Ferdinand von Saar
Innocens
Ferdinand von Saar

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Wie Sie wissen,« begann er, »bin ich der Sohn armer Landleute. Meine Kindheit war im ganzen eine ziemlich freudlose. Ich mußte schon früh meinen Eltern bei der Feldarbeit an die Hand gehen und überdies fleißig die Schule besuchen; denn es hieß, ich solle einmal studieren. Wirklich kam ich später, obwohl man mich zu Hause schwer entbehrte, nach der Hauptstadt, um das Gymnasium zu besuchen. Dort wurde ich bald das Stichblatt meiner Mitschüler, die boshaft genug waren, sich über meine langen Beine, mein schüchternes, linkisches Benehmen, über meinen altväterlichen Anzug lustig zu machen und mir allerlei mutwillige Streiche zu spielen. Obgleich mir dies auch anfangs viele trübe Stunden bereitete, so hatte es doch das Gute, daß ich mich nach und nach ganz von ihrem Umgange zurückzog und somit nie in die Versuchung kam, an dem sonstigen Treiben dieser frühreifen Knaben teilzunehmen. Ich lebte damals in einer ärmlichen Dachstube auf der Kleinseite, wo mich ein entfernter Anverwandter bereitwilligst aufgenommen hatte. Er war schon ziemlich bejahrt, weib- und kinderlos und bekleidete die Stelle eines Aufsehers am zoologischen Museum der Stadt. Er brachte öfter seltene Tiere mit nach Hause, denn zu seinen Obliegenheiten gehörte es, sie auszubälgen oder auch in Weingeist zu setzen. Dabei mußt' ich ihm nun helfen, und auf diese Art erwachte in mir der Hang zum Studium der Natur und schlug immer tiefer in meinem Gemüte Wurzel. Da an unseren Gymnasien zu jener Zeit selbst die Anfangsgründe der Naturwissenschaften engherziger Rücksichten halber von den Lehrgegenständen noch ausgeschlossen waren, so wendete ich meinen geringen Sparpfennig daran, mir einige einschlägige und leicht faßliche Bücher zu erwerben. Oft verweilte ich stundenlang in den lautlosen Sälen des Museums, zu denen mein Pflegevater die Schlüssel hatte und wo mich die bunte Tierwelt in den verschiedenartigsten Stellungen und Lagen regungslos, und doch wie lebendig, mit seltsam stieren Blicken anzusehen schien, so daß ich mich anfangs eines leisen Schauders nicht hatte erwehren können. Bald aber war ich mit ihr ganz vertraut geworden, und meine kindliche Phantasie brachte Atem und Bewegung in die starren Gestalten. Ich ließ den breitmähnigen Löwen und den schön gefleckten Königstiger aus ihrem gläsernen Gefängnis heraustreten und majestätisch einen hohen Palmenwald durchschreiten, wo die Abgottschlange zwischen leuchtenden Blumen den furchtbaren Leib emporringelte, zähnefletschende Affen an den Stämmen auf- und abkletterten, krummschnäblige Papageien in den Wipfeln kreischten und Kolibris gleich farbigen Funken die Luft durchschossen. Oder ich tauchte mit den plumpen, abenteuerlichen Fischungetümen zu dem zahllosen Gewimmel in den Abgründen des Meeres hinunter, sah über mir die Kiele der Schiffe wegfahren und die Polypen still an den Riffen bauen. An schönen Ferientagen aber verließ ich schon mit dem Frühesten die Stadt und ging aufs Geratewohl ins Land hinein, nur gelenkt durch den Flug der Schmetterlinge und Käfer, auf deren Jagd ich auszog. Dabei las ich in der Eile auf, was mir gerade an den Pflanzen oder Steinen in die Augen fiel, und belud mich damit. Wenn ich mich dann recht warm und müde gelaufen hatte, ruhte ich irgendwo im Schatten aus, am liebsten bei unbewegten, von Erlen und Weiden umdüsterten Wassern, über deren Spiegel blitzende Libellen schwirrten, zartbeinige Spinnen hintanzten, während dann und wann aus der Tiefe ein schnappender Frosch aufgluckste. –

So wuchs ich allmählich zum Jüngling heran und trat endlich, da mich meine Eltern zum geistlichen Stande bestimmt hatten, als Noviz in unseren Orden, der mich nach vollendeten Studien und zurückgelegter Probezeit als Pater aufnahm. Durch bescheidene Dienstwilligkeit und eine gewisse Unverdrossenheit des Gemütes hatte ich mir bald bei meinen geistlichen Vorgesetzten Liebe und Zutrauen erworben; aber plötzlich wurde meinem Ansehen ein schwerer Stoß versetzt: man begann meine Frömmigkeit in Zweifel zu ziehen. Neid und Mißgunst waren, wie überall in der Welt, so auch in unserem Kloster anzutreffen und hatten die Gelegenheit wahrgenommen, meine harmlosen Naturstudien zu verdächtigen und anzuschwärzen. Es verlautete nämlich, daß ich die Zeit, während welcher die andern Paters im schattigen Garten beschaulicher Muße oblagen, ein Spielchen machten oder Spaziergänge in der Stadt unternahmen, mit verruchten, allen kirchlichen Dogmen hohnsprechenden Experimenten hinbringe, zu welchem Zwecke ich eine ganze Teufelsküche und die Werke aller alten und modernen Atheisten in einem Wandschranke meines Zimmers verborgen halte. Der damalige Abt, eine ängstliche, etwas beschränkte Natur, fand sich durch dieses Gerede veranlaßt, mich eines Tages in Begleitung noch zweier Mitglieder bei meinen einsamen Studien zu überraschen, alles Dazugehörige in Beschlag zu nehmen und mir nach einem Verweise anzuraten, meine Fähigkeiten künftighin einer besseren Sache zuzuwenden. Es war ein tiefer Schmerz, den ich empfand, als man mir meine Apparate und Bücher forttrug. Ein bitteres, niederdrückendes Gefühl überkam mich; aber ich erduldete alles mit christlicher Ergebung, wie es meinem Stande ziemte. Die Untätigkeit, zu welcher ich mich jetzt verurteilt sah, lastete in den ersten Tagen schwer auf mir. Aber ich bedachte, wie vieles, das mit den Anschauungen meiner Vorgesetzten nicht im Widerspruche stand, ich noch zu lernen hatte, und so fand ich bald in eifrigen philologischen Studien Trost und Beruhigung. Ich ging nach wie vor fast niemals aus, und meine Erholung war, hie und da eine Stunde auf der Orgel unserer Hauskapelle zu spielen. Ich hatte die erste Anleitung dazu schon von meinem Schullehrer im Dorfe erhalten und benützte nun die Gelegenheit, diese Vorkenntnisse zu erweitern und auszubilden. Wenn ich so in der verlassenen Kapelle saß und die Töne unter meinen Händen aufquollen, da zog ein tiefer Friede, eine lichte Seligkeit in meine Brust, und auch nicht ein Schatten dieser Welt fiel hinein.

So war mir manches Jahr in sanfter Gleichförmigkeit vorübergegangen, als der Abt plötzlich starb. Sein Nachfolger, ein wohldenkender, vorurteilsfreier Mann, der mich stets mit vieler Nachsicht behandelt und warm verteidigt hatte, ließ mich eines Tages zu sich bescheiden. ›Wissen Sie‹, sagte er, als ich bei ihm eintrat, ›daß der Verweser unserer Kirche auf dem Wyschehrad wegen andauernder Kränklichkeit um Amtsenthebung nachgesucht hat?‹ Ich bejahte es, da ich davon gehört hatte. ›Möchten Sie wohl‹, fuhr er fort, indem er mich forschend ansah, ›seine Stelle übernehmen?‹ Er mußte in meinen Zügen sogleich eine freudige Zustimmung wahrgenommen haben, denn er klopfte mir schnell auf die Schulter und sagte: ›Nun, so gehen Sie mit Gott! Es wird Sie niemand darum beneiden; der Ort ist gar zu einsam und abgeschieden, wenn auch das Amt eine gewisse Selbständigkeit und Freiheit gewährt, die Sie, das weiß ich, nicht mißbrauchen werden.‹

Mit welch wohltuenden Gefühlen ich das stille Haus hier oben bezog, können Sie sich vorstellen. Ich war der hämischen, spähenden, zischelnden Klosterkameradschaft los und konnte wieder unbehelligt meine geliebten, langentbehrten Arbeiten aufnehmen, wozu mir der neue Abt Bücher und Apparate von selbst hatte zurückstellen lassen.

Als ich nach der ersten Nacht, die ich hier oben zugebracht hatte, am frühen Morgen ans Fenster trat, fiel mein Blick auf das kleine Haus gegenüber. Mit dem Einrichten meiner neuen Wohnung beschäftigt, hatte ich es tags vorher kaum beachtet; jetzt aber zog es meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Tür und Fenster waren geschlossen; alles schien drinnen noch im tiefen Schlafe zu liegen. Nur die Hühner und Gänse trieben schon vor der Schwelle ihr Wesen, und die Tauben trippelten unruhig auf dem Dachfirste umher. Wie ich so hinsah, überkam mich eine Art Heimweh. Es war mir, als säh' ich die niedere, vom Dorfe etwas abgeschiedene Behausung vor mir, in der ich meine Kindheit verlebt hatte, und als müsse sich jetzt und jetzt die Tür öffnen und meine Mutter selig heraustreten. Und die Tür öffnete sich auch, aber die heraustrat, war ein junges Mädchen. Sie hatte ein weißes Tüchlein um den Kopf geworfen und streute aus der aufgenommenen Schürze Futter zu Boden. Ohne sich weiter um das rasch hinzustürzende Geflügel zu kümmern, schöpfte sie Wasser aus der Zisterne und begab sich wieder in das Haus zurück, aus dessen Schornstein alsbald ein leichter Rauch in die heitere Morgenluft aufstieg. Mittlerweile war auch ein munter aussehender Knabe über die Schwelle gehüpft, der nun mit dem Mutwillen seines Alters die emsig pickende Schar von den reichlich zugemessenen Körnern zu verscheuchen begann, wobei er sich an dem Geschrei und an der verworrenen Flucht der furchtsamen Tiere weidlich zu ergötzen schien. Plötzlich aber wurde er von dem Mädchen, das rasch aus der Tür eilte, beim Arm gefaßt und hineingezogen.

Drüben hatten sich die versprengten Gäste allmählich wieder eingefunden, als es an meiner Tür klopfte. Es war der Kirchendiener, um mich zur Messe abzuholen, mit welcher ich mein Amt einweihen sollte. Bevor wir gingen, fragte ich den Mann, wer dort drüben wohne. ›Der Zeugwart‹, erwiderte er, ›mit Weib und Kindern. Ein alter Knasterbart, der die Franzosenkriege mitgemacht und sich den ruhigen Posten hier oben durch manche Blessur verdient hat.‹

In der Kirche, welche gewöhnlich nur an Sonn- und Feiertagen offen ist, war kein Beter anwesend. Als ich mich beim Evangelium umwandte, sah ich das Mädchen hereintreten. Sie trug einen Korb am Arme und kniete in der Nähe des Altares nieder, an welchem ich die Messe las. Nach einem kurzen Gebete erhob und bekreuzte sie sich und ging wieder.

Als ich nächsten Sonntag zum erstenmal die Kanzel bestieg, gewahrte ich sie gleich beim ersten Hinsehen auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den Hals hinauf geschlossenes Kleid an, das ihr gar wohl zu den goldenen, schlichtgescheitelten Haaren stand. Neben ihr im Betstuhle saß eine schon ziemlich bejahrte Frau, die man sogleich für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich beständig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich gerichtet waren, und in dem Bestreben, ihm auszuweichen, und doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge scheu um die liebliche Gestalt herum, ohne daß ich den Mut gehabt hätte, sie anzusehen. Desto öfter jedoch blickte ich in den Tagen, die nun folgten, nach dem kleinen Hause hinüber, und bald paßte ich sogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die Jungfrau vor der Tür erschien. So trat ihr Bild unvermerkt immer tiefer in mein Leben hinein und verwuchs damit, eine holde Notwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte keinen Wunsch in mir an; aber wie an trüben, sonnenlosen Tagen ein dumpfer Druck auf einem liegt, so überkam mich, wenn ich sie zur gewohnten Stunde nicht sah, ein geheimes Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis sich die schlanke Gestalt, wenn auch noch so flüchtig, vor dem Hause, am Fenster oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als sei es erst jetzt vollends Tag geworden, dessen helles Licht mich mit sanfter Wärme und Heiterkeit durchströmte. –

Eines Abends spät hatte ich eben die Lampe angezündet und mich über ein Buch gebeugt, als die Klingel am Tor ziemlich hastig gezogen wurde. Ich erhob mich und trat ans Fenster. Unten im Dunkel der Bäume stand das Mädchen. Ein jäher, freudiger Schreck durchzuckte mich, und unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück.

Inzwischen hatte der Kirchendiener das Tor geöffnet und fragte nach ihrem Begehren.

›Um Gottes willen,‹ sagte sie mit ängstlicher Hast, ›meine Mutter ist schwerkrank; der geistliche Herr möchte sie versehen kommen.‹

Ich erbebte im Innersten bei dem Klange dieser Stimme, die ich zum erstenmal hörte. Ich fühlte das tiefste Mitleid mit dem armen Kinde; eine fieberhafte Angst und Sorge überfiel mich, und dennoch hätte ich zugleich aufjubeln können vor Freude. Rasch eilte ich die Treppe hinunter und begab mich mit dem Kirchendiener, der mir im Flur entgegenkam, in die Sakristei, um alles Notwendige zu holen. Als ich damit aus dem Hause trat, war das Mädchen am Tor niedergekniet. Ich bewegte mit zitternden Händen den Kelch segnend über ihrem Haupte, dann stand sie auf und eilte mir voran.

In einer ärmlichen, aber rein und sorgsam gehaltenen Stube kniete der Zeugwart am Krankenbette, eine breitschultrige Soldatengestalt mit dem Kanonenkreuze auf der Brust; ihm gegenüber der Knabe, das große Kindesauge ängstlich und verschüchtert auf mich richtend. Ich segnete die Anwesenden und trat dann zur Kranken, die, wie es schien, bewußtlos im heftigen Fieber lag. Sie bewegte unruhig Kopf und Arme und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Es fiel mir auf, daß man fast gewaltsam eine Menge Bettzeug auf sie gehäuft hatte, was die verzehrende Fieberglut des Weibes nur noch steigern mußte. Auch waren die Fenster geschlossen, und in der Stube lagerte die Luft schwül und dunstig. Ich wandte mich an den Zeugwart mit der Frage, wann und unter welchen Umständen die Krankheit ausgebrochen sei und ob man keinen Arzt zu Rate gezogen. Hierauf nahm aber gleich das Mädchen das Wort und sagte unter leisem Schluchzen, daß die Mutter schon gestern über Mattigkeit und Kopfschmerz geklagt und die Nacht sehr unruhig zugebracht habe. Sie hätten einen Chirurgen holen lassen; dieser habe schweißbringende Mittel und Verwahrung vor Luftzug verordnet und schon für den nächsten Tag Besserung in Aussicht gestellt. Statt dessen sei jedoch die Mutter von Stunde zu Stunde kränker geworden, und sie hätten sich nicht zu raten noch zu helfen gewußt.

Da ich in dem Zustande der Kranken typhöse Erscheinungen erkannte, so machte ich Vater und Tochter auf das Verkehrte dieser Behandlungsweise aufmerksam und erbot mich, falls man mir Vertrauen schenke, der Kranken Erleichterung zu verschaffen. Zugleich versprach ich, morgen mit dem Frühesten aus der Stadt einen Arzt holen zu lassen. Ein Strahl freudiger Hoffnung flog bei meinen Worten über das düstere, gebräunte Antlitz des Alten und schimmerte um so heller hinter den Tränen des Mädchens auf, als ich das Versehen mit den Sterbesakramenten für unnötig erklärte und bat, mich einstweilen nur als Arzt zu betrachten und alle meine Anordnungen zu befolgen.

Das Mädchen faltete die Hände vor der Brust und sah mich erwartungsvoll an. Ich befahl fürs erste, die schweren, dicken Hüllen von dem Körper der Frau zu entfernen, dann Tür und Fenster zu öffnen, auf daß die reine, frische Nachtluft durch die Stube streiche. Sie taten es schweigend und eilig; aber ein leiser Zug ungläubiger Ängstlichkeit lag dabei in allen Gesichtern. Die Anordnungen waren ja so ganz jenen des Chirurgen entgegengesetzt, und die Menschen sind in allem und jedem zu sehr an langsame Übergänge gewöhnt, als daß sie zu einem plötzlichen Wechsel unbedingtes Vertrauen fassen sollten.

Ich hatte inzwischen von dem Knaben ein Becken mit frischem Wasser füllen lassen. Dann begehrte ich Linnen, tauchte es ein und legte es auf die brennende Stirn der Kranken, die dabei, wie neubelebt, tief aufseufzte. Hierauf entfernte ich mich, um einiges aus meiner kleinen Handapotheke herüberzuholen.

Als ich wieder in die Stube trat, hörte ich, wie eben der Knabe sagte: ›Wie wohl der Mutter die kalten Umschläge tun! Der dumme Chirurg. Das hätte er auch wissen sollen.‹

›Siehst du, Ludmilla,‹ sagte jetzt der Zeugwart, ›wie gut es war, daß ich darauf bestand, du solltest den geistlichen Herrn rufen.‹

›Ach ja,‹ erwiderte sie, indem sie mich mit ihren großen braunen Augen tief ansah, ›aber es tat mir so weh, daran zu glauben, daß es mit der Mutter so schlimm stehe.‹

Ich hatte kühlende Pflanzensäfte mitgebracht und goß davon in ein Glas Wasser, das ich an den lechzenden Mund der Kranken brachte. Kaum spürte diese das Naß an den Lippen, als sie es, obgleich noch immer bewußtlos, instinktmäßig mit gierigen Zügen einschluckte.

Mittlerweile hatte der Zeugwart nach der Uhr gesehen, zögernd seine Uniform zugeknöpft und den Säbel umgeschnallt. ›Der Dienst ruft mich‹, sagte er, als ich ihm einen fragenden Blick zuwarf. ›Ich muß die Nachtrunde um das Fort und die Pulvermagazine machen. Es ist mir noch nie so schwergefallen wie heute.‹

›Gehen Sie unbesorgt,‹ erwiderte ich, ›ich will Ihre Zurückkunft hier abwarten. Bis dahin soll sich, wie ich hoffe, Ihre Frau schon merklich besser befinden.‹

Der alte Soldat beugte sich über die Kranke und horchte auf ihren Atem. Dann zündete er das Licht einer Laterne an und ging.

Wirklich wurde die Kranke von Minute zu Minute ruhiger, die Delirien hörten auf; das Bewegen und Zucken der Arme wurde seltener, und die wüste Bewußtlosigkeit schien einem tiefen, wohltätigen Schlummer zu weichen.

Ich hatte mich ihr zu Häupten gesetzt und hielt ihren Puls leicht umfaßt. Ludmilla war hart am Bette niedergekniet und schien mit aufgestützten Armen zu einem Heiligenbilde an der Wand zu beten. Der Knabe lag, von dem bleiernen Schlaf der frühen Jugend bewältigt, mit überhangendem Haupte in einem alten Lehnstuhl. Still quoll die Nachtluft durch das geöffnete Fenster herein und spielte mit der gedämpften Flamme der Lampe, um welche, vom trügerischen Schein in die Stube gelockt, ein schwerfälliger Falter in immer engeren Kreisen schwirrte.

Da war es mir, als neige sich das Haupt des knienden Mädchens der Seite zu, wo ich saß. Und wie es jetzt tiefer und tiefer sank, lösten sich langsam die gefalteten Hände, die Arme fielen schlaff an den Hüften hinunter, und eh' ich mich dessen versah, glitt der Oberleib der vom Schlafe Übermannten sanft in meinen Schoß herüber.

Eine nie gekannte Empfindung durchzuckte mich, als die holde Last plötzlich auf meinen Knien lag. All mein Blut schoß zum Herzen; ich fühlte, wie ich erblaßte. Was sollte ich beginnen? Sollte ich sie wecken? Und wenn ich es tat, mußte sie nicht gewahren, daß sie in meinem Schoße lag? Ein tiefes Schamgefühl überkam mich und trieb mir das Blut, heiß zum Versengen, in die Wangen zurück. Ich wagte mich nicht zu rühren. Ich spürte, wie sich die Brust der Jungfrau im festen Schlummer gleichmäßig hob und senkte, und lauschte auf ihre Atemzüge, die sich mit den leisen des Knaben und den schnellen, stoßweisen der Kranken vermischten. Mein Herz schlug hörbar; der Falter schwirrte noch immer ums Licht; draußen zirpten die Grillen.

Plötzlich erlosch knisternd die Lampe. Der Falter hatte das Flämmchen, endlich hineinflatternd, erstickt. Ludmilla machte im Schlafe eine Bewegung. Dabei berührte ihr warmer Hauch meine Hand. Ein heißer Schauer durchrieselte mich, meine Pulse flogen, und in der Verwirrung meiner Sinne beugte ich mich nieder, und mein Mund streifte zitternd das weiche, duftige Haar der Schläferin. Aber gleichzeitig, wie von einer inneren Angst getrieben, schob ich sie sanft von mir und erhob mich.

Ludmilla erwachte und schien sich lange nicht besinnen zu können, als sie sich so am Boden und im Dunkeln befand. Ich sagte mit bebender Stimme, sie möge die Lampe anzünden, die eben erloschen sei. Sie tat es schämig verwirrt und erwiderte, indem sie mit den Händen über das rosige Gesicht fuhr: ›Mein Gott, mir scheint, ich habe gar geschlafen.‹

Ich schwieg und wechselte den Umschlag der Kranken. Es tat mir wohl, die fiebernden Hände ins Wasser zu tauchen; doch kühlte es nicht die Glut, die mich noch immer durchtobte.

Bald darauf trat der Zeugwart ein. Ich wies auf die ruhig schlummernde Kranke und unterbrach errötend die schlichten Dankesworte des Mannes, indem ich mich mit dem Bemerken verabschiedete, daß für heute Nacht nichts mehr zu befürchten sei. Ludmilla hatte die Lampe ergriffen, um mir hinauszuleuchten. Ich winkte ihr zu bleiben, zog meine Hand, die sie ehrerbietig zum Kusse ergreifen wollte, zurück und eilte fort.

Draußen war eine herrliche Nacht. Die Sterne flimmerten und zuckten, und der Mond goß sein feuchtes Licht über die Erde. Ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen, stand ich plötzlich auf der Bastei, deren Brustwehr meinen wahllos stürmenden Schritten Einhalt tat. Schwüle Fliederdüfte umquollen mein Antlitz; in der Runde schmetterten die Nachtigallen.

Horch! Ferner Lärm, wie von verworrenen Stimmen, von Scherzen und Gelächter. Ein Kahn kam den glitzernden Strom herabgefahren, voll fröhlicher Menschen, die gewiß bis jetzt in Podol gezecht hatten und sich in der stillen Mondnacht auf der schaukelnden Flut bis zur Prager Brücke rudern ließen.

Immer näher kam der Kahn; immer lauter scholl die Lustbarkeit der Menschen, deren Gestalten ich deutlich erkennen konnte, wie sie, Männer und Frauen, dichtgedrängt in dem kleinen Fahrzeug saßen und standen.

Plötzlich verstummte Plaudern und Lachen, und eine weiche schmelzende Tenorstimme begann in die schimmernde Nacht hinauszusingen:

›Sei in Tönen, weich und linde,
Mir gegrüßt, o Frühlingsnacht,
Glücklich, wer mit seinem Kinde
Wonneselig dich durchwacht!
Wie ein heimliches Gewittern,
Das in dir sich leise regt,
Hör ich rings die Herzen zittern,
Hold von Liebesmacht bewegt!‹

Ein schneidendes Weh drängte sich durch meine Seele, und atemlos, wie von einem Zauber berührt, lauschte ich dem Gesange.

›Hör ich rings die Herzen zittern,
Hold von Liebesmacht bewegt!‹

scholl es, im lauten Chor wiederholt, herauf.

Jetzt glitt der Kahn gerade unterhalb des Forts vorüber, und mit kräftiger, rasch emporgeschnellter Stimme fuhr der Sänger fort:

›Aber wecken alle Träumer
Möcht' ich jetzt mit hellem Sang,
Treiben möcht' ich alle Säumer
Vor mir her mit Becherklang!
Denn mich wurmet das Genippe,
Wo ein Trunk nur kühlt und stillt,
Und mich wurmet jede Lippe,
Die nicht heiß verlangend schwillt!‹ –

›Und mich wurmet jede Lippe,
Die nicht heiß verlangend schwillt!‹

tönte es im Chor.

Ich beugte mich weit über die Brustwehr hinaus, denn immer ferner und schwächer klang es:

›Und so wie der echte Zecher
Jeden Tropfen froh genießt,
So verschmäh' ich rascher Brecher
Keine Blüte, die da sprießt –‹

Ich hörte nur mehr die immer leiser tönende Melodie des Liedes, noch einmal den Chor fern aufrauschen; dann war alles still.

Jetzt überkam mich eine tiefe, wilde Sehnsucht und drohte mir die Brust zu zersprengen. Es war mir, als wäre mein Glück an mir vorübergezogen und rufe und winke durch die Nacht nach mir zurück mit geheimnisvollen Stimmen und leuchtenden Händen. In unsäglichem Drange breitete ich die Arme in der Richtung aus, in welcher der Kahn meinen Blicken entschwunden war. Dann warf ich mich nieder auf das feuchte Gras, und eine glühende Träne rann aus meinem Auge mit dem kühlen Tau des Himmels zusammen.«

Er schwieg einen Augenblick, wie um eine innere Erregung auszittern zu lassen, und fuhr dann in etwas gedämpftem Tone fort: »Am Horizont stand schon ein blaßgelber Streif, als ich nach Hause zurückkehrte. Ich warf mich angekleidet aufs Bett und versank in einen kurzen, von wüsten Traumbildern geängstigten Schlummer. Beim Erwachen lag das Dasein fremdartig vor mir, ein einziger großer Schmerz. Der Arzt erschien, und ich ging zögernd mit ihm hinüber. Er erklärte den Zustand der Kranken für keinen sehr gefährlichen und verordnete einiges, während ich mit bebender Seele abseits stand und den Blicken Ludmillas auswich, die sie, um die Mutter beschäftigt, voll innigen Dankes gegen mich aufschlug. Ich war froh, als ich mich mit dem Arzte wieder entfernen konnte. Es litt mich aber nicht zu Hause, sondern ich irrte zeitvergessen in der Zitadelle umher, warf mich hier und da erschöpft auf die Schanzen nieder und brütete vor mich hin. In dieser dumpfen, ruhelosen Untätigkeit vergingen die nächsten Tage. Ein schleichendes, markverzehrendes Feuer war in meinem Innern entglommen und lohte oft in so wilden, nie gekannten Wünschen auf, daß ich vor mir selbst erschrak. In meiner Seelenangst schloß ich mich dann oft stundenlang in der kühlen, dunklen Kirche ein, um durch reumütiges Gebet mein Inneres zu läutern und der schwülen Traumhaftigkeit meiner Sinne Herr zu werden. Aber umsonst: auf der Lippe, die das peccavi sprach, zitterte die wonnige Berührung mit den blonden Haaren Ludmillas nach, und wie geisterhaft fühlte ich mich von den Sirenenklängen jenes Liedes umweht. Selbst an der Orgel, deren Töne mich sonst über alles Irdische hinausgehoben, fand ich keine Beruhigung, keinen Trost. Ihr feierlich ernstes, gleichmäßiges Rauschen stimmte nicht zu dem Zwiespalte in meiner Brust, der, das fühlte ich, nur auf einer Geige in wildklagenden Akkorden, grellen Läufen und schneidenden Kadenzen hätte ausklingen können. Ein Opfer dieses Zwiespaltes, nannte ich mich selbst einen pflichtvergessenen Priester, der mit unwürdiger Hand den Kelch erhebe und dessen befleckte Lippe das Wort Gottes entheilige. Und dann nahm ich mir vor, nie mehr die Schwelle des Zeugwartes zu betreten, was ich doch schon der Kranken halber von Zeit zu Zeit tun mußte, hätte mich auch nicht die Sehnsucht, Ludmilla zu sehen, hingetrieben. Gleich darauf aber beklagte ich mich wieder als einen unglückseligen Menschen, der inmitten der Freuden und wonnigen Genüsse dieser Welt an einen düsteren Felsblock geschmiedet sei, und weinte heiße Tränen darüber, daß ich das unauflösbare Gelübde abgelegt. – Fast eine Woche lang war es mir gelungen, die drängende Sehnsucht zurückzudämmen; länger aber ertrug ich's nicht. Ich umkreiste, wie damals der Falter die Lampe, immer enger das kleine Haus und trat endlich hinein.


 << zurück weiter >>