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Es lag ein dunstiger Spätherbstmorgen auf der Erde. Ein kaltes, feuchtes Wetter hing vom Himmel herunter. Der Nebel tropfte von den Zweigen, und vor lauter Dunst waren die Wolken gar nicht mehr zu erkennen.
Die weite Marsch mit ihrem Rickelwerke und ihren langen, geraden Gräben lag wie im Schlafe. Durch den Nebel hörte man das Brüllen der letzten Kühe, die noch draußen waren. Sie waren in den ersten, warmen Maitagen auf die Weide getrieben worden und hatten den ganzen Sommer Tag und Nacht im Freien verlebt. Aber jetzt mochte es ihnen zu kalt sein. Sie sehnten sich wohl nach dem warmen Stalle.
Ein vierzehnjähriger Bauernjunge ging mit schweren, starken Schritten auf dem langen, schmierigen Deiche dahin. Der dicke Lehm klebte in Klumpen an seinen Holzschuhen, wie mühsam war das Gehen auf dem aufgeweichten, glitschigen Boden. Er sollte die brüllenden Kühe hereintreiben. Ein schmaler Fußpfad führte vom Deiche abwärts in die Marsch, vorsichtig ging er in seinen schweren Schuhen hinunter. Und hätte er nicht eine lange Stange in den Händen gehalten, er wäre wohl gar gerutscht und zu Fall gekommen. Da lag ein schweres Eichenbrett über einem Graben. Große Büschel vertrockneter und zerknickter Rainfarren standen an den Seiten des Grabens. Grüner Schmutz überzog weite Stellen des dunklen Wassers, Schilf wuchs daraus hervor. Taumelkäfer, kleine, lustige, silberglänzende Taumelkäfer rasten über die Oberfläche. Und dann kam die Weide. Maulwurfshügel an Maulwurfshügel! Wie gefleckt sah der Boden aus. Wie viele von den sammetpelzigen, grauen Wühlern mochten hier unter der Erde hausen! Wie viele Regenwürmer und Käferlarven von den ewig hungrigen Gesellen im Sommer vernichtet werden? Da kam ein Drehum, noch ein Graben, und er konnte schon das Vieh erkennen. Mit weit vorgestrecktem Halse, weiße Wolken ausstoßend, erwartete es ihn.
Aber was war denn dort hinten dicht bei der alten Scheune los? War eins der Rinder gestürzt? Etwas Großes, Schwarzes lag etliche Schritte von der Scheune entfernt im Grase, was konnte es sein? Vielleicht ein Mensch? Ein Strolch? Verwundert ging Behrend, so hieß der Bauernjunge, dorthin. Da zerteilte sich, als er näher kam, das Schwarze, und wohl dreißig oder vierzig Vögel flogen mit Gekrächze davon und ließen sich hundert Schritte weiter auf einen Zaun nieder.
Behrend ging zu dem Platze, wo die Krähen gesessen, und fand im Grase einen toten Hasen liegen, der war schon steif gefroren wie ein Stock, die Augen fehlten ihm und einige Löcher in seiner Seite zeigten, daß die Krähen ihn angefressen hatten. Behrend stieß ihn mit dem Fuße an. Was mochte dem Hasen gefehlt haben, daß er hier verendete? Ein altes, ausgewachsenes Tier schien es zu sein, das sah man an seiner Länge und Dicke. Ach so, er war geschossen! Hinter einem Ohre waren die Haare durch Blut verklebt. Ja, wer weiß, wie lange das Tier hier schon gelegen hatte. Zu gebrauchen war er nicht mehr, also mochten die Krähen ihn verzehren.
Seinen Stock schwingend ging er zu den Kühen zurück und trieb sie vor sich her. Darauf schienen die Krähen nur gewartet zu haben, denn als er eine Strecke weit war, kehrten sie zum Hasen zurück.
Behrend hatte die Kühe nach Hause getrieben und stand vor der Tür. Da kamen die Nachbarjungen vorbei. Der älteste trug eine Flinte, und die vier andern gingen hinterdrein. »Behrend, geh mit, wir wollen Krähen schießen!« rief einer von ihnen. – »Wohin wollt ihr denn?« – »In die Tannen!« –
Behrend trat näher und erzählte ihnen, was er soeben auf dem Werder mit den Krähen und dem toten Hasen erlebt hatte.
»Da wollen wir hin! Wir brauchen nur dazwischen zu pfeffern!« rief der Älteste, und alle waren einverstanden, und Behrend marschierte mit ihnen.
Die Krähen waren noch bei ihrem Fraße und kümmerten sich anscheinend gar nicht um die herankommenden Knaben. Nur zwei, die sich nicht am Fressen beteiligten, sondern bald hierhin bald dorthin ein paar Schritte machten, bald auf den Zaun, bald auf die Scheune flogen, begannen zu krächzen, und sofort erhoben sich alle von ihrem Mahle in die Luft und flogen davon.
»Wir müssen uns verstecken, sonst kommen wir nicht nahe genug heran!« meinte einer, »Wißt ihr was!« rief ein anderer, »wir gehen in die Scheune und schießen durch ein Loch in der Wand.«
Das schien wirklich das Gescheiteste zu sein, was hätten sie sonst auch tun können?
Alle sechs gingen in die Scheune und machten die Tür hinter sich zu. Aber sie warteten und warteten, keine der Krähen flog wieder herzu. Ruhig abwartend stolzierten sie in sicherer Entfernung über die Weide und lasen bald hier bald dort einen Regenwurm oder ein anderes Eßbares mit dem Schnabel auf. Ein paar der Krähen aber erhoben sich von Zeit zu Zeit in die Luft. Wohl um zu sehen, ob sich auch der im Stich gelassene Hase noch am alten Platze befand. Und hatten sie ihn erblickt, dann stießen sie ein paar krächzende Töne aus, gerade als wollten sie ihren Kameraden mitteilen: »Nur keine Sorge! Er ist noch da!«
Endlich wurde den sechsen in der Scheune doch die Zeit zu lang, und sie berieten, was sie tun sollten.
»Wißt ihr was!« rief Behrend, »die Krähen sind viel zu schlau. Die wissen ganz gut, daß wir hier noch in der Scheune sind. Einer von uns muß über die Weide nach dem Deich zurückgehen, dann werden sie wohl wiederkommen.« Weil keiner etwas Besseres wußte, mußte sich einer von den sechs dazu bequemen. Der ging lustig flötend, damit ihn die Krähen auch ja bemerkten, den Rückweg.
Die andern fünf blieben in der Scheune und erwarteten die Rückkehr der Krähen. Aber die blieben, wo sie waren. Keine einzige kam in die Nähe. – Keiner wußte, was er dazu sagen sollte. Endlich wurde wieder einer weggeschickt. Auch der ging flötend zum Deiche zurück, aber die Krähen blieben fern. Ein dritter mußte gehen. Es nützte noch nichts. Ihm folgte ein vierter. Die Krähen kamen noch nicht heran. Sie begnügten sich einstweilen mit Regenwürmern. Da flogen endlich ein paar auf den Hasen zu, aber sofort stieß eine Krähe, die auf einem Zaunpfahle saß, einige Töne aus, und die Mutigen machten schleunigst kehrt.
Diese Schlauheit der Krähen! Das sah ja gerade so aus, als ob sie die Menschen in der Scheune gezählt hatten. Die beiden, die noch da geblieben waren, sahen sich dumm an und wußten nicht, was sie beginnen sollten. »Geh du noch weg und laß mir die Flinte hier, vielleicht kommen sie dann wieder.« Ja das war wirklich das letzte, was noch versucht werden konnte. – »Es soll mich wundern! Es soll mich wundern!« – Der letzte der Nachbarjungen ging. Behrend blieb allein und sah durch ein Loch bald zu den Krähen, bald zu seinem fortgehenden Kameraden.
Doch kaum war dieser hundert Schritte entfernt, da wurden die Krähen unruhig. Eine nach der andern schwang die Flügel, flog ein Stück näher, krächzte, wartete ... »Aha!« dachte Behrend, »ihr könnt doch nicht ausrechnen, wieviel 6 – 5 ist. Das ist nicht 0, wie ihr meint, sondern 1, und diese 1 bin ich. Aber ihr rechnet doch nicht schlecht dafür, daß ihr nur dumme Krähen seid. Daß 6-4 nicht 0 ist, habt ihr doch richtig ausgerechnet.« Vorsichtig schob er den Lauf des Gewehres durch die Wand und wartete noch ein paar Augenblicke. Da kamen sie herangeflogen und ließen sich wieder auf dem toten Lampe nieder. Drei, sechs, neun, zehn Krähen waren herzugeflogen. Da krachte der Schuß, und erschreckt und eilig flogen sie wieder davon. Nur eine blieb da, schlug mit den Flügeln und krächzte. Behrend öffnete die Scheunentür, lief herzu und fing die sich stark zur Wehr setzende Krähe. Sie zerkratzte ihm die Hände, ehe er ihre Füße festhielt, mit dem Schnabel suchte sie sein Gesicht zu treffen, und sie hätte ihm wohl ein Auge aushacken können. Endlich hatte er sie sicher gefaßt. Seine Kameraden kamen, und das Tier wurde von allen Seiten besehen. Ein Flügel war von der Kugel getroffen. »Das kann noch wieder heilen! Das kann noch wieder heilen!« rief einer der Knaben. »Gib sie mir, Behrend! Gib sie mir!« rief ein anderer, »ich will sie mir zahm machen.«
»Nein! Die behalte ich selber!« antwortete er und nahm die Krähe unter den Arm und trug sie vorsichtig nach Hause.
Ja, aber der kranke Flügel! Was fing er damit an? Der eine riet ihm dies, der andere das. Er wusch die Wunde aus, er strich etwas Öl darauf, und dann band er beide Flügel vorsichtig, aber doch auch fest genug an den Körper des Tieres.
Die so verbundene Krähe setzte er in eine Holzkiste. – Am andern Morgen fütterte er sie mit aufgeweichtem Brote und in Stücke geschnittenen Speckschwarten. Sie nahm nichts, er mußte ihr den Schnabel öffnen und die Nahrung hineinstopfen. Nach ein paar Tagen fraß sie allein. Nach einer Woche kannte sie Behrend schon. Nach drei Wochen war der Flügel geheilt. Aber fliegen konnte sie nicht wieder, nur flattern.
Sie war nun ganz zahm geworden und wurde Hans genannt. Hans hatte ein richtiges Vogelbauer zur Wohnung bekommen und kannte Behrend schon an der Stimme. Er lies frei auf dem Hofe umher. Und schon nach wenigen Tagen war Hans so zahm und hatte sich so sehr an das Haus gewöhnt, daß Behrend ihm alle Freiheit lassen konnte.
Die liebste Beschäftigung der Krähe war das Mäusefangen. Sie kletterte in den Scheunen umher. Sie saß halbe Stunden lang vor einem Mauseloche und wartete, bis die Maus zum Vorschein kam. Dann stürzte sie sich auf das Tierlein und tötete es mit einem Schnabelhiebe und fraß es mit Haut und Haar. Einmal hatte sie sogar in aller Ruhe zugesehen, wie die Katze eine Maus gefangen hatte und nun damit spielte. Als nun die Katze die Maus für einen Augenblick freigab, stürzte Hans darauf zu und fing das Tierlein und eilte, so schnell er konnte, davon. Die Katze fauchte und wütete, aber sie wagte sich doch nicht an die Krähe heran. Freilich Pluto dem Hofhunde war sie nicht gewachsen. Der plagte sie zuweilen, daß sie nicht aus noch ein wußte. Ja, wenn sie noch ihre Flugkraft gehabt hätte!
Eines Sonntags, als Behrend mit seinen Eltern ausfuhr, brachte er Hans, damit ihm nichts passieren konnte, auf den Taubenboden. Da gefiel es ihm sehr. Alle Tauben respektierten ihn sofort. Nach kurzer Zeit hatte er sie sämtlich hinausgetrieben, und keine Taube wagte es vor Beginn der Dunkelheit sich ihm zu nahen. Aber Behrend machte doch ein recht langes Gesicht, als er am andern Morgen sah, daß Hans vier Taubeneier ruiniert und zwei soeben ausgeschlüpfte Täubchen gefressen hatte. Nein, auf den Taubenboden durfte er nicht wieder.
Der Winter ging hin, und die Zeit des Pflügens kam. Hans kannte den Pflug ganz genau. Behrend brauchte nur mit zwei Pferden in die Scheune zu ziehen, so fing Hans lustig an zu krächzen und folgte dem Pfluge Schritt für Schritt, um Würmer zu suchen und Engerlinge.
Eines Tages wurden die Schafe gewaschen, denn sie sollten geschoren werden. Hans ging mit. Das Wasser im Teiche färbte sich und verdarb von den Unreinlichkeiten. Eine Menge kleiner Fische kamen an die Oberfläche und fingen an matt auf der Seite zu schwimmen. Hans flatterte am Ufer hin und her und wütete, weil er die ermatteten Fische nicht zu erlangen vermochte. Ja, er war ein lüsterner und ewig hungriger Gesell. Aber er hatte doch auch seine guten Eigenschaften. Und wen er leiden mochte, den beschützte er auch. Bei einer solchen Gelegenheit fand er einst seinen Tod.
Es war Hochsommer, und zwei Hennen stolzierten mit ihren halbausgewachsenen Küchlein auf dem Hofe umher. Da schoß ein Habicht aus der Luft, um sich eins der Küchlein zu holen. Hans sträubte alle Federn, stürzte auf den Räuber zu und schrie und drang mit seinem Schnabel auf ihn ein. Der Habicht, der sonst längst mit dem Küchlein in seinen Fängen davongeflogen wäre, sträubte sein Gefieder, fauchte, ließ im Zorn seine Beute los und kehrte sich gegen seinen Angreifer und erwiderte dessen Schnabelhiebe. Von allen Seiten versuchte Hans dem Habicht beizukommen. Die Henne desgleichen. Als nun aber das Küchlein sich von seinem Schrecken erholt hatte und eilig davon humpelte, da kannte die Wut des Habichts keine Grenzen mehr. Er stürzte sich auf die Krähe, die ihm den Weg zum Küchlein zu versperren suchte, schlug ihr tief seine langen Krallen in den Leib und hackte ein paarmal mit dem Schnabel nach ihrem Kopfe. In demselben Augenblicke eilte Behrend mit einer Peitsche aus dem Hause. Der Habicht entflog, in der Scheune fanden sich Henne und Küchlein wieder, aber – Hans war tot.