Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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VI

Die Kälte des Winters stieg. Es war schwer, sich ihrer zu erwehren. Die Holzvorräte waren schon jetzt, Mitte Januar, so stark verbraucht, daß der Wirtschafter Blank mit Fritz ein paar Fuhren von der königlichen Försterei kaufen und holen mußte, damit nicht in dem kleinen Forst von Treuen gefällt zu werden brauchte, wo für dieses Jahr nur noch gutes Nutzholz stand. Alles war tief vereist. Die Erde krachte bei jedem Schritt, die Fensterscheiben sprangen, der Brunnen mußte mit Mühe jeden Morgen aufgetaut werden, und in den Ställen fand man eines Morgens ein Kalb, das am Rande der Herde gelagert hatte, erstarrt am Boden. Die Pferde wurden in warme Decken gepackt und die Gelenke mit wollenen Tüchern umwickelt. In den Geflügelställen hatte Fritz, heimlich und stolz auf seinen Einfall, Tag und Nacht zwei brennende Stallaternen aufgehangen, um so das Eis, das sich von der Feuchtigkeit der Tiere um die Stangen gebildet hatte, aufzutauen. Vier große schwere Schweine waren krepiert, da sie das Futter, das noch dampfend in die Ställe gebracht wurde, damit es auf dem Wege über den Hof nicht gefriere, kämpfend mit der sofort sich bildenden Eiskruste, zu heiß verschlungen hatten. In der großen, hellen Küche erlosch das Feuer Tag und Nacht nicht mehr. Bis spät abends brannte das Licht, und alle saßen da versammelt. Erst wenn die Müdigkeit sie ganz übermannte, liefen die Leute, tief in ihre Kleider vermummt, schnell ins Gesindehaus, und in den Kleidern legten sie sich in die eisigen Betten. Trotzdem erkrankte niemand, und der Herr sorgte für alles. Um das knappe Holz für die Katenwohnungen zu sparen, ließ er Arbeiten verrichten, die alle, Tagelöhner, Arbeiter und Handwerker, möglichst lange in dem erwärmten Hause vereinigen konnten. Da saßen in einer Ecke drei Mägde über sorgsam gehüteten Federsäcken und schleißten Federn, in einer anderen, am Fenster, saß der Tischler und schnitzte an den Truhen, die er für der Söhne Reise im Frühjahr zimmerte. An den mittleren Fenstern hockten in einem Kreis zusammen die Kinder und die jungen Hirtinnen, die Weiden schälten, schnitten und zu Körben und Obsttragen verflochten. Der riesengroße Tisch, der sonst die ganze Front der Fenster eingenommen hatte, war jetzt an die Ofenseite gerückt. An seiner Mitte saß Emma und nähte Wäsche oder strickte, ihr zu Seiten saßen vier ältere Weiber und spannen. Zu den Stunden, in denen die Mahlzeiten gekocht wurden, mischte sich in den Geruch von Menschen, Holz, Leim und Farbe auch noch der Dunst des Essens. Aber dann war es auch am wärmsten. Sobald das Feuer nur etwas nachließ, schlich sich die furchtbare Kälte ein, trotz der handbreit mit Moos verstopften Fenster, trotz der mit Schafwolle gepolsterten Türspalten. Alle begannen dann mit den Füßen zu stampfen, im Zimmer umzuwandern, einen besorgten Blick durch die Fenster nach den Ställen werfend, von wo ab und zu der Ruf eines Tieres dünn und klagend durch das Schweigen der eisigen Luft herüberklang. Zweimal in der Woche aber ließ Emma auf Befehl des Herrn die beiden kupfernen Kessel in der Waschküche heizen, da das Wasser zum Waschen in dem unheizbaren Gesindehaus stets gefroren war. Dann wuschen sich alle in dem warmen, dampfenden Raum. An den Sonntagen hatte der Herr angeordnet, daß der Wirtschafter eine Stelle aus der Bibel las, die eines der Kinder mit geschlossenen Augen aufschlagen mußte; die Söhne beteten abwechselnd das Vaterunser. Denn zur Kirche ging keiner mehr, seit Emma mit den Kindern eines Sonntagsmorgens auf halbem Wege umkehren mußte, da die eisige Kälte die Luft benahm und ihnen alle Glieder bis zum Herzen erstarrt waren.

Der Herr war nur zu den Mahlzeiten unter ihnen. Aber sie konnten fühlen, daß er, wie früher, wieder für sie sorgte und sie überwachte. Er beriet sich viel mit dem Wirtschafter, wie er im Frühjahr die Herden vergrößern, die Ernten steigern, aus dem Forst Nutzholz am besten verkaufen könne, kurz, wie die Erträgnisse der Pacht aufs möglichste zu steigern wären. Denn durch das Unglück waren nicht nur in kurzer Zeit die ersparten Gewinne verzehrt, sondern auch Schulden gemacht worden. Zudem stand seine Absicht fest, die Söhne im Frühjahr in die Stadt auf Schule zu schicken. Auf die Einwendungen des Wirtschafters, daß dies im Grunde doch durchaus nicht nötig sei, da die Kinder nirgends besser lernen könnten als hier auf dem musterhaft gehaltenen Gute, das doch alles umfaßte: Felder, Vieh, Jagd, Fischerei und die Werkstätten dazu, konnte er sachlich nichts einwenden. Aber in einer neuen, überraschenden Mitteilsamkeit bekannte er ihm, daß es ihn dränge, die Kinder spätestens im Frühjahr wegzugeben, obwohl Geldsorgen und Schwierigkeiten groß seien. Er habe ein Gefühl, daß jetzt, nach dem vielen Unglück, noch Böses, Furchtbares im Hause geschehen werde. Und davor sollten die Kinder behütet sein.

Zu den wirtschaftlichen Beratungen zog der Vater von Zeit zu Zeit auch den ältesten Sohn herbei und übergab ihm die kleine Buchführung über die Milchwirtschaft, die früher die Frau geführt hatte. Der Knabe war sehr stolz auf dieses Amt, doch hatte er nur wenig zu tun. Die Kühe gaben wenig Milch, es konnten nur mit großer Mühe kleine Mengen verbuttert werden, da die Milch sofort vereiste. Zum Markt fuhr niemand mehr. Es wurden viele Hühner geschlachtet, da sie bei der Kälte nicht legten, zu den Kartoffel- und Gemüsegruben konnte man nicht gelangen, so tief und fest war die Erde gefroren. Aber trotz dieser schweren Zeit war ihnen allen jetzt das Leben leichter, das schwere, unfaßbare Unglück war zurückgewichen vor den Kümmernissen, Mühen und kleinen Freuden der Gegenwart. Wenn sie alle in der riesigen Küche um den großen, wärmeausstrahlenden Herd sich zusammendrängten, durch die Fenster die gefährliche, strahlende Pracht der Wintertage hereinleuchtete und sie sich drinnen doppelt geschützt vor ihrem eisigen Atem der Arbeit hingeben konnten, die leicht war und mit Freuden ihnen von der Hand ging, da fühlten sie sich froh und zufrieden, erzählten und lachten und summten dem hereinsinkenden Abend entgegen mit leisen Stimmen gemeinsam ein Lied, einen Choral oder ein Weihnachtslied, das sie am Fest nicht hatten singen können, da die Frau im Sterben gelegen hatte.

Nur in zwei Menschen war neue und böse Unruhe erwacht, in den beiden Menschen, die gerade während der schlimmsten und bedrücktesten Zeit mit sich selbst in Frieden gelebt hatten, in Emma, der Mutter, und Fritz, ihrem Sohn.

Vorgeahnt seit dem Tode der Herrin, erweckt durch dieses seltsame, fast mit Gewalt herbeigerufene Sterben der schon genesenen Frau, dann klar aufgetaucht an dem Abend, da der heimgekehrte Sohn des Herrn ihr von dem Tode des Kindes Anna im fernen Land erzählt hatte, war jener große geheime Schrecken in ihr, um welches bösen Menschen willen das viele Traurige, das nun nicht mehr Unglück allein war, das Böses, Fluch oder Strafe bedeuten mußte, geschah. Emma ward von da an ganz verändert Ihr Herz, das bis dahin selbst in tiefster Trauer und Verzweiflung noch immer geliebt hatte den stummen, einsamen Herrn, die zerstörte Frau, die verwaisten Kinder und mehr noch als je und beglückender als je den eigenen Sohn, war nun angefüllt mit kalter Furcht, mit angstvollem Mißtrauen gegen alle. Mit geheim forschenden Blicken, nicht mehr mit bedingungsloser, liebender Hingabe betrachtete sie den Herrn, überprüfte sein Wesen in all der Zeit und dachte mit Verwunderung daran, daß er jetzt heiterer war als früher, jetzt, da doch alles verloren war und er hätte am traurigsten sein müssen. Mit Mißtrauen betrachtete sie jeden einzelnen aus dem Gesinde, wenn es ahnungslos um sie herumsaß, und rief sich den Lebenswandel jedes einzelnen ins Gedächtnis. Aber die Sünden, von denen sie wußte, waren nicht viel und nicht groß. Ein paar unerlaubte Küsse zwischen einem verheirateten Knecht und einer jungen Tagelöhnerin waren bald entdeckt und durch ein paar Ermahnungen des Herrn zur Ordnung gebracht worden, kindliche Diebstähle zwischen jungen Mägden um ein Tuch oder eine Kette waren geschlichtet und bestraft worden, es wurde gebetet und gearbeitet, und warum sollten die Gedanken schlimmer sein als die Taten, so daß Strafe und böses Verhängnis über dem Hause lasten mußte? Auf Zucht und Ordnung war stets streng gehalten worden, und tagaus tagein war nichts geschehen als die paar Späße im Stall, es war nicht einmal nötig gewesen, ein Mädchen schnell zu verheiraten, seit dem vorigen Erntefest war niemand betrunken gewesen, es hatte keinen Streit gegeben. Woher nun das Böse, wer war unter ihnen, um dessentwillen sie heimgesucht wurden? Emma wurde menschenscheu und mußte oft ihre angstvollen, mißtrauischen Blicke verbergen, denn sie schämte sich ihrer. Dann sagte sie sich wieder, daß das Unglück doch nun vorbei sei, das Traurigste sich doch nun erfüllt habe, das Kind unwiederbringlich verloren war, die Frau tot. Aber sie trieb eine andere erwartungsvolle Unruhe. Sie betrachtete auch ihren Sohn verstohlen, wenn er es nicht sah, aber sie bemerkte nur, daß sein schönes, volles Gesicht schmaler und blasser geworden war. Mit Rührung erinnerte sie sich daran, wie unermüdlich und schwer er diesen Sommer gearbeitet hatte, und sie schob ihm besonders große und gute Bissen zu. Da sie, Mutter und Sohn, jetzt fast ununterbrochen in der Gemeinschaft mit den anderen lebten und nicht mehr wie früher in den Morgenstunden zufällig sich allein begegneten, konnten sie sich nicht mehr die kleinen zärtlichen Umarmungen erweisen, die so spät erst zwischen ihnen erstanden waren. Oft machte sie sich Vorwürfe, ihn in seiner Kindheit nicht zärtlicher geliebt zu haben, und jeden Abend betete sie für ihn. Nein, während der schlimmsten Zeit, inmitten der größten Verzweiflung, inmitten der verfinsterten Gemüter hatte sie ihn allein stets heiter, furchtlos, unverändert gesehen. Wenn sie an den Gesang seiner schönen, sanften Stimme zurückdachte, wie er an den Kirchentagen von der Empore herabgeklungen war, dann hielt sie ihn für auserwählt, als den einzigen unter ihnen, der rein und schuldlos war.

Er aber, der in der Weite und Freiheit der sommerlichen Zeit so leicht und gut sich selbst, dem Abgrund seiner Seele hatte entfliehen können, saß nun mit haßerfüllter Unruhe inmitten des Kreises, der ihn, die Söhne und die Hirtinnen, um eine Arbeit geschart, umfaßte. Durch die furchtbare Kälte aus seinem Alleinsein in die Nähe von Menschen gezwungen, war er von Wut und Qual erfüllt. Krampfhaft sich zu Fleiß und Ruhe zwingend, flocht er mit an einem Weidenkorb, mit äußerster Sorgfalt darauf bedacht, daß seine Finger sich nicht mit den Händen der anderen berührten. Die jungen Leute lachten viel. Die Söhne neckten die Mädchen, banden ihre langen Zöpfe an die Stühle fest und flochten heimlich das Rockende der kleinen Minna in das Weidengeflecht mit ein. Als sie dann aufstehen wollte, ward sie festgehalten und zudem war der Rock so eng geworden, daß er sich bis zu den Knien hinaufschob und ihre Beine mit den zarten Formen beginnender Weiblichkeit zeigte. Knaben und Mädchen erröteten, aus Verlegenheit begannen sie sich miteinander zu prügeln, und es dauerte lange, bis der Rock wieder frei war und die beiden Hirtinnen, halb weinend, halb lachend, hochgeröteten Gesichts zur Tür hinausschossen. Fritz saß still, mit zusammengepreßten Lippen, rührte sich nicht, lachte nicht. Er krampfte seine Hände fest an den Rand seines Geflechtes. Langsam füllte sich sein durch lange Zeit unverändert weiß und ruhig gebliebenes Gesicht mit schwer vordrängendem Blut, überzog sich mit schwarzer, drohender Röte, sein Mund öffnete sich, die Lippen zitterten. Schnell stand er auf und ging hinaus, ging mit stoßenden, in den Knien einknickenden Schritten über den Hof, flüchtete vor Menschenwärme und Eiseskälte in den Stall.

Hier war es dunkel. Der sonst schwere Geruch von Dünger und Streu war dünn und stechend in der Kälte. Eine warme Dunstwolke schwebte, nur eng und scharf umgrenzt, über den dicht aneinandergedrängten Tieren, die von Zeit zu Zeit ein trübes, klägliches Brüllen ausstießen, unter dem das anhaltende leise Knirschen ihrer mahlenden Kiefer erstickt wurde. Ihre großen dunklen, ineinandergelagerten Leiber hoben und senkten sich wie die heimlich erregten Wellen eines stehenden Wassers in der Dämmerung, nur die Euter der Kühe schimmerten licht hervor. Fritz sah sich um. Er wollte arbeiten, aus seinem Körper die gesammelte Wut, die quälende Kraft herausschleudern. Doch es war um diese Stunde nichts zu tun. Er stand still und starrte auf die Tiere. Die Kälte umzog ihn von allen Seiten, legte sich um ihn wie ein schwerer, enger Panzer aus Eis. Er erstarrte. Er fühlte nur noch sein Herz, das in weichen, lauen Schlägen lockend auf und nieder stieß, er fühlte wollüstig seine Zähne, die er knirschend aufeinanderpreßte. Sein böses, wildes, mörderisches Gesicht stieg auf, die schönen Züge weiteten sich aus, unter den geschlossenen Lidern rollten die Augen in jagenden Kreisen.

Die zeugenden Gewalten, wie sie nach dem mächtigsten Gesetz jedes lebende Geschöpf in sich trägt, wie sie, zu tiefst ihm selbst verborgen, auch in seinem Blute wohnten, wie sie eingeboren auch in seinem Körper mitgewachsen waren von der ersten, rätselhaften Sekunde an, in der, weit noch vor der Geburt, sein Leben begonnen hatte, jene Gewalten, wie sie Sturm und Flug der menschlichen Seele schufen, allen anderen zu Glück, zu liebevoller Vereinigung, ihm aber zu Einsamkeit und böser Tat, ihm waren es furchtbare Gewalten, ihm schufen sie eine nie glücklich zu sättigende Lust.

Doch Fritz wußte nicht, daß er litt. Sein böses Glück war ihm reines Glück. Er hatte keine Erkenntnis, darum war Erbarmen mit ihm. Aufgerührt war sein schweres schwarzes Blut, doch Eiseskälte hielt seinen Körper umpanzert. Er stand still, fühllos die Glieder, das Herz bewegt von weichen Schlägen, Kälte und Dämmerung um ihn, die stummen, dunklen Tiere in verschwommener, breiter Masse vor ihm gelagert. Da weckte ihn das Stampfen der Pferde, das gedämpft, aber unaufhörlich aus den hinteren Ställen zu ihm drang. Er wandte sich um und versuchte zu gehen. Seine steifen Beine konnten ihm kaum gehorchen, er schob sie Schritt für Schritt wie zwei hölzerne Stecken voran, er lachte, denn es war wie im Rausch. Endlich kam er in den Pferdeställen an. Wie Donnern umdröhnte sein blutgefülltes Ohr das Stampfen der Pferde, die mit den Köpfen dicht aneinandergedrängt standen, während ihre Hinterbeine ausschlugen. Seine Glieder betäubt durch Kälte, sein Ohr durch das Donnern der Hufe, die Augen blind durch Stöße heißen Blutes, die Kehle umkettet von den ineinanderhackenden Herzschlägen, näherte sich Fritz den Tieren. Hölzern, steif und langsam hob er seine Hand und drängte sie um die Nüstern eines Pferdes. Aber die Hand war erstarrt, er fühlte nichts. Er fühlte nicht die böse Lockung weichen Fleisches, fühlte kein zweites Herz mit jagenden Schlägen im Innern seiner Hand. Er wartete, voll Angst, voll Begierde. Schon begann die Hand sich langsam an den weichen feuchten Nüstern zu erwärmen, schon begann sie feuchte, laue Liebkosung zu fühlen, sammetweiche Haut, die sich einschmiegte in das erwachende Innere seiner Hand, schon antwortete sein Herz in drängenden Stößen, da traf der Hieb eines ausschlagenden Tieres gegen seine Schenkel. Er taumelte zurück und stürzte zu Boden. An den erstarrten Gliedern fühlte er keinen Schmerz, aber als sein Kopf auf den Boden aufschlug und nun stärker dröhnte als die Schläge des Herzens in der Brust, öffnete sich sein in den Zähnen festgebissener Mund, und er lachte, lachte sein lautloses, zischendes Lachen, das seinen steif gefrorenen Körper nicht erschüttern, sondern ihn nur wie ein Stück Holz hin und her rücken konnte. Als er im Lachen endlich allen lustgespannten Atem ausgeströmt hatte, erhob er sich mühsam, schob sich wieder Schritt für Schritt in den Kuhstall zurück, und plötzlich ergriff ihn der Gedanke, daß Ordnung sein müsse. Er sah an sich hernieder, doch alles war gut, die Kleider nicht geöffnet. Er sah sich in der Dämmerung um, doch es gab nichts zu verbergen, nichts zu vergraben. Endlich erblickte er in einer Ecke eine breitgezinkte Mistgabel. Mit dem Aufgebot ungeheurer Energie packte er sie mit seinen steifen, fühllosen Händen und begann den am Rande des Stalles festgefrorenen Dung, der in einer dicken Kruste den Boden bedeckte, mit der Spitze der Zinken loszustechen, aufzukratzen und zusammenzuschieben. Als er, schon ermüdet und tief beruhigt, noch einmal in eine von Dunkelheit ganz verhüllte und mit alter Streu hoch angefüllte Ecke stach, fühlte er plötzlich weichen Widerstand in den Zinken der Gabel. Er zog sie zurück, an den zwei mittleren Zinken hing, durch Bauch und Brust gespießt, eine Ratte. Sie schrie, er konnte im Dunkeln nur das rasende Zappeln ihrer Pfoten erkennen, das Aufblitzen ihrer schwarzglänzenden Augen, und, als er die Gabel langsam höher hob, einen Tropfen dunkelroten Blutes, das in das Schwarz des Bodens niederfiel. Langsam senkte er die Gabel wieder, langsam schob er seinen rechten Fuß vor, schob die Ratte vorsichtig von der Gabel herunter und begrub sie unter seinem Tritt. Er hörte nur das leise Krachen der Knochen, sein Fuß war fühllos, schwer wie Stein niedergeschlagen. In der erfrorenen Erde konnte er keine Grube graben, so verscharrte er das tote Tier in einer Höhlung, die er in dem vereisten, zusammengescharrten Mist mit der Gabel auskratzte, und schichtete einen sauberen Haufen auf, den er mit frischer Spreu bedeckte. Dabei begann er leise zu singen, hoch, hell, sanft, und nach und nach fielen die Stöße schneller von seinen steifen Händen. Schon hörte er das Klappern der Melkerinnen, die mit ihren Eimern über den eisigen Hof gelaufen kamen. Mit weißem, ruhigem, sanft geebnetem Gesicht ging er ihnen entgegen, es war alles in Ordnung, es war nichts geschehen. Leicht, unfühlbar ihm selbst war sein Körper; als er über den Hof ging, war ihm, als flöge er, obwohl er schwer und mühsam seine Beine vorwärtssetzen mußte. Obwohl die Kälte, die seinen Körper schon längst erstarrt hielt, nun auch sein Gesicht überfiel, Wangen und Ohren ihm zu schmerzen begannen, wollte er nicht zurück in die wärmende Küche, nicht in die Nähe der Menschen. Er stand zögernd noch in dem eisigen Hof, da traf er an der Tür die Mutter. Sie hatte sich fest in ein großes Tuch eingewickelt, das sie beim Sprechen gegen ihren Mund hielt. Sie sah in sein blasses, jetzt von der Kälte ganz zusammengeschrumpftes Gesicht. »Wo warst du?« fragte sie.

»In den Ställen habe ich ein bißchen Ordnung gemacht.«

»Wozu bei der Kälte? Du kannst krank werden, das will der Herr nicht. Wir können es jetzt ruhig bei dem Nötigsten belassen. Die Vesper hast du auch versäumt. Nun schnell, schaff Wasser!«

Ohne einzutreten und sich zu erwärmen, lief Fritz zum Brunnen. Aber das Wasser, das mittags noch geflossen hatte, war längst wieder vereist. Er lief also zum Schafstall, holte ein Bund Stroh, umwickelte damit die Brunnenröhre, dann ging er in die Küche, um ein brennendes Scheit aus dem Herd zu holen. Sie saßen alle noch beisammen, die Söhne mit den Entenhirtinnen, und lachten. Sie sahen nicht nach ihm hin, denn niemand wollte gern aus der Wärme hinaus auf den Hof, um ihm etwa helfen zu müssen. Fritz ergriff ein glimmendes Stück Kienholz; wie schwere Scharniere klappten die steifen Gelenke seiner Finger zu und hielten das am Ende noch sanft erwärmte Holz fest; dann ging er zum Brunnen und steckte das Stroh in Brand. Es flammte auf und verflackerte, er mußte zweimal neues Stroh holen und entzünden, bis er endlich die Pumpe in Bewegung setzen und mit Mühe zwei Eimer Wasser gewinnen konnte. Mit Gewalt, mit heftigem, arbeitseifrigem Willen zwang er seinem armen, erstarrten und völlig betäubten Körper die Bewegungen ab. Am Abend, der schnell kam, vermochte er nichts zu essen. Mit Mühe schleppte er sich hinaus aus der Wärme, die ihn zu peinigen begann, über den Hof in seine eisige Kammer. Wie ein Stück Holz konnte er sich noch in Kleidern und Stiefeln in das Bett werfen, dessen zurückgeschlagene Federdecke, schwer und prall gefüllt, durch die Last seines Körpers niedergezogen, von selbst auf ihn herabfiel und ihn bedeckte.

Doch der gute und tiefe Schlaf, der ihm immer geschenkt war, kam nicht. Von seiner Brust ergoß sich langsam ein feiner Strom von Wärme. Sein Herz erwachte; leise, wie aus weiter Ferne erst, kamen seine Schläge, dann immer näher, schneller, härter, würgender fielen sie gegen seine Kehle, hielten mit starkem Druck seinen Atem gefangen, bis plötzlich, mit Macht sich durch die enge Kehle pressend, ein Glutstrom sein Gesicht, seine Augen, sein Haupt bis tief zurück in den Nacken überflutete. Wie der Feueratem heller, lodernder, beißender Flammen überbrannte es seine Lippen, rauschte es wie das knatternde Flügelschlagen eines gewaltigen Vogels gegen sein Ohr, blendete mit züngelndem Schein seine Augen, die geschlossenen Lider wie Glas durchleuchtend. Sein Atem stieß mühsam, halb erstickt in der von Hitze aufgeblähten Brust auf und nieder; er senkte den Kopf tief gegen seine Schulter, Kühlung suchend in der eisigen Kälte, aus der doch nur neue Glut ihm entgegenschlug. Sein eisesgepanzerter Körper zerbarst in Schmerzen und höllischer Glut.

Er fiel in Traum. Er hatte noch nie geträumt, verborgen war er sich selbst bisher geblieben. Jetzt aber kehrte sein Verlangen, schwarz und böse, ihm aber doch rein, keusch und natürlich, verworren, ihm aber doch klar, vernichtend und mörderisch, ihm aber doch Jugend, Kraft und Glück bedeutend, in der Kälte im Stall vereist und betäubt, jetzt kehrte es zurück und strömte aus in seinen glühenden Traum.

Während er, um sein Haupt aus dem furchtbar ihn umlodernden Brand zu retten, es auf den Kissen unruhvoll hin und her wandte, lag sein Körper starr, unbeweglich, in gelähmtem Krampf. Im Traum stampfte sein Herz mit wilden Schlägen auf. Im Traum waren seine Hände schwer gefüllt mit lauer, weicher Feuchtigkeit. Es zog ihn hinab. Unter seinen Füßen zerfloß die Erde, er sank regungslos, wie hoch aus der Luft herabgelassen, mit beiden Füßen langsam in Wasser, das in kalten, schwarzen, schlammigen Wogen unter ihm sich ausbreitete.

Seine Brust, sein Haupt standen noch in der Luft, wurden umweht von blendender, sengender Glut, die mit heißen, scharfen, nadelfeinen Stichen ihn umgab, doch langsam sank er tiefer in die schwarze kühlende Wasserfurche ein, die seine Füße gruben. Er schmiegte die Arme eng an seinen Körper, die Hände, übereinander gelegt, preßte er zart und doch fest gegen die Tiefe seines Leibes. Aus der Tiefe seines Leibes, zwischen seinen beiden Schenkeln hervor, flammte plötzlich wilder Schmerz auf, doch je stärker es schmerzte, desto fester preßte er seine Hände an, desto schneller sank er tiefer und tiefer in den weichen, kühlenden Morast ein, der langsam bis zu seinen Hüften drang und mit leisem Glucksen gegen die Spitzen seiner im Schoße ruhenden Hände pochte. Plötzlich waren aber auch seine Hände überschwemmt, er breitete sie auseinander, sie füllten sich mit dem schweren, schwarzen, kalten Schlamm. Weich, wie kühles Fleisch ruhte er in ihrer Höhlung, und plötzlich begann er zu leben, Pulse klopften leise auf, ihr Schlagen strömte in seinen Körper ein, in jagenden Doppeltakten antwortete sein Herz. Gestalten bildeten sich. Aus den schlammgefüllten Händen entsprangen weich, in gleitenden Sätzen, dunkle Leiber hüpfender Tiere, Fröschen gleich. Sie hockten still einen Augenblick lang auf den schwarzen Wellen zu seinen Füßen, die weichen Leiber blähten sich auf und sanken wieder ein unter den springenden Schlägen der Herzen, matt blinkten Augen auf, dann zerfloß alles wieder zu Schlamm. Er strebte, die Hände loszureißen aus der Tiefe seines Leibes, sie aus dem gleitenden Dunkel des Morastes aufzuheben zur Brust, die noch rein und frei in lichter, brennender Glut stand. Er wollte die ausgekühlten Hände auf sein jagendes Herz legen, aber er sank ein, tiefer in sich selbst, der sich bis zu den Hüften schon in weichen Schlamm aufgelöst hatte, er selbst war Schlamm und aufquellende Tiere in seinen Händen. Da durchfuhr wie ein Messerhieb scharfer Schmerz sein Herz. Mit Gewalt rissen sich seine Hände aus dem zähen Schlamm, schwangen sich hoch, weit über sein Haupt empor, das er zu ihnen erhob. Von oben fiel Licht auf ihn herab, und aus den erhobenen Fäusten rieselte Blut, überfloß heiß seine Augen, seinen Mund, rieselte über den Hals zur Brust, umspülte sein Herz und trat in brennenden Strömen an seinem Leib wieder hervor. Der kühlende Schlamm zu seinen Füßen war verronnen.

Er beugte sich nieder. Mit den Händen grub er Erde auf, um sein niederrinnendes Blut zu verbergen. Er scharrte und verdeckte, aber von seinem Leib rann es unaufhörlich nieder, und immer wieder neue Spuren mußte er verbergen. Und plötzlich kam der Herr über den Hof geschritten, und er flüchtete zum Teich, der gleißend, unbeweglich wie Metall vor ihm lag. Er stampfte durch hochaufgeschichtete Weiden, die nach seinen Beinen stachen, ihn überflutete Schmerz und Wut. Er ergriff eine Weidenrute, bog sie zusammen, und plötzlich zersplitterte sie in seiner Hand. Da glitt zwischen seinen Beinen hervor die kleine Anna, sie lachte, rosa und feucht schimmerte die Höhle ihres geöffneten Mundes. Das Kind glitt an ihm hoch, saß auf seinen Händen, kühl und weich ruhte ihr Fleisch in ihnen, er stürzte hin, nieder auf sie, beide stürzten nieder auf das Wasser, an dessen Rand sie standen. Aber das Wasser war fest, ein glühender Rost, das Kind unter ihm verschwand, nur er sank nicht ein, auf hartem, brennendem Lager wand sich sein Körper.

Er erwachte und erschrak. Hatte er nicht die kleine Anna gesehen? Sie war doch verschwunden seit so langer Zeit, alles hatte nach ihr gesucht, niemand hatte sie gefunden. War denn nicht alles in Ordnung? Er wollte sich erheben, in den Hof laufen, aber sein Körper rührte sich nicht. Furchtbarer, glühender Schmerz marterte ihn. Die Mutter mußte ihn tragen, dachte er. Die Mutter mußte ihn heben und an sich drücken, sie mußte ihn waschen, von seinem Leib den Schlamm, das Blut abwaschen, ihn heilen, denn er selbst konnte es nicht. Dann war alles gut.

Am nächsten Morgen konnte er nicht aufstehen. Das einzige, was er bewegen konnte, war sein Kopf, doch auch der sank schwer, ohnmächtig zurück, wenn er ihn erhob. Als zur gewohnten Zeit die Ställe, die zu besorgen jetzt sein Amt war, noch nicht offen waren, eilte die älteste Milchmagd, ihn zu wecken. Als er nicht hörte, machte sie Licht und sah ihn, fiebernd, mit dunklem, aufgeschwollenem Gesicht. Sie rief Emma, die Mutter. Die kam herangestürzt. »Was hast du?« fragte sie erschreckt den Sohn. »Hast du Schmerzen?«

Er antwortete nicht, hatte sie wohl gar nicht gehört.

Sie versuchte ihn auszukleiden, doch die geschwollenen Füße staken so fest in den Schuhen, daß sie sie nicht herunterbrachte. »Was hast du,« sprach sie von neuem, »du bist doch nicht krank, warum hast du dich mit den Kleidern ins Bett gelegt?« Als sie wieder keine Antwort erhielt, erschrak sie tief. Sie erinnerte sich plötzlich an die furchtbare Krankheit, die er als Kind gehabt hatte, damals, nach der einzigen Begegnung mit dem Vater. Hastig ergriff sie die Kerze und leuchtete in sein Gesicht. Aber es war nicht böse, nicht teuflisch, wie damals, als sie sich vor ihm gefürchtet hatte. Es war rot und heiß und krank, aber es war das vertraute Gesicht ihres Kindes. Sie lief nun schnell in die Küche und holte ein Messer, schnitt die Stiefel auf und zog sie ihm vorsichtig von den hartgeschwollenen Füßen herab. Auch die Strümpfe mußte sie aufschneiden, sie waren innen feucht von Blut. Jetzt erschrak sie wieder sehr. Sanft, doch schnell entkleidete sie ihn völlig und suchte nach der Wunde. Doch die Kammer war eisig und dunkel. Sie hüllte ihn in eine Decke ein, sie nahm ihn wie ein Kind auf ihre starken Arme, leicht lief sie mit ihm hinüber ins Haus, trug ihn in ihre Kammer, legte ihn in ihr Bett. Hier war die Kälte nicht so eisig, da von der durchlaufenden Küchenwand Wärme ausstrahlte. Nun holte sie Schnee und rieb die erfrorenen Füße ab. Dann kam sie mit warmem Wasser und einem weichen, sauberen Tuch. Mit der selbstverständlichen, ruhigen Bewegung einer Mutter schlug sie die Decke und das Hemd zurück, um die Wunde zu suchen und zu waschen. Sie fand an seinem rechten Oberschenkel, nahe dem Leib zu, eine große, schwarze, blutunterlaufene Beule, deren Mitte aufgerissen war und blutete. Es war die Wunde von dem Pferdehuf, der ihn gestern im Stall getroffen hatte. Leise stöhnte Fritz vor Schmerz. Doch Emma wich zurück. Ihre mütterliche, hilfsbereite Hand sank nieder, glühende Röte überzog ihr Gesicht, Entsetzen fühlte sie im Herzen. Dieses Kind, das sie eben noch auf den Armen hierher getragen und gebettet hatte, war nicht mehr Kind. Aufgedeckt lag vor ihr der entblößte Körper eines Mannes, der entsetzensvolle Anblick, der sie erinnerte an die furchtbare, fremde Gewalt des andern Geschlechts, die sie in der grausamsten Überwältigung ertragen hatte, damals, als sie dieses Kind empfing. Sie verhüllte ihre Augen. Es war ihr, als hätte sie ihr Kind verloren. Schmerz kämpfte mit Entsetzen, Liebe mit Abscheu vor dem eigenen Kinde lange in ihr. Von Zeit zu Zeit vernahm sie sein jammervolles Stöhnen, seine schmerzlichen Seufzer. Sie wollte gehen, den Herrn um Hilfe rufen, dann wieder schämte sie sich, niemand sollte das Kind so sehen, in dieser fürchterlichen Gestalt. Mühsam zwang sie sich dazu, das Blut um die Wunde abzuwaschen, ihr weiche, kühlende Salbe aufzulegen, mit Leinen sie zu verbinden. Dann deckte sie ihn zu. Seine Füße rieb sie alle halben Stunden mit frischem Schnee, bis sie nach und nach die Erstarrung weichen sah und neues Leben und neue Wärme wiederkehren fühlte. Seine Hände, die mit blutigen Rissen durchzogen waren, wickelte sie in ölgetränkte weiche Tücher, mit dem Löffel flößte sie ihm heiße Milch ein. Als sie abends mit der Arbeit im Hause fertig war, machte sie sich eine kleine Öllampe zurecht und setzte sich zu ihm. Sie blickte traurig und forschend in sein Gesicht, das ihr vertraute, schöne, reine, engelgleich gebildete Gesicht, aber es verrann vor ihren Augen, und immer nur sah sie seinen bösen, großen, männlich drohenden Leib, und von Furcht und Abscheu überwältigt, sprang sie wieder auf. Sie beruhigte sich mit Vorwürfen gegen sich selbst. Es war ihr gutes, armes, krankes Kind, das mit einer Wunde fiebernd dalag. Es war ihr großer, guter, erwachsener Sohn, der einzige, der fleißig, heiter und unschuldig unter ihren Augen gelebt hatte in der ganzen bösen Zeit. Er würde ein keuscher, liebevoller Mann werden, wie der Herr es war, ein sorgender, aufopfernder Vater. Er würde einmal, wenn es sein mußte, seine Frau umarmen, verborgen im Dunkel der Nacht, an sein Herz würde er sie drücken, sanft sie einwiegen und hinnehmen in zartester Liebe, so wie es ihr nie geschehen war. Gegen seinen Vater, den wilden, rohen, entsetzensvollen Mann, hatte er sich gewehrt als Kind, hatte nach ihm gebissen in Wut, er hatte nichts von seinem bösen, tierischen Blut in sich. So verteidigte sie den Sohn gegen sich selbst, eilte noch einmal in die Küche, machte Ziegelsteine heiß, die sie ihm an die Füße legte, zwang sich, seine Wunde am Leib nochmals zu waschen. Er blieb unverändert und regungslos, sie wußte nicht, ob er schlief oder wachte, ob er sie hörte und spürte. Als die Nacht kam und sie Müdigkeit fühlte, wagte sie nicht, wie sie gern tun wollte, sich zu ihm ins Bett zu legen, sondern sie schlief, über zwei Stühle ausgestreckt, dicht an die vom Küchenfeuer erwärmte Wand gedrückt, in Kleider und Tücher gehüllt, beim Schein der kleinen Lampe, die sie brennen ließ.

Am nächsten Morgen verrichtete sie hastig die Arbeit, dann eilte sie hinauf zu Fritz. Zögernd öffnete sie die Tür und blickte angstvoll nach ihm hin. Er schlief. Sein ruhiger und kräftiger Atem hauchte ihr entgegen. Sie näherte sich ihm. Sein Kopf war zur Schulter gesenkt, er ruhte auf seiner Wange, sein blondes Haar fiel über die Stirn wie die Locken eines Kindes, sein Mund und Kinn gruben sich weich in die Falten des Kissens. Sein Gesicht war blaß und zart. Sie rief ihn leise; er hörte nicht. Sie zog die Hand von der Decke zurück. Sie vermochte nicht, ihn jetzt aufzudecken. Er schlief so gut. Das Fieber schien vorbei, und auch die Wunde würde heilen. Als sie mittags mit der Suppe zu ihm kam, war er wach und lächelte ihr entgegen. Schnell umfaßte sie seinen Kopf und preßte ihn gegen ihre Brust.

Sie aßen zusammen die Suppe, sprachen nicht und lächelten sich an. Er versuchte auch aufzustehen, doch die Wunde schmerzte zu heftig, auch kam er mit den immer noch geschwollenen Füßen nicht in die Schuhe. Aber er pflegte von nun an seine Wunde selbst, die Mutter brachte ihm nur warmes Wasser, frisches Leinen und Salbe. Nachts schlief sie jetzt in der kleinen Gaststube, was ihr der Herr angetragen hatte, und so vergaß sie ein wenig ihre Furcht und die Scham vor dem eigenen Kinde.

Nach acht Tagen konnte Fritz aufstehen und an einem Stock durch das Haus gehen, und nachts schlief er zum ersten Male wieder in seiner Kammer. Am nächsten Morgen stand er früh auf und wollte, wie immer, an seine Arbeit gehen. Obwohl die Wunde noch schmerzte und er das Bein nur steif bewegen konnte, humpelte er nach den Ställen. Doch Anton, der jüngste Knecht nach ihm, war da, und alle seine Arbeit war schon getan. Voll Zorn und Eifersucht zitterte Fritz am ganzen Körper. Er trat neben den Knecht, der an einer Krippe stand, die langen Arme um ein Bündel Heu gepreßt, das er den raufenden Pferden hinhielt. Fritz bohrte seinen rechten Ellbogen in die Rippen des Knechtes, wollte ihn verdrängen. Der Knecht, sehnig und stark, ließ das Heu fallen, verteilte es in die Krippe und lachte gutmütig.

»Laß nur, kleines Fräulein« (so nannten die Kameraden Fritz oft wegen seiner schönen hellen Stimme und wegen seiner Sanftmut), »plag' dich doch nicht. Bist ja verwundet, Kamerad.« Und er ging tiefer in den Stall hinein, um von einem Fach, das Fritz selbst einmal zwischen zwei Wänden in der Ecke gezimmert hatte, und das den Futtervorrat für eine Woche bergen konnte, neues Heu zu greifen. Fritz sah ihm zu, plötzlich hob er seinen schweren Stock mit eiserner Spitze, auf den er sich gestützt hielt, und schleuderte ihn mit ungeheurer Wucht nach dem Kopf des Knechtes. Der hatte, die Arme voll Heu, sich gerade gewendet. Der Stock flog an seinem Kopf vorbei gegen die Wand, zersplitterte dort völlig, und einige Teile prallten zurück, über die Köpfe und Leiber der Tiere nieder. Fritz keuchte vor Zorn und Angst zugleich. Der Knecht blickte auf, zu ihm hin. Erst an seinem wutverzerrten Gesicht erkannte er die böse Absicht. »Nanu,« sagte er, ließ das Heu fallen und ging langsam auf Fritz zu, »bist wohl verrückt geworden? Weißt wohl noch nicht, was ein Mann ist, Fräulein, was? Willst du mit mir anfangen? Mit mir nicht, du, geh erst zu einem Mädchen, da fang an, du, nicht mit mir.« Er lachte schon wieder, voll Ruhe und Kraft schob er Fritz, der am ganzen Körper bebte, zur Tür hinaus und schloß sie hinter sich. Fritz lief in seine Kammer, hockte sich auf das Bett; fest umwickelt von Decken, versteckte er sich, rührte sich nicht, auch zum Frühstück ging er nicht hinunter. Gegen Mittag klopfte er bei dem Herrn an und trat ein. »Ich will fort,« sagte er, ohne Gruß zuvor, »hier ist keine Arbeit mehr für mich.«

»Du hast doch deine Arbeit«, sagte der Herr erstaunt.

»Nein, der Anton hat sie genommen.«

»Du warst ja krank, er soll sie dir wiedergeben.«

»Nein, es ist nicht mehr meine Arbeit, ich will fort.«

»Fort, von deiner Mutter?«

»Ich will fort.«

Der Herr sah ihn an, seine junge Gestalt, sein kindliches Gesicht Er war aufgewachsen in seinem Hause wie ein dritter Sohn. Die Söhne wollte er fortschicken, retten von diesem unglücklichen Haus. Diesen hatte er vergessen. Ja, er sollte auch fort, es war gut, wenn die Jugend von hier floh.

»Wo willst du denn hin?« fragte er.

»Zu Pferden.«

»Na gut, wenn du durchaus willst, ich werde mich für dich umsehen, laß das Bein nur erst heilen.«

»Danke, Herr.«

Nun begann eine böse Zeit für Fritz, er hatte keine Arbeit mehr. Nie ging er mehr in die Ställe, seitdem er den andern »seine« Arbeit hatte tun sehen. Finster und träge verkroch er sich stundenlang in einem Winkel des Hauses, und seine Mutter konnte ihn nicht finden, wenn sie ihn für Dienste in der Küche brauchte. Sie geriet in Sorge um ihn und konnte sich nun nicht mehr dagegen wehren, daß er ihr mehr und mehr fremd wurde und ihr Furcht einflößte. Als der Herr mit ihr darüber sprach, daß er fort solle, weil es das beste sei für die jungen Kinder, auch seine Söhne sollten ja fort, da war sie überzeugt, daß sie ihn für immer verlieren würde.

»Jetzt kommt das Unglück an mich«, sagte sie.

»Nein, Emma, das ist kein Unglück. Gott bewahre dich vor allem Unglück. Laß ihn ziehen, hier ist kein frohes Haus.«

So ward es abgemacht, daß der Herr sich nach einem guten Dienst für ihn umsehen wollte.

Mitte Februar ließ nach vier Wochen die furchtbar strenge Kälte nach. Die Luft, von leichten Dünsten durchtrübt, erwärmte sich, in der Mittagssonne schmolz das Eis von den Dächern, an der Pumpe des Brunnens, die stahlharte Kruste der Erde wurde weich. Der Geflügelstall konnte mittags geöffnet werden, und betäubt und geblendet von Luft und Licht stießen die Tiere in taumelndem Zickzack durcheinander. Die Herden hatten sehr gelitten von dem Frost, der Nachwuchs war verkümmert, von Läusen zerfressen waren die Gefieder der Federtiere, ihre Sporen und Latschen überkrustet von Grind. Zwei Pferde, schöne, starke Gäule, fraßen nicht mehr und mußten erschossen werden, da dem einen Eiter von den erfrorenen Ohren in den Kopf gedrungen, das andere lungenkrank geworden war. Vier zweijährige Hengste mußten in ärztliche Behandlung gegeben werden, und auch in der Kuhherde hatte die Kälte großen Schaden angerichtet. Nach weiteren drei Wochen Sonne und Erwärmung konnten die Kartoffelgruben aufgedeckt werden, drei Viertel der Kartoffeln und der Gemüse waren erfroren und verfault und konnten nur als Schweinefutter verwendet werden. Ende Februar setzte schon das große Tauen ein, und nun gab es wieder viel Mühe und Arbeit, das Wasser, das den ungeheuren Schneemassen entschmolz, aus dem Hause und den Ställen, wo es überall eindrang, fernzuhalten. Anfang März war schon weit und breit kein Schnee mehr auf den Feldern, und das Frühjahr kam so schnell, daß über Nacht die Halme der Wintersaat handhoch hervorschossen. Doch richtete das Wild viel Schaden an, das in Rudeln, halb verhungert durch den harten Winter, aus dem Forst bis auf die Felder kam und dort äste. Obwohl der Wirtschafter nachts einige Tiere abschoß, bemerkte man doch immer wieder neue große Strecken, die kahlgefressen waren. Die Märzsonne brannte schon heiß, es war wie früher Sommer. Die Menschen, nach der eisigen Kälte berauscht durch die plötzliche, feucht dampfende Wärme der Luft, drängten sich in die Sonne. Scherze, Spiele, wilde Liebkosungen gab es überall, schwer war es, die alte Zucht und Ordnung aufrecht zu erhalten.

Als die Ställe wieder in Ordnung waren, die Überschwemmung glücklich abgewendet, und als auch der Hof, wieder von Eis und Schnee gesäubert, mit seinen alten, großen Pflastersteinen in der Sonne glänzte, wurde geschlachtet und gewaschen. Durch zwei Monate hindurch war das Gut völlig von aller Umwelt abgeschlossen gewesen, erst wegen der Kälte, dann, weil die Wege durch grundlosen Morast ungangbar geworden waren. Man hatte weder zum Markt, noch zur Kirche, noch zum Friedhof fahren können, und kein Besuch hatte kommen können. Aber zur Ausreise der Söhne war doch schon alles aufs eifrigste gerüstet worden. Zwei schöne, selbstgefertigte Truhen, geschnitzt und bemalt, mit eisernen Beschlägen versehen, die der Schmied selbst gehämmert hatte, waren schon fertig und mit Wäsche und Kleidern gefüllt. An einem Sonntag nahm der Vater die Söhne mit sich in seine Stube, sprach mit ihnen über die Zukunft, gab ihnen Rat für ihr bevorstehendes Leben in der Stadt, auf was sie achten müßten und auf was nicht, wie sie ihr Geld einteilen und die Augen offenhalten sollten, ob es vielleicht noch einen anderen Beruf als die Landwirtschaft für sie gäbe, den sie sich erwählen möchten. Dann wolle er ihnen auch da nach Kräften mithelfen. Er sah ihnen dabei prüfend in die Gesichter und forschte vorsichtig mit Worten in ihren Seelen, merkte aber bald, daß das Unglück für sie nicht größer gewesen war als ihre jungen Kräfte, es zu ertragen, und daß die gute Ordnung ihres Lebens noch nicht zerstört war. Das erleichterte ihn sehr, trieb ihn aber noch mehr an, die Abreise der Kinder zu bewerkstelligen und alle Vorsorge beizeiten zu treffen. Ja, diese sonderbare Ungeduld ließ ihn den Tag der Trennung sogar mit Sehnsucht erwarten. Kaum waren die Wege etwas getrocknet, fuhr er in die Stadt, die letzten notwendigen Dinge zu kaufen. Er vergaß dabei auch nicht Fritz, für den es ihm gelang, eine Stelle als Kutscher und Pferdefütterer bei dem Schultheißen Mandelkow in Pl. auszumachen, den er auf dem Viehmarkt traf. Am Abend, als alles erledigt war und es schon dämmerte, lenkte er seine Schritte noch zum Friedhof.

Die Sonne hatte den ganzen Tag über warm geschienen. Die Erde, feucht und schwarz, hielt Wärme noch in sich und hauchte sie, wie im Schlafe der Übersättigung, in die Dämmerung zurück. Ein Knistern, leise, aber doch an- und abschwellend in einem geheimnisvollen Takt, kam von den Gräbern her. Unsichtbar regten sich hier, zwischen den Reihen der Toten, die trüben, zeugenden Kräfte der Natur. Mit kalter Trauer schritt Christian zwischen den Gräbern hin. Ohne Trost, unerbittlich gegen sich selbst, hatte er sich dem unerbittlichen Gott hingegeben, bis zum Ende menschlicher Kraft. Das Letzte glaubte er erlitten zu haben, doch das Ende hatte sich zum Anfang verwandelt, die schmale Lichtspur zur Klarheit war verschüttet und verlöscht, und als er jetzt im Halbdunkel um die Grabhügel suchend irrte, über deren todbergenden Grund neues Leben trieb und gierte, fühlte er Böses, doch nicht mehr Gott, sondern Teuflisches drohen. Er strebte aus den Reihen der Gräber heraus, dem freien Gelände zu, das die neuen Ruhestätten trug. Doch der schwere Winter hatte die frischen Hügel erdrückt und verwüstet, und da noch kein Stein errichtet worden war, konnte er in der sinkenden Dunkelheit das Grab seiner Frau nicht mehr unterscheiden; er legte den Kranz von Immortellen, den er mitgebracht hatte, auf ein kleines, ganz frisch aufgeschüttetes Grab nieder, ging zurück in die Stadt und fuhr heim.

Anfang April zogen die jungen Leute fort. Im Wagen saßen die Söhne mit dem Herrn und dem Gepäck, Fritz sollte zum letzten Male die Treuener Pferde lenken. Er hatte ein großes Bündel, in festes neues Leinen geknüpft, neben sich auf dem Kutschbock. Auch für ihn war gesorgt, genäht und gestrickt worden, neue Wäsche, Stiefel, eine Mütze und Joppe hatte ihm der Herr geschenkt, neben drei blanken Talern. Während die Söhne mit traurigen, bekümmerten Mienen sorgfältig von jedem einzelnen Abschied nahmen, pfiff und sang Fritz den ganzen Morgen vor sich hin, putzte die Pferde, machte sich unermüdlich an dem Wagen zu schaffen und kümmerte sich um niemand. Seine Mutter war in Sorgen und Kummer während der letzten Zeit ihm immer nachgegangen. Sie wollte mit ihm sprechen, das Fremde, das böse Grauen, das sie vor ihrem Kind empfunden hatte, und das zwischen ihnen immer noch stand, das wollte sie auslöschen, ihn umarmen, ihn fühlen als ihr Kind, ihr Fleisch und Blut. Sie wollte ihn auch warnen, ihn aufmerksam machen auf sich selbst, ihn ermahnen, daß er nichts Unrechtes tun sollte, nicht auf die älteren Knechte hören dürfe, die gemein und verdorben seien, er solle bei jedem Mädchen an seine Mutter denken, er solle Gott und die Gebote nie vergessen. Doch jedesmal, wenn sie mit ihm allein war, fand sie keine Worte, schlug die Augen nieder vor ihrem Kinde, errötete, und Scham erstickte ihre Gedanken. Sie floh vor ihm, um dann, wenn sie wieder ruhiger geworden, in neue Sorgen zu verfallen. Am Tage der Abreise war sie aufgelöst, ganz verstört vom Schmerz der Trennung, denn es war ihr, als verlöre sie drei Kinder auf einmal. Fast die ganze Nacht vor der Abreise weinte sie und betete für die Kinder. Die Erinnerungen an die kleine Anna, an die arme, tote Frau überfielen sie mit neuem Schmerz. Alles alte Leid wachte wieder auf, überwältigte in einem schmerzenden Krampf ihr Herz. Am Morgen war sie kaum fähig, die Arbeit und die letzte Vorsorge für die Reisenden zu schaffen. Bleich und verstört wankte sie im Hause umher. So war der Wagen schon vorgefahren, alles verladen und aufgestiegen, und Fritz knallte schon mit der Peitsche und rief durch das offene Küchenfenster herein »Adjüs!«, als sie eilig hinausstürzte zum Abschiednehmen.

»Ach Emma!« rief Karl, der ältere Sohn, und sprang wieder vom Wagen herunter, lief in ihre Arme und weinte hell und kindlich an ihrer Brust, während sie ihn an sich preßte. Sprechen konnte sie nicht. Sie umarmte noch Gustav, küßte seine weichen, kindlichen Lippen, die er ihr aus dem Wagen entgegenneigte, dann trat sie zu Fritz. Da geschah ihr etwas Furchtbares. Die Flut ihres Gefühles war plötzlich unterbrochen. Sie spürte, wie Kälte ihr Herz jäh umklammerte. Sie konnte nicht weitergehen, stand still und ließ die dem Sohn entgegengehobenen Arme sinken. Sie sah ihn an. Er war groß, voll und stark für sein Alter, doch sein Gesicht war noch das eines Knaben, es war schön, es glich dem ihren mit der zarten, weißen Haut, mit den leuchtenden, klaren Augen, und ein übermütiges Kinderlächeln lag um seinen Mund. Und doch konnte sie ihn nicht umarmen. Sie hatte kein Gefühl, keinen Gedanken. Ihr Gesicht war bleich. Sie starrte ihn an, schwer bewegten sich ihre Lippen, sie hörte sich selbst sagen: »Tue nie Unrecht!«

Fritz lächelte sie verlegen an, auch er hätte seine Mutter gern noch einmal umarmt, doch er wagte nicht, da sie bleich und unbeweglich vor ihm stehengeblieben war, auf sie zuzutreten. »Adjüs, Mutter,« sagte er leise, sanft und bewegt klang jetzt seine Stimme, »ich komme bald auf Besuch.« Sie nickte. Er zog die Zügel an, schnalzte mit der Zunge und lenkte zum Hof hinaus, ruhig, wie immer. Sie stand da, unbeweglich, ohne Tränen, bis der Wagen verschwunden war. Die starke, große Frau wankte und schlich sich mit Mühe ins Haus zurück.


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