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Elftes Kapitel
Verschiedene Empörer

Noch mehr unglückliche Liebe

In einer Nacht geschah es mir, daß ich infolge verbotenen Genusses von Fallzwetschen wenig Ruhe hatte. Es war wohl nach Mitternacht, als ich wieder aus dem Bett mußte. Dem Zwang ferner gehorchend, hatte ich mich ziemlich lange draußen aufgehalten und kehrte ganz durchkältet zurück. Da, als ich mich meinem Schlafsaal wieder näherte, kam mir um die Ecke, die unser Gang dort machte, eine andere Gestalt entgegen. Sie stutzte, als sie mich erblickte; es brannten da die ganze Nacht einige Lämpchen, die hell genug machten, daß man alles, was in ihrem Schein geschah, zweifelsfrei unterscheiden konnte. Die Gestalt war jedoch nicht im Hemd, sondern wie ich mit Hose und Jacke bekleidet, und der nächste Blick ließ mich in ihr den zweiten Anstaltsprügelknaben, Kleiber, erkennen. Er kam von der Treppe her. Es war mir vollkommen rätselhaft, wo er gewesen sein konnte. Zuerst vermutete ich, daß er einen Raubzug nach der Speisekammer unternommen habe. Unwillkürlich wartete ich, um ihn vollends herankommen zu lassen. Als er meine Haltung erkannte, gab er es auf, sich im Schatten der Schränke verbergen zu wollen. Er ging nun entschlossen geradeaus auf mich los. »Kreuz oder Stern?« fragte er flüsternd mit heißem Blick, sobald er bei mir war. Ganz verblüfft von seiner Leidenschaft sagte ich: »Stern!« Er starrte mir noch einen Moment unruhig in die Augen, dann sagte er: »Also Stern! Das ist ein Schwur!« Und während mir die Schuppen von den Augen zu fallen begannen, erwiderte ich, nun ebenfalls in einem neuen Ton: »Es ist ein Schwur!« Drei Sekunden verharrten wir noch Auge in Auge, dann ging jeder in sein Bett.

Kleiber war nirgends anders gewesen als bei Marianne. Gott mochte wissen, wo sie sich getroffen hatten. Als ich mich ins Bett legte, tönte mir Leuenbergers zutrauliches Schnaufen aus der Nachbarstelle entgegen. Was für ein Kerl war doch dieser Kleiber! Ich lag lange denkend und vergleichend wach.

Aber diese Marianne war ja kein glückbringendes Mädchen. Eines Tages ereilte auch den Kleiber die Katastrophe, nur auf eine ganz andere Weise, als irgend jemand denken konnte. Plötzlich war das Haus voll von Gerüchten, daß mit Marianne Zubeil irgend etwas Schreckliches geschehen sei. Kleiber ging herum, wie auf den Kopf geschlagen. Vielleicht wusste er mehr als wir, aber es war nichts von ihm zu erfahren: die es versuchten, holten sich Abfuhren. Ganz allmählich sickerte durch, dass sie mit dem anderen Geschlecht in Beziehungen geraten sei. Wer dieses bei ihr vertreten habe, blieb wieder lange ein Geheimnis, und auch über das Wie tappten wir vollkommen im Dunkel. Nur ich glaubte eine gewisse Erklärung zu besitzen, aber ich begriff wieder nicht, daß nur Marianne gefaßt worden war, ohne daß Kleiber etwas geschah. Vielleicht wahrte sie ihr Geheimnis, und das war dann ein unerwartet großer Zug an ihr, den ich bereit war, zu verehren.

Kleiber befand sich in einer auffallend schlechten Verfassung. Er aß nicht, war in der Schule unsäglich kopfscheu, sprach mit niemandem, schlug sich mit seinen Gedanken einsam und finster herum, ohne einen Vertrauten zu suchen, und um mich, seinen Mitwisser, machte er die Tage geradezu einen Bogen. Später kam ich dahinter, daß er sich vor mir schämte. Wenn sich aber ein Gemüt von seiner strengen und leidenschaftlichen Anlage mit Schämen abgibt, so ist dies allemal ein Leiden. Zudem fielen die Prügel dichter auf ihn herunter als je. In der Schule, in der Arbeitstube, beim Herrn Vater, wo er stand und ging beinahe, regnete es für ihn Strafen wegen Versäumnissen, wegen Nichtwissen, wegen patziger Antworten, nur nicht wegen ungenügender Arbeitleistungen; da ließ er sich nie etwas nachsagen. Je schlimmer es aber um ihn zuging, desto in sich verschlossener und einsamer wurde er. Auch nach Marianne sah er nun nicht mehr. Eine Zeitlang hatte er überhaupt alle Brücken mit seiner Umwelt abgebrochen.

Nun pflegte der damalige Schuhputzer eine Freundschaft mit einem anderen Mädchen, das gerade für den Monat die Reinigung des Andachtsaales hatte. Der Boden, auf dem die Schuhe geputzt wurden, stieß an den Saal, und so war Gelegenheit gegeben, sich näher kennenzulernen und Nachrichten auszutauschen. Von dieser Seite her erfuhr man endlich die ganze Wahrheit. Auch unter die Weiber war einmal der Engel des Gerichtes gefahren. Eines Tages ließ die Frau Mutter sämtliche Mädchen in die Arbeitstube zusammenrufen. Dort trat sie unter sie zunächst mit einer sehr salzigen, aber noch ganz allgemein gehaltenen Ansprache über Unkeuschheit und anstoßende Vergehen, und da keine wußte, auf wen sich schließlich dies mächtig aufziehende Gewitter entladen werde, befiel die gesamte Schar eine große Verzagtheit und Niedergeschlagenheit. Sie schwebten solange in Angst, bis endlich ein Name genannt wurde: »Und nun, Marianne Zubeil, tritt vor!«

Es stellte sich jetzt heraus, daß sie mit einem sehr jugendlichen und übrigens näher nicht bekannten Vertreter des anderen Geschlechts hinter der Kirche sicher beobachtet worden war, und den Rest hatte sie selber freiwillig gestanden. Wahrscheinlich war überhaupt nichts dabei vorgekommen und die ganze Sache entsetzlich aufgebauscht. Die Sünde wurde nun in allgemeinen Umrissen festgestellt und darauf die Strafe vollzogen. Das fünfzehnjährige entwickelte Mädchen hatte sich über den Stuhl zu legen, und die Frau Mutter verfuhr mit ihm in ihrer aufgestachelten Rachsucht genau so, wie Ladurch seinerzeit mit mir verfahren war. Hiebe auf das Kleid oder das Hemd genügten nicht, sie mußten auf bloßes Fleisch fallen. Die große Überraschung war aber, daß nach aller Wahrscheinlichkeit der junge Mensch, mit dem man Marianne gesehen hatte, nicht Kleiber war. Er gehörte überhaupt, wie es schien, nicht zu unserer Anstaltsgemeinde, sondern war ein Kirsauer oder Ratmatter Katholik.

Es war ein zerstörender Schlag für Kleiber. Solange er den Trost hatte, dann und wann mit dem großen Mädchen als seiner Schicksalsgenossin zusammen zu kommen, war ihm hier manches erträglicher erschienen, hatte man ihn vielfach heiterer und zugänglicher gefunden. Nun trat er in einen schlimmen, dunkeln Winter ein, in einen Winter voller Verlassenheitsgefühle, Auflehnung, Groll, Scham und neuer Niederlagen vor den Lehrern und Preller, der seltsamerweise wie von einem mystischen Zirkel ergriffen immer mehr in Ladurchs Tradition ihm gegenüber einschwenkte. Es war wie ein Verhängnis, als ob er selber die Menschen dazu reizte.

Leuenberger, der damals noch in der Anstalt war, machte das alles still und voll besorgter Traurigkeit mit. Nie ließ er ein ungutes Wort gegen das Mädchen hören, und solange sie noch an diesem Platze lebte, umgab er sie, im Gegensatz zu Kleiber, für den sie nicht mehr vorhanden zu sein schien, mit seinen guten und treuen Blicken. Ich dachte manchmal, er müßte Treuenberger heißen. Zwischen ihm und mir bestand in der Zeit eine unausgesprochene wehmütige Entfremdung, die uns seltener zusammenkommen ließ. Ohnehin hatte er als Konfirmand seine abgelegenen neuen Kreise, und dann machte ich ja die Affäre Marianne nicht an seiner, sondern an Kleibers Seite mit.

Das unglückliche Mädchen jedoch trieb die damit einsetzende verschärfte Fürsorge der Anstaltsmutter bis in das Besserungshaus Tüllingen, dessen Prügelpädagogik im ganzen Land bekannt war. Später hörte man, daß eine Basler Frau es von dort zu sich genommen habe, um im weiteren einen gutwilligen, vertrauenswürdigen Hausgenossen aus ihm zu entwickeln. Wohl fühlte es sich auch dort nicht, und eigentlich brauchbar schien es nie werden zu wollen. Bis es dann auf sein eigenes, inständiges Verlangen aufs Land zu einer verwitweten Bäurin kam, und dort begann es äußerlich und innerlich aufzuleben, brachte Tugenden und Vorzüge ans Licht, von denen vorher niemand eine Ahnung gehabt hatte, und mit dem jungen Mannsvolk bekam es nicht mehr zu tun als jedes andere Mädchen auch. Heute ist es Frau Leuenberger und selber eine Bäurin, wenn auch, soviel ich weiß, nur mit zwei Kühen und einigen Ziegen gesegnet, aber sie können sich vermehren, denn auch Leuenberger hat es mit ihr getan.

Es ist vielleicht ein Geheimnis der weiblichen Natur, wie Frauen, die ihre Kinder doch auch nicht aus bitterer Christenpflicht empfangen, und schon ihre Männer nicht aus unüberwindlicher Enthaltsamkeit gesucht und geheiratet haben, ihre eigene Jugend und Art nicht nur so vergessen, sondern sie bei anderen mit rachsüchtiger Entrüstung bemerken und sogar mit ausdauernder, tätiger Feindschaft verfolgen können. Bei Männern ist dergleichen seltener.

Ein Frühlingsgewitter

Indessen auch dieser Winter ging vorbei. Er wurde dadurch einigermaßen ausgezeichnet, daß ein ehemaliges Demutter Mädchen, das es bis zur Kammerfrau bei der Kaiserin gebracht hatte, uns dies Jahr den Schmuck vom abgeräumten allerhöchsten Christbaum zuwandte. Es bekam jeder und jedes seinen kleinen Gegenstand aus Marzipan, Zucker, Schokolade und so weiter, und dafür hatte man einen Dankbrief abzufassen, dessen Umrahmung dem besten Ornamentenzeichner zufiel, der ich nicht war; dagegen wurde mir die Abfassung des Textes übertragen. Ich faßte ihn in Verse. Vielleicht befinden sie sich noch irgendwo im ehemaligen kaiserlichen Archiv.

Einen anderen hohen Besuch, ebenfalls von einem ehemaligen Demutter Pflegekind, bekamen wir in Gestalt einer berühmten Sängerin; ich bin nicht sicher, daß es nicht die Welti-Herzog war. Der Herr Vater, um uns einen Begriff davon zu geben, daß man es auch als Demutter Kind in der Welt zu Glanz und Ruhm bringen könne, ließ uns zusammenrufen; die Sängerin war bereit, sich vor uns hören zu lassen. Wir mußten uns im Treppenhaus aufstellen, das am besten den akustischen Verhältnissen entsprach, die sie von den Bühnen her gewöhnt war. Sie selber trat in die Tür des Herrn Vaters, die mit beiden Flügeln weit offenstand, und ließ ihre Kunst spielen. Das ganze große Haus füllte sich mit ihrer Stimme, klang und dröhnte, daß uns die Köpfe davon erbrausten, aber eigentlich schön fanden wir das nicht. Wir lobten uns unseren eigenen Gesang, der fein säuberlich die Skalen auf und nieder wandelte, und diese heiße Seelentemperatur verstanden wir überhaupt nicht. Man darf sagen, daß die berühmte Diva sich bei uns eine richtige Niederlage holte, wenn sie auch nicht in die Blätter kam. Da aber niemand bei uns zischte, so ist es möglich, daß sie es überhaupt nicht merkte.

Der Winterausgang brachte dann noch die Nachricht vom Tod des alten Heldenkaisers Wilhelms I. In unserem Torbogen war die Depesche angeschlagen, und wir gingen alle still hin, um sie zu lesen. Jedem war, als hätte er den leiblichen Vater verloren. Auch ich stand vor dem angeklebten Blatt Papier und suchte mir über die Tragweite der Anzeige ein Bild zu machen. Sicherlich begann nun eine neue Zeit; soviel fühlte ich. Irgendein tiefer Schein in meiner bisherigen Welt war plötzlich erloschen. Daran, daß er nun verschwunden war, merkte ich erst, daß er Verhältnisse und Dinge umschimmernd sich in meinem Leben befunden hatte. Ich bewegte mich in der Alterslage, in der bereits die ersten nüchtern kahlen Streiflichter aus der sogenannten Wirklichkeit einfallen und die Kerzen der allerfrühsten Jugend langsam, eine nach der anderen, zu erlöschen beginnen. Die Generation der Greise, die uns bisher noch, von ihren Glorien oder Schicksalsgeheimnissen umwoben, auf diesem Stern Gesellschaft geleistet hat, tritt Mann um Mann ab, und wir bleiben mit der nächsten allein, an der noch keine Poesie hängt, die mit ihrem Willen und Fordern ungemildert schaltet. Kältere Luft weht da, und eben deren ein Stoß war es, den ich im Torbogen stehend ahnungsweise fühlte.

Es war ein frischer Vorfrühlingstag. Noch roch es nach Schnee, und der Ostwind machte abends die Pfützen gefrieren. Weihnachten lag weit zurück und Ostern noch weit voraus. In einer gewissen Ratlosigkeit befangen schaute ich aus dem Tor, als ich da, etwa zwanzig Schritte aufwärts auf der Straße nach dem Bahnhof zu, Kleibers kurze, feste Gestalt stehen und unverwandt nach den Hügeln blicken sah. Er schien ganz versunken, machte den Eindruck, als hätte er Ort und Zeit vergessen, und auch die Pfeife des Aufsehers, die jetzt im Hof drin ertönte, schien er zu überhören. Ich wußte nicht, warum, aber er ging mir nahe, und unwillkürlich rief ich ihn an. Beinahe hatte es ausgesehen, als wollte er sich auf eigene Faust die Straße hinauf in Bewegung setzen. Jetzt fuhr er leicht zusammen. Dann wie erwachend und unwillig drehte er sich um.

»Was ist?« Er sah verwirrt und unsicher aus.

»Es hat gepfiffen!« sagte ich; ohne zu wollen, dämpfte ich etwas meine Stimme. Er blickte mich suchend an.

»Ach so!« machte er dann. »Ist schon gut. Hab' es auch gehört. Oder denkst du, ich hätte es nicht gehört?« suchte er darauf zu lachen. Als ich nichts dazu sagte, wurde er wieder ernst. Still ging er mit mir in den Hof zurück. »Ich wollte doch einmal sehen, wie es tut, allein da draußen zu stehen«, teilte er wie erklärend noch mit.

Der Winter hatte für mich viel Stubenhockerei gebracht. Ewig wurde ich angefordert. In der Arbeitstube sah man mich kaum mehr. Schrieb ich nicht Briefe für den Herrn Vater, so mußte ich ihm lesen. Dazwischen verlangte mich Herr Johannes zum Orgeltreten. Ab und zu wechselte er ein gleichmütiges oder nur ganz im geheimen bedeutungsvolles Wort mit mir. »Bist bleich!« sagte er einmal zu mir. »Kommst zuwenig heraus. – Hast denn einen guten Appetit?« fragte er noch scherzend. Und als ich sagte: »Ja!« lachte er leicht. »Dann ist ja alles noch gut! Paß nur auf, daß dir das nie vergeht. Morgen zieht ihr auf Maikäfer aus. Kannst deine Arme und Beine probieren und auf einen Baum klettern. Das bringt das Blut durcheinander.«

Die Anrede gab mir zu denken, und ich beschloß, die darin enthaltene Aufforderung zu befolgen. Zweifelhaft war ich über die zu treffende Wahl unter den Bäumen. Mittags sah ich sie mir daraufhin an. Sie schienen mir doch alle recht dick und hoch zu sein, und einen dünnen konnte ich nicht nehmen, wenn ich damit bestehen wollte. Schließlich beschied ich mich dahin, es auf den Zufall ankommen zu lassen. Als großen Kletterer hatte ich mich bis dahin nicht kennengelernt. Eigentlich war ich überhaupt noch nie auf einem Baum gewesen, wenn ich richtig nachdachte. Auch sonst gehörte ich nicht unter die Robusteriche. Ich war nicht besonders schwächlich, aber aus irgendeinem Grund traute ich mir nichts mehr zu, seit ich in der Anstalt war. Bei Wettrennen wurde ich kleinmütig und schnappte leicht ab, obwohl ich gut und ausdauernd lief. Meine Turnübungen vollzog ich hinlänglich; die Riesenwelle überließ ich neidlos andern. Ich kam immer auf einen Grad von Schüchternheit, wo ich das Zutrauen zu mir verlor, und dann enttäuschte.

Aber in der schönen Maienfrühe, als wir, die Lehrer erwartend, im Hof herumspazierten, regten sich meine Lebensgeister. Die Amseln sangen ins letzte Nachtgeschrei der Kater hinein. Die obersten Baumspitzen des Waldes auf dem Berg begannen reihenweise aufzuglühen. Ich hätte gern fliegen mögen, von dem ungewohnten Ozon berauscht, oder sonst etwas tun, was ich sonst nicht tat, und was hier auch nicht der Brauch war. Vorstellungen von weiten, romantischen Burschenwanderungen gingen mir durch den Kopf. Auch wir sangen ja: »O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!« Der offizielle Text lautete freilich: »O frohe, freie Lust!«, weil die Mädchen keine Burschen waren. Und anstatt: »Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein! Ade nun, ihr Lieben, geschieden muß sein!« sangen wir: »Wohlauf noch gesungen im trauten Verein!« Gerade recht kam mir nun der Nußbaum mit seinem kräftigen, recht hohen, glatten Schaft. Ich fürchtete mich nicht vor ihm. Und da ich nicht in die Weite konnte, ging ich wie die gotische Architektur in die Höhe. Dabei entdeckte ich, daß ich ein ganz geschickter und ausdauernder Kletterer sein konnte.

Um nicht vielleicht mich lächerlich zu machen, hatte ich meinen Aufstieg in aller Stille bewerkstelligt; doch rechnete ich darauf, daß nach gelungenem Versuch sich der oder jener einfinden werde, um mich da droben zu bewundern und meinen Ruf zu verbreiten. Zunächst war mir aber im Geäst so leicht und freudig zumute, daß ich alles andere darüber vergaß. Ich schüttelte einige Maikäfer, turnte wie ein Eichhörnchen auf diesen Ast und dann auf jenen, und auch als die Sache begann, mir langweilig zu werden, tat ich vor mir noch eine ganze Zeitlang, als amüsierte ich mich ganz gut. Wie sich jedoch nicht bloß keiner meiner Kameraden einfand, sondern plötzlich die ganze Knabenschar mit den Lehrern nach einer anderen Richtung ohne mich loszog, stieg ich sehr enttäuscht und ruhmlos herunter, um dem Haufen nachzutrollen. Dort teilte ich einigen nebenbei mit, daß ich deshalb zu spät gekommen sei, weil ich den Nußbaum erklettert habe, aber damit stieß ich senkrecht auf Unglauben. Es paßte nicht zu mir. Niemand hatte dergleichen von mir vorausgesehen. Die Sache kam zu den Lehrern. Man forderte mich mit Hallo auf, das Kunststück vor aller Augen noch einmal auszuführen. Allein nun befiel mich meine physische Schüchternheit wieder; zudem wurde ich bockig, weil die Lehrer mitlachten. Auch hatte ich etwas dagegen, das Erlebnis durch Wiederholung zu entwerten, zur Fertigkeit auszubilden. Ich weigerte mich. »Aha!« hieß es nun von allen Seiten. Die Lehrer erklärten mir ihre Enttäuschung. Und noch eine Zeitlang nachher hieß ich der Baumaffe.

Frisch, neu belebt von der lenzfrühen Unternehmung, von Ozon duftend und mit geröteten Wangen, bezogen wir schließlich den Andachtsaal. Es war eine geheime Unruhe in uns, die sich ungern bändigen ließ. Weiten und Höhen wirkten in uns nach, und es war schwer, sich schnell wieder in diesen Raum mit den dicken Gipsputten über uns, mit dem dunklen Katheder und der geistlichen Atmosphäre zu gewöhnen. Die Bücher vor uns aufgeschlagen, warteten wir auf das Erscheinen des Herrn Vaters. Die Reihenfolge war am Choral: »Jesu, meine Freude!« und an einem Text aus dem ersten Johannisbrief. Endlich wurde er ernst und bleich hereingetragen. Sogleich legte sich ein Druck auf uns alle; diese Miene hing mit unseren schwersten Stunden zusammen. Er saß einen Moment still vor sich hin wühlend. Dann sagte er: »Wir singen das Lied: ›Aus tiefer Not schrei' ich zu dir!‹ – Alle Strophen!« befahl er noch. Der umflorte Ton, der starre und nach innen bohrende Blick und das bleiche Leid einer kaum überstandenen Nacht voll Gottverlassenheit in der Miene, mit welcher er die Ausnahme ankündigte, gaben unserer gehobenen Naturstimmung den Rest. Betroffen begannen wir zu singen. Er rührte sich nicht, schwieg düster, ja, es war nicht einmal sicher, ob er zuhörte. Nachdem alle Strophen gesungen waren, standen wir eine ganze Zeit zum Gebet fertig, ehe er damit begann.

Nun erhob sich ein schwerer, verzweifelter Kampf zwischen ihm und seinem Gott, der dies alles über ihn verhängte, kein Hadern, kein alttestamentarisches Zetern, aber ein protestantisch hochstrebendes, menschlich halbverwildertes und doch leidenschaftlich fromm auf Christi Verdiensten fußendes Anklagen gegen die Allmacht, alles in Gebetsformeln von der furchtbaren Rücksichtslosigkeit des Untersinkenden und Alleingelassenen gefaßt, und erfüllt von den unterirdischen Stößen der Weltangst und der ratlosen Gereiztheit des körperlich Gepeinigten. Unerbittlich, blind hinwegschreitend über alle Streitfragen um den Unterschied zwischen Glauben und Aberglauben, als ein Mann, der keinen Ausweg mehr hat, stürzte er sich aus dem verwüsteten Gebiet der Seele in die mystischen Abgründe des Weltgerichts und des Überglaubens. Soweit wir denken und empfinden konnten, wohnten wir mit atemlosem Unterlegensein dieser Auseinandersetzung bei. Mich selber befiel eine müde Verzagtheit mit dem ersten Ton und Aufblick der halbblinden Augen. Er nannte Gott einen Brunnen des Jammers, aus dem die Völker Wermut trinken und von Elend besoffen werden, einen Born des Heils, an dem die Erzengel mit schneidenden Schwertern stehen und Wunden schlagen, eine Erlösung, die lechzen und verkommen läßt, um ihre Glorie zu erhöhen. Er unterwarf sich dem allem, aber er tat es mit einem durch den ganzen Saal hörbaren Aufschlagen seiner Zähne, das ebenso aus Furcht wie aus Rebellion stammte. Er war im Grund ein Empörer, ein Aufständiger, soviel Demütigung mit zwei harten »t« und Unterordnung unter Christi Hierarchie er uns predigte, und sein Gebet schien mir weniger eine hohepriesterliche Anrede als eine Lästerung.

Wie mit dem Lied, so überging er auch mit dem Text die sonst streng beobachtete Reihenfolge, und nannte dafür den düstersten aller Davidschen Psalmen. Er selber enthielt ja in sich, ohne die lichten und lachenden Seiten im Wesen Davids, dessen ganze drängende, ungebärdig aufbegehrende und zugleich gewalttätig anbetende Seelenverfassung. Aber David genoß dabei das Glück des Revolutionärs, das Vergnügen über von Fall zu Fall gelungene Anschläge gegen Gott, und diese Erfolge waren unserem Herrn Vater ganz versagt. Dem ersten Buß- und Zankpsalm reihten sich andere an. Alle hatten Beziehung zum Weltenende und zum Seelentod, die er immer näher auf sein Fünkchen Dasein sich zuwälzen sah. Darauf ordnete er Gemeindegebet an. Es war dies eine wohlbekannte geistliche Übung. Von Zeit zu Zeit wurde ein laufender Text, anstatt als Grundlage zur folgenden Betrachtung zu dienen, als Stoff für die Gewinnung von Bitten überwiesen, die je nach der Anregung durch den Geist aus der Mitte der Gemeinde aufstiegen. Auch die Kinder waren daran beteiligt. Minutenlang herrschte ein banges Schweigen. Endlich ertönte bei den Brüdern die erste Bitte. Eine neue Stille folgte; dann ließ sich mit zager Stimme eines der älteren Mädchen hören. Ein zweiter und dritter Bruder betete. Spät wurde auch bei uns eine Bitte laut. Ich war die ganze Stunde stumm. Zu wild und zu heiß stand der Stern dieser Stunde über mir. Gewiß bedrückte mich wieder deutlich die Erkenntnis meiner Sündigkeit, meiner Untreue, meines Mangels an einem klar und einfach eingestellten Willen, aber ich fuhr fort, zu widerstreben; ich konnte nicht anders, und die daraus folgende Furcht nahm ich als Strafe in Kauf.

Nach den Psalmen kamen die Propheten daran, die ebenfalls wallen und donnern von fanatischer Glaubenskraft und von lästernder Auflehnung gegen Schicksal und Unentrinnbarkeit. Niemand außer ihnen hat vielleicht einen so heroischen Kampf geführt angesichts der Vergänglichkeitstimmung der menschlichen Natur, ja der ganzen Schöpfung und ihres Schöpfers selbst, dessen Formen sie trotzig und kühn immer wieder aufbauen, sobald die »Sünde«, die Entwicklung, dieser Tod im Leben, sie zerstört und niedergerissen hat. Wie ein flüsterndes Seufzen aufgeschreckter Erdengeschöpfe begleiteten seinen wogenden Gang zwischen den Wettern der Jahrtausende unsere Bitten in der Tiefe. Allen hoffenden, tröstenden oder gar siegverheißenden Stellen wich er aus. Beinahe hastig rief er »Halt!«, sobald sich in einer drohenden Periode der günstige Umschwung ankündigte, und nannte eine andere wetterleuchtende Zahl, unter welcher Gott in Frage gestellt und die Ewigkeit angebellt ist. Niedergeschlagen und nun schon gedankenlos vor Mühseligkeit las jeder seinen Vers, wie er an ihn kam, und die formulierten Bitten bekamen allmählich einen Ausdruck von Ratlosigkeit. Auch begannen sie sich zu wiederholen; wir bewegten uns im Kreis wie ein Gewitter, das keinen Abzug findet.

Die Zeiger der Uhr waren längst über acht hinausgerückt. Mein Hintermann fing an zu seufzen: »Donnerwetter! Das ist verflucht!« Und später: »Das halte ich also nicht mehr aus!« Es war Kleiber, dessen Leidenschaftlichkeit diese ihm unverständlichen religiösen Stürme allmählich erregten, und wer ihn erregte, reizte seinen Widerstand und seinen Erdentrotz. Doch über den zerbrechlichen Ausdruck von Auflehnung wälzte sich gleich der furchtbare Choral: »O Ewigkeit, du Donnerwort! O Schwert, das durch die Seele bohrt!« mit seinen seelenzermalmenden Ausrufen der Angst. Ihnen schlossen sich Verwünschungen aus dem berühmten jüdischen Dulder, Nichtigkeitserklärungen des Lebens aus dem Prediger Salomo an, bis sich die Verzweiflungsandacht steigerte in der feierlich langsamen Verlesung der Leidensgeschichte des Herrn. Auch sie schloß mit dem Dunkel des Todes, ohne einen Ausblick auf Auferstehung und Himmelfahrt zu geben. Den Beschluß machte das Lied: »Jenen Tag, den Tag der Wehen, wird die Welt in Staub zergehen, wie Prophetenspruch geschehen.«

Niedergeschmettert, im Glauben an unsere Zukunft und Dauer erschüttert, und irregemacht an allen unseren Hoffnungen und Erwartungen, verließen wir endlich den Saal, während, wie ich heute denke, der protestantische Hiob in der Passionsgeschichte doch endlich zu einer gewissen Lösung und Stillung gekommen war, die ihm die Ergebung nicht mehr länger unmöglich machte. In seinen Augenwinkeln glommen zwar noch etwas Angst und Sturm, aber seine Haltung war nun müde, und mit der Kraft war auch der Kampf erschöpft.

Das Komplott

Auf dem Weg zur Arbeitstube, dicht vor der Tür des Andachtsaales, trat Kleiber an meine Seite.

»Du, also ich reiße aus«, sagte er mit murmelnder Stimme zu mir. »Komm mittags auf den Boden.«

Auch ich hatte seit dem Besuch meiner Mutter und seit ich sie wieder im Land wußte, manchmal etwas Derartiges gedacht, und jetzt bei dieser Anrede stand es mir sehr nahe, aber das Plötzliche und Wahrscheinliche daran, sozusagen das innerlich Notwendige überraschte mich so, daß ich gar nichts zu erwidern wußte, und nachher fand sich keine Gelegenheit dazu. Preller, dessen stumpfes Fassungsvermögen die Veranstaltung des Herrn Vaters falsch verstanden hatte – er begriff sie als Disziplinarverfahren gegen uns – setzte sie in seiner Person schnell durch ein verschärftes Schweigegebot fort. Zudem hatte heute jeder ein halbes Lot mehr zu zupfen, und auch den Bürstenbindern wurden Aufgaben gestellt, die sie bloß unter strenger Anspannung erfüllen konnten.

Bis zur Zehnuhrpause wurde leidlich gearbeitet, aber dann trat wieder einmal unser Bund in Wirkung. Wer die Losung ausgegeben hatte, weiß ich nicht; jedenfalls hieß es plötzlich: »Heute stehen alle an der Wand!« Das Schweigegebot wurde im ganzen beachtet, aber mittags war keiner da, der nicht zuwenig gearbeitet hatte, und die wenigen Braven hatte man durch Bedrohung gehemmt. Ein klügerer Aufseher hätte uns nun einfach im Stich gelassen und unseren Angriff sonstwie erwidert, aber auf Prellers beinahe organisch funktionierende Straffreudigkeit konnte man sich unbedingt verlassen. Ohne Ausnahme zierten wir mittags die Wand; auch die Kleinen und Kleinsten standen da.

Als der Herr Vater durch die Tür des Speisesaales hereingetragen wurde, warf er einen überraschten, ja, man kann geradezu sagen, einen erschreckten Blick nach uns. Nachher saß er lange ganz still, wehrte das Essen ab, und das Wenige, was ihm seine Frau aufdrang, genoß er nicht. Brütend und grübelnd sah er vor sich hin, und sehr spät entschloß er sich dazu, einen von uns her zu fordern. Die anderen ließ er stehen; vom ersten hatte er sich über alle Bescheid geben lassen. Seltsamerweise standen auch Gärtner und Jungen vom Feld bei uns; der halbe Knabentisch war leer. Im Saal herrschte eine betretene Stimmung. Unwillkürlich verminderten alle ihre Eßgeräusche; es war merkwürdig still. Endlich wurden wir entlassen. Wir aßen unsere kalte, abgestandene Suppe. Preller ließ sich Zeit mit dem Gemüse. Richtig hatte er kaum herausgegeben, als der Herr Vater zornig und ungeduldig das Zeichen zum Schlußgebet gab. Alles stand auf. Man sang ohne unsere Mitwirkung. Das ausgeschöpfte Gemüse mußten wir im Stich lassen. Einige retteten wenigstens ihre Kartoffeln und aßen sie draußen aus der Faust.

Sofort wurde dem Aufsichtsbruder gegenüber der Belimpf eingeleitet, während auf dem Boden der Exerzierhalle, des jetzigen Wagenschuppens, die Beratung vor sich ging. Vor Herrn Johannes waren wir immer noch nicht sicher, aber das mußten wir in Kauf nehmen. Wir waren unser sechs, die Kleiber hier zusammenberufen hatte.

»Also ich reiße aus«, begann er sofort mit seinen letzten Worten an mich. »Oder ich werde hier verrückt. Was hat er diese Andacht zu halten? Immer schlimmer wird das jetzt. Kommt einer mit?«

»Wo willst du denn hin?« fragte ihn Samberger, ein Feldjunge. »Wenn du einen guten Plan hast, mache ich vielleicht auch weg. Hast du denn Verwandte, die uns aufnehmen?«

»So, Verwandte! Woher soll ich auf einmal Verwandte haben? Du hast vielleicht Verwandte? Bist wohl auch hier, weil dir soviel Wege offen stehen?«

»Sei nicht gleich so zornig«, beschwichtigten ihn andere. »Das hat er ja nicht böse gemeint. Sage, was du draußen im Sinn hast.«

»Dann soll er einen nicht so etwas fragen«, grollte Kleiber noch. »Wenn einer von uns ordentliche Verwandte hätte, die für ihn sorgten, so wären wir doch nicht da. – Eine Höhle suche ich mir und bin zuerst einmal ein freier Mann. Dann nehme ich mir einen Lehrmeister und werde Schlosser. Nachher wandere ich nach Amerika aus. Das ist mein Plan.«

»Und von was willst du leben in deiner Freiheit?« forschte Samberger wieder. Die Lust, mitzutun, leuchtete ihm schon aus den Augen.

»Ein Gefrage hast du. Fechten werde ich wie ein Handwerksbursche. Und was ich nicht so bekomme, das verschaffe ich mir auf andere Weise. Bekümmere du dich nicht darüber, daß ich verhungern könnte.«

»Es ist gut«, sagte Samberger. »Ich mache mit. Hab' auch keine Verwandten. Und es dauert im anderen Fall nur noch eine Woche, so stelle ich hier sonst was an. Dachte schon immer: ›Daß da keiner das Haus anzündet!‹ Heut nacht?«

Samberger war ein für unsere Verhältnisse großer, unabhängig auftretender Bursche, der der Anstaltsleitung schon viel zu schaffen gegeben hatte. In der Schule machte er wenig von sich reden; da war er eher fügsam, weil er sich sozusagen auf Eis bewegte, und von einem anständigen, wenn auch unzulänglichen Biereifer bewegt wurde, mitzukommen. Aber in gereiztem Zustand zeigte er sich vollkommen jenseits aller Ordnungsmäßigkeit; es war unmöglich, ihn zu behandeln, solange er kochte, aber man versuchte es immer von neuem und wiederholte mit großer Hartnäckigkeit einen Fehler, der den Jungen für das Zusammenleben in zunehmendem Maß verdarb.

Wir waren eigentlich sehr erschreckt und bekümmert. Noch niemals war eine Ausreißerei gut abgelaufen, und wir sahen Kleiber bereits im Geist vor der versammelten Hausgemeinde über dem Stuhl liegen und Preller mit dem geschwungenen Stock über ihm. Um Samberger tat es uns nicht so leid, aber von dem hatten wir mehr für den Bund zu fürchten. Doch keiner gewann es über sich, darauf aufmerksam zu machen oder Kleiber sonstwie zurückhalten zu wollen. Zudem lockte allmählich das Abenteuer, die große Neuigkeit, die Veränderung im Zeitlauf, die man im Grund nötig hatte, um wieder einmal einen frischen Luftzug zu spüren.

»Ohne Papiere kommt ihr aber nicht weit«, machte einer aufmerksam, der wohl besonders Bescheid wußte. »Die letzten blieben am Gendarmen hängen, als sie gefleppt wurden. Hätten sie Fleppen gehabt, so hätte er sie laufen lassen müssen.«

»Mit der Höhle und so«, warf ich jetzt halblaut ein, »das scheint mir auch gefährlich. Werden sie hochgenommen, so gibt man sie in die Besserungsanstalt. Damit droht man uns ja immer. Es ist besser, wenn sie gleich nach Amerika gehen. Meine Mutter sagt, man kann ganz umsonst hinüberfahren, wenn man Kohlen schaufelt oder in der Küche hilft. Oder auf einem Segelschiff können sie sich als Schiffsjungen anwerben lassen.« Mir selber überraschend setzte ich scheinbar ruhig hinzu: »Ich weiß, wo die Papiere sind, und will sie beschaffen. Jeder hat da einen Heimatschein liegen. Es sind ja unsere Papiere, und wir haben ein Recht darauf.«

Mit diesen Mitteilungen gab ich dem ganzen Plan erst einen rechten Inhalt. Samberger nahm mich eifrig in Beschlag, um noch mehr zu erfahren, und auch Kleiber leuchtete die Sache mit dem Schiffsjungen ein. Er wurde zuerst ganz still, und seine Augen bekamen einen kühnen, sehnsüchtigen Glanz. Dem Samberger konnte ich aber nicht mehr sagen, als ich schon getan hatte.

»Ihr müßt doch über Wyhlen«, sagte ich. »Da könnt ihr meine Mutter besuchen; die ist ja selber übergefahren.«

»Nein, nein«, wehrte jedoch nun Kleiber unruhig ab. »Wir gehen den kürzesten Weg über Schopfheim und über den Wald nach der anderen Seite. Hier kennt man unsere Sträflingstracht zu gut; jeder Gendarm wird uns hochnehmen und auf den Schub bringen. In Bremen werden wir schon alles hören.«

»Von Mannheim an ist, glaub' ich, Rheinschiffahrt«, bemerkte der mit den Fleppen. »Vielleicht könnt ihr schon dort auf einem Schiff ankommen.«

»Die Hauptsache sind jedenfalls die Papiere«, stellte Samberger fest. »Wenn uns der Schattenhold die besorgt, dann steckt mehr hinter ihm, als ich dachte. Weil er immer droben beim Alten sitzt, glaubte ich, er sei ein fauler Kunde.«

»Du denkst, wer das Maul weit aufreißt wie du, ist ein großer Kerl!« erwiderte ihm Kleiber auffallend gereizt. »Schattenhold stand immer auf unserer Seite, wenn etwas los war. Was heißt da also fauler Kunde? Mir wäre viel lieber, er ginge mit mir. Es ist noch nicht aller Tage Abend. Rede über andere, wenn wir auf dem Schiff sind.«

Samberger lachte aber nur, und wir anderen beruhigten wieder Kleiber, den wir noch nie soviel hintereinander hatten reden hören.

»Warum kommst denn du nicht mit?« stellte der unzufrieden mich zur Rede. »Auf dich hatte ich eigentlich gerechnet. Dir habe ich's ja auch zuerst gesagt.«

»Meine Mutter«, sagte ich leise, »will mich sowieso hier herausnehmen. Sie will nur zuerst noch warten, wie alles bei ihr wird. Vielleicht geht sie wieder nach Amerika und nimmt mich dann mit.«

»Ich denke, sie hat das Klima nicht vertragen«, spottete Samberger. Ich hatte schon viel wegen dieses Klimas auszuhalten gehabt.

»Sieh mal zu«, gab ihm Kleiber heim, »daß du das Klima verträgst.«

Plötzlich stolperte unsere Wache die Treppe herauf: »Herr Johannes kommt!« Außer der Treppe gab es noch einen Weg über einen halb niedergebrochenen Wachtturm nach dem Graben hinunter, und hinter den Knabengärten her in den Hof zurück. Den schlugen wir auf die Nachricht schleunigst ein. Als Herr Johannes die Treppe betrat, waren wir schon vom Boden weg, und während er den Boden durchschritt – einer der Brüder war bei ihm, um dort Körbe in Empfang zu nehmen –, liefen wir geduckt hintereinander unter der Mauer hin auf der Sohle des Burggrabens nach unseren Gärten, wo wir nachher vor unseren Stiefmütterchen und Primeln herumstanden, als seien wir immer dagewesen.


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