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»Hm hm! – Ja, was vorliegt, das liegt vor, daran ist nichts abzuzwacken; und daran auch nicht: was eben vorliegt, muß gemacht werden! – Hm! – Aber! – Was knuffst du mich, he? – Nikel, du bist kein dummer Kerl, aber ich weiß auch, was ich red, drum brauchst du mich nicht anzustoßen! – Ja, – eben, – hm! Höllisch verwunderlich ist mir's doch! Hätt doch nicht gedacht, daß das Evebärble gar so fix Ernst macht mit 'nem andern! – Hm, hm! – Ja, die Welt ist rund und dreht sich, sagt unser Herr Kanter, und wenn ich so den Lauf der Dinge betrachte, möcht mir das schier selber einleuchten, obgleich ich für meinen Part nunmehr drauf sterben will, daß die Sonne auf- und untergeht, wie in unsrer Zeit gelehrt worden ist, und wie's täglich der Augenschein ergibt! – Hm, hm! – Ja, trau einer dem Weibervolk, das ist 'ne wetterwendische Art, obgleich, – wenn man's recht überlegt, – das Mädle eigentlich nicht zu tadeln ist. – Hm! – Ha, mußt eben denken, Paule, es hat so sein sollen, – oder, – eigentlich ist das wieder nichts! Daß dich der Geier! – 's ist eine verzwickte Geschichte, man weiß eigentlich gar nicht, was vorliegt!«
»Warum hab ich dich angestoßen?« knurrte der Schneidersnikel den Wasserfuchs ärgerlich an, als dieser endlich sehr kleinlaut mit seiner großen Rede zu Ende gekommen war. »Hab ich's doch 37 voraus gewußt, daß es ein traurig Ende mit deinem Geschwätz nehmen werde. Was hilft das Reden dem Burschen? So leid er mir tut, – das ist einmal nicht abzustreiten: er ist selber schuld an seinem Unglück; und er muß nun eben zusehen, wie er's trägt, kein Mensch kann ihm helfen. Drum soll man ihn auch in Ruhe lassen und ihm nicht erst noch den Kopf heiß schwätzen!«
»Ja, ja, – hast recht,« meinte der Wasserfuchs kleinlaut. »Aber du hast auch gut reden, du sitzest nicht neben ihm, kannst nicht sehen, was für ein Elend da vorliegt. Meiner Seel, wenn der Junge noch lange so dumpf und stumpf neben mir sitzt wie ein heller Haufen Unglück, nicht redet, nicht deutet, mit offenen Augen nicht sieht, – ich werd selber noch desparat!«
»Geht's uns etwa anders?« sagte Hansaden traurig. »Zum Kuckuck, solch niederträchtige Musik, wie die heutige, hab ich noch nicht mitgemacht, will sie auch nicht wieder erleben. Aber wenn wir nun alle auf den armen Narren einfallen wollten, was würde draus? Sieh nur, wie's den Zimmerdick angreift, wie's in dem Hanshenner arbeitet, – und doch halten sie an sich. Laß ihn nur, Langer, er wird sich schon selber aufraffen. – Ich glaub auch, er hat von deiner langen Predigt nicht ein Wort gehört!«
»Glaub's selber und bin wahrlich froh darüber,« meinte der Wasserfuchs und kraute sich in seiner Verlegenheit überaus eifrig hinter den Ohren, aus welcher Beschäftigung ihn das Klappern mit dem Violinbogen aufschreckte, bekanntlich das Zeichen, daß ein neuer Tanz beginnen sollte.
Hansaden hatte es getroffen, von der ganzen langen Litanei des Wasserfuchses vernahm Schülzle keine Silbe. Er vernahm überhaupt nichts von allem, was um ihn vorging, völlig geistesabwesend starrte er mit totem Blick ins Leere.
Als er das geliebte Mädchen im Arm eines andern dahinfliegen sah, brannte eine wütende Eifersucht in seinem Herzen auf; er hätte sich auf den Hofmartin werfen, ihn niederschlagen, ihn erwürgen können. Als aber das Mädchen fort und fort an ihm vorüberflog, das Orchester, von dem sie sonst keinen Blick verwandte, für sie nicht vorhanden zu sein schien, als ihre Wangen wohl glühten, ihre Augen glänzten vor innerer Aufregung, aber kein Blick, kein Zucken des Mundes einen inneren Zwang, einen Widerwillen gegen ihren Tänzer verriet, – als sie sogar einmal 38 mit kaum bemerkbarem Lächeln zu ihrem hochgewachsenen Begleiter aufsah, – da kam die Empfindung seines verlornen Glückes in ähnlichen Momenten mit einer Frische und Lebendigkeit, mit solch überwältigender Gewalt und Stärke über ihn, daß er sich, wie von unerträglichen physischen Schmerzen befallen, zusammenkrümmte. Allein er mußte an sich halten, durfte den Sturm, der sein ganzes Wesen erschütterte, nicht kund werden lassen, – und der Zwang, den er sich auflegen mußte, erwies sich als wohltätig und heilsam. An ihm brach sich die Macht seines Schmerzes; gewaltsam an einer Ausbreitung nach außen gehindert, begannen die zurücklaufenden Wellen der Erregung die Seele in ihren Tiefen zu bewegen, Erinnerungen zu wecken, Bilder hervorzurufen, die, lange schlummernd, fast vergessen, in diesem Moment auftauchend, das Bewußtsein völlig erfüllten, wie Öl die brüllenden Meereswogen, die hocherregten Leidenschaften beruhigten, Zorn, Eifersucht und Schmerz in eine tiefe, tiefe Wehmut umschmolzen, den Geist in einer Art Betäubung der Gegenwart, der Außenwelt entrückten, ihn ganz in den schmerzlich süßen Traum einer holden Vergangenheit versinken ließen.
Ob der unsinnige, verkehrte Trotz gebrochen? Ob er zur Einsicht gelangt? – Wohl kaum! – Dieses Zurückweichen vor einer Wirklichkeit, die er hätte voraussehen müssen, dieses Versinken in weichmütige Träumerei, – jetzt, wo das Bewußtsein der begangenen Torheit, die Empfindung seines Unrechts ganz allein seine Seele hätte erfüllen müssen, scheint dafür zu sprechen, daß der alte Eigensinn, der aus falschen Anschauungen entspringende Trotz noch unvermindert in seiner Seele liegt, zwar für den Moment in das Unbewußtsein zurückgesunken, doch nur unter der dünnen Hülle traumartiger Seelengebilde schlummert, aus denen er jeden Augenblick erwachend wieder auftauchen könne.
Für jetzt aber war, wie gesagt, für den Jüngling die Gegenwart völlig versunken, er lebte und webte in einer Welt, die, lange untergegangen, doch das Einzige war, was ihm von seinem Glück, seinen Hoffnungen geblieben.
Die graue, nebelhafte Dämmerung, die seinen Geist umhüllte, begann sich allmählich zu erhellen; die Nebel wallten auf und ab, bis sie endlich als lichte Wölkchen im unendlichen Himmelsblau zerflatterten. Heller Sonnenglanz lag auf Flur und Hain, Wald 39 und Wiese, Anger und Dörfchen. Buntschimmernde Bänder wehten in der frischen, sonnigen Herbstluft, Kränze und Guirlanden schmückten die Häuser und Straßen des Dörfchens, durch welche sich der fröhliche Festzug bewegte, und im Haar der geschmückten Mädchen, an den Mützen der Bursche dufteten holde Blumen. Aber herrlicher als Samt und Seide schimmerten die freudeglühenden Wangen der Mädchen, heller noch fast und schöner als Blumenpracht und Sonnenglanz leuchteten die klaren, freudefunkelnden Augensterne. Und die Schönste unter den Schönen, die holdeste Blüte in diesem Kranz von Mädchenblumen, das war doch das Simesevebärble, und der Schülzle, der unter den Musikanten dem bunten Zug nach der Dorflinde vorausschritt, stellte tiefsinnige Betrachtungen darüber an, wie er bis heute so gleichgültig an dem lieblichen Mädchen hatte vorübergehen können. Nun – Kummer empfand er darüber nicht, war doch nichts versäumt, – wenn auch spät, waren ihm doch nicht zu spät die Augen aufgegangen. Das Mädchen war ja kaum den Kinderschuhen entwachsen, gewiß war ihr Herz noch frei, – was bedurfte es mehr? Ob sie ihn wohl auch lieb haben würde, – er wußte es nicht. Noch hatte er nicht mit ihr gesprochen, nicht mit ihr getanzt, nicht einmal ein Blick in ihre Augen war ihm vergönnt gewesen. Aber auch das kümmerte ihn nicht, ja es machte ihn nicht einmal ungeduldig; war doch Kirmes, hatte er doch drei lange, festfrohe Tage vor sich, in denen er das liebe Kind sehen und sprechen konnte, so oft und lang es ihm beliebte! Und nun erstaunte Paul nicht wenig! Wie schön war doch die Welt! Welche Pracht und Herrlichkeit umgab ihn ringsum! Wo hatte er nur bis heute seine Augen, seine Sinne gehabt! Oder war die Welt plötzlich anders, schöner, besser geworden? – Oder war er nicht mehr der Alte? War in ihm ein neues Leben erblüht? – Ja, das mußte es wohl sein! Fühlte er sich nicht wie verjüngt, wie neugeboren? Woher sonst dieses wohlige Kraftgefühl, dieses herzliche Wohlwollen für alle Kreatur, diese harmlose Heiterkeit und unversiegbare Fröhlichkeit? – Er wußte nicht, warum das so war, er hatte keine Vorstellung von der Macht der Liebe, und er ahnte ja auch nicht einmal, daß die Liebe in seinem Herzen erblüht sei. Er wußte nur, er war glücklich, unbeschreiblich glücklich; er empfand, daß er allen Menschen, der ganzen Welt gut sein müsse, vor allem aber dem kleinen Mädchen mit den wundersüßen Augen, 40 die wenige Schritte hinter ihm dreinschritt; und die ahnungsvolle Gewißheit, daß die Kleine auch ihm gut werden müsse, schwellte seine Brust, daß er hätte mögen laut aufjubeln, hell hinausjauchzen in die sonnige, wonnige Herbstluft!
Und warum sollte er nicht? Hatte er nicht seine geliebte Trompete im Arm? Warum sollte er nicht durch ihren metallnen Mund den Jubel, das Glück, all die Freude und Seligkeit, die sein Herz erfüllte, hinausschmettern? Schülzle war berühmt als Trompeter, und in der Tat war er ein wackerer Bläser, – was ihm aber seine Trompete so wert machte, das war nicht der Ruhm, den sie ihm einbrachte. Es war sonderbar, und Schülzle hatte dafür weder eine Erklärung, noch ein Verständnis, – vor den Leuten im vollen Chor, blieb sein Instrument ein eigensinniges, unbegreifliches Ding, mit dem er wenig anzufangen wußte; wie ihn auch die Leute bewundern und loben mochten, er selbst wußte sehr gut, das, was sie entzückte, das war ja gar kein rechtes Blasen, und der Ton besonders ärgerte ihn, – klang der doch wie Blechgeklapper! Nur selten, in einsamen, stillen Abendstunden, wenn eine Empfindung, – Lust oder Leid, – besonders stark sein Herz erfüllte, wenn es ihn drängte, nach der Trompete zu greifen, – dann ward ihm selbst sein Blasen zur Freude. An seinen Lippen schien sich das tote Metall zu beleben, mit seinem Hauch und seiner Lebenswärme auch seine Seele in dasselbe überzugehen. Da gelangen ihm Töne und Weisen, über die er selbst erstaunte, ihn anmuteten, fast wie wunderbare, überirdische Klänge. – Aber wenn er dann müde die Trompete aus der Hand legte, dann war der Zauber verschwunden; wie er sich auch zu andern Zeiten mühte und plagte, keiner von jenen süßen Klängen, die ihn in der Stille entzückt, gelang ihm, die Trompete blieb ein totes Blech.
Wie nun? – Wird sie ihm heute gehorchen? Wird es ihm gelingen, mit dem inneren Feuer das kalte Metall zu erwärmen?
Prüfend setzte er das Instrument an die Lippen, – und er hätte aufjauchzen mögen! – War die Trompete wirklich mehr als ein totes Erz? War wirklich etwas von seinem Gemüt, von seiner Seele in sie belebend übergegangen? Oder stand sie sonst in geheimnisvollem Rapport mit seinem Innern? – Schon der erste Ton, der wie von selbst hervorquoll, so weich und doch so kräftig, so voll und so glockenrein, sagte ihm, daß ihm heute alles 41 möglich sei, daß er sich selbst übertreffen werde. Sinnige Volksweisen, die er so sehr liebte, durfte er freilich jetzt nicht anstimmen, doch machte ihm das wenig Kummer, waren doch die übermütigen, uralten Kirmesstücke recht wie geschaffen für seinen inneren Jubel. Ohne sich um seine Kameraden zu kümmern, setzte er ein, – fast erschrocken über diese wunderbaren Töne, die ganz unvermutet so glockenhell und goldrein daher perlten, bald wie zuckende Blitze in die Höhe schmetterten, bald wieder weich und mild wie süßer Gesang sich in die Seele schmeichelten; – fast erschrocken fuhren die Kameraden nach ihm herum. Aber sie fanden nicht Zeit zum Staunen und Fragen, die Macht der ihnen völlig neuen Töne überwältigte sie wohl im ersten Augenblick, dann aber regte der hervorsprudelnde, übermütigste Jubel, diese sieghafte Fröhlichkeit verwandte Empfindungen in ihnen an, rauschend fielen sie zur Begleitung ein, rauschend und doch unwillkürlich gedämpft den Gesang der Trompete nicht zu verdecken!
Als er auf dem Plan unter der Dorflinde, lächelnd, als sei das alles nur ein Spiel gewesen, die Trompete absetzte, wer vermöchte den losbrechenden Sturm des Staunens und der Bewunderung zu beschreiben! Alt und jung, Musikanten und Nichtmusikanten, Bekannte und Fremde, – alles drängte um den heimlich lächelnden, vor Glück strahlenden Burschen, der von all dem Lob, all dem Beifall, mit dem er überschüttet wurde, auch nicht das Geringste merkte, – der köstlichste, süßeste Lohn war ihm ja geworden! Ein Blick des Mädchens, dem allein sein Blasen galt, hatte ihn getroffen, nur ein Blick, flüchtig und kurz wie der Blitz, aber so vielsagend, so glückverheißend, – die ganze Welt verschwand ihm vor diesem Blick, in seiner Brust hob sich ein Singen und Klingen wie nie zuvor. Und obgleich ihn noch immer die staunende, preisende Menge umdrängte, er konnte nicht anders, nach einem heißen Blick auf das Mädchen, deren Erglühen ihm die köstliche Gewißheit gab, daß er verstanden, – ließ er seine Trompete abermals erklingen. – Wie wenn die Sonne aus den Wolken auftaucht und die eben noch verdunkelten Fluren im heitersten Lichte lachen, so begannen die Gesichter aufzuleuchten; lauter Jubel mischte sich in die jauchzenden Klänge, und im bunten Gewimmel wirbelten die Tänzer um die Linde. Paul sah nur Eine, so oft ihn ihr Blick streifte, was immer öfter und öfter 42 geschah, ward ihm wunderlich zu Mute, ein seltsames Gemisch von Gefühlen, – zugleich Seligkeit und süßes Wehe, – wogten in ihm hin und her. Kurz brach er ab, kein Bitten, kein Drängen vermochte ihn zu einem dritten Tanze zu bestimmen. Er hatte das Höchste durch sein Blasen erreicht, – der Zauber war verschwunden, seine klingende Freundin wieder zur gewöhnlichen Dorftrompete geworden. Zur Verwunderung seiner Kameraden und Freunde blieb Paul still und nachdenklich, Lob und Bewunderung rührte ihn nicht, – niemand konnte sich seine Sonderbarkeit erklären. Am Abend aber lag das schöne Mädchen in seinen Armen und flüsterte ihm lachend und weinend zu: »Paul, du böser, schlimmer Mensch! Heute hast du mir die Liebe ins Herz geblasen, – nimmer, nimmer kann ich dich vergessen!«
Ja, seiner Trompete dankte er die höchste Seligkeit des Lebens, mit ihr hatte er sich das Glück erblasen! – –
Verstört blickte der Bursche auf und strich sich seufzend über die Stirn! Während er von den seligsten Stunden seines Lebens träumte, flog sie, der all sein Denken und Dichten galt, leichtfüßig wie ein Reh im Arm eines andern dahin, der an seine Stelle getreten.
Welch ein Gegensatz! – Tag und Nacht! Leben und Tod!
Und hatte es so kommen müssen? – Und warum war es so gekommen? – – Ja, seiner Trompete dankte er das süßeste Glück des Lebens; – war sie nicht auch schuld an seinem Unglück?
Freilich von jener Stunde an, da er sich seinen Schatz erblasen, war nicht doch im Grunde sein Herz geteilt? Geteilt zwischen der Liebe zu dem schönen Mädchen und der Liebe zu seiner Trompete? Und war nicht die Liebe zu beiden im gleichen Maße gewachsen, wenn ihm auch seit jener Kirmse nie wieder einer jener wunderbaren Augenblicke gekommen war, da er sich oder andere durch sein Blasen hätte erquicken und erfreuen können? Und diese Liebe zu seinem Instrument, war sie es nicht, die ihn in Zwiespalt mit Evebärble und ihren Eltern gebracht? War es nicht die Anhänglichkeit an sein Instrument, die ihn heute auf dies Orchester geführt, von dem aus er jetzt mit ansehen mußte, wie sein geliebtes Mädchen einem andern sich willig zu eigen gab? – Und war denn wirklich die Trompete eines solchen Opfers wert? War es nicht törichter Frevelmut, um eines toten Stück Metalles 43 willen die Liebe eines treuen Herzens aufs Spiel zu setzen? – Paul strich sich die Stirn und blickte finster auf die funkelnde Trompete in seiner Hand.
Aber, begann eine andere Stimme zu ihm zu sprechen, und Paul fühlte, wie dabei wieder der alte Zorn über ihn kam, aber war es den Simesleuten erlaubt, so heftig, so drängend, so unnachsichtlich zu fordern, daß er seine beste Freundin, seine Trompete, nun plötzlich und für immer beiseite lege? – Hatte nicht zum mindesten Evebärble alle Ursache, ein Instrument zu lieben, das sie einst so sehr bewegt, so beglückt, das ihr die Liebe ins Herz gesungen hatte? – Fast wäre Paul aufgesprungen! – Endlich, endlich ward es Licht in ihm! Endlich hatte er den Schlüssel zu all den peinigenden Rätseln gefunden! Jetzt auf einmal wußte er, warum man in Dammsbrück so trotzig die Beseitigung der Trompete verlangte. – Vergessen war jene Stunde, da er durch sein Blasen jung und alt das Herz gerührt, vergessen war, wie er durch seine Trompete um die Liebe des Mädchens geworben! – Vergessen, – vergessen! – Und das, ja das hatte bis heute wie ein dunkler Punkt in seiner Seele gelegen, die Ahnung, daß ihm und seiner Trompete ein schweres Unrecht geschehe, eine bittere Kränkung angetan werde durch die Forderung des Mädchens und ihrer Eltern, – das war der Grund seines Trotzes! Darum, darum hatte er nicht nachgeben können!
Schülzle strich liebkosend leise mit der Hand über die funkelnde Trompete; jetzt verfolgte er mit heißen, zornigen Blicken das Mädchen! – Da flog sie hin, kein Blick streifte ihn! Ja, – freilich, er war vergessen, er und seine Trompete, vergessen all die glückseligen Stunden, die sie seinem Blasen zu verdanken hatte, vergessen jene Kirmse, die sie, wie sie oft gestanden, erst zum Leben erweckte! – – Vergessen, – vergessen! – War sein Trotz nicht gerechtfertigt? – – Da flog sie hin, im Arm ihres neuen Schatzes, – zufrieden, lächelnd, glücklich, – und er saß einsam auf dem Orchester, härmte und quälte sich, fand kein Ende seines Elends! – Da flog sie hin, recht als könne sie ihm ihr neues Glück nicht schneidend genug vor Augen stellen! – – Und sollte er sich das so ruhig gefallen lassen? Gab es kein Mittel, das leichtsinnige, wetterwendische Ding zu strafen, auch in ihrem Herzen das höllische Feuer anzufachen, das ihn verzehrte? – – –
44 Eine Bewegung machte die Trompete leise klirren, – Schülzle fuhr sich über die Augen. Wie, – wenn sich heute noch einmal das Instrument belebte? Wenn es ihm heute noch einmal gelänge, jene wunderbaren Klänge hervorzulocken, die einst das Herz der Untreuen gerührt? – Seine bleichen Wangen röteten sich, ein tiefer Atemzug hob die Brust, während er prüfend bald die Trompete, bald das Mädchen betrachtete. – Dort stand sie im Kreise der Rottensteiner; willig, ach, allzu willig überließ sie dem Hofmartin ihre Hand, – und wahrlich, sie duldete, daß er seinen Arm um ihre Hüfte legte, sie lehnte sich an ihn, – ja, jetzt blickte sie auch leise lächelnd zu ihm auf! – – –
Plötzlich fuhr sie zusammen, auch der Hofmartin drehte sich überrascht um, – alle Blicke richteten sich auf das Orchester, ein unbeschreiblich wundersam fremdartiger, gewaltiger und doch tief ins Herz dringender Ton füllte den Saal. Die Musikanten selbst gerieten in Bewegung, der Wasserfuchs stieß wieder an die Decke, daß sie krachte, der Zimmerdick, dem das Wasser in die Augen kam, flüsterte: »Teufelsjunge, wer hat dich gelehrt, mit einem einzigen Ton einem alten Kerl das Herz im Leib umzukehren?« – Der Hanshenner aber zappelte mit Armen und Beinen und schrie: »Der Baß ist ein Hauptinstrument, ohne den ist die ganze Musik futsch! Niemand leugnet's, – und nun gar erst einer wie mein Baß! Aber, so wahr ich der Hanshenner bin, zehn solcher Bässe gäbe ich drum, könnt ich jemals einen einzigen solchen Ton fertig zu kriegen! Donnerwetter, das prickelt nicht in den Ohren, fährt einem nicht zu den Fußspitzen 'naus und geht doch durch und durch,« – und der Eckenpeter endlich fuhr nach der Mütze, ließ sie blitzschnell um seinen Kopf kreisen, betrachtete Paul aus den Augenwinkeln und sagte: »Nur nicht grrrrrrrrand getan!«
Paul war wieder bleich geworden, nur seine Augen glühten und leuchteten. Ohne einen Blick von dem Evebärble zu verwenden., ohne das Staunen der Musikanten im geringsten zu beachten, atmete er tief aus, dann gab er den Kameraden ein Zeichen und setzte das Instrument wieder an die Lippen.
»Die Welt dreht sich, – ja, ich glaub's jetzt selber! – So was hab ich all mein Tag nicht erlebt, in meinem Kopf geht alles 45 durcheinander! Erst sitzt der Bursch da wie ein Stock, als könne er nicht drei zählen, – und nun bläst er auf einmal wie ein Posaunenengel! Da werde einer klug, was denn nun eigentlich vorliegt,« konnte der Wasserfuchs eben noch dem Schneidersnikel zuflüstern, dann begann der Schülzle zu blasen.
Und wie blies er! – Es war eine ururalte Kirmesweise, die er anstimmte, so toll, so ausgelassen lustig, wie es eben nur eine Kirmesweise sein kann. Schon der erste Takt elektrisierte die Musikanten, Hansaden probierte auf seiner Posaune ein Kunststückchen, der Eckenpeter blies während eines ganzen Teiles, ohne ein einziges Mal Atem zu schöpfen, »Flatterzunge« auf seiner Trompete, und Hanshenner fiedelte drauf los, als gälte es, in einer Stunde gleich ein Klafter Holz klein zu sägen. Nicht minder durchschlagend war die Wirkung auf die Zuhörer und Tänzer drunten im Saal. Wie auf Kommando brach ein allgemeines, stürmisches Jauchzen aus, die ganze Versammlung kam plötzlich in drehende, hüpfende Bewegung.
Und doch, trotz der übermütigen, lustigen Weise, die wie Schaumwein erregend durch alle Nerven prickelte, war der Gesang der Trompete eigentlich nichts weniger als lustig. Das Blasen klang ja doch nicht anders, als ein herzzerreißender Schmerzensschrei, wie eine wilde Klage eines Verzweifelten, der sich im größten Jammer noch selbst verspottet und verhöhnt. Der Zimmerdick schüttelte zuerst den Kopf, bald meinte der Wasserfuchs, dem der Schweiß in großen Tropfen auf der Stirn stand: »das ist ja die reine Satansmusik, eiskalt überläuft's einem dabei!« Selbst auf die Tänzer blieb dieser Widerspruch nicht ohne Eindruck, das Jauchzen verstummte, da und dort trat ein Paar aus den Reihen und blickte nach dem bleichen Burschen, dessen funkelnder Trompete immer gewaltigere, aufregendere Töne und Weisen entquollen.
Für alle war diese Musik ein geheimnisvolles, fast unheimliches Rätsel, nur ein Mädchen verstand dieses Lied! – Schon nach den ersten Takten ward sie bleich und begann zu zittern; eine unwiderstehliche Gewalt zwang sie, nach dem Orchester zu blicken; der Blitz, der ihr aus Pauls Augen entgegenleuchtete, brachte sie vollends in Verwirrung. Wie um sich selbst zu überwinden, zu bezwingen, zog sie Martin in den Reihen. Vergeblich! 46 Die Trompete dort oben hörte nicht auf zu klingen, immer wilder, schneidender wurden die Weisen, die ihr entströmten. Bald perlten die Töne daher wie helle Tränen, bald verhauchten sie wie schmerzliche Seufzer; dann wieder klangen sie wie Angst- und Weherufe, oder sie schmetterten wie zürnende, vorwurfsvolle Klagen in ihre Seele! – Und als sie nun gar mit dem Burschen im Tanze sich drehte, der ihr so nahe stehen sollte und ihrem Herzen so fremd war, als sie dahinflog und droben vom Orchester dieselbe Weise ihre Seele umflutete, die einstens die Liebe in ihrem Gemüt zum Erglühen gebracht, – da brach ihr das Herz. Ein Tränenstrom entstürzte ihren Augen; bleich, zitternd wankte sie aus den Reihen, in der Ecke knickte sie schluchzend zusammen, – im gleichen Moment brach die Musik mit schrillem Mißklang ab.
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