Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war an einem Abende in der Mitte des Septembers 1849, als unter den Bäumen des Parks vor der City-Hall in Neuyork ein junger Mann lässig auf einer der dort angebrachten Bänke ruhte. Er hatte den Strohhut abgenommen und das volle dunkle Haar der Abendluft preisgegeben. Die Sommerkleidung, die er trug, war sauber und von elegantem Schnitte, und das strohgelbe, seidene Halstuch, über welches zwanglos der blendend weiße Kragen fiel, stach gefällig von seinem leicht gebräunten, kräftigen Halse ab. Eine fein geschnittene Nase mit dem schwarzen, wohlgepflegten Schnurrbarte darunter und den regelmäßig gezeichneten Brauen darüber gaben seinem Gesichte einen Anstrich von Noblesse, während die zwei Furchen an der Nasenwurzel und das leicht in die Höhe gezogene Kinn ihm den Charakter einer festen Bestimmtheit ausdrückten.
Seine Augen hatten bisher planlos über alle die Gestalten, welche geschäftig den Platz durchkreuzten, hinweggeschweift, in diesem Augenblicke aber waren sie plötzlich aus einem Punkte haften geblieben, der sein besonderes Interesse zu erregen schien. Vom Broadway aus war eine der fashionabel gekleideten Damen, wie sie diesen Teil der Stadt bevölkern, in den Park getreten und bog jetzt in einen Seitenweg ein, der dicht an dem Sitze des jungen Mannes vorüberführte.
»Da ist sie wahrhaftig wieder, und dies ist heute der dritte Abend, an dem sie um dieselbe Zeit kommt!« brummte der Dasitzende vor sich hin. »Wäre ich eitel, so könnte ich denken, ich hätte eine Eroberung gemacht!«
Die Dame näherte sich. Unter dem eleganten Hut sah ein frisches, kokettes Gesicht hervor, und den kleinen aufgeworfenen Mund umspielte ein Lächeln der Befriedigung, als sie den Inhaber der Bank bemerkte. Ihr Schritt zögerte, als sei sie ungewiß, was zu tun; doch wie in raschem Entschlusse trat sie plötzlich heran und wandte sich mit einigen halblauten Worten an den jungen Mann. Der war überrascht aufgesprungen, denn er konnte nur in peinlicher Verlegenheit den Kopf schütteln; er wußte wohl, das, was er höre, sei Englisch, aber er verstand bis jetzt noch kein Wort davon. Ein neues Lächeln umspielte den hübschen Mund vor ihm – sie ließ die Augen prüfend über sein Gesicht laufen, fast etwas zu dreist, wie es ihm scheinen wollte; als sich jetzt aber die Schritte eines Dritten der Bank näherten, wandte sie sich mit einem »Beg your pardon, Sir!« weg und ging davon.
Der andere sah ihr kopfschüttelnd nach, bis ihn ein Schlag auf die Achsel aus seiner Verwunderung riß.
»Guten Abend, Herr von Helmstedt, wie geht's Hochdenen?« klang die Stimme des Angekommenen, der indessen in seinem abgetragenen, bis an den Hals zugeknöpften Rocke und dem alten schwarzen Hute, der schon teilweise der Krempe untreu geworden war, einen auffallenden Kontrast mit dem ersteren bildete. »Ich sehe, Sie bewundern die schöne Natur in allen ihren Brauchen,« setzte er hinzu, mit dem Kopfe nach der forteilenden Frauengestalt deutend, »es sollte mir leid tun, wenn ich gestört hätte!«
»Hat nichts zu sagen,« erwiderte jener und nahm seinen früheren Platz ein, »ich möchte mich nur totärgern, daß ich so ein Dummkopf im Englischsprechen bin. Über zwei Monate schon treibe ich mich hier herum und kann noch nicht einmal eine einzige Frage verstehen!«
»Ich habe Ihnen das vom Anfange an prophezeit,« sagte der neue Gefährte, indem er sich mit der aristokratischen Nachlässigkeit eines Berliner Gardeleutnants auf die Bank warf.
»Sie wollen aber von meiner Methode, schnell und gründlich in die Geheimnisse der Sprache zu dringen, nichts wissen. Apropos! haben Sie nicht eine Zigarre bei sich? Ich war heute zufällig etwas zu derangiert, um mir neuen Vorrat kaufen zu können, und ich vermisse lieber eine Mahlzeit als meine gewöhnliche Zigarre.«
Helmstedt hatte ihm schon sein Etui hingehalten, aus welchem sich der andere bediente, hieraus in seiner sich bescheiden verbergenden Weste ein Schwefelholz suchte und bald mit der Miene eines Kenners den blauen Rauch in die Luft blies. »Ja,« fuhr er dann behaglich fort, »ich bin doch kaum achtzehn Monate länger hier als Sie, aber ich kann wirklich sagen, daß ich in den meisten Neuyorker Verhältnissen vollkommen zu Hause bin, und meine augenblickliche Lage würde auch eine bessere sein, hätte ich in den letzten Monaten nicht positives Malheur gehabt. Erstlich hatte meine letzte Freundin, deren Wohnung ich teilte, die seltsame Marotte, daß ich ihr Geld nicht zum Spiele verwenden solle – und als ich ihr darin nicht willfahren konnte, finde ich mich am Morgen nach einer etwas wilden Nacht allein in dem vollkommen ausgeräumten Quartiere, verlassen von dem tollen Mädchen und von allen Existenzmitteln. Ich gehe nun notgedrungen in ein Boardinghaus (Speisehaus), werde aber hier schon nach der ausgebliebenen Zahlung für die erste Woche freundlich ersucht, Raum zu machen, und gegen alles Gesetz werden mir auch noch meine Habseligkeiten innebehalten. Die Wirte werden jetzt wirklich jeden Tag gemeiner und illiberaler. Indessen,« fuhr er fort, zwei wohlgelungene Ringel in die Luft blasend, »ich habe bereits wieder Aussichten; es ist merkwürdig, wie hier ein nobles Air geliebt wird!«
Helmstedts Augen überliefen bei diesen Worten die äußere Erscheinung seines Gefährten, und er konnte ein halb sarkastisches Lächeln nicht unterdrücken.
»O, Sie verziehen den Mund über mein jetziges Derangement,« fuhr der Redende gelassen fort, »was wollen Sie aber, lieber Freund? In einiger Zeit sind Sie vielleicht genau in demselben Zustande, ohne aber die Mittel zu besitzen, sich zu helfen, wie ich es kann. Sie verschleudern jetzt Zeit und Geld, um hier eine Stellung für Sie zu finden, wie sie gar nicht existiert. Sie leiden an derselben Krankheit, woran jährlich Hunderte von gebildeten jungen Deutschen hier zugrunde gehen. Hacken und graben mögen sie nicht, ein Handwerk versteht keiner, nach dem Westen zu gehen fürchten sie sich, und nun suchen sie nach Stellungen als Ladendiener, Schreiber, Lehrer oder dergleichen, ohne auch nur das Haupterfordernis, das Verständnis der Landessprache, zu besitzen. Das dauert so lange, als das mitgebrachte Geld vorhält, und die Hoffnungen schwinden erst, wenn der Kredit im Boardinghouse gekündigt wird. Dann folgt noch eine kurze Zeit des Straßenelends, und mancher, der nicht den moralischen Mut hat, als letztes Mittel zur Hacke zu greifen oder Knecht auf einer Farm zu werden, macht seiner Not durch einen Sprung in den North-River ein Ende. Welche Hilfsmittel haben Sie denn, Verehrter, wenn Ihre jetzigen Baria zu Ende gehen und sich nicht ein ganz besonderer Zufall Ihnen entgegenwirft? Man denkt in der Regel nicht eher an die trübe Zeit, bis sie ins Zimmer hereinsieht.«
Helmstedts Gesicht war nachdenklich geworden. »Sie malen schwarz, Seifert,« sagte er nach einer Weile; »ich habe mir indessen schon manche Freunde erworben, die mir ihre Hilfe zugesagt, und ich denke, ich will doch wenigstens den Anfang zu einer Existenz gewinnen, ehe ich ganz auf dem Trockenen sitze. Übrigens«, fuhr er lebendiger fort, »haben Sie denn so große Ressourcen? Sie scheinen mir den Prediger zu machen und auch in eigener Person die abschreckenden Beispiele darzustellen.«
»Durchaus fehlgeschossen!« erwiderte der andere ernsthaft und schnippte die Asche von seiner Zigarre. »Ihre Freunde werden Ihnen nichts nützen, sondern Sie im Gegenteil früher ruinieren, da sie Ihnen das Geld durchbringen helfen. Trauen Sie darin meiner Erfahrung! Was meine geringe Person aber betrifft, so sollen Sie gleich anderer Meinung werden. – Sie wissen, ich mußte Deutschland meiner Überzeugungen und einiger zufälliger Schulden wegen verlassen, brachte indessen noch so viel bares Kapital hierher, um für einige Monate mich sorglos in das hiesige Treiben stürzen zu können. Ohne Selbstlob muß ich sagen, daß ich bald die Verhältnisse richtig beurteilen lernte, besonders da das unglückliche Ende zweier Bekannten mich mit der Nase auf die rechte Erkenntnis stieß. Ich beschloß vor allen Dingen, Amerikaner zu werden, besuchte nur amerikanische Trinklokale und hatte bald vermöge meines offenen Beutels einen Kreis von ›first rate boys‹ (Kameraden ersten Ranges) als Freunde um mich. Sie rechneten es sich zur Ehre, mich bei ihren verschiedenen Freundinnen einzuführen, und schon nach dem ersten Champagnersouper und einigen splendiden Landpartien, die ich veranstaltete, rissen sich die Mädchen um den ›Grafen‹, unter welchem Titel ich allgemein passierte, und der ›Graf‹ hatte Tag und Nacht überall freien Eintritt. Innerhalb der ersten drei Monate schon sprach ich perfekt Englisch und war au fait in den Neuyorker Geheimnissen – es gibt keine besseren Lehrer für beides als zärtliche Mädchen und flotte Jungen. Vier Wochen später war indessen auch mein Geld zu Ende, meine Freunde zogen sich bis auf wenige zurück, wie ich es erwartet, meine Freundinnen aber konnten den ›nobeln Grafen‹ nicht so schnell entbehren. Jede wollte mich jetzt zu ihrem besonderen Galan haben, um mich zu ernähren und auf der Straße mit mir Staat zu machen. Ich verbrachte ein Jahr in wahrer Schmetterlingsexistenz, von einer Blume zur andern flatternd. Da mußte ich die Torheit begehen, mich von einer neu angekommenen Kreolin für längere Zeit fesseln zu lassen und dadurch die ganze Zahl meiner übrigen Herrinnen gegen mich aufzuregen – die Folge davon sehen Sie in meiner jetzigen Lage, wie ich Ihnen vorhin mitteilte. Indessen hat das nichts zu sagen. Mehrere gute Hotels, die in meiner Bildung und Attitüde, verbunden mit einer gründlichen Kenntnis der Stadt, ein brauchbares Werkzeug für sich erkannten, haben mir schon früher Vorschläge machen lassen; indessen habe ich mich erst heute entschlossen, eine dieser Anerbietungen anzunehmen, da diese mir eine bestimmte Aussicht für die Zukunft gibt. Ich werde morgen abschließen und hoffe bestimmt, in zwei Jahren mein eigenes, gutfundiertes Etablissement zu besitzen.«
»Und in welcher Eigenschaft werden Sie dort sein?« fragte Helmstedt, den Kopf in die Hand stützend.
»In einer rein menschenfreundlichen!« antwortete Seifert und warf das letzte Endchen seiner Zigarre weg, »Ich werde erstens den ankommenden Fremden zu einem guten Hotel verhelfen, zweitens aber ihr Beistand in allen Verlegenheiten des Fleisches oder Geldbeutels, überhaupt in allen Dingen sein, die nicht in das öffentliche Geschäftsleben hineinpassen.« »Das heißt einfach, Sie werden Runner (Laufbursche), Kuppler, Wuchergehilfe und dergleichen werden?«
»Was wollen Sie, lieber Freund? Wir sind in Amerika, und jedes goldbringende Geschäft ist achtungswürdig – nur die Dummheit wird hier gebrandmarkt. Übrigens können Sie unter unseren Upper Tens (oberen Zehntausend) manchen finden, der mit nichts Besserem angefangen hat, und ich habe eine gewaltige Achtung vor diesen Leuten.«
Helmstedt drückte mit einem tiefen Atemzuge die Hand vor die Augen, »Wo logieren Sie denn, Seifert, seit Sie Ihr Boardinghaus verlassen haben?« fragte er nach einer Weile, als wolle er das eingetretene Schweigen unterbrechen, »Vorläufig im Hotel Park!« war die Antwort.
»Hotel Park? Wo ist das?«
»Kennen Sie das größte und interessanteste Hotel Neuyorks nicht? Sie sind wirklich noch weit zurück! Sehen Sie, soweit der grüne Rasen und die Bäume um uns reichen, erstreckt sich Hotel Park, und nachts können Sie das große und kleine Unglück beider Hemisphären hier einquartiert finden, hier, wo kein Schlafgeld verlangt wird. Dort, hinter City-Hall, zwischen zwei ausgezeichnet schönen Bäumen, kann ich Ihnen mein bisheriges Schlafzimmer zeigen. Schade nur, daß nebenbei nicht auch für die nötigen Mahlzeiten gesorgt ist. Morgen indessen hoffe ich das Versäumte nachholen zu können, denn mich verlangt gewaltig danach, und falls Sie mich heute abend mit einer Einladung zum Souper beehren sollten, würde ich es gern annehmen!«
Helmstedt richtete sich aus seiner gebückten Stellung in die Höhe.
»Ich gestehe Ihnen ehrlich,« sagte er nach einer Pause, »daß ich nicht geglaubt hätte, einen Deutschen von Ihrer Erziehung sich so wohlgefällig im Schlamme seiner Erniedrigung wälzen zu sehen. Sagen Sie mir nur, finden Sie denn nicht selbst Ihr Leben unter aller Würde schmutzig und gemein?«
Seifert zog ein halb lächelndes, halb nachdenkliches Gesicht, langte nach dem auf der Bank liegenden Etui und zündete sich eine neue Zigarre an.
»Vom Standpunkte des deutschen Moralprinzips aus mögen Sie recht haben!« sagte er dann; »ich huldige aber durchaus der Zweckmäßigkeitstheorie, der einzig in Amerika anwendbaren, und sobald nur der Erfolg am Ziele lohnt, ist die Art des Weges dahin, ob schmutzig oder trocken, ziemlich gleichgültig. Ich kann Ihre Indignation vollständig verstehen, denn Sie sind noch ein Kind für Amerika; Sie werden mich aber anders beurteilen, wenn Sie später denselben Grundsatz nicht allein im Geschäftsleben, sondern auch in allen Branchen unserer Staatsmaschine durchgeführt finden. – Jetzt lassen Sie uns aber das bewußte Souper zu uns nehmen, denn ich fühle wirklich einen wahren Wolfshunger.«
Sie erhoben sich und verließen den Platz, Seifert fortwährend schwatzend, Helmstedt mit widerwilligem Gesichte neben ihm hergehend.
Am Abend des nächsten Tages saß der junge Mann wieder auf seinem alten Platz, ohne aber dem regen Treiben vor seinen Augen einen Blick zu schenken. Sein bewölktes Gesicht war zur Erde niedergewandt. Das Bild von dem Schicksale so manches jungen Deutschen, das Seifert tags vorher vor ihm ausgerollt, hatte mehr Eindruck auf ihn gemacht, als er sich selbst gestehen wollte; er hatte noch denselben Abend sein Geld durchgezählt und mit Schrecken die bedeutende Abnahme desselben wahrgenommen; er hatte den Morgen darauf die Runde bei allen seinen Bekannten gemacht, um ein klares Bild von den Aussichten zu erhalten, die er habe; aber die ganze Beute, die er heimbrachte, war: daß für den Augenblick keine passende Stellung für ihn aufzutreiben sei, daß sich aber gewiß mit der Zeit etwas finden werde, daß sich solche Angelegenheiten eben nicht zwingen ließen und abgewartet werden müßten, und daß er nur den guten Mut nicht verlieren solle. – Helmstedt aber sah die Sache heute anders an als gestern und erblickte schon die Zeit vor sich, wo er, aller Existenzmittel bar, dieselben Vertröstungen werde hören müssen. Er erkannte die dringende Notwendigkeit, selbst und energisch zur Gründung einer Existenz Hand anzulegen – aber wie? Er war preußischer Referendar gewesen, hatte sich während der verunglückten Revolution mit dem Staate und seiner Familie entzweit und war mit der letzten Unterstützung, die ihm die väterliche Hand gereicht, ohne Plan, aber wohlgemut nach dem Lande der Freiheit gegangen. Er hatte gerade nicht mehr gelernt, als sein Brotstudium und eine allgemeine Bildung erforderten; alle praktischen Kenntnisse, um hier fortzukommen, fehlten ihm gänzlich. Je mehr er seine Fähigkeiten prüfte, je mehr erkannte er die Richtigkeit von Seiferts Bemerkung in diesem Punkte. Zum Lehrer an einer höheren deutschen Anstalt fehlten ihm die gründlichen Kenntnisse, als niederer Schulmeister hätte er kaum gewußt, wie zu beginnen – das war indessen doch etwas zu Erreichendes. Zum Ladendiener oder Buchhalter mangelte ihm jeder Begriff der Sache, und er verstand kein Englisch; an einer Zeitung beschäftigt zu werden, war aus denselben Gründen gar keine Aussicht. Er konnte ziemlich Klavier spielen, aber wie viele brotlose Musiklehrer hatte er schon getroffen! – Schulmeister also! Aber wie dahin gelangen? Er wollte sich morgen erkundigen und von früh bis abends danach auf den Beinen sein.
Soweit war er in seinen Gedanken gekommen, als ein verdunkelnder Körper vor seinen gesenkten Kopf trat – er blickte aus und sah gerade in das Gesicht der Dame von gestern, die mit demselben neckischen Lächeln ihr Auge aus ihm ruhen ließ. Unruhig, in eine neue Sprachverlegenheit zu geraten, sprang er auf, aber im reinsten Deutsch hörte er die Frage: »Heißen Sie nicht August von Helmstedt?«
»Ja – zu Befehl – jawohl heiße ich so!« antwortete er etwas verblüfft und starrte die Fragerin an – »mit wem habe ich die Ehre –«
»Keine besondere Ehre!« erwiderte diese und zeigte lachend ihre schönen Zähne. »Kennen Sie mich wirklich nicht, Herr August? Ich heiße Pauline Peters.«
»Pauline – meine kleine Nachbarin aus der Friedrichsstraße?« rief Helmstedt halb erstaunt, halb ungläubig.
»Gerade dieselbe, die aber während der Zeit ziemlich groß geworden ist!«
»Aber um Gottes willen, Fräulein, was hat Sie denn nach Neuyork geführt?«
»O, lassen Sie doch das Fräulein weg!« rief sie mit einem halb schmollenden, halb bittenden Ausdruck, »sind wir denn nicht Duzfreunde gewesen? Und wenn Sie sonst nichts hier hält, so geben Sie mir Ihren Arm, lassen Sie uns einen Spaziergang machen und plaudern – ich bin so glücklich, daß ich einmal wieder einen Bekannten aus früherer Zeit gefunden habe!«
Ehe noch Helmstedt recht wußte, wie, hatte er schon den halben Park an des Mädchens Seite durchschritten und fühlte ihren Arm leicht wie eine Feder in dem seinen liegen, aber gerade diese leise Berührung ging ihm durch alle Nerven; er sah in ihr frisches Gesicht und hatte doch eigentlich noch kein Wort von ihrem Geplauder bis hierher gehört.
»Aber sagen Sie mir doch mir fürs allererste, wie Sie nach Neuyork kommen!« begann er wieder. »Sind denn Ihre Eltern auch hier?«
Ein Schatten zog über das Gesicht seiner Begleiterin, und als sie die Augen nach ihm hob und wieder senkte, war der Ausdruck darin ein so ganz von ihrem früheren neckischen Blicke verschiedener, daß der junge Mann seine Frage fast bereute. Ein wunderbarer Reiz aber lag in der leichten Beweglichkeit ihrer Züge, welche die kleinste Seelenregung widerzuspiegeln schienen.
»Meine Eltern sind ja schon drei Jahre tot; sie starben in der Choleraepidemie,« sagte sie, augenscheinlich gedrückt. »Sie waren damals schon längst aus Ihrem elterlichen Hause. Ich mußte unter fremde Leute gehen und schlimme Zeiten durchmachen; ich war wirklich mehr zur ›Gräfin‹ geboren – wie Sie in früheren Jahren oft meinten, wenn Sie mir was recht Schönes sagen wollten,« und ein lächelnder, schelmischer Sonnenblitz brach aus ihrem Auge, das sie einen Moment zu ihren, Begleiter ausschlug, »meine Hände waren für schwere Arbeit zu dünn und zu klein, und um den ganzen Tag am Nähtische zu sitzen, hatte ich zu viel elastisches Gummi in mir – es war wirklich eine ganz unglückselige Geschichte, Endlich erhielt eine Freundin von mir, die sich auch am Nähtische schon halb den Rücken zerbrochen hatte, von einem Bruder hier in Neuyork das Geld zur Reise nach Amerika gesandt, und im Briefe dabei stand eine so wundervolle Schilderung über das Leben und die Stellung der Frauen hier, daß ich alles, was noch vom Nachlaß meiner Eltern übrig war, zusammenraffte und kurz entschlossen mitreiste.«
»Und so leben Sie jetzt bei den Verwandten Ihrer Freundin?«
»Nicht mehr; die Familie ist ins Land gezogen, und ich wollte Neuyork nicht verlassen. – Ich stehe jetzt hier ziemlich allein.«
Helmstedts Auge überflog die reiche, fashionable Kleidung des Mädchens, und ein unangenehmer Gedanke dämmerte in ihm auf, der aber nicht zur vollen Macht kommen wollte, als er einen Blick in ihr Gesicht warf, dessen rosige, weiche Züge, trotz des koketten Schelmes, der darin lauerte, noch mit dem unberührten Duft der Jungfräulichkeit überhaucht zu sein schienen. »Sie stehen allein hier, Fräulein?« fragte er nach einer augenblicklichen Pause, aber die leise Veränderung in seinem Tone schien ihr alles, was in ihm vorging, verraten zu haben. »Ja, fast allein, Herr von Helmstedt,« erwiderte sie und blickte ihn ernst und voll an, »aber ich will Ihnen zweierlei sagen: erstens genießt die Frau hierzulande einen ganz merkwürdigen Schutz, wenn sie sich nur selbst schützen will, und zweitens können Sie ohne Sorge, Ihre Ehre zu gefährden, sich mit mir in den Straßen Neuyorks zeigen!«
»Aber Fräulein –«
»Aber Herr von Helmstedt! Warum nennen Sie mich ›Fräulein‹, warum legen Sie einen, solchen Gespensterton in Ihre Frage, ob ich alleinstehe, und verderben mir meine ganze Freude, Sie wiederzusehen? Ich bin doch nicht an vier hintereinanderfolgenden Tagen durch den Park gegangen, nur um sicher zu werden, ob Sie es auch wirklich seien, der auf die Bank dort gebannt schien, wie der trauernde Genius dort unten im Marbleshop auf dem Grabstein, den niemand kaufen will, und habe Sie endlich zweimal angeredet – damit Sie alte Kindererinnerungen, die mich zu Ihnen trieben, vergessen und mich zuerst vorsichtig und bedächtig ins Gebet nehmen sollen, welche Stellung ich hier einnehme?«
»Aber, liebe Pauline, es ist mir ja doch nicht eingefallen –«
»Gut, Herr August, ich bin jetzt schon zufrieden – sagen Sie mir nun aber auch, wollen Sie wohl heute abend den Tee mit mir nehmen? – ich meine in meiner Wohnung – wir werden ganz allein sein!«
»Ja – von Herzen gern!« erwiderte Helmstedt, dem bei dieser Einladung zehn verschiedene Vorstellungen durch den Kopf schossen und eine eigentümliche Befangenheit in ihm erzeugten; als er sie aber anblickte, traf er auf ein so feuchtes, inniges Auge, welches zu ihm aufschaute, daß er ihren Arm fester an sich zog, ohne sich von den ihn durchkreuzenden Gefühlen Rechenschaft zu geben.
Sie hatten Broadway erreicht und diesen eine Strecke verfolgt, ohne daß die lebhafte Passage ihnen viel Worte erlaubt hätte; jetzt aber bog Helmstedts Begleiterin in eine Seitenstraße ein, »Wir haben noch ein gutes Stück bis zu meiner Wohnung,« sagte sie, »aber lassen Sie uns den Weg durch eine der stilleren Avenues nehmen – und jetzt sagen Sie mir doch mir mit zwei Worten, was Sie nach Neuyork gebracht? Ich hörte noch in Berlin, daß Sie Ihr Examen bestanden und beim Kammergericht eingetreten waren; das ist etwa einundeinhalbes Jahr her, und ich habe mir in den letzten Tagen fast den Kopf wirre gedacht, was Sie aus Ihrer Karriere nach Amerika hat werfen können. Hätte mich der Schnurrbart nicht unsicher gemacht – 's ist schon so lange her, daß ich Sie zum letzten Male gesehen – so hätte ich Sie schon am ersten Abend angesprochen.«
Helmstedt fühlte sich von der naiven Teilnahme, die sich in jedem Worte des Mädchens aussprach, warm und wohltuend berührt, für ihn hatte aber die Zeit der früheren Bekanntschaft so fern gelegen, daß ihre plötzliche Erneuerung eine vollständige Überrumpelung für ihn gewesen war; zwischen der kleinen Pauline und dem blühenden Mädchen an seiner Seite, das sich bei ihren letzten Worten eben fester an seinen Arm gehangen, fand er keine Verbindungsglieder, und trotz allem Wollen konnte er sich nicht zur völligen Unbefangenheit hinaufarbeiten. Er erzählte ihr in kurzen Worten; was ihn nach Neuyork gebracht, daß er eben dabei sei, sich nach irgendeiner neuen Lebensstellung umzusehen, und ihr Auge hatte dabei unverwandt an seinem Gesichte gehangen. »Aber Sie verstehen noch kein Englisch, August!« sagte sie, als er eine Pause machte, »und im niedersten deutschen Leben, wo Sie das etwa entbehren könnten, wollen Sie doch nicht anfangen?«
»Ich denke, ich bewerbe mich irgendwo um eine Schulmeisterstelle!«
»Um – um eine Schulmeisterstelle?« wiederholte seine Begleiterin, die plötzlich ihren Schritt anhielt und in ein Lachen ausbrach, so hell und klar wie Silber. »Sie, August, Schulmeister? – aber sei'n Sie nicht böse, ich konnte mir wahrhaftig nicht helfen!« sagte sie weitergehend, augenscheinlich bemüht, ihre lustige Laune zu bändigen; »wie um Gottes willen sind Sie denn auf die Idee gekommen?«
»Ja, wie!« erwiderte Helmstedt, und trotz aller sorgenvollen Gedanken, die plötzlich wieder vor seine Seele traten, hätte ihn beinahe das Lachen seiner Gefährtin angesteckt. »Wissen Sie vielleicht etwas anderes für mich?«
»Aber Sie sind doch Jurist,« erwiderte sie, ernster werdend, »warum gehen Sie nicht zuerst als Schreiber zu einem Advokaten und lernen, was Ihnen hier noch not tut, halten nachher Reden, werden bekannt, bekommen dadurch tüchtige Praxis oder lassen sich in ein paar Jahren zu irgendeinem Amte wählen? Wenn ich ein Mann wäre, ich würde in Amerika gar nichts anderes als Advokat!«
»Aber ich verstehe ja noch nicht einmal ein Wort Englisch!«
»Well, das ist bald gelernt. Sie nehmen sich für ein paar Monate einen Lehrer und halten sich von aller deutschen Gesellschaft fern. Stehe ich auch allein, so habe ich doch einen Freund, der Sie in die beste amerikanische Gesellschaft bringen kann – ich weiß, August, daß es gerade Ihnen unter den Amerikanern gar nicht fehlen kann, wenn Sie nur wollen!«
Helmstedt antwortete nicht sogleich, aber sein Gesicht verriet einen ganzen Berg trüber Gedanken. »Sie sind ein liebes, gutes Kind, Pauline,« sagte er nach einer Weile, »aber mit dem Plane ist es nichts.«'
»Aber der Grund?«
»Weil's – weil's eben nicht geht. Hätte ich die zwei Monate, die ich bereits in Neuyork verlebt, nach Ihren Ideen genutzt, so hätte ich diese vielleicht verfolgen können – jetzt ist es zu spät!«
Das Mädchen sah ihm einen Augenblick forschend ins Gesicht, dann schien, ihr plötzlich ein Verständnis aufzugehen, das sich wie Sonnenschein über ihre Züge verbreitete. – »Dort ist meine Wohnung,« begann sie nach einer kurzen Pause, »wir wollen dort weiter über die Sache rede», vielleicht läßt sich trotz aller Unmöglichkeiten doch ein Ausweg finden.« Helmstedt sah das strahlende Lächeln in ihrem Gesichte, aber er begriff es nicht, wie ihm das ganze Mädchen und ihre Verhältnisse ein Rätsel waren.
Über einen von Bäumen beschatteten grünen Vorplatz, von der Straße durch ein eisernes Gitter abgeschlossen, schritt ihm das Mädchen nach einem kleinen, im eleganten »Cottagestile« gebauten Hause voran. Sie sprang behend die Außentreppe hinauf, zog die Klingel, und eine Mulattin, knapp und sauber gekleidet, öffnete. Sie machte der Eintretenden eine Meldung in englischer Sprache, von der Helmstedt aber nur die Worte: »Ihr Onkel ist hier gewesen. Miß Peters!« verstehen konnte; er sah aber, wie das Gesicht seiner Jugendfreundin ein schnelles Rot überflog, das indessen schon wieder verschwunden war, als sie sich nach ihm wandte. »Lassen Sie uns hinaufgehen,« sagte sie, »es ist gemütlicher dort als in dem steifen Parlor (Empfangszimmer); sobald der Tee fertig ist, wird uns Mary rufen.«
Sie schritten die elegante, mit dicken Teppichen belegte Treppe nach einer Vorhalle hinauf, aus welcher Helmstedt in ein Zimmer trat, das eine Empfindung in ihm hervorbrachte, als werde er mit einer weichen, duftigen Decke umhüllt. Die Luft war von jenem unbeschreiblichen Wohlgeruch geschwängert, der das Eigentum der Bekleidung jeder wahren Dame zu sein scheint; die schweren Gardinen ließen die Helle nur gebrochen ins Zimmer fallen, und die Anordnung der Möbel, der weichen Diwans und niederen Ruhesessel gaben in Gemeinschaft mit dem schweren Fußteppiche, der keinen Schritt hören ließ, dem Zimmer einen Charakter von wunderbarer Heimlichkeit. Helmstedt hatte noch nie den Komfort des amerikanischen Südens gesehen, wie er sich hier darbot, und als seine Begleiterin ihm mit einem Lächeln den Hut aus der Hand nahm, dann sich des ihrigen entledigte, Mantille und Handschuhe beiseite tat, mit einem kurzen Blick in den Spiegel die Haare zurückstrich und nun, die kleine Hand hinstreckend, auf ihn zutrat, wollte ihn das Gefühl einer entnervenden Aufregung überkommen, wie sie ihm bis jetzt vollkommen fremd war.
»Sie wohnen allein hier. Pauline?« fragte Helmstedt, nur leise die dargebotene Hand zwischen die seine nehmend.
»Mary und ihr schwarzer Mann haben das Basement (Erdgeschoß) inne,« erwiderte sie, ihm ruhig ins Gesicht sehend, und das sind zwei Dienstboten, treu wie Bulldoggen; Mr. Morton, dem das Haus gehört, und der zeitweise ein Paar Zimmer hier oben einnimmt, hat sie erst vor drei Monaten aus Alabama mit herausgebracht, Mr. Morton ist nämlich ein alter Herr, den ich Onkel nenne,« setzte sie mit einem neuen Anflug von Röte hinzu, ohne indessen das Auge zu senken, »ich werde Ihnen die Verhältnisse noch ganz ausführlich und ohne Verhör erzählen – jetzt aber haben wir von anderen Angelegenheiten zu reden, und deshalb setzen Sie sich einmal hierher! – Sie deutete auf einen der Diwans dicht an seiner Seite, und Helmstedt saß in dem weichen Polster, das sich von allen Seiten seinem Körper anschmiegte, mit einem Gefühle, halb aus Behagen und halb aus einer Unruhe gemischt, von der er sich selbst keine Rechenschaft geben konnte; das Mädchen aber hatte einen der niederen Sessel ohne Rücklehne herangezogen, saß zu seinen Füßen und sah mit einem stillen, warmen Blick zu ihm auf, »Sagen Sie mir erst einmal, August,« begann sie und legte ihren Arm auf seine Knie, »sind Sie noch immer so stolz wie früher?«
»Stolz – ich?«
»Daß jede angebotene Hilfe wie eine Beleidigung, wie ein Zweifel an Ihrer eigenen Kraft von Ihnen aufgenommen wird – Sie waren wenigstens als wilder Junge so, und Sie haben gerade noch denselben Zug zwischen den Augen!«
»Nun, und wenn ich nun noch so wäre?«
»Hören Sie einmal, August – nicht wahr, Ihnen fehlt weiter nichts als das Geld, um hier wieder Ihre alte Karriere einzuschlagen? Wenigstens habe ich das erraten!«
»Nun?«
»Und wenn Sie nun jemand dadurch glücklich machen können, daß Sie seine Hilfe annehmen, würden Sie sie zurückstoßen? – Halt, warten Sie erst!« rief sie aufspringend, als Helmstedt Miene machte, sich zu erheben, und faßte seine beiden Arme, »August, wir sind doch Freunde aus der Kindheit, und wenn mir irgendein Glück widerfahren wäre, so hätt's nicht größer sein können als das, Sie wiederzusehen. – Ich habe ein Recht, Ihnen zu helfen; nicht wahr, Sie schlagen mir's nicht ab, da ich's kann?« Ihr Blick wurzelte in dem seinen mit einer Innigkeit, die ihm bis tief ins Herz drang.
»Pauline, Sie wären imstande, mich zu einer Torheit zu bewegen – aber lassen Sie das!« sagte er und drückte sie sanft auf ihren Sitz zurück. »Sie gehen Ihren Weg und ich den meinigen, die beide wahrscheinlich ganz verschiedene Richtungen nehmen. Ich habe kein Recht, nach dem Ihrigen zu fragen, auf dem Sie meiner nicht bedürfen –«
»Aber ich will Ihnen Rechenschaft geben!« rief sie, leidenschaftlich aufspringend – »ich weiß, was du denkst, August, aber es ist nicht so, und du sollst noch alles erfahren – sei jetzt gut gegen mich, wie du's früher warst – 's ist eine glänzende Einöde, in der ich hier lebe; aber an dem Tage, an welchem ich dich in dem Parke sitzen sah, war mir's, als blühe ein ganzes Paradies in mir auf! Sei kein gefühlloser Bär, August!« rief sie, als Helmstedt sich erheben wollte, und legte ihre beiden Arme auf seine Schultern, »ich will ja nichts, als daß du mich ein klein wenig lieb haben sollst – ein ganz klein bißchen nur, denn dann wirst du mir's nicht verweigern, daß ich dir helfe, und daß ich dich lieb haben darf wie mein Leben!« Sie hatte seinen Kopf zwischen ihre Hände genommen, Helmstedt fühlte einen brennenden Kuß auf seinen Lippen, dann aber hatte sie sich umgedreht, war nach dem Fenster gegangen und brach dort in ein krampfhaftes Weinen und Schluchzen aus. Helmstedt sprang auf, von zehn widerstreitenden Empfindungen bestürmt. »Pauline, seien Sie kein Kind!« sagte er und wollte sie in seinen Arm nehmen, aber sie wand sich leicht los, trat in die Vertiefung des nächsten Fensters und war in kurzem Kampfe bald ihrer Aufregung Herr geworden, »'s ist schon gut, August,« sagte sie, mit einem Lächeln in Tränen sich umkehrend; »ich bin eine Närrin, aber, seien Sie mir nicht bös darüber!«
»Sie sind ein leidenschaftliches Kind, Pauline, und haben mir noch nicht einmal Zeit zu einem einzigen Worte gelassen!« erwiderte Helmstedt und nahm ihre Hand zwischen die seinigen. »Sehen Sie, es läuft nun einmal gegen mein Gefühl, von irgend jemand, sei es Bruder oder Freund, eine Unterstützung anzunehmen, wo meine eigenen Hilfsmittel noch nicht vollständig erschöpft sind, und ich will mir lieber aus den untersten Klassen herauf eine Laufbahn durch meine eigene Kraft öffnen, als einen bequemeren Anfang der zufälligen Hilfe anderer zu verdanken haben. Ich bin nun einmal so, Pauline!«
Sie nickte still mit dem Kopfe.« »Aber, gesetzt den Fall, Sie hätten eine reiche Braut, die Sie liebten,« sagte sie nach einer kurzen Weile, »würden Sie sich auch von der nicht Ihren Weg erleichtern lassen?«
»Ich glaube nicht, daß, wenn ich selbst nicht viel Geld hätte, ich jemals ein reiches Mädchen zu meiner Braut machen könnte.«
» Supper is ready!« (das Abendbrot ist bereit) rief die Mulattin durch die halbgeöffnete Tür.
»Lassen Sie uns hinunter zum Abendbrote gehen!« sagte das Mädchen mit einem trüben Blicke und wollte ihre Hand aus der des jungen Mannes ziehen; dieser hielt sie aber mit kurzem Drucke fest. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Pauline,« sagte er; »aber ich meine, es ist besser, wenn ich nach Hause gehe; wir sind beide zu aufgeregt, ich sehe Sie ein andermal wieder!«
»Ich will Ihnen zu nichts mehr zureden!« erwiderte sie mit gedrückter Stimme; »ob wir uns so bald wiedersehen werden, weiß ich auch nicht; Mr. Morton ist angekommen und hat über mich zu bestimmen. Aber um eins bitte ich Sie, August! Wenn einmal eine Zeit kommen sollte, wo Ihre eigene Kraft die Hindernisse hier im Lande nicht mehr bändigen kann, und wo eine helfende Hand nicht mehr gegen Ihre Ehre ist, so vergessen Sie nicht, daß Sie hier trotz Ihres Stolzes eine warme Freundin haben, wärmer – als Sie es verdienen!« Sie schlug einen Moment das Auge überquellend zu ihm auf, dann machte sie ihre Hand los und ging mit abgewendetem Gesicht ins Nebenzimmer. Helmstedt sah ihr nach und schwankte, ob er ihr folgen solle – langsam nahm er aber endlich seinen Hut und verließ das Haus. Er ging die Straße hinab, Broadway zu, aber er war in einem Zwiespalt mit sich selbst, den er umsonst auszugleichen suchte. Bald erschien er sich wie ein Narr, der mit dem Fuße die Rosen wegstößt, die auf seinen Weg fallen – bald kam ein Gefühl von Genugtuung, wie nach einer überwundenen Versuchung, über ihn – bald trat der Eindruck, den das duftige Zimmer und das blühende Mädchen an seinem Halse auf ihn gemacht, wie ein Traum vor seine Seele, daß er stillstehen und sich noch einmal nach dem Hause umsehen mußte. »'s ist besser so!« brummte er endlich, mit der Hand über die Stirne streichend, und verfolgte die Straße weiter.
An der Ecke von Broadway stand, einen Korb voll kleiner Toilettengegenstände zum Verkauf um den Hals gehangen, ein Junge mit ausgeprägt jüdischen Zügen. Ein wildgewordenes Pferd mit einem Wagen hinter sich kam prasselnd die Straße herab, und in dem augenblicklichen Gedränge, das durch die flüchtenden Fußgänger auf dem Seitenwege entstand, wurde dem kleinen Verkäufer der Korb vom Halse gerissen und alle Herrlichkeiten darin über das Pflaster gestreut. Der Bube versuchte weinend seine Sachen wieder zusammenzulesen und vor den Tritten der Passierenden zu schützen, und Helmstedt, der den ganzen Jammer des jungen Herzens mitfühlte, trat rasch hinzu, um aus dem Bankerott retten zu helfen, was möglich. Als aber in dem wiedergefüllten Korbe, der jetzt ein Chaos von zerbrochenen Seifenstücken und in den Schmutz getretenen Allerhands bot, sich die ganze Größe des Unglücks zeigte und der Knabe nach einem trostlosen Blicke darauf in ein bitteres Schluchzen ausbrach, klopfte ihm Helmstedt in einer Aufwallung des Mitgefühls auf den schwarzen Krauskopf. »Heule nicht, Bub, das Malheur wird sich ja noch gutmachen lassen!« sagte er. »Weißt du, wo Williamstreet ist? Komm morgen früh mit deinen Sachen hin. Hier hast du meinen Namen und die Nummer.« Er warf ihm seine Karte in den Korb und ging mit einem »Vergiß nicht!«, von den großen Augen des Knaben gefolgt, rasch weiter, da sich bereits ein Haufen Neugieriger um sie versammelt hatte. Er hatte eben angefangen, seinen Schritt wieder zu mäßigen, als er in dem Durcheinander der Fußgänger einen Menschen neben sich bemerkte, der eine Weile gleichen Schritt mit ihm hielt und ihn seitwärts betrachtete. »Bitt' um Verzeihung, Sie sind wohl ein Deutscher?« begann er endlich. Helmstedt wandte den Kopf, und zwischen einem grauen Barte blickten ihn eine gebogene Nase und zwei kleine, lebhafte Augen an, in denen der Jude nicht zu verkennen war. » Yes, Sir! das bin ich,« erwiderte Helmstedt und wandte den Blick nach einem der Schaufenster, um einer weiteren Unterhaltung zu entgehen. »Sie sind wohl noch nicht lange im Lande?« war die zweite Frage. » No, Sir!« antwortete der Angeredete kurz und ging rasch weiter. »Darf man fragen, was Sie für ein Geschäft haben?« Helmstedt warf auf den zudringlichen Frager einen kurzen, messenden Blick und antwortete nicht. »Ich meinte es nicht bös, junger Herr – ich dachte nicht, daß Sie stolz wären – bitt' um Verzeihung!« – und damit blieb der aufgedrungene Begleiter zurück. Helmstedt schüttelte etwas verwundert den Kopf, hatte aber bald die kurze Szene in der wieder auftauchenden Erinnerung an die eben durchlebte Zusammenkunft vergessen. Erst als er sein Boardinghaus in Williamstreet und sein bereits dunkel gewordenes Zimmer erreicht hatte, trat die Sorge für die Zukunft wieder mit Macht vor seine Seele. Er fühlte keinen Appetit zum Abendbrot, warf sich auf sein Bett und ließ die Gedanken durch seinen Kopf streichen. Seit dem Lachen des neckischen Mädchens über seine Schulmeisteridee kam ihm diese, wenn er sich mit seinem ganzen Wesen hineindachte, selbst so absurd vor, daß er sie gar nicht mehr ansehen mochte und als aufgegeben über Bord warf – aber was dann? Wollte er nicht die ordinärsten Handlangerdienste verrichten, so war »Englisch können« der einzige Schlüssel zur Verwertung seiner etwaigen Kenntnisse, aber wenn er auch den Rest seines Geldes zum Studium der Sprache anwandte, wer gab ihm die Versicherung, daß er dann sogleich eine Stellung finden, oder daß auch nur sein Geld hinreichen würde, bis er so fix und fertig sei, wie er's für notwendig hielt? Er sprang vom Bette, schloß seinen Koffer auf und begann wieder sein Geld durchzuzählen und zu berechnen. Nahm er einen guten Lehrer, so konnte er noch zwei, bei äußerster Einschränkung drei Monate leben; das langte weder hinten noch vorn, und doch mußte etwas geschehen, wenn er nicht auf gut Glück hin seine Mittel zu Ende gehen lassen wollte.
»Hallo, Herr von Helmstedt, so einsam im Halbdunkel?« rief Seifert, der in diesem Augenblick zur Tür hereintrat, »delibrierend? (nachdenklich) – O! Kassa machend – ausgezeichnetes Geschäft! – Aber lassen Sie sich nicht stören!« fuhr er fort, als Helmstedt das noch offen liegende Geld in die Börse zurückstrich, sie im Koffer verbarg und diesen zuschlug. »Ich wollte Ihnen im Vorübergehen nur einen guten Abend wünschen!« Helmstedt sah auf und hätte kaum den früheren Menschen in ihm wiedererkannt; ein flotter, modischer Frack saß wie angegossen um ihn, über die weiße Weste fiel eine goldene Kette, das Fischbeinstöckchen schlug die eng anschließenden Beinkleider, und auf dem wohlfrisierten Haare saß keck ein feiner Kastor.
»Mit Ihnen ist ja eine merkwürdige Veränderung vorgegangen!« sagte Helmstedt, ihn »musternd, und es war ihm, als nehme seine Erscheinung eine Sorge von ihm, die noch über die Ausführung seiner eben gefaßten Entschlüsse auf ihm gelastet. »Kommen Sie her und nehmen Sie Platz!«
»Meinen Sie mich oder meinen Frack, dem diese Ehre zum erstenmal widerfahren soll?« lachte Seifert. »Aber ich hoffe, Sie werden Scherz verstehen,« setzte er hinzu, als er das Blut in Helmstedts Gesicht steigen sah; »ich habe dieselbe Frage schon an zehn Bekannte gerichtet, die mich heute zum ersten Male wiedererkennen wollten.«
»Vielleicht hätte sie auch bei mir gepaßt,« erwiderte Helmstedt und machte einen Stuhl von den daraufliegenden Kleidungsstücken frei,– »wenn Sie mir nicht erst gestern von Ihren verschiedenen Anstellungen erzählt hätten, wozu natürlich eine entsprechende Livree gehört. Also setzen Sie sich ohne Sorge um ein Mißverständnis!«
»Fein revanchiert, beißend revanchiert,« sagte Seifert mit einem Lächeln, dessen Deutung schwer gewesen wäre, »aber Sie wissen, wir differieren in einzelnen Punkten, und darum lassen Sie uns die Streitaxt begraben.«
»Sie kommen mir eigentlich gerade recht,« begann Helmstedt; sich auf seinen Koffer niederlassend und die Stirn in die Hand stützend; »ich möchte mir ein paar Fragen an Sie erlauben. Haben Sie wohl die Dame genau gesehen, mit der ich sprach, als Sie mich gestern im Park trafen?«
»Mir entgeht derartiges nicht leicht,« sagte der Besucher und lehnte sich auf seinen Stuhl zurück, »und ich gestehe Ihnen, daß mich Ihr Glück einigermaßen frappiert hatte.«
Helmstedt hob den Kopf. »Davon ist nicht die Rede. Ich möchte nur wissen, ob Sie das Gesicht in Ihren Kreisen einmal irgendwo vor die Augen bekommen haben?«
»Das heißt – erlauben Sie,« lachte Seifert »in dem Falle hätte ich mir andere Bemerkungen gegen Sie und Ihre stillen Vergnügungen erlaubt. Ich habe nicht einmal einen Zweifel in mir laut werden lassen, so fremd war mir die Erscheinung.«
Helmstedt ließ den Kopf wieder in die Hand sinken. »Seifert, ich glaube, Sie haben recht, ich muß amerikanische Gesellschaft suchen – aber wie?« begann er nach einer Weile wieder. »Ich möchte zuerst aus diesem Hause heraus und mich kopfüber unter das englischsprechende Publikum stürzen!«
»Spät kommt die Erkenntnis, aber sie kommt!« deklamierte der andere, »und ich gratuliere Ihnen zu dem Entschlusse, wenn er auch wahrscheinlich nur in einem Paar hellen Augen wurzelt, die übrigens die besten Lehrmeister abgeben! Lassen wir aber Ihre vernünftige Stimmung nicht verstreichen, ich denke, wir fangen mit dem Kopfübersturz gleich heute abend an.«
»Je eher, je lieber,« erwiderte Helmstedt, sich erhebend, »aber lassen Sie mich eins sagen, Seifert, bringen Sie mich nicht an Orte, gegen die ich nun einmal grundsätzlich einen Widerwillen habe. Sie werden gewiß irgendwo muntere, aber anständige Gesellschaft wissen, und ich will's Ihnen doppelt danken, wenn Sie diese Rücksicht für mich nehmen.«
»Werde Ihr jungfräuliches Gefühl möglichst zu schonen wissen! Lassen Sie sehen. Heute abend sind Sie mein Gast bei einem Familiensouper – fünf bis sechs noble junge Leute, einige Damen – das macht den Anfang, morgen werde ich Ihnen ein amerikanisches Boardinghaus, für Ihren Zweck vorzüglich geeignet, zuweisen, und dann findet sich das übrige.«
»Aber, lieber Freund, ich will nicht extravagieren, meine Mittel sind so geschmolzen, daß ich mich einschränken muß soviel als möglich!«
Seifert zuckte die Achseln. »Richten Sie sich ein, wie Sie wollen,« sagte er, »einmal gehen sie doch zu Ende, und die Hauptfrage bleibt nur, auf welche Weise der möglichste Nutzen daraus zu ziehen ist. Aber wir verstehen uns darin nicht, und ich will Ihnen auch nie eher wieder einen Rat geben, als bis Sie mich bestimmt darum bitten. Jetzt wollen Sie amerikanisches Leben und die Sprache kennen lernen, gut, ich bin Ihr Mann, im übrigen folgen Sie Ihrem eigenen Gutdünken.«
»Und um welche Zeit findet Ihr Souper statt?« fragte der andere, seine Stirne reibend.
»Wir können sogleich gehen!« war die Antwort, »wir holen einen meiner Freunde im Metropolitan-Hotel ab und sind von dort aus rasch an Ort und Stelle – Sie sind natürlich mein Gast, wie ich schon oft genug der Ihre gewesen bin.«
Helmstedt ging zum Spiegel, ordnete Haar und Anzug, verschloß dann sorgfältig seinen Koffer, und beide verließen das Haus.
In einer der Straßen im oberen Teile von Neuyork, nicht weit ab von Broadway, stand eine Stunde später Seifert in Begleitung seines Landsmannes und eines Dritten vor einem Hause, das sich in nichts von den übrigen Wohnhäusern unterschied, und zog die Glocke. Ein Portier öffnete und ließ sie nach Abforderung ihrer Einlaßkarten passieren. Seifert, der volle Lokalkenntnis zu haben schien, schritt nach dem hinteren Teile der Halle voran und öffnete dort die Tür zu einem schwach erleuchteten Zimmer, das eine Art Garderobe vorzustellen schien. Als sie hier ihre Hüte neben mehrere bereits vorhandene ablegten, sah Helmstedt die dritte Person, die bei ihnen war und eben Seifert eine Bemerkung zuraunte, zum ersten Male genauer an, da ihre gegenseitige Vorstellung nur flüchtig und im Halbdunkel des Hotelausganges erfolgt war; und wenn auch Kleidung und Haltung den Mann aus der fashionablen Welt bezeichneten, so lag doch in diesem Augenblick ein solcher Ausdruck von gemeiner Begierde in seinem Gesichte, und Seiferts Lachen auf seine Bemerkung stimmte so dazu, daß sich Helmstedt eines widerwilligen Gefühls nicht erwehren konnte. In diesem Augenblicke aber flog die Tür des nächsten Zimmers auf, strahlender Lichtschein und helles Lachen brachen heraus, und mit zwei Schritten standen die Ankömmlinge in einem prachtvoll erleuchteten, geöffneten Doppelparlor. Die Diwans, die ohne besondere Ordnung umherstanden, nahmen zwanglose Gruppen von jungen Männern und lachenden Frauengestalten ein. Hier kniete einer und küßte die Hand einer feinen Blondine, während sie kichernd den Ohrenflüstereien eines zweiten lauschte; dort auf einem niederen Sessel erwehrte sich ein anderer kaum der Neckereien dreier weiblicher Kobolde; weiter hinten saß ein einsames Pärchen, und rechts, wo ein offenes Piano stand, bestrebte sich eine junge Dame, ihrem Gesellschafter den Polkaschritt zu zeigen, wobei sie hochaufgeschürzt ihre Pantalettes paradieren ließ. Im Hinterparlor aber stand ein gedeckter, mit Flaschen, Schüsseln und Tellern besetzter Tisch.
» Mesdames et Messieurs!« rief Seifert, neben seine beiden Begleiter tretend und in französischer Sprache fortfahrend, »ich habe die Ehre, Ihnen zwei meiner Freunde, hier, » le comte de Helmstedt,«, der sich unter Ihre Fittiche begibt, um Englisch zu lernen, und hier Mr. Baker von Alabama vorzustellen. Beides zwei ausgezeichnete Jungen, die ich Ihrer Fürsorge empfehle. Aber ich sehe mit Bedauern, daß Sie auf uns gewartet haben, und da ich ausersehen bin, den Wirt zu spielen, so bitte ich, zu Tische zu gehen, damit der Champagner nicht warm wird.« Aller Augen hatten sich bei der Vorstellung den neuen Ankömmlingen zugewandt und hauptsächlich die Blicke der Mädchen nach der noblen Gestalt des » comte« gerichtet. »Zu Tisch!« rief Seifert aus dem Hinterparlor, der bereits den Kopf einer Flasche bearbeitete; die Gruppen erhoben sich, und eben als Helmstedt überlegte, wie er sich am besten benehme, stand ein schwarzlockiges, blitzäugiges Mädchen vor ihm, das ihm mit einem » s'il vous plait, Monsieur!« die Hand reichte und ihn zu Tische führte. – –
Am anderen Morgen erwachte Helmstedt in seinem Zimmer mit einem Gefühle von bleierner Schwere im Kopfe. Er richtete sich langsam auf, und die Erinnerung des vergangenen Abends begann in einzelnen Zügen in ihm aufzudämmern. Er sah seine Tischnachbarin, wie sie ihn in Beschlag nahm, ihm unaufhörlich einschenkte und kredenzte, zuletzt aber ihr Glas zu Boden warf und nur aus dem seinigen mit ihm trinken wollte; wie sie, als ihr Französisch ausgegangen und er ihr Englisch nicht hatte verstehen können, ihn im tollen Übermute bei den Ohren faßte und in die Backe beißen wollte – er sah das übrige tolle Treiben am Tische, hörte das Knallen der Champagnerpropfen und das ausgelassene Gelächter – eine spätere Szene tauchte vor ihm auf, er saß mit der Zigarre im Munde am Piano und spielte eine Quadrille, nach der die wilde Gesellschaft tanzte, Seifert mit Stentorstimme die Touren ausrufend, zwischen jedem Teile aber hatten ihm die ausgelassenen Mädchen bald Wein, bald kalten Ananaspunsch eingefüllt – weiterhin verfloß alles in seiner Erinnerung wie Nebel, und wie er nach Hause gekommen, wußte er gar nicht. – Das war seine erste Unterrichtsstunde im Englischen gewesen. – Langsam und verdrießlich rieb er sich die Stirne und sprang dann aus dem Bette, um durch ein kaltes Kopfbad die Dünste daraus zu vertreiben; er öffnete seinen Koffer, um reine Wäsche herauszunehmen, stutzte aber, als er den bisher wohlgeordneten Inhalt wild durcheinandergewühlt fand. Einen Augenblick überlegte er, ob er selbst vielleicht die Ursache habe sein können, im nächsten aber fuhr er nach der Ecke, wo er seinen Geldvorrat aufzubewahren pflegte – – der Beutel war verschwunden. Sein Gesicht entfärbte sich, und seine Hand blieb wie gelähmt, wo sie gesucht hatte, dann aber riß er die einzelnen Stücke aus dem Koffer, jedes ausschüttelnd mit immer größerer Hast, dazwischen nochmals in die Ecken fühlend – aber alles war durchsucht und die Börse blieb verschwunden. Helmstedt stand da, einer Statue gleich in den leeren Koffer starrend.
Plötzlich schien ein zweiter Gedanke durch seinen Kopf zu zucken. Er fuhr auf und ließ mit Blitzesschnelle den Blick über alle Gegenstände im Zimmer laufen, nahm mit Hast seine umherliegenden Kleidungsstücke vom Tische und den Stühlen – es war seine goldene, mit aus Deutschland gebrachte Uhr, die er suchte; aber auch davon war nirgends eine Spur zu entdecken, und als ihm die Gewißheit eines Raubes vor die Seele trat, der ihn aller Existenzmittel bar hinstellte, nahm er seinen Kopf zwischen beide Hände, als fürchte er, er möge ihm zerspringen. – »Ruhig, August!« sagte er nach einer kurzen Weile, sich gewaltsam fassend, »es muß sich irgendeine Spur des Täters entdecken lassen; wenn ich nur erst eine einzige Erinnerung finde, wie ich nach Hause gekommen bin! Ruhe, August!« Er suchte seine Kleider zusammen und fühlte das Portemonnaie in einer seiner Taschen – aber außer einigem kleinen Geld war nur ein einfacher Papierdollar darin – langsam und mit Anstrengung die Szenen des vergangenen Abends zurückrufend, vollendete er seinen Anzug; so viel er aber sein Gedächtnis quälte, nicht ein Funke, der Helle über seinen Heimgang verbreitet hätte, wollte herausspringen. »Keinesfalls bin ich also allein gekommen, es war spät, die Haustür muß verschlossen gewesen sein, und irgend jemand im Hause, der geöffnet, muß Auskunft geben können.« Das war der Schlußgedanke, der ihm wenigstens etwas von seiner gewöhnlichen Haltung wieder zurückgab. Eben wollte er seinen Hut nehmen, um die nötigen Erkundigungen beim Wirte einzuziehen, als es klopfte – der Judenknabe vom Broadway, seinen Korb am Halse, sah durch die geöffnete Tür herein und reichte ihm schweigend die Karte hin, die er tags zuvor von dem jungen Manne erhalten. »Bob, du kommst zu einer schlimmen Zeit!« rief Helmstedt und konnte ein Zucken in seinem Gesichte, als sei ihm das Weinen nahe, nicht verhindern – »sieh her, ich bin diese Nacht um mein ganzes Geld und um meine Uhr bestohlen wurden, ich bin jetzt noch ärmer als du, denn du hast doch wenigstens einen Erwerbszweig!« Der Junge ließ die großen, schwarzen Augen über die Verwirrung im Zimmer und über Helmstedts Züge laufen, als dieser sein Portemonnaie zog und sagte: »Da ist wenigstens eine Kleinigkeit für deinen Weg!« schüttelte er mit einem ernsten » No, Sir!« den Kopf, warf noch einen Blick über das Zimmer und schloß die Tür wieder.
Helmstedt ging ins Gastzimmer hinab, ließ den Wirt rufen und teilte ihm in möglichster Fassung das Geschehene mit; der Mann sah ihm einen Augenblick scharf in das bleiche Gesicht und rief dann den Portier. Es sei spät in der Nacht gewesen, erzählte dieser, als er auf das Anziehen der Klingel die Tür geöffnet; derselbe Herr, mit dem Helmstedt gestern abend ausgegangen, habe ihn, der total betrunken gewesen sei, zur Tür hereingeführt, habe sich von ihm, dem Portier, ein Stück Licht und den Schlüssel zum Zimmer geben lassen und sodann den Betrunkenen mühsam zur Treppe hinauftransportiert – nach kurzer Zeit sei er aber wieder heruntergekommen und habe ihn zur Hilfe geholt, da Helmstedt ganz besinnungslos sei und er ihn nicht allein weiterbringen könne. Helmstedt habe auf einem Absatz der Treppe gelegen, und von dort hätten ihn beide nach seinem Zimmer getragen, hätten das Stück Licht an der Gasflamme angebrannt und ihn dann ins Bett gelegt. Der Herr sei sodann mit ihm, dem Portier, wieder die Treppe herabgekommen, und er habe ihn zur Haustüre hinausgelassen. – Helmstedt hatte mit peinlicher Aufmerksamkeit dem Berichte zugehört.
»Und ist der Mann, der mich brachte, nicht allein im Zimmer gewesen?« fragte Helmstedt nach einer augenblicklichen Pause.
»Soviel ich weiß, nicht«, war die Antwort. »Er gab mir den Schlüssel, als wir hinaufkamen, und ich schloß auf, da er Sie beim Kopfe trug; nachher sind wir zusammen heruntergegangen.«
»Haben Sie meine Uhr beim Auskleiden nicht bemerkt?« fragte Helmstedt.
Der Portier dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube nicht, daß ich etwas von einer Uhr überhaupt gesehen habe.«
»Und die Tür ist die ganze Nacht offen geblieben?« fragte Helmstedt weiter.
»Ja natürlich, ich konnte Sie doch nicht einschließen!«
Der Wirt schüttelte den Kopf. »Es hätte mir nichts Unangenehmeres begegnen können,« sagte er, »aber für die Leute im Hause möchte ich mich verbürgen. Wo war Ihr Kofferschlüssel, als Sie gestern ausgingen?«
»In meinen Beinkleidern!«
»Und wo war er heute morgen?«
»Noch an derselben Stelle in meiner Tasche!«
»Haben Sie wieder geschlafen, John, während der Herr hier von dem anderen die Treppe allein hinaufgebracht wurde?« wandte sich der Wirt an den Portier.
»Ich glaube nicht, aber ich war müde!«
Der Wirt nickte. »Ich will Ihnen sagen, lieber Herr, Sie scheinen in die allerschlimmste Gesellschaft geraten zu sein. Wo Sie gewesen sind, geht mich nichts an, aber es ist ziemlich klar, daß der gute Mann, der Sie heimgebracht, sich die Gelegenheit und Ihren Zustand bestens zunutze gemacht, Ihnen Uhr und Kofferschlüssel abgenommen und Sie auf der Treppe hat liegen lassen, bis er Ihr Geld aus dem Koffer geholt. Nachher hat er den verschlafenen Portier gerufen. Auf jeden Fall müssen Sie selbst durch eine Unvorsichtigkeit ihm Kenntnis von dem Gelde gegeben haben, und ich kann Ihnen nur raten, der Polizei sofort von dem Falle Kenntnis zu geben, oder noch besser, gleich mit einem Offizier (Polizeibeamter) dem Burschen aufs Quartier zu rücken.«
»Und nun weiß ich nicht einmal, wo er wohnt!« rief Helmstedt und schlug sich mit der Faust vor den Kopf, »aber halt! Ich finde ihn!« Und von einem lichten Gedanken gefaßt, verließ er das Zimmer und ging im Sturmschritt Broadway zu. Im Metropolitan-Hotel mußten sie etwas von dem Menschen wissen; er hatte den Abend vorher mit allen Aufwärtern vollkommen bekannt getan, und außerdem logierte dort ihr Gefährte von letzter Nacht, Mr. Baker von Alabama, der sicherlich auch einige Auskunft über Seiferts Verbleib geben konnte. – Er hatte den Weg in kurzer Zeit zurückgelegt, mußte aber beim Übergange einer der letzten Querstraßen mit vielen anderen anhalten, um eine Lücke in der Reihe der dort passierenden Fuhrwerke abzuwarten – eine Equipage der elegantesten Bauart folgte soeben, Helmstedt sah auf und stutzte, im Fond des Wagens saß, nachlässig zurückgelehnt, Pauline Peters neben einem Herrn, dessen Backenbart schon das volle Grau des Alters zeigte, dessen Haltung aber dennoch eine ungeschwächte Kraft verriet. Ihr Blick schweifte gleichgültig über die wartenden Menschen, er traf Helmstedts Gestalt, aber kaum, daß ein schwaches, aufsteigendes Rot in ihrem Gesichte ihre Erkennung andeutete, ihr Auge blieb kalt und wandte sich ruhig anderen Gegenständen zu. Trotz aller Sorge, die auf dem jungen Manne lastete, trotz aller Gleichgültigkeit gegen das Mädchen wollte sich ein leiser Ärger seiner bemächtigen – da war die Lücke in der Wagenreihe gekommen, die Menschen drängten zu, und als er den Fahrweg passiert, war auch der erlittene Verlust wieder sein einziger Gedanke. Bald stand er vor dem Metropolitan-Hotel und wollte seine Erkundigungen bei einem der Aufwärter, der, nach irgend etwas ausschauend, in dem Ausgange der Halle stand, beginnen; der aber schüttelte lächelnd mit einem »Nix versteh'!« den Kopf. Helmstedt wiederholte seine Frage Französisch, erhielt aber ein gleiches Kopfschütteln zur Antwort. Dem Frager trat der Schweiß vor die Stirne.
»Kann ich Ihne mit etwas diene?« ließ sich jetzt eine Stimme neben ihm hören. »Sie sind bestohle worden, hat mir mein Schwestersohn gesagt, der heute morgen bei Ihne war.« Helmstedt sah, sich umwendend, in das Gesicht desselben Juden, der ihn tags vorher schon auf der Straße angesprochen hatte, aber das graubärtige Gesicht erschien ihm heute wie eine Hilfe in der Not. » Well, Sir, ich kenne Sie zwar nicht,« begann er –
»Aber ich kenne Sie schon, wenn ich auch nicht weiß, wie Sie heiße,« unterbrach ihn der andere, »und es soll mich freue, wenn ich Ihne mit etwas diene kann!«
Helmstedt warf einen Blick in sein Gesicht, das trotz der schlauen Augen eine eigentümlich gutmütige Teilnahme zeigte, trat mit ihm beiseite und hatte ihm schnell genug sein Unglück und die Absicht, die ihn hierhergeführt, mitgeteilt.
»Wird nicht viel zu hole sein!« erwiderte der Jude nachdenklich. »Ich kenne den Mann von Alabama, den Sie meine – ich kenne ihn,« wiederholte er, langsam mit dem Kopf nickend, und ein Zug wie stiller Ingrimm zuckte über sein Gesicht, »und den anderen hab' ich gestern mit ihm zusammen gesehen – wird nicht viel zu hole sein – können's aber probiere, komme Sie!« Damit schritt er Helmstedt nach dem Innern des Hotels voran, wandte sich an den Klerk (Sekretär) in der Office und begann mit diesem ein Gespräch, von dem Helmstedt eben nur das Kopfschütteln des Klerks und das Nicken seines Begleiters verstehen konnte, »'s ist schon, wie ich gedacht!« sagte dieser endlich achselzuckend, sich dem Ausgange zuwendend, »Mr. Baker ist heute morgen abgereist, und den anderen, der ihn gestern abend abgeholt, kennen sie nicht weiter, als daß er früher oft hierher gekommen ist – er ist nicht hier beschäftigt, und sie wissen auch nichts von seiner Wohnung. Jetzt komme Sie mit mir nach der Polizei, vielleicht kann die den Vogel fange – aber's Geld schlagen Sie sich nur aus den Gedanken, das ist Ihr Lehrgeld gewese!«
Über Helmstedt kam es wie ein Schwindel, als er an der Seite des Alten die Straße hinabging, die ganze Hilflosigkeit seiner Lage trat wie ein Gespenst vor ihn. Wenn sein Wirt ihm nicht der Barmherzigkeit willen Kredit geben wollte, bis er irgendeinen Verdienst gefunden, so mußte er alles, was er nicht zum Allernotwendigsten an Kleidern und Wäsche brauchte, verkaufen und konnte, wenn das aufgezehrt war, im Hotel Park logieren mit der Aussicht, sein Leben im »North-River« zu beschließen. Ein Gramseln überlief seinen Kopf, als würde jede einzelne Wurzel seiner Haare lebendig.
»Haben Sie denn gar kein Geschäft?«, begann der Alte an seiner Seite das Gespräch wieder. Helmstedt schüttelte den Kopf. »Ich bin im Gerichtsfach in Preußen angestellt gewesen,« sagte er, »und das kann ich hier nicht brauchen.«
»Nun, habe Sie denn nicht irgendeinen Gedanken gehabt, wie Sie hier Ihr Leben machen wollen?«
»Ich habe gedacht, es würde sich schon irgendeine Stelle für mich finden, wie so viele andere auch ihr Leben durchbringen, aber das schlimmste ist, daß ich kein Englisch verstehe.«
»Ja, was wolle Sie denn jetzt anfange?« fragte der Jude kopfschüttelnd; »an der Eisenbahn oder am Kanal könne Sie doch nicht arbeiten, da ist mit solchen Händchens nichts zu mache – so geht's nun den großen Herren, wenn's einmal heißt: hilf dir selber!«
Helmstedt warf einen Blick auf seinen Begleiter und preßte dann die Lippen aufeinander, ohne zu antworten. Der Alte sah ihn von der Seite an. »Ja, das tut weh, weil's den Stolz beißt!« sagte er, »und der müßte auch erst ganz tot sein, ehe's eine Möglichkeit wäre, daß Ihnen irgendwie geholfen werden könnte?«
Helmstedt ließ mit zusammengezogenen Augenbrauen noch einmal den Blick über die reinliche, aber schäbige Kleidung seines Begleiters laufen und blieb dann stehen. »Ich danke Ihnen für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben,« sagte er, »aber ich finde jetzt schon einen Bekannten, der mit mir nach der Polizei geht.«
Der Alte nickte mit dem Kopfe. »Sehen Sie, der Stolz schlägt hinten und vorn aus, trotz Ihrer Not! Sie haben mir doch gesagt, daß Sie niemand wissen, der Ihnen einen bestimmten Rat für Ihr Fortkommen geben kann, und doch schieben Sie mich fort, bloß weil ich Ihnen gradaus ein bißchen sage, was Sie hören müssen.«
»Ja, lieber Himmel, können Sie mir denn etwa helfen oder raten?« rief Helmstedt ungeduldig, aber von einer unbestimmten Hoffnung berührt, »und warum nehmen Sie denn gerade an mir solchen Anteil?«
»Da doch der Jud' nichts ohne Profit tut, meine Sie?« sagte der Alte weitergehend. »Nun, ich hab' vielleicht meinen Profit dabei, wenn auch bei Ihne jetzt nichts zu hole ist. Sie sind ein Mann, der's Herz grad' hat, wo's sein muß, auf einem bessern Fleck als viele von Ihren Christenleuten, das hab' ich bloß an der kleinen Sache mit meinem Schwestersohn gemerkt, und in Ihrem Gesichte steht auch noch was geschrieben. Ob ich aber mit all meinem guten Willen helfen kann, das muß erst untersucht werden. Sie müssen mir sagen, was Sie gelernt haben, dann sage ich Ihnen meine Meinung, und ob Sie die annehmen wollen, ist nachher Ihre Sache!«
Helmstedt strich mit der Hand über das Gesicht. Die Rede seines Begleiters war ihm bald wie das bloße Wichtigmachen eines aufdringlichen Menschen vorgekommen, bald hatte aber auch wieder eine Sicherheit, mit halbem Spott gemischt, darin gelegen, die ihn beleidigte und ihm doch unwillkürlich imponierte.
»Ich kann eben nichts, als was man auf deutschen Schulen und Universitäten lernt, ich hab's Ihnen schon gesagt,« erwiderte er, »und ein bißchen Klavierspielen daneben; sollten Sie nicht wirklich eine Hoffnung für mich haben, so lassen Sie uns lieber das Gespräch abbrechen, damit mir wenigstens eine neue Täuschung erspart wird.«
»Ja, wenn Sie aber hier in Amerika Ihren Weg machen wollen, so dürfen Sie nicht so kurz gebunden sein, dürfen keine Gelegenheit fortstoßen, wo vielleicht was für Sie herausspringen könnte, wenn's auch zehnmal nichts damit ist. Sie verlieren doch nichts dabei, wenn wir hier miteinander sprechen!«
Helmstedts Gesicht färbte sich höher, aber er schwieg. »Sie spielen Klavier – da wird die Sache für jetzt schon gehen«, fuhr der Alte fort. »Ich habe Bekannte, die Ihnen einen Verdienst als Klavierspieler in einer ordentlichen Bierwirtschaft verschaffen können – mehr werden Sie aber verdienen, wenn Sie in einem schlechten Hause spielen wollen; Sie sind gerade wie gemacht, um bei den Mädchens dort nebenbei den Grafen vorzustellen, und Sie können da ein ganz gutes Leben haben.«
Helmstedt schüttelte den Kopf. »Ich mag mit derartigen Dingen nichts zu tun haben, wenn's auch zum Schlimmsten kommen sollte,« sagte er finster, »aber selbst wenn ich mich in ordentlichen Bierhäusern als Klavierspieler herumtreibe, so ist das wohl etwas, um augenblicklich Essen und Obdach zu verdienen, und ich muß jedem danken, der mir irgendwo zu so einem Platze verhilft – was es dann aber mit meiner Zukunft werden soll, weiß ich nicht, ich lerne nirgends dabei und kann doch nicht ewig zum Bier Musik machen?«
Der Alte nickte wieder, »'s ist schon recht!« sagte er. »Mit dem Klavierspielen werden Sie aber doch wohl anfangen müssen: erst muß einer für morgen sorgen, ehe er an übers Jahr denkt. Das Musikmachen dauert nur den Abend über, und Sie haben den ganzen Tag für sich. Ich habe noch einen anderen Bekannten, der Sie wohl in seinem Store (Warenlager) arbeiten ließe, wenn er nichts dafür zu bezahlen brauchte, wo Sie aber geschwinder Englisch lernen und sich fürs amerikanische Leben passender machen können als mit zehn Professoren. Es kommt freilich für jeden, der nicht daran gewöhnt ist, hart an, den ganzen Tag zu arbeiten und zu lernen und den Abend erst das nötigste Stückchen Brot zu verdienen, härter, als es mancher mit den besten Vorsätzen durchführen kann, und deswegen rühr' ich auch keine Hand für Sie eher, als bis Sie mit mir einen Kontrakt gemacht haben. Ich verschaffe Ihnen eine Klavierspielerstelle in einem anständigen Hause, das Sie so gut bezahlt wie irgendeinen, und Sie versprechen mir, in dem Store, wo ich Sie hinbringen werde, alle Arbeiten zu tun, so gut, als ob Sie dafür bezahlt würden, und nicht eher dort wegzugehen, als bis Sie wieder von mir gehört haben; die längste Zeit soll aber sechs Monate sein. Auch dürfen Sie, wenn Ihnen der Mann während der Zeit einen längeren Kontrakt gegen Bezahlung anbietet, nicht eher darauf eingehen, bis die sechs Monate um sind oder Sie von mir gehört haben.«
Helmstedt schaute dem Alten ins Gesicht, das aber in diesem Augenblicke vollkommen undurchdringlich schien; er war unsicher, wie er den seltsamen Vorschlag aufnehmen solle. Sechs Monate für nichts arbeiten! Und doch war dies jedenfalls der einzige Weg, der ihm die nötigen Kenntnisse und ein mögliches Fortkommen in der Zukunft sichern konnte – aber welchen Nebenzweck oder Vorteil hatte der Jude dabei? – »Ist es ein ehrenwertes Haus, wohin Sie mich bringen wollen?«
»Wenn ich mich bei unserem Kontrakt nur auf Ihr ehrliches Wort verlassen muß, so werde ich mit Ihnen auch wohl kein unehrliches Spiel treiben dürfen!«
»Aber warum soll ich denn keinen Kontrakt gegen Bezahlung eingehen, wenn die Bedingungen günstig sind? Jeder Kontrahent muß doch die einzelnen Punkte verstehen können, über die sich geeinigt wird!«
»Der Punkt ist, glaub' ich, ganz verständlich, und was ich für Gründe habe, daß ich ihn verlange, ist eben meine eigene Sache. Ich will Ihnen aber nicht zu- und nicht abraten – wollen Sie den Kontrakt eingehen, so versprechen Sie mir mit Handschlag, daß Sie ihn halten werden; wollen Sie nicht, so habe ich Ihnen wenigstens den guten Willen gezeigt, und wir sagen Adje zueinander.«
Der Sprecher war stehen geblieben und sah dem jungen Mann mit einem Ausdruck von stiller Spannung ins Auge.
»Ich gehe ihn ein!« sagte Helmstedt nach einer kurzen Pause, »und da ist meine Hand!«
»So ist es gut!« erwiderte der Jude, ihm die seinige reichend, »jetzt lassen Sie uns nach der Polizei gehen; nachmittags will ich alles Notwendige für Sie besorgen, und dann komme ich in Ihr Boardinghaus.«