Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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Ja, so stand es mit mir – und ich hatte eigentlich kein Recht, über Lintrup zu lächeln.

Er war schon drei Tage über seinen Urlaub hinaus im Fährhause geblieben, hatte sich im Geschäft mit Kranksein entschuldigt und seine Rückkehr in die Stadt erst für den kommenden Montag in Aussicht gestellt. Drei Tage verblieben ihm noch bis dahin, und er verbrachte sie wie in einem Fieber.

Es war ganz richtig – er war krank, hoffnungslos krank, wie es sich mit ihm anließ, und Anka schien es darauf angelegt zu haben, ihn täglich noch elender zu machen.

Eines Abends, auf einer Bootsfahrt durch die Wiesen, 126 schlug sie vor, gemeinsam zu baden. Sie fand die Luft so drückend und schwül.

Fräulein Berg widersprach, aber Schulna war bereits auf die Wiese hinaus und begann sich zu entkleiden, und so schwieg sie beleidigt, schlug ein Buch auf und begann zu lesen.

Anka hatte sich hinter dem Segel im Boote entkleidet, und Lintrup kam zu uns ans Land.

Als wir mit dem Auskleiden fertig waren, sahen wir Anka bereits unterhalb des Bootes schwimmen.

Lintrup, dessen Augen immer nach Anka gingen, tauchte im selben Augenblick ins Wasser und begann ihr mit langen Stößen nachzuschwimmen.

Er schwamm ausgezeichnet, ruhig und überlegen, und mußte Anka bald eingeholt haben.

»Na, dann ist Anka ja in guter Hut,« sagte Schulna. »Aber wir wollen vernünftiger sein und lieber stromauf schwimmen. Wenn wir zurückkommen, treiben wir mit der Strömung bequem wieder hierher.«

Was vorauszusehen gewesen war, geschah. Als die beiden andern zurückkehren wollten, ermüdete Anka beim Schwimmen gegen die Strömung schneller, als sie wohl vorausgesehen hatte, schwamm darum kurz entschlossen ans Land und legte den Weg zum Boote im Laufen zurück.

Nein, sie hätte es nicht tun sollen. Oder ahnte sie vielleicht nicht, welchen Brand sie in Lintrups Seele entfesselte, nun sie ihren Körper seinen Blicken aussetzte? Aber vielleicht war es wirklich zu beschwerlich für sie, gegen die Strömung anzukämpfen.

Als wir wieder im Boote saßen, sah ich, wie Lintrups Augen an uns vorbei in die Weite starrten. Mir war, als habe er nie so ausgesehen. Sein Gesicht erschien bleich, 127 und sein Atem ging heftiger als sonst. Aber vielleicht kam das vom Schwimmen und der Anstrengung, mit der er gegen die Strömung gekämpft hatte.

»Zum Teufel, sagen Sie 'mal einen Ton,« schalt Schulna und schlug ihm mit der flachen Hand derb auf die Knie.

Er fuhr zusammen, lächelte verwirrt und glitt, als er nicht mehr beobachtet wurde, wieder in seine Träume zurück.

Im Westen begann ein Wetter aufzusteigen. Herrlich, wie die blauschwarze Wand sich am Himmel heraufschob und über Fluß und Wiesen nun die Beleuchtung wechselte.

Anka lag in der Spitze des Bootes, ließ die Hände ins Wasser hängen und sah stumm und lächelnd in das Abendrot, das neben dem höher kommenden Gewitter in dunkler Glut verlohte.

Sie hatte wohl keine Vorstellung von dem, was sie in Lintrup angerichtet hatte.

Da zuckte ein Blitz auf. Jetzt wieder einer. »Wie schön!« rief sie.

Der Wind war abgeflaut. Wir hatten das Segel aufgewickelt und den Mast niedergelegt, und Schulna begann mit Macht zu rudern, um uns vor dem Ausbruche des Gewitters zum Fährhause zurückzubringen.

Ich schlug vor, das Wetter lieber in meiner Hütte vorübergehen zu lassen, die wir in wenigen Minuten erreichen mußten, fand aber keine Zustimmung damit. Das bißchen Regen sei nicht der Rede wert, meinte Schulna, und das Gewitter noch so weit entfernt, daß man noch ganz gut das Fährhaus erreichen könne.

So sprang ich denn bei meiner Hütte allein ans Ufer.

»Kommen Sie heute abend noch ein wenig zu uns 128 herüber«, bat Schulna, während bereits die ersten Regentropfen aufs Wasser schlugen.

Die Mädchen winkten zum Abschied und riefen »Auf Wiedersehen!« – und Lintrup mühte sich ab, das Segel vom Mast abzuwickeln, damit die Mädchen darunter Schutz vor dem Regen fänden.

Das Boot kam in der ruhigen Strömung des Flusses gut voran, aber der Regen wurde mit jeder Sekunde stärker. Als ich sie von meiner Hütte aus drüben unter den Bäumen ans Ufer steigen sah, goß es bereits in Strömen.

Ich nahm das Glas und sah, wie Lintrup dicht hinter Anka auf die Veranda des Hauses zulief.

Es sah beinahe komisch aus, die beiden hintereinander her durch den Garten laufen zu sehen. Mochten Schulna und Fräulein Berg sehen, wie sie mit dem Boote fertig wurden . . .

Das Wetter hielt länger an, als vorauszusehen gewesen war, und es war schon spät geworden, als ich doch noch für eine Stunde zum Fährhause hinunterfuhr.

Haus und Garten schienen still und verlassen. Nur hin und wieder fiel ein später Tropfen aus den nassen Kronen der Pappeln und klatschte auf einen der Gartentische.

Vielleicht, daß man sich noch in der Gaststube zusammengesetzt hatte? Denn das Fenster lag so, daß ich es vom Flusse aus nicht zu sehen vermochte.

Aber dann sah ich, daß auch dort alles dunkel war.

Als ich verwundert über die Veranda ins Haus gehen wollte, gewahrte ich Lintrup, der dort in einer Ecke allein an einem Tische saß.

»Halloh!« rief ich, erfreut, endlich jemand zu treffen.

»Sie sind es?« sagte er und stand auf, mich zu begrüßen. 129 »Wir haben eigentlich nicht mehr auf Sie gerechnet, nachdem das Gewitter so lange anhielt. Im Hause ist darum bereits alles – – Wollen Sie ein wenig bei mir Platz nehmen? Ich sitze hier noch ein wenig und genieße die Luft. Es ist so wundervoll hier draußen nach dem Gewitter. Es war doch recht arg vorhin, nicht wahr? Dort drüben brennt es noch immer. Ich beobachte das Feuer schon eine ganze Weile. Wissen Sie, welches Dorf dort liegt? Kreienmoor? So? Aber Sie kennen die Gegend hier ja besser als ich, natürlich.«

Er war ganz verwirrt, der arme Kerl. Aber er brauchte sich nicht so große Mühe zu geben, um mich zu überzeugen, daß er nur der Luft wegen noch allein hier draußen sitze. Er konnte von dem Platze aus, den er sich da erwählt hatte, gut zu Ankas Fenster hinaufsehen. Gerade jetzt zündete sie drinnen die Lampe an, und man sah ihren Schatten auf den weißen Vorhängen vorübergleiten. Sie war wohl dabei, sich zu entkleiden, oder flocht ihr Haar für die Nacht ein.

»Und Schulna ist auch schon zu Bett gegangen?« fragte ich.

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Die Wahrheit zu sagen: Wir sind vorhin ein bißchen aneinander geraten, ja. Nein, nichts von Bedeutung, bewahre. Aber Herr Schulna kann mitunter so etwas Herausforderndes haben. Er war ein wenig unfreundlich vorhin beim Abendbrot. Ich bitte Sie, war ich vielleicht an dem Regen schuld, der uns vorhin im Boot überfiel? Aber ich nehme es nicht weiter ernst. Selbstverständlich nicht. Es war wohl nur eine augenblickliche Laune von ihm, nichts weiter.«

Er hatte nur leise gesprochen, als fürchte er sich, die große Stille zu unterbrechen, die über Haus und Garten lag. 130

»Kommen Sie noch ein wenig mit zu mir?« fragte ich, mehr um ihm ein freundliches Wort zu sagen, als in der Erwartung, daß er einverstanden sein würde.

»Nein, ich – Sie müssen schon entschuldigen . . . Es ist doch bereits recht spät geworden. Übrigens, beunruhigen Sie sich nicht. Ich werde morgen früh die Sache schon wieder in Ordnung bringen. Es war ja im Grunde nicht der Rede wert . . . Sie wollen schon gehen? Gute Nacht denn!«

Ich ging über den Rasen wieder zum Fluß hinunter und wollte eben mein Boot wieder loswerfen, als etwas Unerwartetes geschah.

Ankas Fenster öffnete sich, die Vorhänge wurden zurückgezogen, und ich sah im Schein ihrer Lampe ihren schlanken Körper sich in den Garten hinunterneigen.

»Sitzen Sie noch immer da unten?« rief sie in das Dunkel hinab.

»Ja, ich bin hier!« antwortete Lintrup. »Ich hatte so angenehme Gesellschaft. Sehen Sie den Brand dort drüben? Nein, weiter im Osten. Es muß eine Scheune sein. Wahrscheinlich ist es Kreienmoor. Aber jetzt ist das Feuer doch schon stark heruntergebrannt.«

Ich war bereits ins Boot getreten, verstand aber in der regungslosen Stille der Nacht jedes Wort.

»Gesellschaft hatten Sie,« fragte Anka und beugte sich tiefer herab, um besser in die Dunkelheit hinaussehen zu können.

»Ja, Ohl war noch hier.«

»Nun, da will ich nicht stören,« sagte Anka. »Gute Nacht. Sitzen Sie nur nicht mehr so lange dort unten, hören Sie? Die Nacht ist so feucht.«

Damit schloß sie das Fenster. 131

»Fräulein Anka,« flehte Lintrup leise und erregt. »Fräulein Anka! Noch ein Wort!«

Aber da wurden auch schon die Vorhänge zugezogen, und die Stille der Nacht kehrte wieder in den leise tropfenden Garten zurück.

Sekundenlang blieb alles still. Dann kamen eilige Schritte vom Hause her zu mir herunter.

»Halloh!« rief eine Stimme. »Vielleicht nehmen Sie mich doch noch ein Stück mit in die Wiesen hinaus. Ja? Wollen Sie?«

Es war Lintrup. Er setzte sich zu mir ins Boot, und ich sah nun im Lichte des Mondes, der jetzt hinter der Wolkenbank im Osten hervortrat, wie bleich sein Gesicht war, vermied es aber, zu ihm hinüberzusehen.

Also so stand es zwischen ihm und Anka. Aber hatte ich es vielleicht nicht gewußt? Es gab wirklich keinen Grund, verwundert oder überrascht zu sein.

»Darf ich Ihnen eine Frage vorlegen,« fragte er nach einer Weile, in der ich ruhig und mit langsamem Ruderschlage das Boot wieder in den Fluß hinausgetrieben hatte. »Sie sind immer freundlich zu mir gewesen und werden darum verzeihen, wenn ich Ihnen mit einer Angelegenheit komme, die Ihnen vielleicht lächerlich erscheinen wird.«

Er verstummte und sah grübelnd vor sich nieder.

»Sprechen Sie nur,« sagte ich und hielt im Rudern inne, um ihm meine Aufmerksamkeit zu beweisen.

»Nun, ich wollte fragen – denn Sie wissen es ja nun doch . . . daß ich Fräulein Anka liebe, meine ich.«

»Ach,« sagte ich, als überrasche es mich. Aber es war nur Höflichkeit und Verwunderung über die plötzliche Offenheit, die er mir bewies. 132

»Ja, und da wollte ich Sie fragen, ob vielleicht Herr Schulna bereits Rechte auf Fräulein Anka hat?«

»Und das fragen Sie mich?« sagte ich.

»Verzeihen Sie, ja. Ich kann doch nicht gut Herrn Schulna eine solche Frage stellen. Denn wenn ich ganz ehrlich sein darf, ich fürchte beinahe, daß es so ist. Ja, nicht wahr, Sie begreifen, daß mir das nicht gleichgültig sein kann? Es ist nicht wegen des kleinen Vorfalles vorhin beim Abendbrot, wenn ich auch meine, daß er es nicht gut ertragen kann, wenn ich zu aufmerksam gegen Fräulein Anka bin, aufmerksamer vielleicht, als es die Gelegenheit gerade erfordert. Aber neulich nachts war ich im Dorf gewesen und komme zufällig später als sonst ins Fährhaus zurück – nein, verstehen Sie mich nicht falsch, ich will nichts ausplaudern, das müssen Sie nicht von mir denken, nein!«

Er verstummte von neuem und sah unglücklich und hilflos zu mir herüber.

»Ich bin mir ja durchaus nicht ganz sicher,« fuhr er fort, »aber ich meine doch, als ich um das Haus herumbog und in den Garten trat – genug, ich fürchte seitdem, daß ich mit meiner Annahme recht habe.«

»Zum Teufel,« sagte ich, »warum ziehen Sie denn nicht Ihre Folgerungen daraus und verschwinden? Packen Sie Ihren Koffer, Mann! Vielleicht, daß Sie dann in vierzehn Tagen klüger sind, als Sie hier in einem Vierteljahre werden können.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er erregt. »Nein, was für ein Vorschlag das ist! Ich habe nur noch die wenigen Tage hier draußen, sehen Sie, und ich bin entschlossen, nicht eine einzige Minute davon zu opfern. Niemand kann das im Ernst von mir verlangen.« 133

»So,« sagte ich. »Nein, Sie brauchen auch durchaus nicht auf mich zu hören. Zuletzt muß jeder selbst wissen, was er tun und lassen will.«

Er sah traurig und bekümmert vor sich nieder, schüttelte den Kopf und antwortete leise: »Ich hatte geglaubt, bei Ihnen ein wenig Zuspruch zu finden. Ich hatte so großes Vertrauen zu Ihnen. Nicht, daß ich mir eingebildet hätte, Sie schätzten mich sehr. Nein, um Fräulein Ankas willen, meine ich. Zuerst habe ich ja gemeint, Sie liebten Anka. Ja, Sie müssen mir nicht böse sein, daß ich so offen bin. Sie konnte zuweilen so merkwürdig versonnen zu Ihnen hinüberblicken. Ich habe Sie in den Tagen sehr beneidet. An Schulna dachte ich zuerst garnicht. Ich kam ja völlig fremd in Ihre Gesellschaft hier und hatte natürlich zuerst ein wenig Mühe, mich zurechtzufinden.«

Ich merkte, es bedeutete ihm schon etwas, nur von Anka sprechen zu können; es entspannte ihn, und er war glücklich, daß ich ihm zuhörte.

»Überhaupt ihre Augen,« fuhr er fort. »Ich habe nie ein so rätselhaftes Auge gesehen, ein Auge, das von solcher Schönheit wäre. Aber vielleicht ist ihr Gang noch schöner, finden Sie nicht? Es ist eine so unnahbare Hoheit darin, – wie soll ich sagen? – ein so Leichtes, Müheloses – ich weiß nicht, wie ich es bezeichnen soll.«

Siehst du, sagte ich zu mir, während er weiter sprach und mit träumerischen Augen über die Wiesen blickte, über welche sich bei der sinkenden Kühle der Nacht der Nebel spann, da sitzt er nun und phantasiert, der Ärmste. Wie würde Anka lächeln, wenn sie ihn so hörte . . . »Sitzen Sie da noch immer im Dunkeln? Sehen Sie zu, daß Sie sich nicht erkälten, die Nacht ist so feucht . . .« Aber das lag 134 wohl daran, daß sie um ein halbes Dutzend Jahre älter war und Lintrup wie ein Kind behandelte.

Als wir zum Fährhause zurückkamen, stand Schulna am Ufer. Er mußte wohl die Schläge meines Ruders von weitem gehört und uns erwartet haben.

»Zum Kuckuck, wo stecken Sie denn?« rief er. »Ah, und da ist ja Lintrup auch! Herr Lintrup, wollte ich sagen.«

»Wir meinten, Sie wären längst schlafen gegangen,« rief ich überrascht und trieb das Boot ans Land.

»Schlafen gegangen? Ich denke nicht daran. Kann man in einer solchen Nacht schlafen?«

»Niemals sah ich die Nacht beglänzter,
Diamantisch reizen die Fernen«,

rezitierte er. »Im Dorfe war ich und schon im Begriffe, zu Ihrer Hütte hinüber zu kommen, als ich Sie hier nicht fand. Heraus aus dem Boot jetzt! Ich habe den Mädchen eine Katzenmusik zugedacht. Gießkanne, Topfdeckel und Taschenkamm. Lintrup übernimmt den Gesang. Herr Lintrup, wollte ich sagen. Wie? Sie können nicht singen? Auch gut. Dann singe ich, nicht Sie, und Sie blasen dazu:

Schöne Minka, ich muß scheiden –
Ach, du fühlest nicht das Leiden . . .
Tschin bum, tschin bum – o weh!«

»Nehmen Sie sich in acht, er ist betrunken!« flüsterte Lintrup mir zu, als ich das Boot festlegte.

»Hinterher trommeln wir das ganze Haus aus dem Schlafe!« fuhr Schulna fort. »Ist das eine Art? Eine solche Nacht zu verschlafen! Lassen wir Fräulein Berg ruhig ihr programmäßiges Entsetzen kriegen. Wir haben uns lange genug über sie entsetzt, zum Kuckuck! Was 135 denn! Behrens? Der freut sich am Ende, wenn noch ein paar Flaschen Wein über Nacht leer werden. Und auf die beiden Fremden, die vorgestern eingezogen sind, pfeifen wir. Sie machen so langweilige Gesichter, daß sie froh sein werden, wenn wir ihnen einmal zeigen, was es heißt, hier im Fährhause zu wohnen. Holla, Lintrup, – Herr Lintrup, wollte ich sagen – suchen Sie die Gießkanne, – oder halt! nehmen Sie den alten verzinkten Schweinetrog da am Stall – der muß einen wundervollen Ton abgeben!«

»Bitte, lassen Sie meinen Arm los, Herr Schulna!« bat Lintrup. »Überhaupt muß ich Ihnen sagen, daß mir Ihr Vorschlag in höchstem Maße geschmacklos erscheint. Den Damen eine Katzenmusik zu bringen! Sie können wirklich nicht erwarten, –«

Aber das war nur Wasser auf Schulnas Mühle.

»Also gut,« lachte er und klatschte sich vor Vergnügen auf die Knie. »Sie dürfen hinterher unter Ankas Fenster gehen und sich die Hände in Unschuld waschen. Sie schläft dort drüben, wenn Sie es noch nicht wissen sollten. Ich rate es Ihnen sogar, gratis und franko!«

»Sie – Sie sind ja betrunken!« sagte Lintrup verächtlich und ließ ihn stehen.

»Wie?« schrie Schulna und folgte ihm auf dem Fuße. »Das wagen Sie mir zu sagen?«

»Bitte,« sagte Lintrup und hob abwehrend seinen Arm. »Lassen Sie mich meines Weges gehen, nicht wahr?«

Der Mond schien jetzt, nun wir aus dem Schatten der Bäume heraus näher ans Haus getreten waren, so hell, daß ich aus der Entfernung jede Bewegung der beiden verfolgen konnte.

Jetzt wird Anka, von dem Lärm ans Fenster getrieben, hinter ihrem Vorhang heruntersehen, mußte ich denken, und 136 sie wird lächeln, wie sie immer lächelt, wenn sie merkt, daß ein Mann um ihretwillen leidet.

»Wenn Sie einen Weg haben, so gehen Sie ihn doch! Bitte, so gehen Sie ihn doch!« schrie Schulna in aufbrausender Wut und schüttelte seine Fäuste vor Lintrups Gesicht, der mit zusammengepreßten Lippen und Augen voll Feindschaft auf seinen Gegner blickte. »Hören Sie? Gehen Sie doch in des Teufels Namen! Blasen Sie in Ihrem Zimmer ein sentimentales Lied, ja? Das wird besser zu Ihnen passen, Sie halbgares Küken Sie!«

Er stand in seiner ganzen Breite mit auseinandergespreizten Beinen vor dem schmalen Jungen und brach, als Lintrup ihm ruhig und mit verächtlicher Miene den Rücken zuwandte, in ein höhnisches Gelächter aus.

»Da geht er hin, der Zieraffe!« sagte er und wandte sich wieder zu mir. »Aber da sehen Sie es, nicht wahr? Er ist so verliebt, daß er selbst zu einem Spaß nicht mehr zu gebrauchen ist. Hol' der Teufel den Waschlappen! Aber nun gerade! Er soll noch seine Freude an mir haben diese Nacht.«

Er ging unter Ankas Fenster, nahm die Gitarre, die er vorhin auf einem Tische in der Veranda liegen gelassen haben mußte, und begann auf dem verstimmten Instrument aus dem Stegreif zu singen:

»Holde, neige dich von oben,
Hör' mich deine Schönheit loben,
Deine Augen, deine Lippen,
Deine Wangen, deine Rippen,
Deine Füßchen, schlank und süß,
O du holdes Paradies!«

Er war wirklich betrunken.

Aber jedes Wort, deutlich und scharf gesungen, flog 137 wie ein giftiger Pfeil zu Lintrups Fenster hinüber, der ins Haus gegangen war und soeben in seinem Zimmer Licht gemacht hatte und sich nun aus dem Fenster bog, um die Flügel heranzuziehen und zu schließen.

Aber Anka verriet sich nicht mit einer einzigen Bewegung ihrer Gardinen.

Ich war froh, als auch in Lintrups Zimmer das Licht erlosch und Schulna, nun er merkte, daß sich wirklich niemand um ihn kümmerte, mit seinem blöden Gesang aufhörte.

Aber er randalierte noch eine ganze Weile und verfiel zuletzt auf die Idee, Ankas Stimme nachzuahmen und Lintrup ein Wechselgespräch mit ihr vorzutäuschen und ihn weiter zu reizen.

»Sieh' da! Endlich! Guten Abend, Anka! Wie? Kommen Sie noch ein wenig zu uns herunter?« begann er.

»Jetzt noch? Es ist doch Schlafenszeit.«

»Aber der Mondschein, Fräulein Anka! Ich sage Ihnen, zauberhaft. Und Herr Lintrup wäre so glücklich, wenn Sie noch für eine Viertelstunde . . .«

»Sitzt er denn noch immer da unten?«

»Selbstverständlich. Toggenburg war ein Waisenknabe gegen ihn.«

»Ach, der Ärmste.«

»Nicht wahr? Sie kommen?«

»Wenn Sie ein wenig Geduld haben wollen?«

Dann bog er sich vor verhaltenem Lachen. Er fand dies alles außerordentlich lustig.

Als ich heimfuhr, muß es lange nach Mitternacht gewesen sein. Der Fluß schimmerte zauberisch im Mondlicht, und auf den Wiesen braute der Nebel. Aber der Himmel stand jetzt wieder hoch und klar über der schweigenden Erde, und die Stille der Nacht war so tief, daß ich vor 138 meiner Hütte den ersten Hahnenschrei vom Fährhause herüber hören konnte.

Ich legte das Boot fest und stieg eben den kleinen Hang zu meiner Warf hinauf, als sich aus dem Schatten meiner Hütte eine Gestalt löste und in den hellen Schein des Mondes trat.

Es war Anka.

Ich traute meinen Augen nicht. »Wirklich,« sagte ich überrascht, »Sie sind es?«

»Erschrecken Sie nicht,« lächelte sie. »Aber es ist ein wenig Ihre Schuld, wenn ich Ihnen hier mitten in der Nacht begegne. Ja, ich bin vorhin über die Wiesen hierher gekommen. Es war so schön, durch den niedrigen Nebel und das webende Mondlicht zu gehen. Dazu die Stille und die große Einsamkeit ringsum. Ich hörte Sie nämlich vorhin beim Fährhause mit Herrn Lintrup sprechen, und da ich nicht schlafen konnte, ging ich von meinem Zimmer aus an den Fluß hinunter und wollte Sie bitten, mich noch ein wenig mit ins Boot zu nehmen. Aber Sie waren schon fort. Da bin ich am Flusse hinaufgegangen, und meinte, sie wären hierher gefahren, traf Sie aber nicht an und setzte mich auf die Bank da neben Ihrem Hause, um Sie zu erwarten. Aber Sie sind länger ausgeblieben, als ich annahm. Immerhin, die Zeit ist mir nicht lang geworden. Es sitzt sich so gut dort bei dem weiten Blick, den man da oben hat. Die Wiesen sind so märchenhaft schön in dieser Nacht. Denken Sie, Gram schlug nicht einmal an, als ich zur Hütte hinaufging. Er kennt meinen Schritt wohl schon. Aber wie ungeduldig er jetzt geworden ist, nun er Ihre Stimme hört. Was war es denn für ein Lärm beim Fährhause vorhin? Man hört in der Nacht so weit. War es nicht Schulnas Stimme?« 139

»Ja, er war ein wenig ausgelassen und übermütig. Sie kennen ihn doch.«

Also gar nicht in ihrem Zimmer gewesen ist sie, dachte ich, und Schulna hat sich unter ihrem Fenster die Kehle ausgesungen. Wie lustig das zu denken ist! Und Lintrup hatte ebensowenig eine Ahnung davon wie er und liegt nun in seiner Kammer und grämt sich, weil Schulna ihm vor Ankas Augen einen Auftritt machte.

Wir waren die Warf hinaufgestiegen, aber ich kam nicht dazu, die Hütte aufzuschließen.

»Ich freue mich, Sie endlich einmal ungestört und allein sprechen zu können,« sagte Anka. »Seit dem Tage, als Sie zu uns in die Stadt kamen, – damals in den Tagen, als Dina abreiste, meine ich – habe ich Sie ja kaum einmal ein paar Minuten für mich gehabt. Und damals entstand eine so merkwürdige Spannung zwischen uns. Sie müssen recht ungehalten über mich gewesen sein! Nein, widersprechen Sie mir nicht. Ich könnte heute nicht mehr sagen, was damals so plötzlich über mich kam. Ich hätte das längst wieder gut machen, Ihnen ein Wort darüber sagen sollen. Aber immer wieder, wenn ich mit Ihnen zusammen war, standen Sie vor mir, – ja, wie ein verschlossenes Haus, – kaum, daß Sie einmal flüchtig aus dem Fenster schauten. Ich weiß wohl, daß Sie damals nur um Dinas willen gekommen waren, daß Sie Dina liebten . . . Ja, gestehen Sie es nur. Ich hätte ja blind sein müssen, wenn ich es nicht bemerkt hätte. Sie hatten sich zu deutlich verraten.«

»Hatte ich das?«

»Gott weiß, daß Sie das hatten!« sagte sie und lachte leise und gezwungen auf. »Aber ich bin Ihnen dankbar gewesen, daß Sie diesen Tag, der so beschämend für mich 140 war, nie wieder berührten. Ah, dachte ich, er hätte es so leicht, dich mit einer Bemerkung darüber zu demütigen. Aber er tut es nicht, nein. Er übersieht es, wie Du ihn damals gekränkt hast.«

»Sprechen Sie nicht so,« bat ich sie. »Es war eine Lektion für mich und eine recht heilsame, wie ich sagen muß. Sie hielten mir einen Spiegel vor, und es war gut, daß ich hineinschaute. Ich war ja so eitel gewesen, zu glauben –«

»Nein,« sagte Anka, »sprechen wir nicht mehr davon. Vielleicht lag es nur an der Stunde – aber wir verstanden uns nicht, in dem Augenblick nicht . . . Sie standen da, und alle Ihre Gedanken waren bei Dina. Ich weiß nicht, ob unser Gespräch, wenn wir es heute miteinander führten, nicht einen anderen Ausgang nähme. Denn heute würden Sie vielleicht ein wenig freier in sich sein, würden Dina vielleicht nicht mehr ganz mit derselben Glut lieben und alles andere darüber vergessen, was weiß ich? Alles wandelt sich ja auf dieser Erde, und wir sind schon morgen nicht mehr ganz dieselben wie heute.«

Eine dumpfe Traurigkeit stieg in mir auf. Eine Komödie dachte ich, wieder eine Komödie? Warum ist sie nicht einmal ganz offen zu mir?

Gut, daß ich im Schatten der Hauswand stand und sie in meinen Mienen nicht zu lesen vermochte, während ihr Gesicht, vom vollen Licht des Mondes übergossen, in einer fremden Schönheit leuchtete, sodaß ich jede Bewegung darin zu verfolgen vermochte.

»Fräulein Anka,« sagte ich leise.

»Nun?«

Ich sah, wie ihre Miene sich spannte und sie nur darauf wartete, mir jedes Wort von den Lippen zu lesen.

Aber ich war außerstande, zu sprechen, schüttelte nur 141 den Kopf und blickte von ihr weg über die Wiesen hin, auf denen der Nebel langsam höher stieg.

»Nein,« sagte sie müde, und ihre Schultern sanken herab, »geben wir uns keine Mühe mehr miteinander. Ich bin überzeugt, wir würden uns auch heute wieder nicht begegnen. Es macht traurig, das zu wissen. Traurig und still. Sie haben nicht einmal erraten, warum ich zu Ihnen gekommen bin – daß ich Ihnen nämlich ein Unrecht abbitten wollte, sehen Sie.«

»Nein, sprechen Sie nicht weiter,« unterbrach ich sie. »Hören Sie? Lassen Sie das Vergangene. Jede Stunde hat ihr eigenes Recht, und mitunter versteht schon die nächste sie nicht mehr . . .«

»Doch,« sagte sie und betonte jedes Wort. »Sie sollen wissen –«

»Fräulein Anka, nein, demütigen Sie sich nicht so. Ich will es nicht. Ob ich weiß oder nicht weiß –«

»Wissen Sie denn, wie ich in Wahrheit bin?« sagte sie und näherte ihr Gesicht dem meinen. »O, Sie werden erstaunter sein, als Sie jetzt ahnen. Denn ich bin schuld, daß Dina Sie verließ und nach Indien ging, ich, ich allein, verstehen Sie? Denn sie wollte nicht, die Gute. O nein, sie hatte so viele Bedenken. Aber ich – hören Sie? – ich wußte, daß Sie sie liebten und daß es Sie schmerzen würde, sie zu verlieren. Und darum habe ich ihr zugeredet, Tag für Tag! Denke an Deinen Bruder, sagte ich ihr, denke an die Sonne dort und wie das Meer Dich kräftigen wird – – – hahaha, bis sie ging und überzeugt war, daß es so am besten sei, weil – weil Sie mich liebten! Zugleich wußte ich, daß Sie hier in Ihrer Einsamkeit der Schmerz um Dina doppelt treffen würde. Und das war mir eine Freude zu denken, hören Sie? Zu wissen, daß Sie hier 142 saßen und die Lippen aufeinander bissen in den Stunden des Verlassenseins . . . Nun? Heben Sie nicht Ihre Hand, mir ins Gesicht zu schlagen? Wie? Stoßen Sie nicht mit dem Fuße nach mir wie nach einem giftigen Reptil? Hahaha – so stehen Sie doch nicht so da! O, glauben Sie nicht, daß ich nicht wüßte, was ich sagte. Es war nicht ein Wort zu viel in dem, was ich Ihnen da eben gestanden habe. Wie? Kann das ein Mann ertragen, und soll ich vielleicht auch über Sie lachen, wie ich über mich lache – daß, daß Sie mir nicht vom ersten Tage an so gleichgültig waren wie der Sand unter meinem Fuße?«

»Anka!«

»Geraten Sie endlich in Zorn? Nein? Immer noch nicht? Wollen Sie, daß ich Ihnen noch mehr verrate, Ihnen sage, daß ich Dina jetzt gebeten habe zurückzukommen, weil ich fürchtete, sie hätte sich allmählich an die Trennung gewöhnt, zu der ich sie verurteilt habe? Nun? Was sagen Sie? Verstehen Sie mich immer noch nicht? Hahaha!«

Ihr Lachen ging in ein krampfhaftes Schluchzen über. Sie wandte sich von mir ab, bedeckte ihre Augen und stampfte aus Zorn über sich und die Bewegung, von der sie übermannt worden war, mit dem Fuße auf.

»So sprechen Sie doch endlich!« rief sie und hob ihr verweintes Gesicht wieder zu mir empor. »Sie sind furchtbar in Ihrem Schweigen –«

»Bin ich das?« sagte ich leise und erschüttert. »Wie müssen Sie gelitten haben! Aber nun muß es damit zu Ende sein, nicht wahr? Alles wird wieder klar und ruhig zwischen uns sein, wir sind wieder gute Freunde, Anka – ja? Wußten Sie nicht, daß ich Ihnen nicht zürnen kann, nicht einen Augenblick daran gedacht habe.«

»Aber das ist es ja!« rief sie. »Nein, berühren Sie mich 143 nicht, hören Sie? Ich wünschte, Sie haßten mich – ja! Alles wäre soviel leichter. Wenigstens hätte ich einen Grund, auch Sie zu hassen!«

»Anka!«

»Ja, hören Sie es: Ich wünschte, daß ich Sie haßte!« Ihr Körper bebte, und ihre Hände ballten sich. »Glauben Sie mir vielleicht nicht? Kein Mann hat mich so gedemütigt wie Sie! Aber es ist gut so, ausgezeichnet . . . es liegt eine so gute Hilfe für mich darin. O, ich könnte mich erwürgen, daß ich Sie nicht längst zu hassen vermochte . . .«

»Anka, nein, Sie dürfen jetzt nicht gehen, in diesem Augenblick nicht gehen . . . weiß ich doch nun, daß mich niemand in meinem Leben so – geliebt hat wie Sie! Wissen Sie noch? Ich schnippe mit den Fingern, sagten Sie. O, ich hätte klüger sein sollen damals – Ihnen ein wenig helfen sollen.«

Ich verstummte vor dem Blick aus ihren Augen, die noch immer von Tränen erfüllt in ihrem bleichen Gesichte standen.

»Wie?« sagte sie. »Haben Sie gewagt, es auszusprechen? Nie hätten Sie das dürfen. Hören Sie? Niemals! Kann ein Mann so grausam sein?«

Mir sanken die Arme, und ich ließ sie weinen . . . Sie stand an eine alte Weide gelehnt, und ihr Körper schütterte unter den Stößen ihres Atems und dem hemmungslosen Strom ihrer Tränen.

»Warum machen wir es uns nur so schwer?« sagte ich leise. »Vielleicht, daß schon der nächste Tag –«

Sie schüttelte ungestüm und trotzig den Kopf. »Nein,« sagte sie. »Machen Sie keinen Versuch, mich trösten zu wollen. Es wäre lächerlich und eine Beleidigung zugleich. Sie sollen mich gehen lassen jetzt! Alle Worte sind so überflüssig. Ich kam hierher, weil ich frei sein wollte, 144 innerlich frei . . . ich wollte nicht länger besser vor Ihnen erscheinen, als ich bin. Gut, Sie wissen jetzt alles. Vom ersten Tage an. Es ist wahr, vielleicht habe ich Sie einmal geliebt. Vielleicht! Aber ich habe Sie vergessen, werde Sie jeden Tag mehr vergessen. Ja, was sehen Sie mich so an? Habe ich vielleicht in Wahrheit erwartet, mich von Ihnen wieder geliebt zu sehen? O, ich glaube, ich brauche mir nicht mehr viel Mühe zu geben, Sie zu hassen. Ah, Sie zweifeln daran? Ich werde Ihnen beweisen, daß mein Herz längst wo anders ist. In den nächsten Tagen schon . . . Was wollen Sie – ich werde heiraten, ja wohl! Haben Sie es vielleicht anders erwartet?«

O, sie verstand es, einen zu überraschen. Aber ich zeigte ihr nicht, wie verwundert ich war.

»Leben Sie wohl,« sagte sie kalt, als ich nur gleichmütig nickte, »und gehen Sie Ihren Weg – ich werde den meinen gehen!«

»Hoffentlich ist es ein Weg, den Sie gehen!« sagte ich leise.

»Und wenn nicht – was ginge es Sie an?« antwortete sie über die Achsel und schritt die wenigen Schritte bis zum Fuß der Warf hinab. Einen Augenblick lang sah ich sie noch, dann tauchte ihre Gestalt in den Nebel, der jetzt mehr als mannshoch über den Wiesen lag. Es sah aus, als wäre sie vor meinen Augen plötzlich in einem Meere versunken.

Arme Anka!

Der Mond schien kraftlos und blaß. Er sah aus wie eine Scheibe aus grauem Eis. Die Sterne waren schon erloschen. Im Osten dämmerte der Tag. 145

 


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