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Aktualismus

Aktualismus

Alle künftige Rede, Aussprache, Literatur, Mitteilung fürs Leben wird nicht mehr psychologisch sein, sie wird metaphysisch sein. Übersetzt ins Vokabular unserer Realität, der Realität von Wesen der grossen Menschengemeinschaft, heisst das: sie wird ethisch sein. Unsere Ohren, die trotz der Mordjahre in eine neue Zeit hinein horchen, werden anderes nicht mehr zulassen.

Der Weg, den wir in die Ewigkeit nehmen, muss durch die Jetzigkeit gehen. Der Leib des Menschen ist nur einmalig, aber diese Einmaligkeit ist sein höchster Wert. Je tiefer und vollkommener wir einmalig sind, um so gemeinsamer sind wir allen. Je eindeutiger wir uns entscheiden, um so unendlicher ist unser Handlungsbereich. Nur wenn wir unser Leben, das eines menschlichen Wesens, ganz auf der Erde durchsetzen, werden wir auch geistiges Wesen sein. Der Einsiedler und der (sogenannte) Asket sind Spezialitäten. Sie betrachten das Geistige als Sonderexistenz, wie Kinder das Licht durch ein Kaleidoskop anschauen; sie sind Verwirrer, denn sie lenken das menschliche Denken vom Geist ab, und der Betrachtung eines Betrachters zu; zuletzt, sie verwirklichen nicht, sondern träumen nur die Verwirklichung. Jede Lehre, die allein auf die blosse »Vermeidung des Sündhaften« ausgeht – kann sehr gross sein, sie ist aber nur eine Lehre der schönen Haltung, des Symbolischen und des Niveaus. Nichts ist ruchloser als Exklusivität, und nichts grausamer als Isolation. Nur die Lehre, und einzig sie hat Sinn für den Menschen, deren Wort uns ein Zeichen auf den Weg setzt gegen unsere Frage: Was sollen wir tun?

Was wir nicht tun sollen, wissen wir heute mehr als je.

Aber nie kann eine Antwort auf diese Frage heissen: Abwarten! – Sie muss, im Gegenteil, auf bestimmteste Einzelheit gebracht, heissen: Handeln! Und: Selbst handeln! Und: Gemeinsam handeln! Zu fordern ist noch mehr; die Bestimmung: Wann handeln, wie handeln, wohin handeln.

Wenn wir handeln, begehen wir oft Unrecht. Es ist falsch, darum vom Handeln abzulassen. Unsere Vereinzelung, die des Nichthandelnden, begeht viel grösseres Unrecht. Jeder weiss das aus seinem praktischen Leben. Nur das Schlimmste sei erwähnt: der Vereinzelte will nicht »gestört« werden. Es ist uns aber gegeben, oft Unrecht zu begehen, wenn es aus Güte geschieht und für die Gerechtigkeit. Ohne Güte und ohne das Ziel der Gerechtigkeit gibt es kein Handeln; was man, fälschlich, so nennt, ist nur die automatische, wieder in sich zurückschnappende Bewegung eines angestossenen Uhrwerkes. Wirkliches Handeln ist aber stets: Handeln für den Geist. Und was ist »Vermeiden des Sündhaften« anderes als Schmuck; Dekoration des Ethischen; Kunstgewerblichkeit des Gemeinschaftslebens! Es ist weder seelische noch geistige Gesinnung, das Böse aus dem Leben ( – um einen für die Besitzidee bezeichnenden Malerausdruck zu gebrauchen – ) »auszusparen«. Es ist nur bequem. Es ist – erbärmlich schauerlichster aller Zustände – zufriedenstellend! Kennen wir nicht jene hohen, hellen und jammerhaft öden Laboratorien, Bierhäuser, Kaufpaläste, in denen das Störende, Unangenehme und sogenannte Unkünstlerische ausgespart und vermieden wurde? Sie sind die Kronzeugen der Monumentalität aus Menschenangst. So führt auch die Vermeidung des Sündhaften zu einer leerhallenden Architektonik des Lebens. Und es bleibt im erhabensten Falle, dass der Betrachter, welcher menschenflüchtend im chaotisch echowerfenden Mittelsaal seines sündlosen Monumentalhauses sitzt, sich von Sünde frei glaubt. Während draussen rings um die Unschuldsburg das Böse an die Mauern schäumt.

Nicht Vermeidung des Bösen gilt es, sondern Widerstand gegen das Böse.

Aber der Widerstand gegen das Böse ist nur ein geringer Kreisausschnitt des Lebens, und schon längst einbegriffen im grossen Umkreis des Handelns. Wer handelt, für den Geist handelt, der lebt auch zugleich stets im Widerstand gegen das Böse.

Entrückte und Ekstatiker preisen die Zeitlosigkeit. Misstraut ihnen! Denn der Zeitlose weiss nur vom Ich, nicht mehr vom Anderen. Er weiss nicht von Gut und Böse, nicht von Recht und Unrecht. Er weiss nicht von Werten. Aber die Werte sind göttliche Stundenzeiger für den Menschen. Der Zeitlose will uns glauben machen, er sei in Gott eingegangen. Aber das kann man nicht. Und er belügt sich und uns um einer Ausflucht willen. Man kann nur, in der grössten Stunde des Lebens, zum eigenen Bewusstsein von der Existenz Gottes kommen. Aber diese Stunde gibt unverlierbar die göttlichen Wegweiser, die Werte, in die Hand des Menschen. Dagegen die Zeitlosigkeit der Mystiker ist nur eine Entschuldigung für die Beschäftigung mit der rein psychologischen Verfassung des Menschen, seiner elementenmässigen. Die eitle, unausgefüllte, alles gleichsetzende – entwertende – Widerstandslosigkeit des Psychologischen gegenüber der metaphysischen Existenz des Menschen wird immer in Zeiten der Krise sichtbar. Vielmehr: diese Sichtbarkeit ist die Krise.

Heilig sei uns die Zeit. Die erhabenste Forderung vor uns selbst heisst: Jetzt! Entzeitlichung heisst Aufschub. Aller Aufschub entmenscht uns. Nicht Vertröstung tut heute Not, sondern Tröstung. Nur wenn wir geben, aktiv lieben aus dem Geiste, wenn wir handeln: können wir trösten. Nichts bleibt uns übrig, als in die Welt einzugreifen.

Der Aufschub, die leeren Versprechungen, brennen der Menschheit die tiefsten Wunden. Nur die ewige und stets von neuem wundertragende Entscheidung des Augenblicks, der Mut zum unbedingten »Gleich Jetzt!« kann uns heilen. Nicht einmal begreifen werden wir die Ewigkeit, noch weniger in ihr leben, ohne das Gegenmass des Jetzt. Aber gerade das äusserste, beschränkteste, unmittelbarste und glühendste Jetzt ist das Sprungbrett, das uns im Sturmschwung in die Ewigkeit trägt, und selbst, unter dem Anprall unserer Füsse, in Trümmer fliegt.

Hören Sie!

Hören Sie, Kamerad, Mitarbeiter, Freund, Leser, immer wieder den Bannruf »Literat«, den Fluch, der uns exkommuniziert, den Fall des Rossapfels, der nach uns geworfen wird?

Hören sie den Hohnschrei »Literat«?

Das Scherbengeklirr eingeworfener Fenster: »Literat«?

O Schwindler, die, geduckt in die laufende Menge, rufen: »Haltet ihn, Literat!«

Der Damenprediger Rauschebart, verhinderter Tolstoi, der seine gutmöblierte Eremiten-Villa bewacht.

Der schmunzelnde Anarchist, der die Gesellschaft befriedigt auf Korruptionen analysiert.

Der stille Kammermusik-Sozialist, der zufrieden ist, mal dabeigewesen zu sein,

Der tausendste Kunsthistoriker, der selig den Buckel in die Hiebe des Bilderjargons duckt,

Der Kokottenhälter, der unter den Betten seiner Freunde auf Literaturmögliches lauscht,

Der dreihundertste Gottfried-Keller-Imitator,

Der Gründer von Kneipen mit humanitärem Augenaufschlag, der zwecks Empfehlung die Redaktionen besteigt,

Der Spezialist in Verkündigungen,

Der routinierte Mystiker, der jede alte Legende, jedes Märchen, jede Erfindung fremder Köpfe in die Marktgängigkeit eines tiefen Buches schmalzt,

Diese, die nur Literatur machen, von Literatur leben, hinter der Literatur her sind, schweissbedeckt,

Alle diese, die eine widerspenstige Literatenbemerkung sofort auf den Quivive bringt (wie merkwürdig!)

Alle sie beschimpfen mit »Literat«, sie entehren im Wort »Literat«, sie arbeiten an Misskredit mit »Literat«.

Sie sprengen Kameradschaft damit.

Der Aufrührer, der sein ganzes Leben lang nur Zeitungen liest und schlechtgeschriebene Sätze nachweist, schäumend,

Der Romanschreiber, der mit seinen Kritiken nicht zufrieden ist,

Der saure Klassiker, der nach alten Vorbildern hohe Dramen sich entstösst und auf Papier drucken lässt,

Der Nutzniesser des Geistes, der Arzt, Beamte, Bankier, Gewerbetreibende, Direktor, der, ach, nur in Freistunden dichtet,

Der Zeitungsmann, der auf seine Hirnkraft nicht mehr stolz ist,

Und der Literat selbst, der Untüchtige, Ängstliche, zur Nachwelt Schielende, der Murmler, der Nachsprecher, der profunde Feintuer, der Wortklauber (durchaus auf Posthumität bedacht), dieser Feigling –

Sie alle sollen sich schämen und ihrem Leben ein Ende machen,

Denn es ist nutzlos gewesen.

Oder warum schreiben sie?

Nur weil andere schreiben?

Was hatten sie uns zu sagen?

Nur Selbstbetrug, Eigenschwindel? Privatsache! Oder den Betrug gegen andere?

Kerle, die in der wichtigsten Stunde ihren Platz verlassen,

Ihr Platz ist nicht, Worte zu machen über Gewesenes.

Wir brauchen nicht Interpreten, heute dolmetscht jeder sich selbst.

Ihr Platz ist:

Worte zu machen für Dinge, die gut sind. Für Menschliches, das kommen soll.

Worte zu machen gegen Schändung des Geistes.

Worte zu machen gegen Verrat am göttlichen Menschen, Worte zu machen!

Denn Würste zu machen, Anzüge, Handschuhe, Schränke, Bier, Stiefel, Semmeln kann der andere besser als sie.

Aber ihre Sache ist es, das Wort zu geben, das diese Menschen treibt, und selig auf der Erdkugel macht,

Das Wort, nach dem die Generation handelt,

Das Wort, das sie, Literaten, besser wissen als ihre Leser.

Ihre Aufgabe: Nicht Erklärer, sondern Führer zu sein.

Wer das nicht ist – Abtreten!

Klägliche Mittelwesen, Dazwischenkünftler, Kammerdiener mit alten Geheimnissen – Abtreten!

Wimmernde Malcontenten, Verräter, Spitzel am Wort, an der Hingabe, Verdächtiger der Führung – Abtreten!

Nieder die Schwindler!

Es lebe die Stimme! Die Stimme für die Anderen!

Es lebe das Wort, hell wie Cornetsignal!

Es lebe der runde geöffnete Mund, der laut gellt!

Es lebe der Führer!

Es lebe der Literat!

Der Dichter greift in die Politik

 

Die Legende ist der erste Schritt zur Wahrheit.

Dostojewski

 

Ein kritischer Dichter griff in die Politik, ein Literat. Viele wollen mich belehren, dass dies gleichgültig sei, dass der Fall überschätzt werde. Ich kann es nicht finden. Es ist zu bedenken, dass hier ein Mann Politik lehrt, der das Kunstdenken einer Generation erzogen hat. Es ist nur eine Frage der Beharrlichkeit, dass diese Politik auch wirken wird.

Gar nicht erst einlassen kann ich mich mit andern Leuten, Schweinen einer skeptischen Naivtuerei, die fragen: Wozu überhaupt man denn Politik treibe – und das Leben – und es komme doch alles von allein ...

Politik ist die öffentliche Verwirklichung unserer sittlichen Absichten. Und wenn es irgendwo eine Wahrheit gäbe, die beweisen liesse, dass unsere sittliche Absicht keine sittliche Pflicht ist – so sind noch hunderttausend Menschen da und bereit, sie für eine sittliche Pflicht zu halten. Das ist ausschlaggebend.

Ich weiss Einiges, über das zu diskutieren ich nicht mehr bereit bin. Ich weiss, dass es nur ein sittliches Lebensziel gibt: Intensität, Feuerschweife der Intensität, ihr Bersten, Aufsplittern, ihre Sprengungen. Ihr Hinausstieben, ihr Morden und ihr Zeugen von ewiger Unvergessenheit in einer Sekunde. Ich kenne das Aufplatzen der Erdkruste, Staub zerfliegt, alte Dreckschalen werden durchschlagen, heraus siedet das Feuerzischen des Geistes. Ich weiss, dass es keine Entwicklung gibt. Ich weiss, dass das Anhäufen von Massen nicht die Motive dieses Anhäufens (im Menschen) ändert. Dass aus Quantitäten nie durch Addition Qualitäten werden (Entwicklungslehre). Sondern dass nur unsere Zivilisation fortschreitet (ohne Hohn!). Aber Zivilisation ist die Technik, unsere Ermüdungen abzulenken. Zivilisation ist weder zu bekämpfen noch zu erstreben, sondern etwas Vorhandenes, welches uns umfängt, uns verbindlich macht, uns gefangen hält – aber nie beherrscht.

Ich weiss, dass es nur noch Katastrophen gibt. Feuersbrünste, Explosionen, Absprünge von hohen Türmen, Licht, Umsichschlagen, Amokschreien. Diese alle sind unsere tausendmal gesiebten Erinnerungen daran, dass aus dem fletschenden Schlund einer Katastrophe der Geist bricht. Nur ein sittliches Lebensziel gibt es: von diesen Erinnerungen die neuen sanften Süssigkeiten der kurz vergangenen Zeiten herabzureissen. Hinauszustossen die Selbstverständlichkeit und Sicherheit des Getragenwerdens von der Umwelt. Einen schnellen Augenblick die Intensität ins Menschenleben zu bringen: Unter Erschütterungen, Schrecknissen, Bedrohungen das Verantwortlichkeitsgefühl des Einzelnen in der Gemeinschaft bewusst machen!

Es gibt Helden für den Geist, und noch wenn sie krepieren, drohen sie Bewegungen des Schreckens an. Die Scharen der Zivilisation, dröhnende Legionen von Gemüsehändlern, Portiers, Journalisten, Bankbeamten, Premierenbesuchern, unglücklichen Lotteriespielern und patriotischen Hurenwirten treten ihre Leichen mit Stiefelabsätzen zu Brei.

»Wir?«

Nein. Ich bin nicht allein.

Obzwar dies kein Beweis ist. Aber eine Freude.

Wer sind Wir?

Wer sind die Kameraden? Prostituierte, Dichter, Unterproletarier, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfrasse, Pennbrüder, Einbrecher, Kritiker, Schlafsüchtige, Gesindel. Und für Momente alle Frauen der Welt. Wir sind Auswurf, der Abhub, die Verachtung. Wir sind die Arbeitslosen, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen. Wir sind der heilige Mob.

Wir wollen nicht arbeiten, weil das zu langsam geht. Wir sind unbelehrbar über den Fortschritt, der ist für uns nicht da. Wir glauben an das Wunder, an das Abtun alles Fliessenden in uns; daran, dass unsere Körper plötzlich vom feurigen Geist brennend gefressen werden, an eine ewige Sättigung in einem einzigen Moment. Wir suchen Feuerscheine aus unserem Gedächtnis das ganze Leben lang, stürzen hinter jeder Farbe her, wollen in fremde Räume hinein, hinein mit uns in fremde Körper; verwandeln wir uns in Orgelstimmen, ins Schwingen von Instrumenten, schlüpfen wir durch alle Zellklumpen der Musik, heraus und wieder drinnen, wie Blitze.

Wir zünden eine Zigarette an, wir passen uns in einen neuen Rock, wir trinken Schnaps; Frauen lassen sich mit zuen Augen und wirren Armen ins Wasser fallen. Oder brandstifterische Frauen, anbetungswürdig! Wir stürzen uns, mit vier Armen, grinsend verkrümmt auf lächerliche Chaiselongues, über Gebirge von Röcken hinweg dringen wir ineinander; es ist für unser Wunder. Und wir tun das alles immer wieder, weil wir nie bis ans Ende enttäuscht sind. Unsere Hoffnung ist unermesslich, dass sie übermässige Pressung der Seligkeit das tägliche Leben in Trümmer sprenge. Wer sind wir? Wir sind die Menschen aus den grossen Städten. Herausgetrieben in die Luft gepfeilte Silhouetten zwischen Jahrhunderten. Wir sind die, denen ein Aufschub – die Haut schmerzen macht; Sekunden der Enttäuschung würden unvergesslich brennende Wunden der Langeweile fürs Leben. Es muss alles so schnell vorüber, dass die Vergangenheit zischend wie ein Staubschweif hinter Motoren in die Luft fährt. Um uns die Luft muss zittern. Niemals warten! Hindurch durch die schnellen Freundschaften und die Wutausbrüche Russlands, die gelbgoldenen Trompeten-Sermone Frankreichs, unter italienisches Misstrauen, blitzschnelles Aufdecken zwischen Konventionen, Hingegebenheit, stechende Worte, Sympathien, Überfälle – hindurch durch Englands Docks, morgens um fünf, unter einem stinkenden Berg von Menschen, die auf Arbeit warten, bereit vorzuspringen und den Nebenmann niederzutreten; hindurch durch den heulenden grauen Staub von Whitechapel ... Wir wollen nicht länger warten. Wir können es nicht länger aushalten.

Wir lieben den politischen Dichter so, weil er es nicht aushalten kann. Wir waren noch Schuljungen, da hat uns der Europäer gelehrt, dass man nicht zu warten braucht. Und dass »Geduld, alles wird sich schon entwickeln«, eine Stammtischparole ist. Der Dichter, dieser Welt von Gnaden geschenkt, war immer eine lebendige Katastrophe. Sein Leben ist ein schon mythenhaftes Beispiel unseres Nicht-Warten-Könnens. Er kam immer mit Sprengungen in eine Öffentlichkeit, die gewöhnt ist, Schweinereien solange entrüstet zu bemurmeln, bis sie sich einkalken. Sein Leben wäre klar, wenn man sich diese folgerecht amerikanisch gebaute Spirale ausdenken könnte: Er beseitigt in der grossen Stadt Existenzen; einen herrschenden Kritiker, der von Kritisieren bar Geld und Viktualien erpresst. Einen herrschenden Theatermann, dessen Fett die Beef-Fabrikanten zum Applaudieren bringt. Einen Polizeiregenten, einen Boss, den überhaupt niemand mehr erträgt. Dies Leben wäre folgerecht! Wie, und nur, weil dieses Wirken in der fernen Stadt Chicago abläuft, durch die Ferne exotisch umhaucht ist, sollt es uns mehr angehen, als, sagen wir, in Berlin? War in Berlin nicht dieser Weg viel Unsriger!

Ich muss immer lachen, wenn ein Synthet ängstet: Destruktion. Uns macht nur die (einzig!) sittliche Kraft der Destruktiven glücklich. Beweis: Der politische Dichter hat jedesmal seine Sprache bereichert. Er hat Schmähworte gelehrt, Schmähworte aus Liebe, die in seinem Volksbereich noch keiner ausgedacht hatte. Immer, wenn er auffliegen liess, wurden einzig unzerstörbare Geistigkeiten freigelegt.

Gewöhnung, Konservierung, Einpökelung, Abwendung: Schwindel ist es, wenn man den Fall dieses Europäers aus der Stadt erledigen will: »Er hat Mut, zuzugeben!« Schwindel. Mut ist ein Symptom. Mut hat jeder Zeilensteller, wenn er dreimal um den Schreibtisch läuft. Es kommt darauf an, den Mut (oder den Unmut) zu wollen. Und nichts liesse sich davon ausschalten.

Dieser Mann, der Eindrücke empfangen und geben kann, wie die Dichter, opfert selbst und bewusst das eilende, helle Leben; er mordet seine Lust. Mit einer ungeheuren Konzentration von Energie wandelt er Gefühlsformen völlig zu Zielen um, macht alle seligen Gleichgewichtsgenüsse seines Relativismus zunicht; und dieser von der Natur Eingesetzte – gibt Werte!

Es kommt auf die Umwandlung der Energie an. Sittlich ist es, dass Bewegung herrscht. Intensität, die unser Leben erst aus gallertiger Monadigkeit löst, entsteht nur bei der Befreiung psychischer Kräfte. Umsetzung von Innenbildern in öffentliche Fakta. Kraftlinien brechen hervor, Kulissen werden umgeschmissen, Räume werden sichtbar, Platz, neue Aufenthaltsorte des Denkens; bis zur nächsten Katastrophe. Wir leben erst aus unsern Katastrophen. Störer ist ein privater Ehrentitel, Zerstörer ein religiöser Begriff, untrennbar heute von Schöpfer. Und darum ist es gut, dass die Literatur in die Politik sprengt.

*

Jedoch:

Wir haben uns natürlich getäuscht. Aus Gedankenlosigkeit; wir hatten den ersten Hauptsatz zur Politik vergessen: Die Atmosphäre der Öffentlichkeit macht die Leute dumm!

So unsympathisch alle nicht verwirklichte Innerlichkeit ist – noch unsympathischer ist der Aberglauben, die Öffentlichkeit erfordere Herabdrückung des Niveaus. Dieser Aberglaube steht sogar noch niedriger als das Niveau, welches er produziert. Denn welche sinnlose, privatkarrieristische Auffassung von Öffentlichkeit schliesst er ein, welche unmenschliche von Menschen. Welche geistferne von Vertretung, des Geistigen!

Die Geschichte ist lächerlich. Wer die Öffentlichkeit besteigt, wird »fortschrittlich«. Er fühlt nicht mehr die Verpflichtung zu helfen, sondern hat die Unverschämtheit, erziehen zu wollen. Hier sagt, in der politischen Öffentlichkeit, kein Mensch mehr, wie er sich die Dinge denkt, sondern wie er ... wünscht ... dass man verstehen soll ... wohin eine Vorbereitung zielt ... die bewirkt ... dass man einmal verstehen wird ... was er jetzt verschwiegen hat.

Politiker, die auch anständige Menschen sind, halten oft das Gelächter über ihre Politik für ein Symptom verstandloser Indifferenz. Indifferenz für Gemeinheit. Sie irren. Es ist nur Ablehnung einer Unterschätzung! Verachtung dessen, der einen unterschätzt. Nicht billige Überlegenheit, sondern eine, die uns trauert, und die wir sehr wegwünschten. Beispiele wären: Ein Musiker hat den Ruf des gewaltigsten Kontrapunktikers, und man kennt nur Metropolliedchen von ihm. Ein Dichter heisst genial, und hat etwa nur Räuber-Romane veröffentlicht; und ein geheimnisvoll schaffender grosser Maler hat beide mit Illustrationen versorgt.

Wir wünschen, uns mit unsern Politikern zu unterreden; nicht, von ihnen erzogen zu werden. Wir verwehren dem Politiker den Zutritt zu unserer Gesellschaft. Er schreibt zu schlecht. Er verwechselt Verständlichkeit (die ist Anrühren von Dingen, welche von Geburt an in uns allen liegen) mit Unwichtigkeit. Und er ist sehr anständig, wenn er unter Parenthesen durchscheinen lässt, dass diese unwichtigen, weitmaschig gestrickten Reden nicht seine Angelegenheiten sind. In Momenten der Bewusstheit. Dies ist die Atmosphäre der Politiker. Während in hellen Ländern die Politik den Menschen heben würde, einen kaufmännischen Angestellten zu einem europäischen Schriftsteller machte, die (ewig erstrebenswerte) Kunst der Konzentration in die Menge brächte.

Und hier ein Satz von Robert Musil, moralisch und südlich wie schöne Brückenbogen. Lehrhaft wie von einem Enzyklopädisten, psychologisch wie von einem Jesuiten; tatsächlich und als runde Erkenntnis gesprochen wie von einem Visionär. Er sagt – in dem unschätzbaren, menschenfreundlichen, darum unermesslich liebenswerten Novellenbuch »Vereinigungen« – er sagt: »Es kommt ja nur darauf an, dass man wie das Geschehen ist und nicht wie die Person, die handelt.«

Man musste fragen: Wie kann ein Mann unseres Verstandes den Entwicklungsschwindel stützen? (Man antwortet sich selbst: aus Güte versickernd in geduldetes Missverständnis!)

Aber wo ist die berühmte »Entwicklung« und – wo nicht?

Entwicklung – Jargon des 19. Jahrhunderts; gleich = Steigerung von Fähigkeiten aus einer Summierung von Mengen. (Qualitäten aus Quantitäten. Die Nuance als Stufe.) Wirkt re vera nur bei dem, was man, physikalisch gesprochen, »Masse« nennt. Also in der Zivilisation. Alles Technische steht unter der Entwicklung; die beliebten Fabrikschornsteine (in den netten Beleuchtungen populärer Maler), die Eisenbahnen (»das gewaltige Schienennetz«), die Telephone, die Rekorde der Titanics, die Drahtlosigkeiten, Seifen, Setzmaschinen, Kunstweine, die Gummiartikel, Photographien, Polizeiverwaltungen, die Kanonen, Luftschiffe, Konservenfabriken, Füllfederhalter, Mittagsblätter, die Anweisungen zu hypnotisieren, die gut imitierten Teppiche, Akkumulatoren, Gartentische, Gipsabdrücke, Rotationsdruck, Volksheere, Harrod, Duval, Aschinger, und Sir Thomas Lipton – alle können sich entwickeln. Oder ist dies ein ungenaues Wort? Etwa so: alle können sich verfeinern und vermannigfaltigen; fortschreiten – Atome umlagern unter Druck und Widerdruck. Nur kann sich nicht entwickeln, was die Entwicklung macht; der – ganz unpathetisch gedacht – der Geist. Einer kann Groschensemmeln an eilige Gäste verkaufen, um zwanzig Jahre später ein Massenspeisehaus zu leiten. Das ist eine Entwicklung. Der Weg vom Wurstbrötchen bis zum neuen Millionenbankrott ist kontinuierlich, ein Fortschritt.

Aber Ideen kriechen nicht so auseinander heraus. Zwischen der Idee, nun, des Luftschiffes und der Idee des Aeroplans gibt es weder eine Entwicklung noch einen Fortschritt. Sie sind ganz unabhängig voneinander. Ideen sind immer da, und immer neu. Immer auch ewig. Und jede Idee ist eine Katastrophe, wie jeder neue Mensch, den man kennen lernt.

Zivilisation kann man lernen. Essen, sich in Grenzen aussprechen, unanstössig sein: Geschmack. Alles zu lernen. Dies vom Geist zu sagen, wirkt sofort komisch. Nicht vielleicht aus mangelnder Gewohnheit.

Sondern aus sicherster Überlegenheit vor dem rein Quantitativen, Zusammenklebenden, Massigen, naturkundlich geredet, dem Beharrungsvermögen der Zivilisation.

*

Man sieht, es gilt hier nicht, gegen die Zivilisation zu sein. Dies war ein entsetzlicher Unsinn. Ebensogut könnte man gegen »Quantität« oder gegen »Materie« sein wollen. Verse, geseumet von der Farbe Rousseauscher Prismatik »seht, wir Wilden sind doch ...« oder »wir Kokotten sind doch bessere Menschen« oder »seht, wir Künstler ...« sind Unsinn. Die Zivilisation ist etwas Vorhandenes. Aber dies Vorhandene ist eine sehr partielle Angelegenheit der Welt. Im übrigen gibt es noch den Geist, den Geist, den Geist.

*

Der gute Dichter dichtet nicht von den Fabriken, den Telefunkenstationen, den Automobilen, sondern von den Kraftlinien, die aus diesen Dingen im Raume umherlaufen. Das Ding ist für Menschen da. Wir sind keine Idylliker. – Nun, nachdem das Maulaufreissen vor der Technik vorbei ist, weil man sie als etwas Selbstverständliches eingeordnet hat; nun gilt kein prinzipieller Unterschied mehr zwischen Assyriens ungeheuerem Brudersang vom Gilgamesch und Dantes Aufruhrepos nach göttlichem Weltplan, oder den wissendsten und explosivsten Worten der neuen Zeit, mit denen Walt Whitman, ein unsterblicher Freund, den heutigen Menschen zur Weltliebe führt! – Kraftlinien bauen eine Dichtung. (Und nur solang man glauben konnte, dass Zivilisation die ganze Welt vollfüllt, und dass nicht ein Marconisender der blosse Ausdruck einer Idee, sondern ein Ding für sich ist; und solang man diesen Niggerglauben hatte, war Homer »veraltet«. Indessen: bloss die Marconisender veralten!)

*

Die Zivilisation ist wohltuend, aber sie trägt zu viel Zinsen. Wenn's nach der Zivilisation ginge, würde der grösste Bauch prämiiert; doch scheint sich dagegen etwas im Menschen zu wehren.

Wir freuen uns über Jeden, der einen Moment lang die ganze Entwicklungssituation der Zivilisation vor dem Geiste als chaotischen Brei erweist. Einfältige etwa schwindeln »Weil die Geste schön ist«. Nein – weil er Bewegung in Zusammenhängendes bringt. Herrlich, wer die Kontinuität stört. Höhnungen gegen Gewöhnungen.

*

Unwürdig ist es des politischen Literaten, des Störers, des Geistigen, des Grundgestaltweisenden, unwürdig ist es seiner, zu glauben, für uns müsse er unter sein Können herab. Die Evolutions-Genügsamkeit, dass die Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts einmal allen verfügbar sein muss – ist eine Überschätzung dieser Zivilisation.

Worauf wir warten? Zuerst auf die menschliche Gemeinschaft!

*

Wir wollen, dass der Dichter hineinstösst in die kommerziellen Gleise, diese Eckchen voll Augenzwinkern, diese Pressfehden voll geschwindelter Aufregung, diese Geheimnis'chen, wo alles längst klar ist, dieses Verschleppen von Krisen. In die Sordinen dieser Immer-ruhig-Blut-Taktik nebst diätarisch bezahlter Aufregung auf Wochen, Tage und Stunden. In diese Bergwerks-, Eisenbahnen-, Petroleum-Interessenschübe. Hinein soll er in die Pathetophon-Vorstellung, die man immer noch Politik nennt. Und selbst, wenn Hemmungen sich vorschieben; wenn er seinem eigenen Leben nicht recht glauben will, sein Wüten nicht sieht, seine Katastrophen nicht erkennt; nicht mehr weiss, dass er um sich geschlagen bat, dass ihn seine Aktionen auf Wirbeln mitrissen (und nicht auf sanften Ebenen). Selbst wenn ihm Naturwissenschaften imponieren, wenn er Sonntags in die Entwicklungskirche geht; wenn er glaubt, gehäufte Zivilisationen gäben gehäuften Geist. Selbst wenn er sich einer fixen Idee von himmlischen Hinaufstufungen der Unwelt mehr verpflichtet fühlte, als den Zeichen seines eigenen Lebens; so tut er Unermessliches, da er in die Politik greift.

Wenn der Dichter, der Erschütterer, zur Politik kommt, – bei diesem Umwandeln der Selbstgenüsse und Selbstzerfleischungen in Ekel des Handelns, beim tiefen seligen Auskosten der Gewöhnlichkeit: Volksmann zu sein; beim unermesslichen Glücksgefühl, wehrlos, im Wind eine Stimme für andere zu sein (wenn man bis dahin seine eigene war)! – bei dieser unschätzbaren Selbstaufgabe, die nur für den konzentriertesten Mann da ist, und also von neuem: bei dieser Umwandlung der Kräfte wird Unmessbares an sittlicher Energie frei. Dies strahlt in den Raum, fährt mit Brisanzeffekt unter die Stühle von Literaten, Geniessern, Politikern. Soundsoviel Stuben sind plötzlich da, in denen man merkt, dass es in der Welt klafft. Man nennt das die moralische Wirkung.

*

Darf ich reden, wie sie einmal zu spüren war, als in einer verängstigten Volksversammlung – weil nur zwei dünne Bogenlampen mit vielen Schatten grünlich flammten – der Politerat zu uns sprach. Wie er plötzlich uns kannte, als es um die Sache ging, wie er die ängstlichen Bedürfnisse einer Masse nach Pathos, Würde, Abwehr durchschaute. Mit unerwartet tiefer Stimme, sinnlicher Vergeistung, tiefe schwingende Metallzungen hinter blauen Samtvorhängen: pfefferte er eine Bombe voll Erinnerungsdämpfen unter uns. So könnt er auf einmal zitieren. Wir erinnern uns unter erschrecklichem Lächeln an Klassenzimmer, Wut, Ekel. Und wir greifen Wut und Ekel in unser Gefühl auf, um sie gegen jene Institution zu kehren, die von der Versammlung bekämpft wurde. Nun musste er nur noch Deutungen bestimmen. Nennen, wie von einem Transparent herab, die »moralische Wirkung«. Und sie stand wahrhaft da.

*

Aber nur der erzielt das, der von dem geistigen, freien Schweben freiwillig sich herabschleudern lässt auf die Platt-Form des Volksmanns. Der Geistige, der zum Volksmann wird, gibt von dem Geist ab. Er fühlt, er »schraubt sich herab«. Aber in Wahrheit setzt er das Verlorene um. Der Dichter wirkt tausendmal stärker als der Politiker, der im Moment vielleicht fetter effektuiert. Der Dichter ist der einzige, der hat, was uns erschüttert, Intensität.

Doch muss man ihn bitten, nicht schon das Herabschrauben allein für erschütternd zu halten. Er soll wissen, dass er ein Erzieher ist, auch ohne die Umstände eines solchen zu machen. Und er wird erinnert, dass es seiner unwürdig ist, etwa einen Geheimrat Spiesser von irgendeinem Hamsterbund für einen Lebensmenschen zu halten, menschlicher und lebendiger als er selber sei. Wir wissen, auch er überschaut beispielsweise, dass die Leute, welche in Abendtoilette Volksstimmung markieren, dieweil sie mit den Stiefelabsätzen sterbende Aufrührer zu Brei treten, von der Unterwürfigkeitsstimmung vor Bankiers gemietet sind. Gemietet sind, Empörung zu produzieren. Er weiss, dass diese öffentliche Meinung, diese Matins, Figaros, Petits Journaux, diese englischen, amerikanischen, deutschen Blätter, gekauft sind von Bänkern, die ihre allgemeine Existenz bedroht fühlen.

Das alles weiss er. Und – welche Pietät kann ihn verpflichten, das Leben in die Länge zu ziehen? Seinen Geist, seine Katastrophen, sein Nicht-mehr-aushalten-können lehrhaft aufzuwenden in milderen Marxismen für das wählerische, doch indifferente Bürgertum?

Diese Horde, die ihn füttert, gewöhnt; verbraucht.

*

Er weiss, Dichter, Polites, Mann der Stadt, weiss, wie dankbar wir ihm für seine Existenz sind. Dass unsere Willen geneigt sind, in seinen Schwingungen zu stossen. Doch er höre uns. Er glaube uns. Er wisse, dass ihn sein Körper nicht täuscht; dass sein Leben recht hatte, wenn es ihn über Katastrophen, Ermüdungen, Wutausbrüche, und über Ungeduld, die tötete, geführt hat. Dies alles braucht er heute nicht mehr umzuschalten. Wir sind da, zu denen er direkt sprechen kann, ohne Umwege über Bequemlichkeiten und Wissenschaften. Er spreche auch zu denen, die nicht warten können – wie er nie warten konnte. Zu denen, die an ihm die Unbedingtheit lieben, die in ihm Zerstörerisches fanden, neue Zeugung fanden: Intensität. Zu seinen Brüdern, den Ungeduldigen. Den Sittlichen. Er berge nicht seine heisse Haut hinter den Verteidigungstheorien der Zivilisation (Evolutionsmythen mit nunmehr kirchlichem Klimbim). Er spreche von den Katastrophen, die er zu sehen uns gelehrt hat. Er glaube uns, dass wir nicht Umschweife über Versprechungen hören müssen, um überhaupt hören zu können. Wir sind so ungeduldig wie er. Drum sprech er von sich, wir werden angerührt.

Der Fall liegt so: Verknotung von Wissen um Menschen mit Pflichten für Menschen. (Ein Augenblick der Verlegenheit.) Aber schon von der Möglichkeit dieser Kreuzung steigt sittliche Kraft aus dem Dichter. Doch welch eine Wirkung müsst es haben, wenn unter dem Druck der politischen Pflicht auch das Gewusste ganz gesagt wird!

*

Für einen politischen Fall der politischen Versprechungen, der Vertröstung auf Kommendes; der Herabstufung von lebendigem Dasein in Entwicklungskonfessionelles – für diesen Fall sei die Formel Dostojewskis hingesetzt. (Eines Aufrührers, der sein Ich auf Jahrhunderte ins Volk gesprengt hat.)

*

Die Legende. Nichtisoliertsein. Gemeinsames suchen. Umhergreifen. Dabei hinfassen, wo die Luft bebt, hinein ins Geäder der Kraftstrahlen. Zusammenballen zur Form der Idee, aus der sie springen: Gestalten.

Und sei dies auch Erfundenes, Unmessbares. So ist es doch das Brennen, in dem gewisslich wir leben. (Brennen, Feuer, Wunden, Abenteuer. Intensität statt irgendeiner nur prophezeiten Zukunft. Denn Altwerden ist Schwindel oder Gemeinheit!)

Aber wie aus Illusionen Realismen springen, so steht drüben, auf der andern Seite, unglaubhaft schwebend aus der Legende die Wahrheit als himmlisches Jerusalem.

*

»Die Legende ist der erste Schritt zur Wahrheit.«

Doch täuschungslos gesprochen: sie macht nie den zweiten Schritt.

Der politische Dichter glaube an sein Leben, an seinen Körper, an seine Bewegung. Der Dichter greift in die Politik, dieses heisst: er reisst auf, er legt bloss. Er glaube an seine Intensität, an seine Sprengungskraft. Es geht ja weder um unsere Zivilisation, noch um ihre Entwicklung. Der politische Dichter soll nicht seine Situation in Erkenntnissen aufbrauchen, sondern er soll Hemmungen wegschieben. In einem Lande der Verdammnis und der Geisselungen geht es jetzt nicht drum, von unserer Legende zu irgendeiner Wahrheit zu kommen. Es gilt nur, dass wir schreiten. Es gilt jetzt die Bewegung. Die Intensität, und den Willen zur Katastrophe. Und die Wahrheit zu wissen!

Exkurs zur Intensität

Intensität ist Symptom für das bewusste Handeln im Geist. – Man fragte, ob auch Intensität nicht am Ende eine Formidee sei. – Aber es gibt kaum etwas, das von Mitläufern der Schule des dekorativen Denkens, oder auch von Künstlern, nicht als Formidee gedreht werden kann.

Zunächst: es ist natürlich nicht eine Formidee. Doch selbst wenn es eine wäre? Unsere Aufgabe (die der Gesetzgebenden und Kämpfer) fürs Leben ist es, die Dinge aus einem Plan des Daseins (aus ihrem vegetativen, genusshaften Fürsichsein, ihrer »Wert«-losigkeit) in einen andern zu heben; sie die Brandmarken der Wertung durchmachen zu lassen. Wenn wir wissen wollen, wie überhaupt der Mensch zum » Wert« kommt, so müssen wir uns unendlich ausserhalb aller Psychologie und aller Erfahrung stellen. Alle Stadien, die zwischen der kosmischen Aktion des Geistes und der leiblichen Geburt des Einzelmenschen liegen, können nur in allweltlichen Urgebilden dargestellt werden. Man kann sich »Verhalten« (existere) als eine Ebene vorstellen und »Bedeutung« als eine andere. Wir zwingen die Ebenen, sich zu schneiden. Die Schnittlinie ist der Ort »Wert«. Der Zustand jeder denkbaren Kategorie ist, mit linearen Begriffen ausgedrückt, lediglich flächenhaft. (Daher die dekorativen Gehirne, z. B. dekorierende Künstler, mit der blossen Beschreibung der Kategorie schon das Letzte ausgedrückt zu haben glauben.) Lassen wir selbst den »Wert« zu einer neuen Kategorie werden, indem wir ihn zum Durchmesser eines unendlich grossen Kreises machen – also wenn wir die Ebenen »Verhalten« und »Bedeutung« jede für sich drehen! Dann können wir aber zugleich den »Wert« unserer Handlungen selbst sogar noch als Kategorie denken, denn durch die Drehungen der Flächen hat die Schnittlinie einen Kreis beschrieben. Und auch diesen Kreis bewegen wir um seinen Durchmesser als Achse. So entsteht ein Gebilde, das räumlich und dreidimensional ist, und schon unabhängig von der Tatsache der bloss flächenhaften Kategorie des Seins ist. Dieses neue Wesen fällt nicht mehr unter die » Formidee«, weil seine Konstruktion sich in unendlich viel möglichen Bewegungen ändern kann!

Aber ganz frei, unabhängig von den Gebilden der Fläche und des Raumes – himmelhaft unvergleichbar, gottartig bestehend und allein – ist das Agens, der Antrieb, das Zwingende für die Bewegung und Schneidung jener Ebenen. Innerhalb dieser Analogie steht das absolut Freie, Aussen-Seiende, das Treibende, das Geistige = für Intensität.

Solche Abstraktionen müssen mit höchster Notwendigkeit vollzogen werden, wenn wir wieder auf Gesetze des Lebens im Geiste stossen wollen. (So wie sie einst die Scholastik mit wunderbarer Notwendigkeit vollzog. Auch hat unsere Zeit – trotz der grossen menschlichen Krisis und durch sie hindurch – den Anschluss an die grossen Jahrhunderte des geistigen Lebens wieder hergestellt. Jahrhunderte dafür sind von uns abgefallen. Zwischen den Tagen des Baues von Notre-Dame und den unsrigen ist für die Besten heute keine innere Ferne, sondern nur die Pause eines Schlafes.)

Doch ausserhalb der Vorstellbarkeit von Gebilden der Abstraktion müsste man sich in der Vorstellbarkeit der faktenmässigen Wirklichkeit so ausdrücken: Intensität = gleich: Platzen vor Geistes-Gegenwart.

Auch für alle anderen Fälle ist es wichtig, dass wir nachweisen: Überhaupt nur die Möglichkeit von Formideen anzunehmen, ist schon ein Irrtum. Nicht einmal jene oben angesetzte Konstruktion ist in Wahrheit bestimmt. Es ist zu vergleichen, dass alles, was in der Welt über »Form« gesagt wurde, nie Darstellung, sondern vages, mit Lyrismus verbrämtes Gerede ist. Während »Wert« etwas ungeheuer Bestimmtes und Eindeutiges blieb. So elementar eindeutig, dass die meisten Menschen sich (vor sich selbst) genieren, daran zu denken. Darum arbeiten alle romantischen Köpfe mit dem Begriffe »Form«; denn Form wäre ja ein Zustand (man vergleiche von Platonikern bis auf die Absickerungen in den Jahrbüchern der Freunde des Dichters George).

Es gibt aber keinen Zustand. Der einzig mögliche Zustand wäre das Eingedrungensein des Menschen in Gott. Dies ist ganz unmöglich, denn Gott ist eine ganz freie, absolute, d. i. unabhängige, nicht passive Existenz. (Der halb gnostisierende, halb rationalutilitarisierende Scherz, Gott für reziprok dem Menschen zu halten – dünnstes Wässerchen: Feuerbach – ist natürlich ganzer Unsinn. Gott als wechselwirkendes Wesen wäre überflüssig zu denken. Aber wer wiederum ist dann gezwungen, sich über ein Nichtvorhandenes zu verbreiten? Das war eine triste Verlegenheit!)

Der vollkommenste Fall des praktischen Lebens ist: bis zum deutlichen Bewusstwerden der absoluten, gänzlich für sich abgetrennten, bewegungsfreien Existenz Gottes vorzudringen.

Wiederum ist der Vorgang dieses Bewusstwerdens: Intensität.

Brief an einen Aufrührer

... Sie fragen mich weiterhin an, ob ich ein Mittel wüsste, das die Haare gründlich chemisch weiss färbt. Sicherlich, gäbe es so ein Mittel, so würde es Ihnen eine Zeitlang helfen können, im glaubwürdigsten Aufzuge als alter Mann unbeobachtet arbeiten zu können. Aber, wissen Sie es noch nicht, ich bin gar nicht der, an den Sie sich um Kostümierungen wenden dürfen. Wir müssen auch die lyrisch weltläufigen Possenreisser von uns fernhalten, denen die Revolution stets ein Vorwand ist: zu informierten Essays, zu koloristischen Beschreibungen, zur Demut vor fetten Theaterdirektoren, zu romantischen Weibergeschichten und Mantelwürfen, oder zum Mandat. Wie Sie zu den Menschen reden wollen, das muss ich Ihrem Körper überlassen; oder (ohne das letzte zu verschweigen) dem Körper Ihres nächsten Kameraden, wenn Sie hochgehen. Aber womit Sie erregen, was der Sinn Ihrer Erinnerungsrufe sein kann, das will ich Ihnen sagen, an meinem runden Tisch, vor dem Tintenfass, das nicht mit Sprengstoff gefüllt ist. Und als eine Einzelzelle, solange isoliert in ihrem Protoplasma, bis sie das Zucken einer andren Zelle, irgendwo in der Welt, spürt.

Dann noch, Sie sind der Körper, Sie strecken den Arm aus. Drum muss ich Ihnen über die erregendsten Dinge dieser Erde die abstraktesten Worte sagen. Ich muss Sie wissen lassen, dass immer irgendwo in diesem Zusammenleben der Menschen eine Willensmaschine da ist, nach der Sie und Ihre Kameraden handeln oder immer gehandelt haben. Lassen Sie sich, mit allen Voraussetzungen Ihres denkenden Lebens, das Entscheidende ohne Verkleidung sagen, sein Knochiges, sein Gerüst. Das, wonach Sie, in der Umsetzung des Körperlichen, handeln müssen. Also abgezogen, konstruktiv, auf Denkgitter projiziert.

Meines Sinnes wäre es, am Ende viele tausend Blätter aus weissem Papier alle Monat unter die Leute zu bringen, auf deren jedem nichts andres zu stehen brauchte als die gewiss schönsten Worte unserer Sprache: Freier Geist. Heut erscheint mir diese tautologische Fassung als die machtvollste an Wirkung.

Weil sie ein Entschluss ist. Weil sie Zusammenhauen von historischen Hemmungen ist. Weil sie Umsetzung vieler betrachtender Stunden in einem Endsinn ist. Weil sie weit weg ist von Farbigkeit, von Eingehülltsein; von Melodie. Von Dichtung. Von Mitläufertum; von Genüssen; fern von Kunst. Herrlich. Des weiteren eine Kriegserklärung. Bewusst gegen alle Schwindler (die, um sich die kleinen technischen Vorteile ihres Schriftsteller-, Maler-, Musikgewerbes zu erhalten, den eigenen anständigen Menschen zu verstecken suchen). Denn dies alles handelt vom anständigen Menschen.

Heute glaube ich endgültig: es ist nötig, dass unsere Mitlebenden immer wieder vor Entscheidungen gestellt werden. Nicht, indem man sich über sie lustig macht, da ja die Überlegenheit bloss das Leben in die Länge zieht. Sondern durch das Beispiel. Es handelt sich in der Welt, diesem Leben Zusammen, um den anständigen Menschen. Dies ist uns allen sicher. Wir wissen von ihm, wir erwarten ja nie ein anderes. (Und allein die Lügenhaftigkeit eines Soziologen wird versuchen, hier Definitionen anzubringen. Man kennt die Methoden und ihre Motive.) Nur darum geht es, dass man zu jeder Zeit die Grundantriebe unsrer überhaupt möglichen Existenz der Öffentlichkeit bloss zeigt. Meinetwegen in der schmierigsten Illumination eines billigen Transparents. Oder mit Pathos. Oder mit Sentimentalität. Oder mit irgend einem Mittel, das den Körper in Erschütterung bringt; ihn ahnen lässt, dass der mittelmässigste Tod – der nur uns alle eine Sekunde besonnen zittern macht – besser ist als die mirakelvollste Hinaufstufung. Den einen Moment nur regen können! in dem alle Gewohnheiten abfallen als historische Kostüme. In dem alle selbstverständlichen Annehmlichkeiten des Lebens gar nichts nützen, sondern allein die Feuererinnerung unseres Kollektivdaseins. Dass wir da sind, mit vielen – die gewisslich dasselbe merken. Und die auf uns warten.

Alles Wort ist Schwindel, alle schöne Rede ist Beschwindelung. Das Wirkliche für unsere Ohren, das unbetrügerische Sinnvolle liegt einzig in der verschliffensten, verbrauchtesten, faulsten Rede; bei der keiner schon mehr was Besonderes denken kann.

Vielleicht ist heute der allerabgebrauchteste Ausdruck aller Ausdrücke das Wort: freier Geist.

Gut. Sagen Sie es, sprechen Sie es aus. Schreiben Sie es: verbreiten Sie es. Und Sie haben die Propaganda durch das Beispiel. Sie holen bei Ihren Mitmenschen einen Maelstrom von unterdrückten Empfindungen herauf. Die Umsetzung aller Hemmungen (die den Einzelnen gewiss götterähnlich individualisierten) in ein deutliches, klar gezeigtes Resultat. Resultat. (Und das ihn wieder in die Menge einreiht.) Diese ungeheuerliche Transposition des Seelischen in gestalthaftes Dasein sprengt auf unserer Erde alle Riegel zu den Instinkten der Mitlebenden. Menschenhaftes Beispiel – einzig von Wert in unserm Leben – ist da, sowie nur Einer mit Bestimmtheit, und der unbedingten Aussichtslosigkeit des Manns vor dem Schafott, Gedachtes ausspricht. Ausspricht. Diesen letzten Lichtkegel in die Welt hochschleudert: Der freie Geist.

Doch sind noch einige Anhänge da, derentwillen ich die bedingungslose Rede vom freien Geist liebe. Ein Protest? Ja, sie ist ein Protest gegen die verschmierten Hirne von Liebhabern der schönen Künste, von Sektierern der Empfindung, von vegetativer Hochnäsigkeit der Sammler, oder nur so kleiner Leute wie unsere neuen alexandrinischen Poeten. Denn nichts auf der Welt ist gemeiner, verschmitzter, tiefer in schweiniger Hilflosigkeit versunken als die Künstler unserer Zeit und ihre Schriftsteller. (Jeder ein Ego, jeder ein Erleber, jeder ein besonderer Beschauer der Dinge! Und jeder Lump ein Erklärer.)

Aber »Der freie Geist« – ist das nicht die Rede von 1848? Ja.

Die gewohnte Abkürzung der Polemik mit Hinrichtungsabsichten ist, einen Gegner als aufrechten Achtundvierziger auszuläuten. Das bedeutet einen dicken Mann mit grauem Bart und Brille, wie etwa Franzosen den deutschen Professor denken. Und es ist ein Mensch, der sich an der Einbildung Demokratie vollsäuft, um beim Kegelspielen mit dem Trinkglas auf flacher Hand gegen Minister zu poltern.

Aber was geht uns ein Datum an? Nun, dieses, sagt man, zentriere eine Zeit, in der Tagesschreiber dicke Romane fertigten, Reporter Gedichtbände ausgaben, Pauker Philosophie mimten. Sehr merkwürdiges Datum – ein Schimpfwort für Künstler, eine Verlegenheit heute für die Bürger, eine Lächerlichkeit für die geordneten Systematiker der proletarischen Umwälzung (durch Abwarten). Offenbar ein Protest-Datum.

Oder – da man diesen gebrechlichen Klätschern wohl mal auf die Historie hauen muss – oder führen diese schäumend datierenden »Gegner« etwa mit List einen kurzbeinigen Politiker aus der Bismarckzeit an? rechnen sie auf Ahnungslosigkeit des Zuhörers durch geschwinde Überredung, hegen sie die komische Hoffnung, ein Geduldiger werde vielleicht die Bürgerphrase irgendeiner Kaiser-Friedrich-Liberalie besinnungslos mit dem Wissen um lebendige Kraft vertauschen lassen?

Ah, vielleicht rufen Sie sich alle eine Sekunde nur zurück, wann in Deutschland innerhalb der letzten Jahrhunderte Menschliches sich regte. Menschliches, kein Begriff, sondern der Zustand eines einzigen Moments, der Augenblick, in dem klar wird, dass nichts, nichts, nichts zu verlieren ist. Dass es nicht zu lehren, zu verbessern, zu entwickeln gilt – sondern zu beseitigen. Zu stören. Zu zerstören: Hindernisse zu sprengen; die Klumpen der Materie zur Explosion zu bringen. Auf dass ein Funke, ein Wissen ums Erste, eine Gewissheit vom Geist in uns allen plötzlich und gemeinsam hinaufspringe. Ho, was nachher ist, das ist gleich; es gilt nur einmal, einmal an unser wahrhaftes Dasein in uns – und in allen – zu erinnern. Wann gab's das bei den Deutschen, wenn nicht um jene Zeit! Oh, wir wissen alles selbst: dass die Katastrophe klein war, dass sie in eine »Bewegung« auslief, dass sie Staatliches zeugte und auch amerikanische Zeitungsbesitzer fett werden liess. Aber. Aber sie war doch da; sie spritzte doch hoch, sie machte Unruhe. Und nicht durch Sammeln von Unterstützungsgeldern, sondern durch das Beispiel. Durch das Lebendige an Körpern; durch indiskutable Handlungen, Gefahren, Wutausbrüche. Nie vorher und nie später hatten die gesammelten Menschen deutscher Sprache und deutschen Benehmens diesen Mut der Aufrichtigkeit. Dieses Ziel der Intensität. Diese Fähigkeit zur Expansion! (Und ich weiss selbst, warum die Geschichte schief auslief!)

Es ist die sinistre Narkose der heutigen Gesellschaft, die immer wieder zwingt, historisch zu kommen, wo es sich doch um Angelegenheiten des Anfangs handelt. Ums Erste. Die entsetzliche Verkümmerung der Zeitgenossen steht immer wieder da in der Angst vor sich selbst, in der feigen Sorge, entschieden anders Gesprochenes zu vernehmen, in dem Verstecken der eigenen Anständigkeit. (Und heute muss noch immer bestimmt gesagt werden, dass es sich nicht um Systeme der Anständigkeit handelt, sondern um die unanzweifelbar in der Welt vorhandene Anständigkeit selbst. Die Angst der Havarierten unserer Zeit findet ja immer gewisse Mode-Symbole – das historische, das soziologische, das psychologische – um mit Hilfe von Definitionen eigene lepröse Gebreste zu vertäuschen.)

Schnell noch Dummheiten abtun. Die alberne Wahrheit ist doch, dass hinter allem Misstrauen gegen den deutschen Aufruhr eine absurde Vorstellung steckt. Zwänge man, sie deutlich auszusprechen, zeigte sich Blödsinn. Vielleicht: »Zu jener Zeit gab es keine Kunstwerke.« (Und nun ganz toll): »Zum Beispiel Stefan Georges Gedichte nicht.« Und wollte man einigen Kretins wirklich erwidern, könnt man doch nur sagen: jeder Lümmel weiss, dass Corneille, Hölderlin, Alfieri, George – mächtige Kunst-Energien – in jeder Epoche (Epoche) selten waren.

Wieder hinauf. Man muss aus solchen Tagen das Wort überliefern: »Die schlechteste Madonna ist mir wichtiger als das bestgemalte Stilleben«. Und dieser Spruch des Mannes, der die Lobrede auf Jean Paul ätzte, Börnes, bleibt ewig; bleibt für uns, weil er besitzloser, wissend verarmender, für immer unverkäuflicher ist als die berühmten Spargelbünde, an denen die Kunsthändler reich werden. Doch (zu schweigen von Bakunin, zu schweigen von Proudhon, die im Draussenland standen) blühte in jenen Jahren nicht Stirner? Der deutlichste Seelenschreiber seit Meister Eckhart, der gedrängteste Bauherr des Bewusstseins vom Aufruhr, der Lehrer der Katastrophen, der kalt hitzende Verkünder der Brände. Und seit Denkensmöglichkeit der Erste, das alles Erworbene von uns ablöst, alles Zufällige zermodern lässt, alles Zeitliche in seiner Gesetzlosigkeit entdeckt. Ein Mann, bestrahlend im hellen Lichtkreis das dunkelste Bewusstsein, die Erinnerung an embryonal atomische Zustände, an Dasein in Zellen-Frühe. Aufleuchten lässt der, was uns treibt aus Tagen vor unserer Geburt her. Unser Erstes, unser Menschliches, unser Anständiges. Und unser Gemeinsames: den Geist (ein Wort, dessen panoptikumartiges Alter niemand härter erwiesen hat als Er). Den Geist, der gewisslich frei ist. Frei – unzufällig, unzeitlich, unbesitzlich – ewig und frei; gerad so alt wie es diese Attribute aus Volksversammlungen sind. Dass die Volksversammlung unrecht hat, ist eine dumme, von individualen Affen aufgestellte Behauptung. Natürlich, natürlich, sie hat auch nicht recht. Das wissen wir selbst. Aber dazu ist sie gar nicht da. Sie ist da, um festzustellen, Resultate definitiv zu zeigen. Und aus dem einzigen Moment, wo die Kellner und die Biergläser und die Zigarren gleichgültig werden, und wo man dran ist, Tische umzuschmeissen – aus diesem Moment kommt ein Sinn hervor, den jeder längst kennt, und den ungestört auszudenken jeder sich schämte. Hier kann – –

hier kann das bewusst werden, was wir Geist nennen. Unsere Wucht kann (kann) vorstossen. Unser Dasein kann einmal im Leben ein Ziel haben: Alles Schwingen Ausser Uns brennt blendend durch unsere Einzelheit hindurch! Gut – mögen einige hingehen, und darnach Fresken auf Kalkwände malen, dass nach Jahrhunderten versprengte Völker noch in ihnen sich bejaht finden; es mögen Leute diese Sekunde professionell vernutzen, um göttliche Dramen zu schreiben. Doch sagt dies nichts für die Schreiber und Maler, und alles für den Geist. Denn, hören Sie mich für diesen Ton, den wir alle hassen, und der uns unsere Kindheit vergällt hat, als wir begannen zu denken. Hören Sie mich für den Ton »Frei«. Wie soll man das sonst nennen, dies lebendige Gewächse, das – nicht mit dem Definitiven, dem Festgestellten, dem in uns allen Gegebenen; mit den Resultaten nicht verkittet ist; nicht wolkig darum brütet, um Realismen oder Mystizismen zu zeugen. – Sondern diese helle, unzweifelbare, nimbische Kraft, die von den Resultaten erst ausgeht, die sie nicht bildet oder umbildet, nicht äusseres oder inneres Ding produziert. – Sondern das Gegebene, letzt Erschienene, Befassbare ... lenkt. Lenkt: des Gelenkten Organisches erweist, sein Wirkungsfähiges. Seine Latenz zum Zusammenhang. Da wird das Gegebene, das Ding, das Körperhafte mit einem Male zum Sammler der Kräfte; zum Bild; zur Haltung, unter der man liebt und hasst. Zum Gleichnis, das zu führen scheint und mit dem wir in die ewigen Katastrophen der Empörung stürzen (und das uns zur religiösen oder politischen oder sozialen Draperie wird). Wie soll man das sonst nennen, das die trümmerhafte Zufälligkeit der Massendinge in Notwendigkeit zusammenzwingt, nicht durch Quantitatives, Gleich-ebenes, Stufung, Entwicklung; auch nicht durch »Einswerden«. – Sondern lenkend, lenkend, gerad aus unseren eigenen Entkörperungen, aus unserem Nicht-Bemessbaren und Unzeitlichen; zuletzt gesprochen, aus unserem Menschlichen. Was ist das, wenn nicht der freie Geist.

Wir sind beladen mit dem Gedächtnis an alle Klumpen des Massenhaften, an Daten des Realen, welche alle der freie Geist als Bilder und Kulissen bewegt, hingeworfen, umgeschoben hat. Alles Ding, das nicht belebt ist, wird ja für uns alt und abgebraucht sein. Darum nur schien uns das Feuer und der Wind, und das Meteor und der Blitz, darum dünkte uns das Schöpferische, der Geist, der frei lenkt, alt und verbraucht.

Doch klar zu sein, dass dies da ist, der freie Geist; und mit Willen und Bewusstsein, im schwingenden Herunterstreifen aller eitrigen Hemmungen, die uns Jahre auf der Haut brannten, laut zu nennen: was wahrhaftig in unserer Welt schafft – ist das noch grosser Mut? Es ist nur eine Konfession.


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