahrung, gewonnen; ich wußte, daß letztere für andere nichts bewiese. Findet mir lauter sechsjährige Jean Jacques Rousseaus und redet mit ihnen dann dreist in ihrem siebenten Jahre von Gott; ich bürge euch dafür, daß ihr keine Gefahr dabei lauft.
Einem jeden wird, wie ich glaube, das Gefühl sagen, daß »Religion haben« für ein Kind und selbst für einen Mann nichts anderes bedeutet, als sich zu der Religion seines Geburtslandes bekennen. Man wird den Glaubensinhalt bisweilen beschränken, selten erweitern. Der Glaube an das Dogma ist die Frucht der Erziehung. Außer diesem allgemeinen Grunde, der mich zum Anhänger der Religion meiner Väter machte, empfand ich jenen meiner Vaterstadt eigenthümlichenVar. . . . jenen meiner Vaterstadt damals eigenthümlichen Abscheu . . . (Es läßt sich annehmen, daß dieses damals in der Abschrift des Manuscripts wirklich stand und erst von den Genfer Herausgebern gestrichen ist.) Abscheu gegen den Katholicismus, den man uns als einen gräßlichen Götzendienst darstellte und dessen Geistlichkeit man uns mit den schwärzesten Farben malte. Dieses Gefühl ging bei mir so weit, daß ich anfangs nie einen Blick in das Innere einer Kirche warf, nie einem Priester im Chorhemde begegnete, nie die Schelle einer Procession vernahm ohne einen Schauder von Schrecken und Entsetzen, der mich in den Städten zwar bald verließ, aber in den Landkirchen, die denen, wo ich ihn zuerst empfunden hatte, ähnlicher sind, oft wieder ergriff. Allerdings stand dieser Eindruck in einem eigenthümlichen Contraste mit der Erinnerung an die Freundlichkeiten, welche die Pfarrer der Umgegend von Genf gern den Stadtkindern erweisen. Während mich die Schelle bei der letzten Oelung mit Furcht erfüllte, erinnerte mich die Meß- und Vesperglocke an ein Frühstück, an ein Vesperbrot, an frische Butter, Obst- und Milchspeisen. Das gute Mittagsmahl des Herrn von Pontverre hatte seine große Wirkung noch immer nicht verloren. So hatte ich mir dies alles leicht aus dem Sinne geschlagen. Da ich mir den Papismus nur immer in Verbindung mit Lustbarkeiten und Tafelfreuden vorstellte, so hatte ich mich zwar mit dem Gedanken, in ihm zu leben, leicht vertraut gemacht, allein an einen feierlichen Uebertritt hatte ich nur flüchtig gedacht, als läge er noch in weiter Ferne. In diesem Augenblicke gab es kein Mittel mehr eine Aenderung herbeizuführen; mit Schauder erkannte ich die feste Form der Zusage, die ich gegeben hatte, und die unvermeidliche Folge davon. Die künftigen Neophyten, die ich um mich hatte, waren unfähig, meinen Muth durch ihr Beispiel aufrecht zu erhalten, und ich konnte mir nicht verhehlen, daß die heilige Handlung, welche ich vorzunehmen beabsichtigte, im Grunde nur die Handlung eines Tiefgesunkenen wäre. So jung ich auch noch war, fühlte ich doch, daß ich, welche Religion auch die wahre sein mochte, auf dem Wege war, die meinige zu verkaufen und selbst bei richtiger Wahl den heiligen Geist zu belügen und die Verachtung der Menschen zu verdienen. Je mehr ich daran dachte, desto ingrimmiger wurde ich gegen mich selbst, und ich seufzte über das Loos, das mich dahin getrieben hatte, als wäre dieses Loos nicht mein eigenes Werk gewesen. Es gab Zeiten, in welchen mich diese Betrachtungen so überwältigten, daß, hätte ich das Thor nur einen Augenblick offen gefunden, ich sicherlich davon gelaufen wäre; allein es war mir nicht möglich, und dieser Entschluß war in mir auch noch nicht fest genug geworden.
Zuviel geheime Wünsche bekämpften ihn, um nicht den Sieg über ihn davon zu tragen. Dazu kam noch die Festigkeit meines Vorsatzes, nicht nach Genf zurückzukehren, die Scham, ja selbst die Schwierigkeit, über das Gebirge zurückzureisen, die Verlegenheit, mich fern von meiner Heimat ohne Freunde und Geld zu sehen: das alles vereinigte sich, mich meine Gewissensbisse als eine zu späte Reue betrachten zu lassen. Um das, was ich zu thun vorhatte, zu entschuldigen, gab ich mir das Ansehen, mir das, was ich gethan, vorzuwerfen. Dadurch, daß ich die Fehler der Vergangenheit vergrößerte, meinte ich, was mir jetzt bevorstand, als eine nothwendige Folge betrachten zu können. Ich sagte mir nicht: noch ist nichts geschehen, und du kannst, wenn du willst, unschuldig bleiben, sondern ich sagte mir: beseufze das Vergehen, dessen du dich schuldig gemacht hast, und das du notgedrungen zu Ende führen mußt.
Und in der That, welche seltene Seelenstärke hätte ich nicht in meinem Alter haben müssen, um alles zurückzunehmen, was ich bis dahin etwa versprochen oder hatte hoffen lassen, um die Ketten zu brechen, in die ich mich selbst geschlagen hatte; um unerschrocken zu erklären, daß ich allem, was daraus entstehen könnte, zum Trotz, in der Religion meiner Väter bleiben wollte? Diese Stärke pflegt jungen Leuten in meinem Alter nicht eigen zu sein und sie hätte auch schwerlich einen glücklichen Erfolg gehabt. Die Angelegenheit war bereits zu weit vorgeschritten, um sie jetzt noch ungestraft rückgängig machen zu können, und je größer mein Widerstand gewesen wäre, desto mehr würde man es sich zum Gesetz gemacht haben, ihn auf die eine oder die andere Weise zu überwinden.
Der Sophismus, welcher mich zu Grunde richtete, ist den meisten Menschen eigen, die immer darüber klagen, daß es ihnen an Kraft fehle, wenn es schon zu spät ist, dieselbe anzuwenden. Die rechtzeitige Anspannung unserer Kraft fällt uns nur durch eigene Schuld schwer, und wenn wir immer vernünftig sein wollten, würden wir selten nöthig haben, unsere Kraft zusammen zu nehmen. Aber leicht zu überwindende Triebe reißen uns widerstandslos fort; wir geben leichten Versuchungen nach, deren Gefahr wir verachten. Unmerklich gerathen wir in gefährliche Lagen, vor denen wir uns leicht hätten hüten können, denen wir uns aber ohne heldenmüthige Anstrengungen, vor denen wir zurückbeben, nicht mehr entreißen können, und wir sinken endlich in den Abgrund, indem wir Gott zur Entschuldigung sagen: Weshalb hast du mich so schwach gemacht? Aber uns zum Trotze antwortet er unserm Gewissen: Ich habe dich zu schwach gemacht, dich aus dem Abgrunde wieder herauszuarbeiten, weil ich dich stark genug gemacht habe, nicht hineinzustürzen.
Ich war zwar nicht gerade fest entschlossen, katholisch zu werden, aber da ich den Zeitpunkt noch in weiter Ferne sah, erhielt ich Zeit, mich mit diesem Gedanken zu befreunden, und inzwischen rechnete ich auf irgend ein unvorhergesehenes Ereignis, welches mich aus der Verlegenheit ziehen würde. Um Zeit zu gewinnen, beschloß ich, mich bestmöglichst zu vertheidigen. Bald überhob mich meine Eitelkeit, meines Entschlusses eingedenk zu sein, und sobald ich bemerkte, daß ich meine Bekehrer in Verlegenheit versetzte, war dies für mich ein genügender Antrieb, um den Versuch zu ihrer völligen Besiegung zu machen. Ich verwendete sogar auf dieses Unternehmen einen höchst lächerlichen Eifer, denn während sie an mir arbeiteten, wollte ich an ihnen arbeiten. Ich wähnte in meiner Einfalt, daß ich sie nur zu überzeugen brauchte, um sie zu bestimmen, Protestanten zu werden.
Sie fanden folglich in mir keine so leichte Auffassung, wie sie erwartet hatten, weder hinsichtlich meines Verstandes noch meines guten Willens. Die Protestanten sind im Allgemeinen besser unterrichtet als die Katholiken. Das kann nicht anders sein; die Lehre der einen erheischt Erörterung, die der andern Unterwerfung. Der Katholik muß die Entscheidung, welche man ihm gibt, annehmen, der Protestant muß sich selbst entscheiden lernen. Wußte man dies auch, so erwartete man doch bei meiner Lage und bei meinem Alter keine großen Schwierigkeiten für geübte Leute. Außerdem war ich noch nicht zum Abendmahle zugelassen und hatte nicht einmal den vorbereitenden Unterricht dazu empfangen: auch dies wußte man. Allein man wußte nicht, daß ich dafür von Herrn Lambercier sehr gut unterrichtet worden war und daß in meinem Kopfe ein für diese Herrn sehr unbequemer Schatz an Kenntnissen in der Kirchen- und Reichsgeschichte aufgespeichert lag, die ich bei meinem Vater fast auswendig gelernt und seitdem beinahe vergessen hatte, deren ich mich jedoch, je hitziger der Streit wurde, desto mehr wieder entsann.
Ein alter, trotz seiner Kleinheit ziemlich ehrwürdiger Priester hatte mit uns gemeinschaftlich die erste Besprechung. Für meine Genossen war diese Besprechung eher ein in Frage und Antwort gekleideter Unterricht als ein wirklicher Austausch der Gedanken, und er hatte mehr mit ihrer Belehrung als mit der Beseitigung ihrer Einwendungen zu thun. Bei mir war dies nicht der Fall. Als die Reihe an mich kam, hielt ich ihn bei allem auf; ich ersparte ihm keine Schwierigkeit, die ich ihm irgend machen konnte. Hierdurch wurde die Besprechung sehr in die Länge gezogen und für die Anwesenden sehr langweilig. Mein alter Priester sprach viel, erhitzte sich, schweifte ab und zog sich durch die Erklärung aus der Sache, daß er nicht gut französisch verstände. Damit meine Genossen nicht an meinen unbedachten Einwendungen Anstoß fänden, wurde ich am folgenden Tage einem andern Priester in einem besonderen Zimmer überwiesen. Derselbe war jünger, ein Schönredner, das heißt ein Phrasenmacher, und von einer Selbstzufriedenheit, wie sie nur je ein Gelehrter hatte. Trotzdem wirkte sein hoheitsvolles Auftreten keineswegs sehr überwältigend auf mich, und da ich mich ihm gewachsen fühlte, antwortete ich ihm ziemlich zuversichtlich und griff ihn, so gut ich konnte, bald von dieser bald von jener Seite an. Er glaubte mich mit dem heiligen Augustin, dem heiligen Gregor und den andern Kirchenvätern zum Schweigen bringen zu können und fand zu seinem unaussprechlichen Erstaunen, daß ich alle diese Väter fast mit derselben Leichtigkeit anzuwenden wußte wie er. Hatte ich sie auch eben so wenig gelesen wie er vielleicht, so hatte ich doch viele Stellen derselben aus meiner Kirchengeschichte von Le Sueur behalten, und sobald er mir eine davon anführte, entgegnete ich ihm, ohne mich auf Erörterung des Citats einzulassen, mit einer anderen aus demselben Vater, was ihn oft in große Verlegenheit setzte. Schließlich blieb der Sieg doch auf seiner Seite und zwar aus zwei Gründen. Der eine war, daß er doch eine höhere Bildung besaß und ich, in dem Gefühle, mich in seiner Gewalt zu befinden, trotz meiner Jugend recht gut einsah, daß ich ihn nicht zum Aeußersten treiben durfte, denn ich erkannte deutlich genug, daß der alte kleine Priester weder für meine Gelehrsamkeit noch für meine Person sehr eingenommen war? Dazu trat noch der andere Grund, daß er gut geschult war und ich nicht. In Folge dessen brachte er in seine Art der Beweisführung eine Methode, der ich mich ebenfalls zu bedienen außer Stande war, und verschob die Erörterung jedes unvorhergesehenen Einwandes, von dem er sich bedrängt fühlte, auf den nächsten Tag, indem er vorschützte, daß ich von dem Gegenstande abschweifte. Er verwarf sogar mitunter alle meine Citate mit der Behauptung, daß sie falsch wären, und sich erbietend, mir das Buch zu holen, forderte er mich auf, sie darin aufzusuchen. Er wußte, daß er dabei keine große Gefahr lief, und daß ich bei all meiner Gelehrsamkeit doch in der richtigen Benutzung der Bücher zu wenig geübt und ein zu schlechter Lateiner war, um in einem dickleibigen Bande eine Stelle zu finden, auch wenn ich mit Bestimmtheit gewußt hätte, daß sie darin stände. Ich habe ihn sogar in Verdacht, daß er sich dieselbe Unredlichkeit zu Schulden kommen ließ, deren er die Prediger zieh, und dann und wann Stellen ersann, um mit ihnen einen ihm unbequemen Einwurf zu widerlegen.
Während der Zeit, in der ich mich mit diesen Sophistereien beschäftigte und die Tage mit Disputationen, mit dem Hersagen langer Gebete und der Verübung von allerlei losen Streichen hinbrachte, hatte ich ein garstiges und ungemein widerliches Abenteuer zu bestehen, das einen gar bösen Ausgang für mich hätte nehmen können.
Es giebt keine so gemeine Seele und kein so rohes Herz, das nicht irgend einer Art Liebe fähig wäre. Der eine dieser beiden Banditen, die sich für Mauren ausgaben, schenkte mir seine Zuneigung. Er redete mich gern an, plauderte mit mir in seinem barbarischen Kauderwälsch, erwies mir kleine Gefälligkeiten, gab mir bei Tische bisweilen einen Theil seines Essens ab und küßte mich besonders beständig mit einer Glut, die mich höchst unangenehm berührte. Welchen Schrecken ich auch natürlich über dieses pfefferkuchenartige und von einem langen Hiebe zerfetzte Gesicht, sowie über die funkelnden Blicke empfand, die eher wüthend als zärtlich zu sein schienen, so duldete ich diese Küsse doch, indem ich zu mir selber sagte: Der arme Mann hat eine sehr lebhafte Freundschaft für mich gefaßt; ich würde Unrecht thun, sie zurückzuweisen. Er ging allmählich zu freieren Manieren über und hielt mir mitunter so seltsame Reden, daß ich glaubte, es wäre nicht ganz richtig mit ihm. Eines Abends wollte er durchaus bei mir schlafen; ich lehnte es unter dem Vorwande ab, daß mein Bett zu klein wäre. Nun forderte er mich dringend auf, das seinige zu theilen; auch dagegen sträubte ich mich, denn dieser elende Wicht war so unsauber und roch so widerlich nach Kautabak, daß mir übel wurde.
Am folgenden Morgen waren wir beide ziemlich früh allein in dem Versammlungssaale; er begann von neuem seine Liebkosungen, aber mit so heftigen Bewegungen, daß es wahrhaft entsetzlich war. Endlich wollte er stufenweise zu den anstößigsten Vertraulichkeiten übergehen und mich zwingen, indem er meine Hand leitete, ebenso zu handeln. Ich riß mich ungestüm los, indem ich einen Schrei ausstieß und einen Schritt zurücksprang; und ohne ihm Unwillen oder Zorn zu bezeigen, da ich keine Ahnung von dem hatte, um was es sich eigentlich handelte, drückte ich ihm meine Ueberraschung und meinen Ekel so unzweideutig und entschieden aus, daß er mich losließ; aber während er sich vollends abarbeitete, sah ich etwas eigenthümlich Klebriges und Weißliches auf die Erde fallen, dessen Anblick mir Uebelkeit erregte. Erregter, verwirrter, ja sogar erschrockener, als ich je in meinem Leben gewesen war, stürzte ich auf den Balkon hinaus und war nahe daran ohnmächtig zu werden.
Ich konnte nicht begreifen, was mit diesem Unglücklichen vorging; ich glaubte ihn von der Epilepsie oder von einer andern noch schrecklicheren Raserei befallen, und ich kann mir fürwahr für jemanden, der bei kaltem Blute ist, keinen entsetzlicheren Anblick denken, als dieses unzüchtige und unfläthige Gebaren und dieses scheußliche, von der viehischsten Begierde entflammte Gesicht. Ich habe nie einen andern Menschen in einem ähnlichen Zustande gesehen; aber wenn wir so den Frauen gegenüber sind, müssen ihre Augen völlig geblendet sein, damit sie sich vor uns nicht entsetzen.
Ich hatte nichts Eiligeres zu thun, als aller Welt zu erzählen, was mir widerfahren war. Unsere alte Hausverwalterin gebot mir Schweigen; aber ich sah, daß diese Geschichte sie stark angegriffen hatte, und hörte sie zwischen den Zähnen murmeln: lan maledet! brutta bestia! Da ich nicht begriff, weshalb ich schweigen sollte, ließ ich die Sache trotz des Verbotes ruhig ihren Gang weiter gehen, und plauderte so viel, daß am nächsten Tage schon in aller Frühe einer der Verwalter erschien und mir einen sehr strengen Verweis ertheilte, indem er mich beschuldigte, die Ehre eines heiligen Hauses bloßstellen und um einer geringen Verschuldung willen viel Lärm zu machen.
Er dehnte seine Strafrede noch weiter aus, indem er mit mir vielerlei, was ich nicht wußte, besprach, obgleich er nicht glaubte, es mich erst lehren zu brauchen, überzeugt, daß ich mich nur so stellte, als wüßte ich nicht, was man von mir wollte, und nur nicht darauf einzugehen wünschte. Er sagte mir mit großem Ernst, es wäre dieses Werk gerade wie die Unzucht ein verbotenes, dessen Versuch indessen für die Person, gegen welche es beabsichtigt, nicht beleidigender wäre, und daß man sich nicht so sehr darüber zu erzürnen brauchte, liebenswürdig gefunden zu sein. Er erzählte mir ohne Umschweife, daß er selbst in seiner Jugend die gleiche Ehre genossen hätte, und daß er, da man ihn überrascht hätte, außer Stande gewesen wäre, Widerstand zu leisten, und in der Sache selbst nichts so Entsetzliches gefunden hätte. Er trieb die Schamlosigkeit so weit, daß er sich dabei der geeigneten Kraftworte bediente, und in dem Wahne, daß die Ursache meines Widerstandes nur die Furcht vor dem Schmerze wäre, gab er mir die Versicherung, daß diese Furcht grundlos wäre, und daß man sich deshalb nicht zu beunruhigen brauchte.
Ich hörte diesen schändlichen Buben mit um so größerem Erstaunen an, als er nicht für sich selbst sprach; er schien mich blos zu meinem eigenen Besten unterrichten zu wollen. Seine Auseinandersetzung schien ihm so einfach zu sein, daß er nicht einmal eine geheime Unterredung gesucht; wir hatten als Dritten noch einen Geistlichen bei uns, der über diesen Vorfall eben so wenig erschrocken war wie jener. Dieser Anschein von Natürlichkeit machte einen solchen Eindruck auf mich, daß ich zu glauben begann, dergleichen wäre eine in der Welt übliche Sitte, in die ich nur früher keine Gelegenheit gehabt hatte eingeweiht zu werden. Dies bewirkte, daß ich ihn ohne Zorn, wenn auch nicht ohne Ekel anhörte. Das Bild dessen, was mir widerfahren, und vor allem dessen, was ich gesehen hatte, haftete so fest in meinem Gedächtnisse, daß mir, wenn ich daran dachte, noch immer übel ward. Ohne daß ich mehr davon verstand, dehnte sich mein Abscheu vor der That auf ihren Vertheidiger aus, und ich konnte mich nicht so weit bezähmen, daß er nicht die üble Wirkung seines Unterrichts bemerkt hätte. Er warf mir einen wenig freundlichen Blick zu, und seitdem ließ er nichts unversucht, um mir den Aufenthalt im Hospiz unangenehm zu machen. Es gelang ihm dies so gut, daß ich, da ich nur einen einzigen Weg es zu verlassen kannte, mich in eben so hohem Grade beeilte ihn einzuschlagen, wie ich mich bis dahin bemüht hatte, von ihm fern zu bleiben.
Dieses Abenteuer schützte mich in Zukunft vor den Unternehmungen ähnlicher Liebesritter, und der Anblick von Leuten, die in dem Rufe standen, zu ihnen zu gehören, erinnerte mich an das Aussehen und Gebaren meines entsetzlichen Mauren und erfüllte mich stets mit einem solchen Grauen, daß ich es kaum zu verhehlen vermochte. Die Frauen gewannen dagegen bei diesem Vergleiche viel in meinen Augen. Mir schien es, als ob ich ihnen zur Genugtuung für die Beleidigungen meines Geschlechtes die Zärtlichkeit meiner Gefühle und die Huldigung meiner Person schuldig wäre, und die häßlichste Metze wurde durch die Erinnerung an diesen falschen Afrikaner in meinen Augen ein Gegenstand der Anbetung.
Was nun meinen fälschlichen Afrikaner anlangt, so weiß ich nicht, was man ihm über sein Unterfangen hat sagen können; allein es kam mir vor, als ob ihn mit Ausnahme der Frau Lorenza niemand unfreundlicher anblickte als sonst. Indessen ging er mir aus dem Wege und redete nicht mehr mit mir. Acht Tage darauf wurde er mit großer Feierlichkeit getauft, wobei er, um die Reinheit seiner wiedergeborenen Seele darzuthun, von Kopf bis den Füßen in Weiß gekleidet war. Den nächsten Tag verließ er das Hospiz, und ich habe ihn nie wieder gesehen.
Einen Monat später kam die Reihe an mich, denn so lange Zeit bedurfte es, ehe sich meine Beichtväter die Ehre einer schwierigen Bekehrung beizulegen wagten, und man ließ mich alle Glaubenssätze hersagen, um mit meiner neuen Gelehrigkeit zu prunken.
Endlich genügend unterrichtet und nach dem Sinne meiner Lehrer auch geistig genügend vorbereitet, wurde ich in Procession in die Metropolitankirche zum heiligen Johannes geführt, um darin meinen alten Glauben feierlich abzuschwören und die Bestätigung der Taufe zu empfangen, obwohl man mich nicht wirklich taufte; da aber dabei fast die nämlichen Förmlichkeiten stattfinden, so dient das dazu, dem Volke die Ueberzeugung aufzudrängen, daß die Protestanten keine Christen seien. Ich war mit einem grauen, mit weißen Schnüren besetzten Rocke bekleidet, wie er bei derartigen Gelegenheiten üblich war. Vor und hinter mir trugen zwei Männer kupferne Becken, auf welche sie mit einem Metallstäbchen schlugen und in die jeder je nach seiner Frömmigkeit oder nach der Teilnahme, die er für den Neubekehrten hegte, sein Almosen warf. Kurz, nichts von dem Gepränge des Katholicismus wurde unterlassen, um die Feierlichkeit für das Publikum erbaulicher und für mich demüthigender zu machen. Nur das weiße Gewand, das mir sehr nützlich gewesen, gewährte man mir nicht wie jenem Mauren, da ich nicht die Ehre hatte ein Jude zu sein.
Das war nicht alles. Nachher mußte ich noch zur Inquisition gehen, um die Absolution für das Verbrechen der Ketzerei zu empfangen und mit derselben Ceremonie, welcher sich Heinrich IV. in der Person seines Gesandten hatte unterziehen müssen, in den Schoos der Kirche zurückzukehren. Die Miene und das Benehmen des hochwürdigen Pater Inquisitors waren nicht geeignet, den geheimen Schrecken, der mich beim Eintritt in dieses Haus ergriffen hatte, zu verscheuchen. Nach mehreren Fragen über meinen Glauben, meine Lage, meine Familie fragte er mich plötzlich, ob meine Mutter verdammt wäre. Der Schrecken ließ mich die erste Erregung meines Unwillens unterdrücken; ich beschränkte mich darauf zu antworten, daß ich hoffen wollte, sie wäre es nicht, und daß Gott sie noch in ihrer letzten Stunde hätte erleuchten können. Der Mönch schwieg, schnitt aber ein Gesicht, das mir durchaus nicht wie ein Zeichen seines Einverständnisses vorkam.
Nachdem ich dies alles durchgemacht hatte und wähnte, endlich ein meinen Hoffnungen entsprechendes Unterkommen zu erhalten, setzte man mich mit wenig mehr als zwanzig Francs in kleiner Münze, welche die für mich veranstaltete Collecte eingebracht hatte, vor die Thür. Man empfahl mir, ein echt christliches Leben zu führen und der Gnade treu zu bleiben, wünschte mir alles Gute, schloß die Thür hinter mir, und alles war vorüber.
So verschwanden in einem Augenblicke alle meine großen Hoffnungen, und von dem eigennützigen Schritte, den ich so eben gethan hatte, blieb mir nichts als der quälende Gedanke zurück, ein Abtrünniger und zugleich ein Betrogener zu sein. Man kann sich leicht vorstellen, welch schneller Umschwung in meinen Gedanken eintreten mußte, als ich mich aus meinen glänzenden Glücksplänen in das vollständigste Elend hinabsinken und mich am Abende, nachdem ich des Morgens über die Wahl des Palastes nachgedacht hatte, den ich bewohnen wollte, gezwungen sah, auf der Straße zu schlafen. Man wird sich einbilden, daß ich mich zunächst einer um so bitterern Verzweiflung überließ, je heftiger die Reue über meine Verirrungen dadurch werden mußte, daß ich nur mir selbst die Schuld an meinem ganzen Unglück zuschreiben konnte. Nichts von dem allem. Zum ersten Male in meinem Leben war ich länger als zwei Monate eingesperrt gewesen. Das erste Gefühl, das ich empfand, war Freude über meine wiedergewonnene Freiheit. Nach einer langen Sklaverei wieder Herr meiner selbst und meiner Handlungen geworden, erblickte ich mich inmitten einer großen Stadt voll reicher Hilfsquellen und vornehmer Leute, zu denen mir, sobald ich erst bekannt sein würde, meine Talente und Vorzüge Zutritt verschaffen mußten. Ueberdies fehlte es mir nicht an Zeit, es abzuwarten, und meine zwanzig Francs in der Tasche schienen mir ein unerschöpflicher Schatz zu sein. Ich konnte nach meinem Gutdünken darüber verfügen, ohne jemand Rechenschaft darüber abzulegen. Zum ersten Male hatte ich mich so reich gesehen. Weit davon entfernt, mich der Muthlosigkeit zu überlassen und in Thränen auszubrechen, mußten sich meine Hoffnungen nur einen Wechsel gefallen lassen, und meine Eigenliebe verlor dabei nichts. Nie fühlte ich so viel Vertrauen und Zuversicht; ich wähnte mein Glück schon gemacht und fand es schön, es nur mir selbst zu verdanken.
Das Erste, was ich that, war, meine Neugier zu befriedigen, indem ich die ganze Stadt durchstreifte, wäre es auch nur gewesen, um mich meiner Freiheit zu vergewissern. Ich ging, die Wache aufziehen zu sehen; die Militärmusik gefiel mir sehr gut. Ich ging hinter Processionen her; der unharmonische Gesang der Priester machte mir Spaß. Ich sah mir das königliche Schloß an; ich näherte mich ihm furchtsam; als ich jedoch andere Leute eintreten sah, folgte ich ihrem Beispiele und man ließ mich gewähren. Vielleicht verdankte ich diese Gunst dem kleinen Packet, welches ich unter dem Arme trug. Wie dem auch sein möge, ich faßte, als ich mich in diesem Schlosse sah, eine hohe Meinung von mir selbst; schon betrachtete ich mich fast wie einen Bewohner desselben. Endlich wurde ich von dem vielen Gehen und Laufen müde; ich empfand Hunger, und es war heiß. Deshalb trat ich in den Laden eines Milchhändlers ein; man gab mir Giunca, geronnene Milch, und mit zwei Stöllchen jenes vortrefflichen piemontesischen Brotes, das ich jedem anderen vorziehe, hielt ich für meine fünf oder sechs Sous eine der besten Mahlzeiten, die ich je in meinem Leben gehalten habe.
Ich mußte mich nach einem Nachtlager umsehen. Da ich das Piemontesische schon gut genug verstand, um mich verständlich zu machen, fiel es mir nicht schwer eines zu finden, und ich war so klug, mich bei der Wahl mehr nach meiner Börse als nach meinem Geschmacke zu richten. Man wies mich in der Po-Straße zu der Frau eines Soldaten, die Dienstboten, welche außer Dienst waren, für einen Sou Nachtherberge gewährte. Ich fand bei ihr eine Schlafstelle unbesetzt und nahm sie in Beschlag. Sie war jung und erst vor kurzem verheirathet, obgleich sie bereits fünf oder sechs Kinder hatte. Wir schliefen alle in demselben Zimmer, die Mutter, die Kinder, die Gäste, und das dauerte, so lange ich bei ihr blieb, in gleicher Weise fort. Uebrigens war es eine gutmüthige Frau, die zwar wie ein Fuhrmann fluchte, sowie beständig liederlich gekleidet und ungekämmt, aber gefällig und dienstfertig war. Sie bewies sich gegen mich besonders freundschaftlich und war mir sogar nützlich.
Mehrere Tage überließ ich mich einzig und allein dem Vergnügen der Unabhängigkeit und der Befriedigung meiner Neugier. Ich durchstreifte das Innere der Stadt wie ihre Umgebungen, indem ich alles durchstöberte und in Augenschein nahm, was mir neu und merkwürdig vorkam, und das war alles für einen jungen Menschen, der erst aus seinen vier Pfählen hervorkam und nie eine Hauptstadt gesehen hatte. Ich ließ es mir namentlich sehr angelegen sein, an den Hof zu gehen und wohnte der Messe des Königs regelmäßig alle Morgen bei. Ich fand es schön, mich mit diesem Fürsten und seinem Gefolge in der nämlichen Kapelle zu wissen; allein an meiner beständigen Anwesenheit während des Gottesdienstes hatte meine Leidenschaft für die Musik, die sich zu zeigen begann, doch mehr Antheil als das Gepränge des Hofes, welches bei öfterem Anblicke nicht lange zu fesseln vermag. Der König von Sardinien hatte damals die beste Kapelle in Europa. Somis, Desjardins, die Bezuzzi glänzten darin neben einander. Es hätte nicht so viel bedurft, um einen jungen Mann anzuziehen, den das Spiel des geringsten Instrumentes, falls es nur richtig war, augenblicklich in Entzücken versetzte. Uebrigens zollte ich der Pracht, die sich meinen Blicken darbot, nur eine neidlose Bewunderung. Für mich war bei all dem Glanze des Hofes das Einzige von Wichtigkeit, zu sehen, ob sich an ihm nicht eine junge Prinzessin befände, welche meine Huldigung verdiente und mit der ich einen Roman anspinnen könnte.
Beinahe hätte ich einen solchen in einem weniger glänzenden Kreise angeknüpft, bei dem ich jedoch, hätte ich ihn zu Ende geführt, tausendmal mehr Vergnügen gefunden haben würde.
Obgleich ich sehr sparsam lebte, begannen sich meine Geldmittel doch mehr und mehr zu erschöpfen. Meine Sparsamkeit war übrigens weniger die Wirkung der Vorsicht, als einer Vorliebe für die Einfachheit, welche meine jetzige Gewohnheit an Tafelfreuden selbst heute noch nicht verändert hat. Ich kannte und kenne noch jetzt kein besseres Mahl als ein ländlich frugales. Mit Milchspeisen, Eiern, Salat, Käse, Schwarzbrot und leidlichem Wein ist man stets sicher, mich vorzüglich zu bewirthen; mein guter Appetit thut dann das Uebrige, während mich ein Haushofmeister und Diener um mich her mit ihrem lästigen Anblicke nicht satt zu machen im Stande sind. Ich hielt damals mit einem Aufwande von sechs oder sieben Sous weit bessere Mahlzeiten, als ich sie späterhin für sechs oder sieben Francs gehalten habe. Ich war also mäßig, weil ich mich nie zur Unmäßigkeit versucht fühlte; auch nenne ich es eigentlich mit Unrecht Mäßigkeit, denn ich empfand dabei allen möglichen sinnlichen Genuß. Meine Birnen, meine saure Milch, mein Käse, meine Brotstöllchen und einige Gläser von einem Montferrater Weine, so dick, daß er sich fast schneiden ließ, machten mich zum Glücklichsten aller Leckermäuler. Aber trotz dem Allen mußten die zwanzig Francs ein Ende nehmen. Das wurde mir von Tage zu Tage klarer, und ungeachtet des Leichtsinnes meines Alters steigerte sich meine Unruhe über die Zukunft bald bis zur Angst. Als alle meine Luftschlösser zusammengestürzt waren, gewann ich die Ueberzeugung, daß mir nichts anderes übrig bliebe, als eine Beschäftigung zu suchen, die mir Unterhalt gewährte; aber auch das ließ sich nicht so leicht bewerkstelligen. Ich dachte an mein altes Handwerk; allein ich verstand es nicht so vollkommen, daß ich zu einem Meister in Arbeit gehen konnte, und an den Meistern selbst gab es in Turin keinen Ueberfluß. Ich entschloß mich deshalb, bis ich etwas Besseres finden würde, mich in einem Laden nach dem andern zum Eingraviren von Namenzügen oder Wappen auf Silbergeschirr anzubieten, indem ich die Leute dadurch, daß ich ihnen die Bestimmung des Preises überließ, für mich zu gewinnen hoffte. Dieses Auskunftsmittel war kein sehr glückliches. Ich wurde fast überall abgewiesen, und die Arbeiten, die mir anvertraut wurden, waren so unbedeutend, daß mein Verdienst kaum zur Beschaffung einiger Mahlzeiten ausreichte. Als ich jedoch eines Morgens noch ziemlich früh durch die Contra Nova ging, erblickte ich durch die Scheiben eines Comptoirs eine junge Kaufmannsfrau von so großem Liebreiz und von einem so anziehenden Aeußern, daß ich trotz meiner Blödigkeit den Damen gegenüber kein Bedenken trug, einzutreten und ihr mein kleines Talent anzubieten. Sie wies mich nicht zurück, ließ mich Platz nehmen, meine kleine Geschichte erzählen, bedauerte mich und sprach mir Muth ein, indem sie hinzufügte, daß mich die guten Christen nicht verlassen würden. Während sie darauf von einem benachbarten Goldschmied die von mir als nöthig bezeichneten Werkzeuge holen ließ, ging sie in die Küche und brachte mir selbst ein Frühstück. Dieser Anfang schien mir von guter Vorbedeutung; die Folge strafte ihn nicht Lügen. Sie schien mit meiner unbedeutenden Arbeit zufrieden und noch mehr mit meinem munteren Geplauder, als ich erst wieder ein wenig Muth geschöpft hatte, denn bei ihrer glänzenden Erscheinung, die durch den Putz noch mehr gehoben wurde, fühlte ich mich trotz ihres anmuthigen Wesens anfänglich sehr befangen. Allein ihre gütige Aufnahme, ihre theilnahmsvolle Sprache, ihr sanftes und freundliches Benehmen gaben mir meine Unbefangenheit bald zurück. Ich sah, daß sie mir günstig gesinnt war, und das trieb mich an, ihre Gunst in noch höherem Grade zu gewinnen. Aber wenn auch Italienerin und zu hübsch, um nicht ein wenig kokett zu sein, war sie trotzdem so sittsam und ich so schüchtern, daß das Verhältnis nicht so schnell zu einem glücklichen Ausgange gelangen konnte. Man ließ uns nicht die Zeit das Abenteuer zu Ende zu bringen. Mit desto größerem Entzücken gedenke ich der kurzen Augenblicke, die ich bei ihr zugebracht habe, und ich kann sagen, daß ich die süßesten wie die reinsten Freuden der Liebe in den Erstlingen der ihrigen genossen habe.
Sie war eine außerordentlich anziehende Brünette, deren freundliche Gesinnung, welche sich auf ihrem hübschen Gesichte ausprägte, ihrer Lebhaftigkeit etwas Rührendes verlieh. Sie hieß Frau Basile. Ihr Gatte, älter als sie und ziemlich eifersüchtig, ließ sie während seiner Reisen unter der Hut eines Ladendieners, der zu häßlich war, um verführerisch zu sein, und sich trotzdem zu Ansprüchen berechtigt glaubte, welche er nur durch seine schlechte Laune zu zeigen pflegte. Ich hatte viel von derselben zu dulden, obgleich ich ihm gern zuhörte, wenn er die Flöte blies, auf welchem Instrumente er eine ziemliche Fertigkeit besaß. Dieser neue Aegisthos brummte, so oft er mich bei seiner Dame eintreten sah; er behandelte mich mit einer Verachtung, die sie ihm reichlich vergalt. Sie schien sogar, um ihn zu quälen, daran Gefallen zu finden, mir in seiner Gegenwart Zärtlichkeiten zu erweisen, und so sehr mir diese Rache auch zusagte, hätte ich sie bei unserm Alleinsein doch noch lieber gesehen. Aber sie trieb sie nicht so weit, oder wenigstens geschah es nicht auf die gleiche Weise. Sei es, daß sie mich zu jung fand, oder nicht wußte, wie sie die ersten Schritte thun sollte, oder daß sie im Ernste ihre Sittsamkeit bewahren wollte: sie besaß dann eine Art Zurückhaltung, die zwar nicht zurückstoßend war, mich aber doch einschüchterte, ohne daß ich wußte weshalb. Obgleich ich vor ihr nicht diese eben so aufrichtige wie zärtliche Achtung fühlte, die mir Frau von Warens einflößte, so empfand ich ihr gegenüber doch mehr Scheu und weit weniger Vertraulichkeit. Ich war verlegen, aufgeregt; ich hatte nicht den Muth, sie anzusehen, nicht den Muth, in ihrer Nähe zu athmen, und doch fürchtete ich die Trennung von ihr ärger als den Tod. Mit gierigem Auge verschlang ich alles, was ich unbemerkt betrachten konnte: die Blumen ihres Kleides, die Spitze ihres niedlichen Fußes, das Stück ihres vollen weißen Armes, das zwischen Handschuh und Manschette sichtbar wurde und was sich bisweilen unter dem Halstuch zeigte. Jeder neue Anblick war ein neuer und noch stärkerer Reiz. Durch die Bewunderung dessen, was ich sehen konnte und errieth, verwirrten sich meine Blicke und wurde meine Brust beengt; der Athem, der mir mit jedem Augenblicke beklommener wurde, drohte zu stocken, und alles, was ich thun konnte, war, unhörbar aufzuseufzen, was in der Stille, die oft um uns herrschte, gar störend war. Glücklicherweise fiel es, wie mir schien, Frau Basile, die mit ihrer Arbeit beschäftigt war, nicht auf. Indeß bemerkte ich mitunter, daß sich ihr Halstuch wie durch eine Art Sympathie ziemlich häufig hob und senkte. Dieser gefährliche Anblick brachte mich vollends um alle Fassung; aber wenn ich eben im Begriff stand, meiner leidenschaftlichen Aufwallung nachzugeben, richtete sie irgend ein Wort in ruhigem Tone an mich, welches mich sofort wieder zur Besinnung brachte.
Ich sah sie auf diese Weise wiederholentlich allein, ohne daß je ein Wort, eine Bewegung oder auch nur ein zu ausdrucksvoller Blick das geringste Einverständnis zwischen uns zu erkennen gegeben hätte. Dieses für mich sehr qualvolle Verhältnis bildete jedoch meine Wonne, und in der Einfalt meines Herzens konnte ich mir kaum denken, weshalb ich dadurch so gequält wurde. Es schienen ihr diese kleinen Zusammenkünfte eben so wenig zu mißfallen, wenigstens gab sie ziemlich häufig Gelegenheit dazu, ein von ihrer Seite sicherlich sehr unschuldiges Bestreben, nach dem Gebrauche, den sie davon machte und mich davon machen ließ.
Als sie eines Tages, von den einfältigen Gesprächen des Ladendieners gelangweilt, in ihr Zimmer hinaufgestiegen war, beeilte ich mich, meine kleine Arbeit in dem Hinterladen zu beenden, und ging ihr dann nach. Ihre Zimmerthür stand halb offen; ich trat, ohne von ihr bemerkt zu werden, ein. Sie stickte, den Rücken der Thüre zugewandt, an einem Fenster. Sie konnte nicht gewahren und, bei dem ewigen Wagengerassel auf der Straße, auch nicht hören, daß ich eintrat. Sie ging stets fein gekleidet, aber an diesem Tage grenzte die Zierlichkeit ihrer Kleidung an Koketterie. Ihre Haltung war anmuthig; ihr ein wenig gesenkter Kopf ließ die blendende Weiße ihres Halses erblicken, und ihr geschmackvoll aufgestecktes Haar war mit Blumen geschmückt. Ueber ihre ganze Gestalt war ein Reiz ausgegossen, den ich Zeit zu betrachten hatte und der mir die Sinne raubte. Ich sank an der Schwelle des Zimmers auf die Knie, indem ich, überzeugt, daß sie mich nicht hören konnte, und nicht daran denkend, daß sie mich zu sehen im Stande war, mit einer leidenschaftlichen Bewegung die Arme nach ihr ausstreckte; aber über dem Kamin befand sich ein Spiegel, der mein Verräther wurde. Ich weiß nicht, welche Wirkung diese leidenschaftliche Aufwallung auf sie ausübte; sie blickte mich nicht an und sprach nicht mit mir; aber mit halb umgewandtem Kopfe wies sie mir mit einer einfachen Bewegung des Fingers die Matte zu ihren Füßen. Erbeben, aufschreien, nach dem Platze stürzen, den sie mir gezeigt hatte, war für mich eins; was man jedoch kaum glauben wird, ist, daß ich unter diesen Umständen nicht das Herz hatte, mehr zu wagen, nicht so viel Muth besaß, ein einziges Wort zu sagen, die Augen zu ihr zu erheben, ja sie in meiner gezwungenen Stellung auch nur anzurühren, um mich einen Augenblick auf ihre Knie zu stützen. Ich war stumm, regungslos, aber sicherlich nicht ruhig. Alles in mir gab die Aufregung, die Freude, die Dankbarkeit, das glühende, wenn auch seines Zieles sich unklare Verlangen zu erkennen, welches mir durch die Furcht zu mißfallen, über die mein junges Herz sich nicht beruhigen konnte, zurückgehalten wurde.
Sie schien nicht ruhiger und nicht weniger schüchtern als ich. Beängstigt, mich zu ihren Füßen zu sehen, bestürzt, mich herbeigezogen zu haben, und allmählich die Folgen des mir ohne Zweifel unüberlegt gegebenen Winkes erkennend, hob sie mich weder empor noch stieß sie mich zurück; sie schlug die Augen nicht von ihrer Arbeit auf und stellte sich, als hätte sie mich nicht zu ihren Füßen gesehen. Allein trotz meiner Einfalt glaubte ich doch schließen zu dürfen, daß sie meine Verlegenheit, vielleicht sogar mein Verlangen theilte, und durch ein gleiches Schamgefühl wie ich zurückgehalten wurde, ohne das mich diese Wahrnehmung ermuthigt hätte, das ihrige zu besiegen. Fünf oder sechs Jahre, die sie mehr zählte als ich, mußten ihr meines Erachtens mehr Kühnheit verleihen, als ich hatte, und da sie nichts that, die meinige zu erwecken, so sagte ich mir, daß sie mich nicht kühn zu sehen wünschte. Selbst noch heutigen Tages bin ich überzeugt, daß ich richtig urtheilte, und sicherlich besaß sie zu viel Klugheit, um nicht einzusehen, daß ein Neuling wie ich, nicht allein der Ermuthigung, sondern auch der Anleitung bedurfte.
Ich weiß nicht, wie dieser lebhafte und doch stumme Auftritt geendet, und wie lange ich noch regungslos in dieser lächerlichen und lieblichen Stellung ausgehalten hätte, wäre nicht eine Unterbrechung eingetreten. Als meine Aufregung ihren Höhepunkt erreicht hatte, hörte ich die Thüre zur Küche, welche an das Zimmer grenzte, in welchem wir uns befanden, sich öffnen, und von Angst ergriffen, die sich in ihren Worten und Bewegungen verrieth, sagte Frau Basile zu mir: »Stehen Sie auf, Rosine ist da.« Während ich mich schnell erhob, ergriff ich die Hand, die sie mir reichte, und drückte zwei brennend heiße Küsse darauf; bei dem zweiten fühlte ich die reizende Hand sich ein wenig gegen meine Lippen drücken. In meinem ganzen Leben hatte ich keinen so süßen Augenblick; aber die Gelegenheit, die ich verloren hatte, kehrte nicht wieder, und unsere junge Liebe machte hierbei Halt.
Vielleicht gerade aus diesem Grunde hat sich das Bild dieser liebenswürdigen Frau in so reizenden Zügen auf dem Grunde meines Herzens erhalten. Es hat sogar in dem Maße, wie ich die Welt und die Frauen besser kennen gelernt habe, an Schönheit gewonnen. Bei größerer Erfahrung würde sie sich anders dabei benommen haben, einen Knaben zu ermuthigen; aber war ihr Herz schwach, so war es doch keusch. Sie gab unwillkürlich dem Triebe nach, der sie mit fortriß. Allem Anscheine nach war es ihre erste Untreue, und ich hätte vielleicht mehr Mühe gehabt, ihre Scham zu überwinden als die meinige. Ohne dahin gelangt zu sein, habe ich bei ihr unaussprechliche Wonne empfunden. Kein Genuß, den mir der Besitz von Frauen bereitet hat, kann sich mit dem seligen Gefühle in den zwei Minuten vergleichen, die ich zu ihren Füßen zugebracht habe, ohne auch nur zu wagen, ihr Kleid zu berühren. Nein, kein Glück ist dem gleich, welches eine sittsame Frau, die man liebt, gewähren kann; bei ihr wird alles zur Gunst. Ein kleiner Wink mit dem Finger, eine leicht gegen meinen Mund gedrückte Hand sind die einzigen Gunstbezeigungen, die ich je von Frau Basile erhielt, und die Erinnerung an diese geringfügigen Liebeszeichen entzückt mich noch, so oft ich daran denke.
An den zwei folgenden Tagen wartete ich vergebens auf eine neue Zusammenkunft unter vier Augen; es war mir unmöglich, den Augenblick dazu zu finden, und ich bemerkte von ihrer Seite durchaus kein Bestreben, ihn geschickt herbeizuführen. Sogar ihr Benehmen gegen mich war, wenn auch nicht kälter, so doch zurückhaltender als gewöhnlich, und ich glaube, daß sie meine Blicke nur aus Furcht vermied, die ihrigen nicht hinreichend beherrschen zu können. Ihr verwünschter Ladendiener war widerwärtig als je; er erlaubte sich sogar allerlei Spöttereien und Späße und sagte zu mir, ich würde bei den Damen Glück machen. Ich zitterte, irgend eine Unbesonnenheit begangen zu haben, und da ich schon mit ihr im Einverständnisse zu sein wähnte, ließ ich es mir angelegen sein, eine Neigung zu verschleiern, die bis dahin der Heimlichkeit nicht sehr bedurft hatte. Dies machte mich vorsichtiger und hielt mich ab, unbedacht nach Gelegenheiten zu ihrer Befriedigung zu haschen, und so fand ich schließlich gar keine mehr, da ich nur ganz sichere suchte.
Das ist noch eine zweite wunderliche Narrheit, von der ich mich nie habe heilen können, und die im Verein mit meiner natürlichen Blödigkeit die Voraussagung des Ladendieners arg Lügen gestraft hat. Ich liebte zu aufrichtig, ja ich wage zu behaupten, ich ging zu sehr in der Liebe auf, um leicht glücklich zu sein. Nie waren Leidenschaften heftiger und doch zugleich reiner als die meinigen; nie war eine Liebe zärtlicher, wahrer, uneigennütziger. Ich würde mein Glück dem der Person, die ich liebte, tausendmal zum Opfer gebracht haben; ihr Ruf war mir theurer als mein Leben und um alle Freuden des Genusses hätte ich ihre Ruhe nicht einen Augenblick gefährden mögen. Um deswillen habe ich so viel Sorge, so viel Heimlichkeit, so viel Vorsicht in meine Liebesabenteuer hineingebracht, daß nie auch nur ein einziges zu einem glücklichen Ausgange hat führen können. Mein geringer Erfolg bei den Frauen ist immer nur daher gekommen, daß ich sie zu aufrichtig liebte.
Um auf den Flöte blasenden Aegisthos zurückzukommen, so war an ihm das Sonderbare, daß der verrätherische Wicht desto rücksichtsvoller zu werden schien, je unerträglicher er wurde. Von dem ersten Tage an, wo seine Dame mir ihr Wohlwollen zugewendet, hatte sie darauf gesonnen, mich im Laden nützlich zu machen. Ich war mit der Rechenkunst leidlich vertraut; sie hatte ihm den Vorschlag gemacht, mich in der Buchführung zu unterweisen, allein der Griesgram nahm den Vorschlag sehr übel auf, vielleicht aus Besorgnis verdrängt zu werden. Demnach bestand meine ganze Arbeit, außer der mit dem Grabstichel, in der Abschrift einiger Rechnungen und gerichtlicher Eingaben, in der Reinschrift einiger Bücher und in der Übersetzung einiger Geschäftsbriefe aus dem Italienischen in das Französische. Plötzlich kam es meinem Manne in den Sinn, auf den Vorschlag, den er erst abgelehnt hatte, zurückzukommen; er erklärte sich bereit, mich die doppelte Buchführung zu lehren und dahin zu bringen, daß ich dem Herrn Basile nach seiner Rückkunft meine Dienste anbieten könnte. In seinem Tone, in seiner Miene lag dabei etwas eigenthümlich Falsches, Boshaftes und Spöttisches, das mir durchaus kein Vertrauen einflößte. Ohne meine Antwort abzuwarten, erwiderte ihm Frau Basile trocken, daß sie hoffte, das Glück würde meinen Fähigkeiten endlich günstig sein, da es jedenfalls jammerschade wäre, wenn ich es bei so vielem Geist nur bis zum Ladendiener brächte.
Sie hatte mir mehrmals gesagt, daß sie die Absicht hätte, mich eine Bekanntschaft machen zu lassen, die mir nützlich sein könnte. Sie dachte verständig genug, um einzusehen, daß es Zeit wäre, mich von sich fern zu halten. Unsere stummen Erklärungen waren am Donnerstage vorgefallen. Am Sonntag gab sie ein Mittagessen, an dem außer mir und vielen andern auch ein Jakobinermönch von angenehmem Aeußern Theil nahm, dem sie mich vorstellte. Der Mönch bezeigte mir viel Freundlichkeit, wünschte mir zu meinem Uebertritte Glück und sagte mir mancherlei über meine Lebensschicksale, was mir deutlich zu erkennen gab, daß ihm Frau Basile dieselben ausführlich mitgetheilt hatte. Als er mir darauf noch zweimal die Backe geklopft hatte, sagte er zu mir, ich sollte verständig sein, guten Muth behalten und ihn besuchen, damit wir uns mit größerer Muße besprechen könnten. Aus der Ehrerbietung, die ihm jedermann erwies, schloß ich, daß er ein einflußreicher Mann sein mußte, und aus dem väterlichen Tone, den er Frau Basile gegenüber anschlug, daß er ihr Beichtvater war. Ich erinnere mich auch sehr wohl, daß seine ehrbare Vertraulichkeit mit Zeichen der Achtung und sogar der Hochachtung für sein Beichtkind verbunden war, die damals weniger Eindruck auf mich machten, als sie es jetzt thun. Hätte ich mehr Einsicht besessen, wie rührend hätte es dann für mich sein müssen, daß ich fähig gewesen war, einer von ihrem Beichtvater hochgeschätzten Frau ein Gefühl eingeflößt zu haben.
Der Tisch war für die Zahl der Gäste nicht groß genug; ein kleiner mußte zu Hilfe genommen werden, an dem mir ein angenehmes Zusammensein mit dem Herrn Ladendiener beschieden war. In Bezug auf die Aufmerksamkeiten und gute Bissen kam ich dabei nicht zu kurz; viele Teller wurden zu dem kleinen Tische hingeschickt, die sicherlich nicht für meinen Tischgenossen bestimmt waren. Bis dahin ging alles sehr gut; die Frauen waren sehr heiter, die Männer sehr galant; Frau Basile machte mit reizender Anmuth die Wirthin. Mitten im Mahle hört man einen Wagen vor der Thüre halten. Jemand steigt die Treppe herauf, es ist Herr Basile. Ich habe ihn noch vor Augen, als träte er jetzt eben ein, in scharlachrothem Rocke mit goldenen Knöpfen, eine Farbe, vor der ich seit jenem Tage den höchsten Abscheu habe. Herr Basile war ein großer und schöner Mann, der sich sehr gut ausnahm. Er tritt geräuschlos herein, mit der Miene eines Menschen, der die Seinen auf der That ertappt, obgleich die Gesellschaft nur aus seinen Freunden bestand. Seine Frau fällt ihm um den Hals, ergreift seine Hände, erweist ihm tausend Liebkosungen, die er annimmt, ohne sie zu erwidern. Er begrüßt die Gesellschaft, man gibt ihm ein Gedeck, er ißt. Kaum hatte man angefangen von seiner Reise zu sprechen, als er mit einem Blicke auf die kleine Tafel mit strengem Tone fragt, wer der junge Mensch sei, den er dort bemerke. Frau Basile sagt es ihm ganz unbefangen. Er fragt, ob ich im Hause wohne. Man verneint es. Weshalb nicht? erwidert er barsch; wenn er sich hier den Tag über aufhält, kann er eben so gut des Nachts dableiben. Der Mönch ergriff nun das Wort, und nach einem ernsten und aufrichtig gemeinten Lobe der Frau Basile, sprach er sich in wenigen Worten belobigend über mich aus, indem er hinzufügte, daß sich Herr Basile, statt die fromme Mildthätigkeit seiner Frau zu tadeln, beeifern sollte, sich daran zu betheiligen, weil dabei nichts über die Grenzen des Erlaubten hinausginge. Der Gatte erwiderte in einem Tone von Verdruß, den er jedoch in der Gegenwart des Mönches nur halb zu zeigen wagte. Was er aber sagte, war hinreichend, um mich zu überzeugen, daß ihm Mittheilungen über mich zugekommen waren und mir der Ladendiener auf seine Weise einen Dienst geleistet hatte.
Kaum war die Tafel aufgehoben, als dieser, von seinem Herrn gesandt, im Triumphe kam, um mich in dessen Namen aufzufordern, sofort sein Haus zu verlassen und es nie in meinem Leben wieder zu betreten. Er würzte seinen Auftrag mit allem, was ihn beleidigend und grausam machen konnte. Ich ging, ohne ein Wort zu sagen, aber mit tief betrübtem Herzen, weniger aus Kummer über die Trennung von dieser liebenswürdigen Frau als aus Schmerz darüber, daß ich sie der Rohheit ihres Gatten zur Beute lassen mußte. Er hatte unzweifelhaft Recht, nicht zu wollen, daß sie ihm untreu wurde; aber obgleich sittsam und von guter Familie war sie doch Italienerin, das heißt reizbar und rachsüchtig; er hatte, wie mir scheint, deshalb Unrecht, ihr gegenüber die Mittel anzuwenden, welche gerade am geeignetsten sind, das Uebel, welches er befürchtete, herbeizuziehen.
So war der Ausgang meines ersten Liebesverhältnisses. Ich wagte zwei- oder dreimal durch die Straße, in der Basile wohnte, zu gehen, um die, nach der mein Herz sich unaufhörlich sehnte, wenigstens wiederzusehen; aber statt ihrer gewahrte ich nur einen Mann und den wachsamen Ladendiener, der, sobald er mich bemerkt hatte, mit der Elle eine mehr deutliche als anlockende Bewegung machte. Da ich sah, wie man mir beständig aufpaßte, verlor ich den Muth und ging nicht mehr vorüber. Nun wollte ich wenigstens den Beschützer, den sie mir verschafft hatte, aufsuchen. Unglücklicherweise wußte ich seinen Namen nicht. Ich wanderte mehrere Male um das Kloster herum, um ihm vielleicht zu begegnen, aber vergebens. Endlich schwächten andere Ereignisse das bezaubernde Andenken an Frau Basile, und binnen kurzem vergaß ich sie so vollkommen, daß ich, noch eben so einfältig und eben so uneingeweiht wie zuvor, nicht einmal meine Sinnlichkeit durch den Anblick hübscher Frauen erregt fühlte.
Ihre Freigebigkeit hatte indessen meine kleine Ausstattung wieder in einen etwas besseren Zustand versetzt, allerdings nur in sehr bescheidener Weise und mit der Vorsicht einer klugen Frau, die mehr auf Reinlichkeit als auf Putz sah und wohl darauf ausging, mich vor Mangel zu schützen, aber nicht mit mir Staat zu machen. Der Anzug, den ich aus Genf mitgebracht hatte, war noch gut und tragbar; sie fügte nur einen Hut und etwas Wäsche hinzu. Ich hatte keine Manschetten; obgleich ich großes Verlangen nach ihnen trug, wollte sie mir keine geben. Sie begnügte sich damit, daß sie mich in den Stand setzte, mich reinlich zu kleiden, und das brauchte man mir, so lange ich vor ihr erschien, nicht erst anzuempfehlen.
Wenige Tage nach dem traurigen Ausgange meines Abenteuers erzählte mir meine Wirthin, die, wie gesagt, sich meiner freundschaftlich angenommen, daß sie vielleicht eine Stelle für mich gefunden hätte und eine adlige Dame mich zu sehen wünschte. Bei diesem Worte wähnte ich mich schon in vollem Ernste in lauter großartige Abenteuer verwickelt, denn darauf kam ich immer wieder zurück. Das in Rede stehende stellte sich nicht als so glänzend heraus, wie ich mir vorgestellt hatte. Ich war bei dieser Dame mit dem Diener, der sie auf mich aufmerksam gemacht hatte. Sie fragte mich aus und nahm mich in Augenschein, und ich trat auf der Stelle bei ihr in Dienst, aber keineswegs in der Eigenschaft eines Günstlings, sondern in der eines Lakaien. Ich wurde in die Livrée ihrer Leute gekleidet; der einzige Unterschied bestand darin, daß sie die Achselschnur trugen, während man sie mir nicht gab. Da die Livréen ohne Tressen waren, glichen sie fast vollkommen der bürgerlichen Tracht. Das war das unerwartete Ende, auf welches schließlich alle meine großen Hoffnungen hinaus liefen.
Die Frau Gräfin von Bercellis, bei der ich in Dienst trat, war eine kinderlose Wittwe; ihr Mann war Piemontese gewesen; sie selbst habe ich stets für eine Savoyardin gehalten, da ich mir nicht denken konnte, daß eine Piemontesin so gut französisch redete und eine so reine Aussprache hätte. Sie befand sich in mittleren Jahren, war eine sehr edle Erscheinung und hatte einen gebildeten Geist, was ihre Liebe zu der französischen Literatur und ihre Kenntnis derselben bewies. Sie schrieb viel und immer nur in französischer Sprache. Ihre Briefe hatten den Stil und fast den Reiz derjenigen der Frau von Sévigné; man hätte einige mit solchen verwechseln können. Mein Hauptgeschäft, welches mir nicht mißfiel, war, sie nach ihrem Dictat zu schreiben, da ein Brustkrebs, der ihr viel Schmerzen bereitete, ihr nicht mehr gestattete, selbst zu schreiben.
Frau von Bercellis hatte nicht allein viel Geist, sondern auch eine erhabene und starke Seele. Ich bin während der ganzen Dauer ihrer Krankheit um sie gewesen. Ich habe gesehen, wie sie litt und starb, ohne je einen Augenblick der Schwäche zu zeigen, ohne sich je den geringsten Zwang aufzuerlegen, ohne je die Weiblichkeit zu verläugnen und ohne zu ahnen, daß dazu Philosophie erforderlich wäre, ein Wort, welches noch gar nicht in der Mode war und das sie nicht einmal in der heute damit verbundenen Bedeutung kannte. Diese Charakterstärke grenzte mitunter an Härte. Es ist mir immer so vorgekommen, als ob sie für Andere eben so wenig Gefühl hätte wie für sich selbst, und wenn sie Unglücklichen Gutes erwies, so geschah es eher, um Gutes an sich zu thun, als aus wirklichem Erbarmen. Während der drei Monate, die ich bei ihr zubrachte, habe ich von dieser Gefühllosigkeit auch etwas zu erfahren bekommen. Es war natürlich, daß sie einen jungen Mann, von dem sich etwas hoffen ließ und den sie fortwährend unter den Augen hatte, lieb gewann, und daß sie im Angesichte des Todes daran dachte, er würde nach ihrem Abscheiden Hilfe und Beistand bedürfen. Dessen ungeachtet that sie nichts für mich, sei es nun, daß sie mich einer besonderen Beachtung nicht für würdig hielt, oder daß ihre Umgebung, die sie förmlich umlagert hielt, ihre Gedanken nur auf sich lenkte.
Indessen erinnere ich mich sehr wohl, daß sie einige Neugier bekundet hatte, mich kennen zu lernen. Sie richtete mitunter Fragen an mich; es machte ihr Freude, wenn ich ihr die Briefe zeigte, die ich an Frau von Warens schrieb, und ihr meine Gefühle schilderte; aber sie griff es fürwahr nicht geschickt an, sie vollkommen kennen zu lernen, da sie mir nie die ihrigen mittheilte. Mein Herz schüttete sich gern aus, sobald es überzeugt war, daß es ein anderes fand. Trocknes und kaltes Ausfragen ohne ein Zeichen von Zustimmung oder Tadel erweckten nicht mein Vertrauen. Wenn mir nichts verrieth, ob mein Geschwätz gefiel oder mißfiel, schwebte ich immer in Angst und suchte weniger das, was ich dachte, klar zu machen, als nichts zu sagen, was mir schaden könnte. Später habe ich die Bemerkung gemacht, daß diese trockene Frageweise, um die Leute auszuforschen, bei Frauen, die sich auf ihren Geist etwas einbilden, ziemlich allgemein im Schwange ist. Sie leben in dem Wahne, daß, wenn sie mit ihrer eigenen Gesinnung zurückhalten, es ihnen desto besser gelingen werde, die eurige zu durchschauen; allein sie sehen nicht ein, daß sie dadurch gerade den Muth nehmen, sie zu zeigen. Ein Mann, den man ausfragt, fängt lediglich schon aus diesem Grunde an, auf seiner Hut zu sein; und wenn er glaubt, daß man, ohne wirkliche Theilnahme für ihn zu hegen, nur darauf ausgeht, ihn zum Ausplaudern zu bringen, so lügt er oder schweigt, oder ist noch einmal so achtsam auf sich, und will lieber für einen Dummkopf gelten als sich einer Neugierde zum Spielballe hergeben. Kurz, will man in dem Herzen Anderer lesen, so giebt es kein untauglicheres Mittel, als sein eigenes zu verschließen.
Frau von Bercellis hat nie ein Wort zu mir gesagt, in dem sich Güte, Theilnahme, Wohlwollen zu erkennen gab. Sie fragte mich frostig aus, ich antwortete zurückhaltend. Meine Antworten waren so schüchtern, daß sie sie trivial finden und sich dabei langweilen mußte. Schließlich unterwarf sie mich keinem Verhöre mehr und redete mit mir nur so viel, als der Dienst erforderte. Sie beurtheilte mich weniger nach dem, was ich war, als nach dem, was sie aus mir gemacht hatte, und da sie in mir nichts als einen Lakai sah, machte sie es mir unmöglich, ihr als etwas Anderes zu erscheinen.
Ich glaube, daß sich das tückische Spiel des verhüllten Eigennutzes, das mein ganzes Leben durchkreuzt und mir einen sehr natürlichen Widerwillen gegen die scheinbar dadurch bewirkte Ordnung eingeflößt hat, schon damals an mir fühlbar machte. Da Frau von Vercellis kinderlos war, hatte sie ihren Neffen, den Grafen della Rocca, der ihr unablässig den Hof machte, zum Erben. Außerdem vergaßen sich ihre Hauptdiener nicht, welche sahen, daß ihr Ende nahe war, und so drängten sich so viele an sie heran, daß sie schwerlich Zeit hatte, an mich zu denken. An der Spitze ihres Hauswesens stand ein Herr Lorenzi, ein gewandter und listiger Mann, dessen noch listigere Frau sich bei ihrer Herrin so in Gunst gesetzt hatte, daß sie bei ihr eher die Stellung einer Freundin als einer bezahlten Dienerin einnahm. Als Kammerfrau hatte ihr dieselbe eine Nichte, Jungfer Pontal genannt, gegeben, eine schlaue Aufpasserin, die die Rolle eines Ehrenfräuleins spielte und ihrer Tante beistand, die Herrin so vollkommen zu umgarnen, daß diese nur durch ihre Augen sah und durch ihre Hände handelte. Ich hatte nicht das Glück, diesen drei Personen zu gefallen; ich gehorchte ihnen, diente ihnen aber nicht; ich glaubte nicht, daß ich über den Dienst unserer gemeinsamen Herrin hinaus noch der Diener ihrer Diener sein müßte. Ueberdies war ich für sie eine gewissermaßen beunruhigende Persönlichkeit. Sie sahen recht gut, daß ich nicht an meinem Platze war; sie befürchteten, die Gebieterin könnte es ebenfalls bemerken und ihr Antheil durch die Bemühung derselben mir die gebührende Stellung einzuräumen, geschmälert werden; denn zu habsüchtig, um gerecht zu sein, betrachtet diese Art von Leuten alle Legate an Andere als eine Verkürzung ihres eigenen Vermögens. Sie verbanden sich deshalb, mich den Augen der Herrin zu entziehen. Sie schrieb gern Briefe; in ihrem Zustande war es für sie ein Zeitvertreib: sie verleideten es ihr und ließen sie durch den Arzt davon abbringen, indem ihr derselbe vorstellte, daß es sie ermüdete. Unter dem Vorwande, daß ich den Dienst nicht verstände, wurden statt meiner zwei plumpe Lümmel von Sänfteträgern um sie beschäftigt, kurz, man richtete es so geschickt ein, daß, als sie ihr Testament machte, ich schon seit acht Tagen ihr Zimmer nicht betreten hatte. Allerdings wurde ich darauf wie zuvor zu ihr gelassen und war sogar öfter um sie als irgend jemand anders, denn die Schmerzen dieser armen Frau zerrissen mir das Herz; die Standhaftigkeit, mit der sie sie ertrug, machten sie mir im hohen Grade achtungswerth und theuer, und ich habe in ihrem Zimmer aufrichtige Thränen vergossen, ohne daß sie oder jemand anders es bemerkte.
Wir verloren sie endlich. Ich sah sie verscheiden. War ihr Leben das einer Frau von Geist und Verstand gewesen, so war ihr Tod der einer Weisen. Ich kann sagen, daß sie mir die katholische Religion durch die Seelenruhe, mit der sie die Anforderungen derselben ohne Gleichgiltigkeit und ohne erheuchelten Eifer erfüllte, lieb und werth machte. Von Natur war sie ernst. Gegen Ende ihrer Krankheit bemächtigte sich ihrer eine Art von Heiterkeit, die zu gleichmäßig war, um erkünstelt zu sein, und die nichts als ein ihr von der Vernunft verliehenes Gegengewicht gegen das Traurige ihres Zustandes war. Nur die zwei letzten Tage hütete sie das Bett und hörte nicht auf sich ruhig mit jedermann zu unterhalten. Als sie endlich schon nicht mehr sprechen konnte und mit dem Tode kämpfte, entfuhr ihr ein Wind. »Schön,« sagte sie, indem sie sich umwandte, »eine Frau, die Blähungen hat, ist noch nicht todt.« Dies waren die letzten Worte, die sie sprach.
Sie hatte ihren unteren Dienstleuten einen Jahreslohn vermacht; da ich jedoch nicht in das Verzeichnis des Dienstpersonals eingetragen war, erhielt ich nichts. Gleichwohl befahl der Graf della Rocca mir dreißig Livres auszuzahlen und ließ mir auch den neuen Anzug, den ich täglich trug und den mir Herr Lorenzi nehmen wollte. Er versprach sogar, sich nach einer Stelle für mich umzusehen, und gestattete mir, zu ihm zu kommen. Ich suchte ihn zwei- oder dreimal auf, ohne ihn sprechen zu können. Ich war leicht zu entmuthigen und stand von weiteren Besuchen ab. Man wird bald sehen, daß es Unrecht von mir war.
Ach, daß ich mit allem, was ich von meinem Aufenthalte bei Frau von Vercellis zu erzählen hatte, doch hiermit zu Ende wäre! Aber wenn mein Seelenzustand auch anscheinend unverändert blieb, so verließ ich ihr Haus doch nicht, wie ich in dasselbe eingetreten war. Ich nahm aus ihm die unauslöschliche Erinnerung an ein Verbrechen und das unerträgliche Gewicht der Reue mit fort, die noch immer, am Ende von vierzig Jahren auf meinem Gewissen lastet und deren Bitterkeit, statt abzunehmen, sich mit dem zunehmenden Alter unaufhörlich steigert. Wer sollte meinen, daß der Fehler eines Kindes so grausame Folgen haben könnte! Und gerade über diese mehr als blos wahrscheinlichen Folgen wird mein Herz sich nie zu trösten im Stande sein. Ich bin vielleicht die Ursache gewesen, daß ein liebenswürdiges, sittsames, achtbares Mädchen, das sicherlich viel mehr werth war als ich, in Schande und Elend untergegangen ist.
Die Auflösung eines Haushaltes wird immer mit einiger Verwirrung und dem Verluste mancher Sachen verbunden sein. Gleichwohl war die Treue der Dienstleute und die Wachsamkeit des Herrn und der Frau Lorenzi so groß, daß von dem Inventarium nichts fortkam. Jungfer Pontal allein verlor ein kleines, schon altes, rosa- und silberfarbiges Band. Viele andere bessere Sachen waren mir zugänglich; dieses Band allein reizte mich, ich stahl es, und da ich es nicht sorgfältig verbarg, fand man es bald. Man wollte wissen, wo ich es genommen hatte. Ich werde verlegen, stottere und sage endlich erröthend, Marion habe es mir gegeben. Marion war ein junges, aus Maurienne stammendes Mädchen, das Frau von Vercellis zu ihrer Köchin erhoben hatte, als sie bei Verzicht auf alle Tafelfreuden ihre bisherige entließ, da sie mehr guter Suppen als feiner Ragouts bedurfte. Marion war nicht allein hübsch, sondern hatte auch eine Frische der Gesichtsfarbe, wie man sie nur im Gebirge findet, und besonders etwas so Sittsames und Sanftes, daß man sie nicht sehen konnte, ohne sie lieb zu gewinnen. Ueberdies war sie ein gutes, bescheidenes Mädchen und von erprobter Treue. Deshalb überraschte es, als ich sie angab. Da man mir nicht weniger Vertrauen schenkte als ihr, hielt man es für wichtig, festzustellen, wer von uns beiden der Dieb wäre. Man ließ sie kommen; die Versammlung war zahlreich, selbst der Graf della Rocca war zugegen. Sie erscheint, man zeigt ihr das Band; mit Frechheit klage ich sie an; sie wird betreten, schweigt und wirft mir einen Blick zu, der die Teufel würde entwaffnet haben, aber auf mein unmenschliches Herz ohne Eindruck bleibt. Sie läugnet endlich mit Festigkeit, aber ohne leidenschaftliche Heftigkeit, wendet sich an mich, ermahnt mich, in mich zu gehen, ein unschuldiges Mädchen, das mir nie etwas zu Leide gethan hat, nicht zu entehren, und ich, ich bestätige mit einer wahrhaft höllischen Schamlosigkeit meine Erklärung und behaupte ihr ins Gesicht, sie habe mir das Band gegeben. Das arme Mädchen brach in Thränen aus und sagte zu mir nur: »Ach, Rousseau, ich hielt dich für einen guten Menschen. Du machst mich sehr unglücklich, aber ich möchte nicht an deiner Stelle sein.« Dies war alles. Sie fuhr fort, sich mit eben so großer Einfachheit wie Festigkeit zu vertheidigen, aber ohne sich die geringste Schmähung gegen mich zu erlauben. Diese Mäßigung meinem bestimmten Tone gegenüber gab ihr Unrecht. Es schien gegen die Natur zu streiten, daß man auf der einen Seite eine so teuflische Unverschämtheit und auf der andern eine so engelgleiche Sanftmuth annehmen sollte. Man schien nicht zur völligen Entscheidung zu kommen, aber das Vorurtheil war für mich. In der Unruhe, in der man sich damals befand, nahm man sich nicht die Zeit, die Sache gründlich zu untersuchen, und der Graf de la Rocca beschränkte sich darauf, uns beide zu entlassen und zu sagen, daß das Gewissen des Schuldigen den Unschuldigen hinreichend rächen würde. Seine Voraussagung war nicht grundlos; sie erfüllt sich einen Tag wie den andern an mir.
Es ist mir unbekannt, was aus diesem Opfer meiner Verleumdung wurde; aber wahrscheinlich hat sie danach nicht leicht wieder ein gutes Unterkommen gefunden. Es haftete eine in jeder Beziehung ihre Ehre schädigende Beschuldigung an ihr. Der Diebstahl betraf nur eine Kleinigkeit, aber es war immer ein Diebstahl, und was noch schlimmer, zur Verführung eines jungen Menschen begangen; dazu ließen die Lüge und der Starrsinn nichts von einer Person hoffen, in der so viele Fehler vereinigt waren. Ich betrachte das Elend und die Verlassenheit nicht einmal als die größte Gefahr, der ich sie ausgesetzt habe. Wer weiß, wohin die Mutlosigkeit, in die ihre mißhandelte Unschuld sie stürzen mußte, sie bei ihrem Alter hat bringen können? Ach, wenn die Reue darüber, daß ich sie unglücklich gemacht haben kann, schon unerträglich ist, dann möge man sich erst die vorstellen, daß ich sie vielleicht schlechter gemacht habe, als ich bin.
Diese bittere Erinnerung peinigt mich bisweilen und regt mich bis zu dem Grade auf, daß ich in Stunden der Schlaflosigkeit dieses arme Mädchen an mein Bett treten sehe, um mir mein Verbrechen vorzuwerfen, als wäre es erst gestern begangen. So lange ich ruhig lebte, hat es mich weniger gequält, aber inmitten eines stürmischen Lebens raubt es mir den süßen Trost der verfolgten Unschuld; es läßt mich tief empfinden, was ich in einem meiner Werke behauptet habe, daß die Reue während eines glücklichen Lebens nachläßt und im Unglück heftiger wird. Indessen habe ich mich nie dazu entschließen können, mein Herz durch ein Geständnis an einen Freund zu erleichtern. Bei der engsten Vertraulichkeit habe ich niemandem, nicht einmal der Frau von Warens, dieses Bekenntnis abgelegt. Alles, wozu ich mich habe überwinden können, ist das Eingeständnis gewesen, daß ich mir eine Schlechtigkeit vorzuwerfen hätte, aber nie habe ich gesagt, worin sie bestände. Diese Last ruht also noch bis auf den heutigen Tag ohne Erleichterung auf meinem Gewissen, und ich kann sagen, daß der Wunsch, sie einigermaßen von mir abzuwälzen, viel zu meinem Entschlusse beigetragen hat, meine Bekenntnisse zu schreiben.
Bei dem eben abgelegten habe ich die Wahrheit rund heraus gesagt, und man wird sicherlich nicht finden, daß ich hierbei die Schwärze meiner Schandthat beschönigt habe. Allein ich würde den Zweck dieses Buches nicht erfüllen, wenn ich nicht zugleich meine innere Gesinnung erklärte, und wenn ich Scheu trüge, mich bei dem zu entschuldigen, was die volle Wahrheit ist. Nie war ich von einer wirklich boshaften Gesinnung freier als in jenem grausamen Augenblick, und so sonderbar es auch klingt, so ist es doch wahr, daß, als ich dieses unglückliche Mädchen anklagte, die Schuld in meiner Freundschaft für dasselbe lag. Meine Gedanken weilten bei ihm; ich schob die Schuld auf den ersten Gegenstand, der mir vorschwebte. Ich klagte es an, das, was ich thun wollte, gethan und mir das Band gegeben zu haben, weil meine Absicht war, es ihm zu geben. Als ich es darauf erscheinen sah, that es mir unendlich leid, aber die Anwesenheit so vieler Leute gewann die Oberhand über meine Reue. Vor der Strafe hatte ich wenig Furcht, ich fürchtete nur die Schande, aber ich fürchtete sie mehr als den Tod, mehr als das Verbrechen, mehr als alles auf der Welt. Ich hätte versinken, hätte mich umbringen mögen; das unbesiegliche Schamgefühl überwand alles; das Schamgefühl allein verlieh mir Frechheit, und je schuldiger ich wurde, desto kecker machte mich die Angst, meine Schuld eingestehen zu müssen. Mich erfüllte nur der grausenhafte Gedanke, überführt und in meinem Beisein öffentlich als Dieb, Lügner und Verleumder erklärt zu werden. Eine vollkommene Verwirrung raubte mir jedes andere Gefühl. Wenn man mich hätte zur Besinnung kommen lassen, würde ich unfehlbar alles bekannt haben. Hätte mich Herr de la Rocca bei Seite genommen, hätte er zu mir gesagt: »Richte dieses arme Mädchen nicht zu Grunde; gestehe es mir, wenn du schuldig bist,« würde ich mich ihm sofort zu Füßen geworfen haben, davon bin ich vollkommen überzeugt. Aber man suchte mich nur einzuschüchtern, während man mir hätte Muth einflößen sollen. Auch auf mein Alter muß man billigerweise Rücksicht nehmen; ich war kaum aus der Kindheit herausgetreten, oder ich stand vielmehr noch in ihr. In der Jugend sind die wahren Schlechtigkeiten noch strafbarer als im reifen Alter; was aber aus der Schwäche hervorgeht, ist es dafür weit weniger, und mein Fehler war im Grunde nichts anderes. Auch quält mich die Erinnerung daran weniger wegen des Bösen an sich selbst, als wegen der Folgen, die sich daran knüpfen. Für mich hat es sogar das Gute gehabt, mich für meine ganze übrige Lebenszeit vor jeder an das Verbrecherische streifenden Handlung zu bewahren. Dies habe ich dem furchtbaren Eindrucke zu verdanken, der mir von der einzigen Schlechtigkeit geblieben ist, welche ich je begangen habe; und ich glaube zu fühlen, daß mein Abscheu vor Lügen seine Quelle zum großen Theile in der Reue darüber hat, daß ich eine so schändliche habe aussprechen können. Wenn dieselbe ein Verbrechen ist, welches, wie ich zu hoffen wage, gesühnt werden kann, so muß es durch so viele Unglücksfälle, welche gegen das Ende meines Lebens auf mich eingestürmt sind, durch vierzig Jahre der Redlichkeit und Rechtschaffenheit in schwierigen Verhältnissen gesühnt sein. Die arme Marion findet so viele Rächer in dieser Welt, daß, wie groß auch die ihr von mir zugefügte Kränkung gewesen sein mag, ich nur geringe Furcht hege, mit ihr beschwert in die Ewigkeit hinüberzugehen. Das hatte ich über diesen Gegenstand zu sagen. Möge man mir erlauben, nie wieder darauf zurückzukommen.