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Max, Prinz von Baden, wird Reichskanzler. – Soll die Sozialdemokratie in die Regierung eintreten? – Ich bin dagegen und werde zum Staatssekretär bestimmt! – Exzellenz Scheidemann. – Die Amnestie, Dittmann und Liebknecht. – Der Brief des Prinzen Max an seinen Vetter Hohenlohe. – Ich bin für Rücktritt des Reichskanzlers und werde überstimmt. – Der Notschrei aus dem Hauptquartier. – Wie es an der Front aussah. – Ludendorff will neue Truppen. – Eine Begegnung mit dem Kaiser. – Sturmvögel von der Wasserkante. – Trostlosigkeit auf der ganzen Linie. – Noske in Kiel. – Noskes Bericht. – Der Kampf um die Abdankung des Kaisers. – Zensurgelüste. – Kein Kabinettsmitglied für das Bleiben Wilhelms II. – Mein Brief an den Kanzler. – Die letzten Tage. – Ultimatum der Sozialdemokratischen Partei. – Nicht schießen lassen! – Der Tag des Zusammenbruchs!
Für jeden Einsichtigen war es immer klarer geworden, daß das Reich an einem furchtbaren Abgrunde stand. Auf den Zauderer von Bethmann Hollweg, der gewiß ein ehrlicher Mann, aber leider aus lauter Zweifeln und Rücksichtnahmen zusammengesetzt war, folgte der Zeitgenosse Michaelis, der in friedlicher Zeit eine bald vorübergehende, erheiternde Abwechslung gewesen wäre. Im Jahre 1917 war seine Berufung ein Verbrechen. Michaelis wurde schließlich von dem vollkommen altersschwachen Hertling abgelöst. Ich habe es erlebt, daß der Freiherr von Hertling als Reichskanzler aus einer wichtigen Sitzung, an der Regierungsmitglieder und Parteiführer teilnahmen, bereits kurz nach 9 Uhr abends sich stillschweigend erhob, um sich zu Bett zu begeben. Er hatte keinem Menschen auch nur ein Wort von seiner Absicht gesagt! Er war einfach verschwunden, mitten aus der Verhandlung heraus.
In diesen Monaten grub die Monarchie sich in Deutschland endgültig das Grab. Wenn sie noch nach irgendeiner Richtung hin zu rechtfertigen gewesen wäre, dann hätte damals unter den zahlreichen Vertretern der regierenden Häuser wenigstens Einer auftreten müssen, um zu zeigen, daß nicht alle unfähig seien, über die eigene Nasenspitze hinwegzusehen. Der Eine aber war nicht da.
In jener Zeit kamen allerlei Ratgeber, auch solche aus Beamten-, Offiziers- und wirklich sehr »hohen« Kreisen zu mir, um mich zu einer »großen Unternehmung« zu veranlassen. Ich dankte, denn – abgesehen von allem anderen – konnte ich nicht verkennen, daß selbst in den Reihen der führenden Genossen der eigenen Partei Anschauungen vertreten wurden, die mir absolut nicht verständlich waren. Ich werde nicht vergessen, wie einer meiner Freunde noch unmittelbar vor dem Zusammenbruch am 9. November ein akademisch gebildetes Parteimitglied auf das heftigste anfuhr, weil dieses die Forderung nach Abdankung des Monarchen als eine Selbstverständlichkeit bezeichnet hatte. Als ich am 9. November 1918 von einem Arbeiter- und Soldatentrupp aus dem Speisesaale des Reichstages herausgeholt und gezwungen wurde, vor den versammelten Massen zu reden und dann, sozusagen aus dem Handgelenk, aber doch ganz selbstverständlich für einen Sozialdemokraten, die Republik ausgerufen hatte, machte mir derselbe Parteifreund die heftigsten Vorwürfe. Ich hätte kein Recht dazu gehabt, denn »über die zukünftige Staatsform wird die Konstituante zu bestimmen haben«. Doch ich will den Ereignissen nicht vorauseilen.
Prinz Max hatte im Reichstag einige Freunde, die ihn schon seit Jahr und Tag hatten lancieren wollen. Man erzählte Wunderdinge von seiner Klugheit und seinen modernen Anschauungen. Für den zukünftigen Großherzog von Baden war das allerlei. Ein Freund des Prinzen legte mir schon im Jahre 1917 nahe, mit ihm zu sprechen. Als ich dann den badischen Landtagsabgeordneten Wilhelm Kolb gelegentlich nach dem Prinzen fragte, sagte er mir, daß der »Baden-Max« gewiß ein kluger und hochanständiger Mann sei. Seine politischen Kenntnisse seien wohl auch größer als die aller seiner Standesgenossen. Im Grunde genommen bedeute das aber nicht viel. Aus gründlicher Aussprache mit dem Prinzen wisse er, daß er z. B. von der Bedeutung und den Zielen der Sozialdemokratie nur ganz vage Vorstellungen habe.
Ich fand später, daß die Schilderung Kolbs der Wahrheit am nächsten kam. Prinz Max machte auf mich den besten Eindruck. Wahrscheinlich hatte er noch im letzten Jahre viel hinzugelernt. Als Ebert, v. Payer und ich die erste Besprechung mit dem Prinzen wegen seiner Kanzlerkandidatur hatten, erklärte er uns auf das bestimmteste, daß er das Amt nur dann übernehmen werde, wenn auch Sozialdemokraten in sein Kabinett eintreten würden. Über seine Absichten als Reichskanzler sprach er sehr frei, und zu meiner Freude sehr weit entgegenkommend. Er war für eine entschiedene Demokratisierung und für einen Frieden der Verständigung so schnell als irgend möglich. Alle diese Fragen waren im Interfraktionellen Ausschuß sehr eingehend beraten worden. Den nicht sozialdemokratischen Mitgliedern des genannten Ausschusses erschien es als selbstverständlich, daß Sozialdemokraten in die Regierung eintreten würden.
In einer Fraktionssitzung, die am 2. Oktober 1918 stattfand, wurde die Frage, ob wir uns an der Regierung beteiligen sollten, sehr eingehend besprochen. Ebert und ich referierten über die Vorgänge im Interfraktionellen Ausschuß. Die Frage wurde zunächst mehr grundsätzlich erörtert. Ich war entschiedener Gegner der Beteiligung und begründete das erstens damit, daß ich keinem Parteigenossen zumuten wolle, gerade jetzt in ein Kabinett einzutreten, an dessen Spitze ein Prinz berufen werden sollte. Dann aber hielt ich es auch für unangebracht, im Augenblick der schlimmsten Zuspitzung unserer Verhältnisse eine Verantwortung zu übernehmen, die zu tragen wir kaum in der Lage seien. Wolfgang Heine wollte den Eintritt von Sozialdemokraten in die Regierung von gewissen Bedingungen abhängig machen. Landsberg stimmte vollkommen mit mir überein und sprach sich gegen die Beteiligung aus. Für die Beteiligung waren unter anderem: Grenz, David, Davidsohn, Südekum, Noske und Giebel. Lebhaft unterstützt in meinem ablehnenden Standpunkt wurde ich auch von dem Chefredakteur des »Vorwärts«, Stampfer. Zu einer Entscheidung kam es in dieser Fraktionssitzung noch nicht. Wegen aller der in der Sitzung vorgetragenen Bedenken hatten dann Ebert und ich eine erneute Aussprache mit dem Prinzen Max. Dabei sagten wir ihm, ohne der Fraktion vorgreifen zu wollen: Ganz unerläßlich für den Eintritt der Sozialdemokraten in sein Kabinett sei die vollkommen eindeutige Stellungnahme zur Friedensfrage, außerdem aber gleiches, geheimes, direktes und allgemeines Wahlrecht für alle Bundesstaaten, sowie Änderung zahlreicher anderer Bestimmungen der Verfassung. Der Prinz kam uns in jeder Beziehung entgegen. In der Fraktion sowohl, wie auch im Interfraktionellen Ausschuß wurde unterdessen die Frage besprochen, welche Reichsämter von den einzelnen Parteien besetzt werden sollten.
Am 3. Oktober konnten wir dem Fraktionsvorstand folgendes berichten: Das Zentrum verlangte die Errichtung eines Presse- und Propaganda-Amtes, das Erzberger als Staatssekretär übernehmen sollte. Als Unterstaatssekretär sollten die Fortschrittler einen Mann stellen. Das Arbeitsamt sollte Bauer übernehmen. Das Zentrum wollte dafür Giesberts als Unterstaatssekretär stellen. Falls im Reichswirtschaftsamt Freiherr vom Stein bliebe, sollte ihm ein Sozialdemokrat als Unterstaatssekretär beigegeben werden. Das Reichsamt des Innern beanspruchte das Zentrum, das für diesen Posten Trimborn vorgesehen hatte. Wegen der Besetzung des Auswärtigen Amtes sollten noch Verhandlungen gepflogen werden, jedenfalls aber sollte Dr. David als Unterstaatssekretär eintreten. Ferner sollten dem Kabinett ein Sozialdemokrat und ein Zentrumsmann als Staatssekretäre ohne Portefeuille beigegeben werden. Die beiden letzteren sollten mit den in Betracht kommenden Fachministern dann das engere Kriegskabinett bilden. Das Zentrum stellte für diesen Posten den Abgeordneten Gröber zur Verfügung.
Ich will nicht alle Einzelheiten aus dem Interfraktionellen Ausschuß, der sozialdemokratischen Fraktion und den Sitzungen des Fraktionsvorstandes schildern, weil das zu weit führen würde. Aber folgendes will ich feststellen: Als wir in einer Vorstandssitzung wiederum Rat hielten, ob wir uns nunmehr an der Regierung beteiligen sollten oder nicht, sträubte ich mich gegen die Beteiligung in der entschiedensten Weise, und zwar gerade im Hinblick auf die üble Lage an der Westfront. »Wie kommen wir dazu, in diesem Augenblick der größten Verzweiflung in ein bankrottes Unternehmen hineinzugehen?« Während meiner Rede erschien Ebert, der an einer Besprechung teilgenommen hatte, in der Major von dem Bussche aus dem Großen Hauptquartier einen erschütternden Bericht gegeben hatte. Ebert war geradezu gebrochen. Als er meinen ablehnenden Standpunkt abermals hörte, wandte er sich entschieden gegen mich und vertrat den Standpunkt, daß wir nun erst recht in die Regierung gehen müßten. Zwar glaube auch er nicht, daß wir noch irgend etwas würden retten können, aber wir sollten folgende Erwägung anstellen: Falls nun alles zusammenbricht, außen und innen, wird man uns dann später nicht den Vorwurf machen, daß wir in einem Augenblick unsere Mitwirkung versagt hätten, in dem man uns dringend von allen Seiten darum gebeten hatte? Nach langem Hin und Her, das sich dann in einer Fraktionssitzung fortsetzte, wurde mit erheblicher Mehrheit die Anteilnahme an der Regierung beschlossen, und ausgerechnet ich wurde bestimmt, in Gemeinschaft mit Bauer in das Kabinett des Prinzen Max einzutreten.
Wenig erbaut von diesem Beschluß suchte ich meine Wohnung auf. Am nächsten Abend, als ich in einem Berliner Restaurant mein Abendbrot einnahm, wurde mir telephonisch mitgeteilt, daß mich der Vizekanzler v. Payer gleich erwarte. Selbstverständlich folgte ich der Einladung sofort. Zu meiner großen Überraschung war v. Payer aber nicht in seiner Wohnung, sondern im Kreise der alten und neu ernannten Staatssekretäre in einem Parterre-Konferenzsaal versammelt. Die Herren waren alle in schwarzen Gehröcken erschienen, so daß ich mich in meinem grauen Arbeitsanzug wahrscheinlich recht proletarisch ausgenommen habe. Mein Erstaunen wurde aber noch größer, als mich der Vizekanzler mit den Worten begrüßte: »Exzellenz Scheidemann, ich heiße Sie als Staatssekretär in unserem Kreise willkommen, wir sind bereits inmitten einer wichtigen Beratung.« Ich verbeugte mich und nahm Platz.
Später bat ich Herrn v. Payer um eine Aussprache und sagte ihm, daß er meines Erachtens mich vorher hätte informieren müssen über das, was mich erwarte. Ich würde in einer solchen Besprechung dringend gebeten haben, unter allen Umständen von dem Exzellenz-Titel Abstand zu nehmen, jedenfalls bitte ich ihn, von diesem Titel mir gegenüber keinen Gebrauch zu machen. v. Payer lehnte lachend meine Bemerkungen ab. »Mit gefangen, mit gehangen!« Ich bin nachher mit der »Exzellenz« spielend und gründlich fertig geworden.
Die Arbeit im Kabinett des Prinzen Max begann mit einer Frage, die wohl zur allgemeinen Zufriedenheit der Arbeiter gelöst worden ist. Der erste Beschluß betraf die allgemeine Amnestie. Nur über zwei Männer wurde einzeln gesprochen. Der Abgeordnete Dittmann war zu 5 Jahren Festungshaft verurteilt worden, von denen er 9 Monate bereits verbüßt hatte. Die Frage eines militärischen Vertreters, ob man nicht den Abgeordneten Dittmann ausschließen wolle, wurde glatt verneint. Es wurde sogar von einem gut bürgerlichen Staatssekretär betont, daß der Abgeordnete Dittmann ein durchaus harmloser Mitbürger sei. Ernstliche Schwierigkeiten entstanden wegen Liebknecht. Die militärischen Stellen wollten unter gar keinen Umständen in eine Amnestierung Liebknechts einwilligen. Ich setzte den heftigsten Widerspruch entgegen und machte neben allen prinzipiellen Erwägungen darauf aufmerksam, wie absolut falsch, politisch gesehen, ein solches Verfahren sein würde. Die allgemeine Amnestie werde man in allen Kreisen freudig begrüßen. Behalte man aber den einen einzigen Abgeordneten im Zuchthaus, dann sei für Millionen von Arbeitern die Amnestie ein Nichts. Man müsse die Psyche der Arbeiter kennen, um das zu verstehen. Immerhin dauerte es tagelang, bis auch der Kaiser seine Zustimmung zur Entlassung Liebknechts gegeben hatte.
Die Arbeit im Kabinett war wenig erfreulich. Jeder Tag brachte uns neue schwere Schläge. Zu allem Unglück wurde noch von der »Freien Zeitung« in Bern ein Brief veröffentlicht, den der Prinz Max am 12. Januar 1918 an seinen Vetter, den Prinzen von Hohenlohe, geschrieben hatte. Dieser Brief wurde dem Kabinett von der Gesandtschaft in Bern telegraphisch mitgeteilt. Er hatte folgenden Wortlaut:
»Vielen Dank für Deinen letzten Brief, den ich nur telegraphisch beantworten konnte, und für die freundliche Sendung Deines interessanten und sehr schmeichelhaften Artikels. Mir geht es sehr eigen mit meiner Ansprache. Ich meinte Selbstverständliches zu sagen, und niemand zulieb und niemand zuleid. Es sei denn unsern Feinden zuzureden, und nun finden meine Worte Echo im In- und Ausland, das mich verblüfft. Was für ein Bild machen sich die Deutschen, was für eins die Ausländer von Deutschland. Mich erschreckt dies ordentlich. Die Schweizer Blätter konstruieren einen Gegensatz zwischen Hohenzollern und Zähringen, was ein direkter Unsinn ist. Wenn man das Telegramm gelesen hat, das der Kaiser mir sandte (dies unter uns), in dem er meine »Rede« eine »Tat« nennt und mir zu den hohen und schönen Gedanken, die sie enthalte, Glück wünscht. Die Alldeutschen fallen über mich her, obgleich ich ihnen zum deutschen Schwert den deutschen Geist gebe, mit dem sie Welteroberungen machen können, soviel sie wollten, und die Blätter der Linken, voran die mir höchst unsympathische »Frankfurter Zeitung«, loben mich durch ein Brett, obgleich ich deutlich genug die demokratische Parole und die Schlagworte der Parteidialektik, zumal den Parlamentarismus, geißle, »the world is out of joint and people minds out of balance«. Ein Wort sachlicher Vernunft ernst gemeinten, praktischen Christentums und nicht sentimentalen Menschheitsgewissens können sie in ihrer suggerierten Verrücktheit einfach nicht mehr au pied de lettre nehmen, sondern müssen es erst durch den Dreck und Schlamm ihrer entstellenden Torheit hindurchziehen, um es sich ihrer niederen Gesinnung anzupassen. Da bin ich stolz auf meine Badenser. Sie wissen, daß ich kein Parteimann bin, noch sein kann, noch sein will, und deshalb haben sie mich von rechts bis links verstanden und das aus meinen Worten genommen, was ein jeder sich gern beherzigen möchte. Den Feinden einmal ordentlich an den Kragen zu gehen und ihre affektierte Richterhaltung in Dingen der Schuldfrage und der demokratischen Parole zu verhöhnen, war mir schon lang ein Bedürfnis. Das gleiche Bedürfnis empfand ich, dem heidnischen Gebaren die Bergpredigt entgegenzuhalten und mit dieser Lehre der Liebe auch die Pflicht des Starken, die Rechte der Menschheit zu wahren, in ein deutliches Licht zu stellen, da über beide Dinge eine beklagenswerte Unsicherheit und ein trauriger Wirrwarr der Begriffe entstanden ist. Denn einerseits verfälschen unsre Feinde diese heiligsten Gesichtspunkte durch ihre Lügen, Verleumdungen, und andrerseits reagieren wir unter den Peitschenhieben dieser niederträchtigen Machenschaften auf eine zum Teil geradezu sinnlose Weise. Auf diese feindseligen Anzapfungen entspringt mein Eintreten für Christentum und Menschheitsgewissen meinen innersten Überzeugungen. So kommt doch auch ein praktisches Moment hinzu, da in der Betonung dieser Anschauungen, die nach meiner Ansicht dem deutschen Geist und seinem Wesen tiefer innen liegen als dem der Engländer und Franzosen, ein Angriff auf die feindliche Suggestion von Pazifismus und Humanität zu finden ist, den man, wenn man will, eine moralische Offensive nennen kann. Ich leugne nicht, daß mir dieser Gedanke unsympathisch ist, da ich von je der Anschauung war, daß Christentum und Menschenliebe für sich allein auftreten sollten und der Gewinn, der in ihnen liegt, nicht in ein besonderes Licht gestellt werden dürfte. Aber dieser Gewinn wohnt ihnen nun einmal inne, und wenn er dem Frieden dient, so dient er einer guten Sache. Anfang und Ende waren also mit der Offensive gegen die Lüge und Suggestion und mit der sogenannten moralischen Offensive gegeben. Wollte ich aber die demokratische Parole der Westmächte verhöhnen, so mußte ich mich mit unseren inneren Erscheinungen abfinden. Da ich den westlichen Parlamentarismus für Deutschland und Baden ablehne, so mußte ich dem badischen resp. deutschen Volke sagen, daß ich seine Nöte verstehe, daß aber die Institutionen keine Heilmittel seien. So gewinne ich eine Plattform, bei der ich die Wege, die ich gehen will, selbst in der Hand behalte, und die Badener lassen sich gern führen, wenn sie fühlen, daß man für ihre Sorgen und Nöte Verständnis hat. In der Friedensfrage stellte ich mich auf denselben Standpunkt. Ich wollte nur den Geist andeuten, in dem wir an diese Frage herantreten sollten im Gegensatz zu den Machthabern des Westens. Das »wie« ist mir hier deshalb von größtem Wert, weil das »was« so schwer zu bestimmen ist, denn auch ich wünsche natürlich eine möglichste Ausnutzung unserer Erfolge, und im Gegensatz zu der sogenannten Friedensresolution, die ein scheußliches Kind der Angst und der Berliner Hundstage war, wünsche ich möglichst große Vergütungen in irgend welcher Form, damit wir nach dem Kriege nicht zu arm werden. Meine Ansicht deckt sich hier wohl nicht ganz mit der Deinen, denn ich bin heute noch nicht dafür, daß mehr über Belgien gesagt werde, als schon gesagt ist. Die Feinde wissen genug, und Belgien ist einem so schlauen und weltklugen Gegner gegenüber, wie es England ist, das einzige Objekt der Kompensationen, das wir besitzen. Etwas anderes wäre es, wenn die Vorbedingungen eines dauernden Friedens schon gegeben wären. Aber gerade hier haben Lloyd George und Clemenceau die Brücken abgebrochen. Damit hast Du also die authentische Interpretation meiner Rede, die in hunderttausend Exemplaren als Flugblatt zur Volksaufklärung vom Ministerium verbreitet worden ist, wovon ich Dir sechs Exemplare einlege. Ich danke Dir nochmals für alles Freundliche, das Dein Artikel und Deine Briefe für mich enthalten. Ich habe all dem gegenüber das Gefühl d'avoir fait de la poésie sans le savoir. Eines nur möchte ich noch dazu sagen. Die Rede ist ein Ganzes, wer den Anfang wegläßt, mißdeutet das Ende und umgekehrt. Ich habe eine sehr schlechte Meinung von der moralischen Verfassung der Machthaber unserer Feinde, von der horrenden Urteilslosigkeit ihrer Völker. Wir haben hier gegen eine Niedertracht der Gesinnung zu kämpfen, wie sie schändlicher wohl nie bestand. Wir dagegen sündigen durch Dummheit, denn Alldeutsche und Friedensresolutionen sind beides gleich dumme Erscheinungen, wenigstens in der Form, in der sie auftreten. Auch sonst gibt es Gemeinheit genug, auch bei uns, aber sie ist weniger bewußt, weniger Sünde gegen den heiligen Geist. Wann wir uns wiedersehen, weiß ich nicht zu sagen. Das Bahnfahren ist kein Vergnügen mehr, und bei der Kälte erst recht nicht. Ich hoffe, das Frühjahr bringt uns wieder einmal zusammen. Bis dahin leb wohl und sei herzlich gegrüßt von Deinem treu ergebenen Vetter Max.«
Die »Freie Zeitung« hatte dem Brief folgende Einleitung gegeben:
»Zur Beurteilung des wahren Charakters des neuen deutschen Prinz-Reichskanzlers und seiner demokratischen Weltauffassung bringen wir den folgenden Brief des Prinzen Max von Baden zum Abdruck, der in Anbetracht des neuen deutschen Friedensangebotes besonderes Interesse verdient. Das Dokument zeigt, welcher Wert diesem Friedensvorschlage beizumessen ist. Als Motto möchten wir diesem Briefe einen Passus aus der Reichstagsrede Seiner Großherzoglichen Hoheit des Herrn Kanzlers vom 5. Oktober mitgeben, der also lautet: ›Was mich selbst betrifft, so müssen meine früheren, vor einem anderen Hörerkreise gehaltenen Reden bezeugen, daß sich in der Vorstellung, die ich von einem künftigen Frieden hege, keinerlei Wandlung in mir vollzogen hat, seitdem ich mit der Führung der Reichstagsgeschäfte betraut worden bin.‹ Hier der Wortlaut des Briefes, dessen politisch wichtigste Stellen wir durch Sperrdruck hervorgehoben haben.«
Gleichzeitig mit dem uns bekannt gewordenen Text des Briefes aus der »Freien Zeitung« wurde uns die Mitteilung gemacht, daß die Zensur den Abdruck des Briefes in Deutschland verboten habe. Ich war natürlich auf das peinlichste berührt und fest entschlossen, unter gar keinen Umständen im Kabinett zu verbleiben, wenn der Prinz nicht eine voll befriedigende Aufklärung geben könne. Es konnte kein Mensch verkennen, daß zwischen dem Brief des Prinzen an seinen Vetter Hohenlohe und der Rede, die er im Reichstag am 5. Oktober gehalten hatte, ein geradezu schreiender Widerspruch bestand. In derselben Kabinettsitzung, in der mir Kenntnis von dem Briefe wurde, bat ich den Prinzen um eine Unterredung sofort nach Schluß der Sitzung. Er war dazu bereit und wollte mich zunächst unter vier Augen sprechen, zog dann aber gern, wie er sagte, auch gleich die Staatssekretäre Erzberger und Gröber hinzu, sowie Unterstaatssekretär Wahnschaffe und Direktor Deutelmoser. Ich sagte ihm ohne viel Umschweife, ob er in der Lage sei, über den Brief an seinen Vetter befriedigenden Aufschluß geben zu können, andernfalls werde es mir nicht möglich sein, seinem Kabinett weiter anzugehören. Der Prinz gab die Echtheit des Briefes unumwunden zu, suchte ihn aber als ziemlich harmlos darzustellen. Ich dürfe nicht vergessen, daß es sich um einen Privatbrief an seinen Vetter handle, und da dieser sein Vetter in der Kriegsfrage eine ganz besondere Stelle eingenommen habe, hätte ihn das natürlich reizen müssen, ihm auch in besonderer Weise zu schreiben. Sein Standpunkt sei der, den er in seiner Reichstagsrede vertreten hätte. »Aber«, so fügte er hinzu, »ich bin bereit, sofort zurückzutreten, falls das für nötig gehalten wird. Unter gar keinen Umständen will ich im Amt bleiben, wenn auch nur das geringste Bedenken besteht.« Die Staatssekretäre Gröber und Erzberger verhielten sich bei dieser Unterredung sehr passiv. Die Herren Wahnschaffe und Deutelmoser suchten den Prinzen nach Möglichkeit zu decken. Als ich dann sagte: »Bedenken Sie selbst, wie die Veröffentlichung in den feindlichen Ländern wirken muß und wie schwer das Vertrauen bereits in diesem Augenblick Ihnen gegenüber erschüttert sein wird. Vergleichen Sie bitte genau den Wortlaut des Briefes mit Ihrer Rede, und Sie werden sich nicht darüber wundern dürfen, wenn das Ausland erneut von deutscher Zweideutigkeit spricht.« Darauf sagte der Prinz: »Ich bin gern bereit, sofort die Konsequenzen zu ziehen …« Ich fiel ihm aber ins Wort: »Handeln Sie nicht übereilt, sondern überlegen Sie sich die Sache; ob ich im Amt werde bleiben können, muß meine Fraktion entscheiden.«
Am nächsten Tag fand eine Fraktionssitzung statt und im Anschluß daran eine Beratung des Interfraktionellen Ausschusses. Ich referierte über den Brief und über meine Aussprache mit dem Prinzen sehr eingehend. Im Interfraktionellen Ausschuß bestätigte der Staatssekretär Gröber ausdrücklich die Richtigkeit meines Referats, sprach aber dann sofort zur Verteidigung des Prinzen. »Er hat öffentlich doch nur Gutes und Einwandfreies geredet«, was mich zu dem Zwischenrufe veranlaßte: »Das ist ja gerade das Schlimme, daß er öffentlich so gut, im vertrauten Brief aber so böse gesprochen hat«. Erzberger bestätigte gleichfalls meine Angaben, fügte aber die Bitte hinzu, daß wir doch unter allen Umständen bleiben möchten. Ebert billigte ausdrücklich meine Stellungnahme. Dove warf die Frage auf, ob denn etwas gebessert werde, wenn sich jetzt schon wieder ein Wechsel im Reichskanzleramt vollziehe; seiner Überzeugung nach werde das Gegenteil der Fall sein. Der Abgeordnete Stresemann hielt es für zweifelhaft, ob der Prinz bleiben könne, jedenfalls sollte er so lange gehalten werden, bis er die Note (Bitte um Waffenstillstand!) unterzeichnet hätte, solange müßten also auch die Sozialdemokraten unter allen Umständen aushalten. Am meisten hat mir der Abgeordnete Haußmann leid getan, den ich als aufrichtigen Freund des Prinzen kennengelernt hatte und der nun über den Brief ganz unglücklich war. Ich gab dem Interfraktionellen Ausschuß Kenntnis von dem folgenden Brief, den ich für alle Fälle geschrieben und auch von Bauer hatte unterzeichnen lassen:
Brief an v. Payer vom 12. Oktober 1918.
Berlin, den 12. Oktober 1918.
An Seine Exzellenz
den Herrn Vizekanzler von Payer.
Eurer Exzellenz
beehren sich die Unterzeichneten ergebenst mitzuteilen, daß es ihnen nicht möglich ist, dem Kabinett fernerhin anzugehören, wenn an dessen Spitze Se. Großh. Hoheit Prinz Max von Baden verbleibt.
Der Herr Reichskanzler ist durch den Brief, den er am 12. Januar 1918 an seinen Vetter, den Prinzen Hohenlohe, geschrieben hat, und der jetzt die Runde durch die Ententepresse macht, derart kompromittiert, daß wir von seiner Tätigkeit für die Herbeiführung des Friedens und der inneren Entwicklung Ersprießliches für unser Volk nicht erwarten können.
Eurer Exzellenz
ergebenste
gez.: Scheidemann,
gez.: Bauer.
Ich gab die Erklärung ab, daß ich allerdings nicht eigenmächtig, sondern nur mit Zustimmung meiner Fraktion vorgehen würde. Haußmann bat sehr, noch mit dem Prinzen zu verhandeln, bevor die Fraktion entscheide. David stellte anheim, die Note von Solf oder von v. Payer unterzeichnen zu lassen. Der Prinz aber müsse erklären, daß er bereit sei, zurückzutreten. Dadurch könne ein guter Eindruck hervorgerufen werden, und jedermann müsse das überzeugen, daß das Kabinett und die Reichstagsmehrheit gewillt seien, mit der Demokratie wirklich Ernst zu machen. In ähnlicher Weise wie David sprach sich Fischbeck aus. Ich gab zum Schluß noch einmal meiner Überzeugung Ausdruck, daß es unmöglich sein werde, den Prinzen zu halten; er müsse gehen.
Dann noch tagelang Kampf um den Brief in den Vorständen, in den Fraktionen, im Interfraktionellen Ausschuß, Sitzungen des Briefes wegen mit dem Vizekanzler, mit dem Prinzen Max, der schließlich selbst im Interfraktionellen Ausschuß erscheint, um Aufklärungen zu geben. Besprechungen im Kabinett, dann gemeinsame Sitzung: Interfraktioneller Ausschuß, Kabinettsmitglieder, Prinz Max und der als Sachverständiger zugezogene Graf Rantzau, unser Gesandter in Kopenhagen. Graf Rantzau gab seiner Meinung dahin Ausdruck, daß auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen ein Kanzlerwechsel in diesem Augenblick entschieden das Schädlichere sei. Es wurden zahlreiche Pressestimmen vorgetragen, die beweisen sollten, daß der Brief nicht tragisch genommen werde. Unter der Hand wurde sogar kolportiert, Wilson und Lansing hätten die Absicht, den Brief gänzlich zu ignorieren. Dazu kamen die Auseinandersetzungen über die Freigabe des Briefes für die Presse. Ich trat mit aller Entschiedenheit für die Freigabe des Briefes ein, weil die Unterdrückung auch in schroffstem Widerspruch stehe mit den Regierungserklärungen über die Pressefreiheit. Schließlich wurde beschlossen, den Brief der Presse freizugeben, aber gleichzeitig den Redaktionen Erläuterungen des Briefes durch den Prinzen zur Verfügung zu stellen und die Bitte auszusprechen, die Erläuterungen nicht wörtlich, aber doch taktvoll zu benutzen. Am 15. Oktober beschloß zunächst der Fraktionsvorstand und nachher auch die Fraktion, eine Kanzlerkrise zu vermeiden. Damit fiel dem Prinzen ein Stein vom Herzen. Allerdings traf uns alle dann auf das schwerste die Antwort Wilsons.
Durch die Verhandlungen vor dem Untersuchungsausschuß ist bestätigt worden, was früher bereits alle Welt durch die Presse erfahren hatte, daß die Bitte um Waffenstillstand nur die Folge der Hilferufe des Hauptquartiers an den Prinzen Max gewesen ist. Bei den Verhandlungen im Kabinett über die Fragen des Waffenstillstandes sowohl, wie über die Antwortnote an Wilson hat sich der Prinz Max von Baden in überaus männlicher und ehrlicher Weise benommen. Es wird mir immer in Erinnerung bleiben, wie er in einer Sitzung am 21. Oktober mit Nachdruck erklärte: »Ich habe die Note abgeschickt, weil ich dazu von der Obersten Heeresleitung geradezu gezwungen worden bin. Ich war gegen diesen überstürzten Hilferuf, habe dann aber jede Verantwortung dafür übernommen. Ich bin zu stolz gewesen, mich hinter andere zu verkriechen.« Nach seinen Wünschen war die Bitte um Waffenstillstand und um Frieden in jener Situation nicht; wäre es nach ihm gegangen und hätte man ihm Zeit gelassen, dann würde er anders verfahren sein.
Als im Kabinett die Frage erörtert wurde, ob man außer Ludendorff, der einig gehe mit Hindenburg, auch noch andere Heerführer über die Situation hören sollte, wurde erklärt, daß Hindenburg und Ludendorff sofort zurücktreten würden, falls man andere frage. Daran hat sich das Kabinett indessen nicht gekehrt, sondern auch die Generale Mudra und Gallwitz um Auskunft ersucht. Es stellte sich bei der Besprechung mit diesen Herren heraus, daß sie doch in der Hauptsache nur die von ihnen kommandierten Abschnitte, dagegen nicht die gesamte Situation genau kannten. Beide waren sehr erschüttert über die Mitteilungen, die ihnen über die Gesamtlage gemacht wurden. Alles das, was sie anführten, um die Tapferkeit ihrer Soldaten zu preisen, war uns im Kabinett nichts Neues, konnte aber nach keiner Hinsicht das traurige Gesamtbild wesentlich ändern.
Ich las den Herren einen mir aus der Front zugegangenen Divisionsbefehl vor, den ich im Auszug hier wiedergeben will; darin hieß es:
41. lnf.Div.
Div.St.Qu., den 14. August 1918.
Divisions-Befehl.
Das Unglück am 8. August ist entstanden durch den dicken Nebel, unter dessen Schutz die massenhaften Tanks in unsere Linien und unseren Rücken kommen konnten. Sobald es hell wurde, wurden die Tanks zerschossen, und der Engländer konnte bei uns wie an der ganzen deutschen Front am 8. und an den folgenden Tagen keine nennenswerten Fortschritte mehr machen. In jener verhängnisvollen Lage sind von Angehörigen aller Regimenter usw. unvergeßliche Heldentaten vollbracht worden. Die Männer, die dazu beitrugen, daß der Feind zum Stehen kam und nicht durchbrach, können bis an ihr Lebensende stolz auf ihre Leistung sein. Ich will allen Leuten, die am 8. August bei ihrem Führer in vorderster Linie standgehalten haben, oder dorthin freiwillig zurückgekehrt sind, das Eiserne Kreuz verleihen.
Leider haben aber auch viele Soldaten der Division ihre Pflicht nicht erfüllt. Alle diejenigen, die nicht Front gemacht haben, als der Feind sie nicht mehr drängte, die, anstatt die vorderste Linie aufzusuchen und zu halten, die Front für den Feind freimachten und die Bagagen oder Peronne oder sonst einen sicheren Ort aufsuchten, haben ihre im Fahneneid beschworene Pflicht schwer verletzt. Sie haben vor ihren Vorgesetzten und Kameraden und vor ihrem Gewissen eine schwere Schuld wieder gutzumachen.
Aber ganz ehrlos und vaterlandsverräterisch haben die gehandelt, die ihre Waffen fortwarfen, um schneller fortzukommen und um nicht wieder in den Kampf geführt werden zu können. Alle diese Leute haben nach Prgrph. 83 des Mil.Str.G.B. Zuchthaus, in leichteren Fällen Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre verwirkt.
Ich befehle, daß diese Leute, soweit sie ihr Verhalten nicht rechtfertigen können, ermittelt und auf einer schwarzen Liste des Regiments (bzw. Pion.Batls.) festgelegt werden. Ich will ihnen noch bis zum 8. August 1919 – wenn der Krieg nicht eher beendet ist – Gelegenheit geben, ihre Schandtat durch ehrenhaftes Verhalten gut zu machen. Aber jeder Mann der schwarzen Liste, der sich bis dahin etwas zuschulden kommen läßt, das gegen die militärische Pflicht und Ehre verstößt (z. Bsp. Ungehorsam, unerlaubte Entfernung usw.), wird sofort nach Prgrph. 85 wegen des Feigheitsverbrechens am 8. August 1918 kriegsgerichtlich abgeurteilt. Besonders schwere Fälle sind sofort zur Aburteilung zu bringen. Im besonderen sind Leute, die andere aufgefordert haben, die Waffen fortzuwerfen oder auszureißen, oder die vor dem Feinde den Gehorsam ausdrücklich verweigert haben, sofort zur Aburteilung zu bringen. Ich beabsichtige, die Todesurteile rücksichtslos zu bestätigen.
Durch Beweise hervorragenden Mutes kann sich aber jeder nach Prgrph. 88 des Mil.Str.G.B. sofort alle Straflosigkeit erwerben, so daß er sofort von der schwarzen Liste gestrichen wird …
gez. (Name).
Generalmajor und Divisionskommandeur.
Mudra und Gallwitz bekannten beide stolz, daß sie von derartigen Dingen in ihrem Befehlsbereich nichts zu spüren bekommen hätten.
Absolut unverständlich war uns allen das Verhalten Ludendorffs. Erst der dringlichste Ruf nach schnellstem Waffenstillstand und nachher der Versuch, die Geschichte halb so schlimm darzustellen und uns die Möglichkeit vorzutragen, daß man noch weiterkämpfen könne. So verlangte er in einer Sitzung von uns Menschen, Menschen, Menschen, und auf die Frage von mir, wo wir die Menschen hernehmen sollten, um sie in einen absolut aussichtslos gewordenen Kampf zu schicken, meinte er wörtlich: »Herr Ebert wird's schaffen können.« Der Kriegsminister Scheuch brachte dann am nächsten Morgen eine Aufstellung mit, nach der er tatsächlich wiederum 600 000 Mann der Front zuführen wollte. Diese 600 000 Mann wollte er folgenderweise aufbringen:
Genesende
(davon aus der Heimat 40 000, von der Front 15 000 Mann) |
55 000 Mann |
Rest des Jahrgangs 1900
(ausgebildete Mannschaften 54 000, noch nicht ausgebildete Mannschaften 196 000 Mann) |
250 000 Mann |
In Rußland gefangen gewesen | 5 000 Mann |
Aus den Ersatzformationen der Heimat. | 75 000 Mann |
Aus der Etappe | 20 000 Mann |
Aus der Industrie | 73 000 Mann |
Nachgemusterte | 5 000 Mann |
Insgesamt also in Preußen: | 483 000 Mann |
Erfahrungsgemäß könne er dazu 100 000 Mann rechnen aus Bayern, Sachsen und Württemberg. Ludendorff war froh, als er diese Ziffern hörte, er hätte zweifellos noch weitere Hunderttausende in den aussichtslosen Kampf getrieben.
Selbstverständlich wandte ich mich auf das allerentschiedenste gegen die Pläne Ludendorffs. Von außen gekommene Anregungen, das Volk aufzurufen (Levée en masse), fanden im Kabinett auch nicht die geringste Gegenliebe, jeder sah die Unsinnigkeit solcher Vorschläge ein.
Einen breiten Raum nahm in den Verhandlungen auch die U-Bootsfrage ein. Es war als eine Selbstverständlichkeit bezeichnet worden, daß keinerlei Aussichten auf Waffenstillstand und Frieden gegeben seien, solange der U-Bootskrieg in der rücksichtslosen Weise weitergeführt werden würde. Die Frage, ob man nicht vom rücksichtslosen U-Bootskrieg zum U-Bootskreuzerkrieg zurückkehren könnte, wurde von den Marinevertretern glatt verneint. Glücklicherweise scheiterten aber alle Versuche, von außen auf das Kabinett im Sinne einer Fortführung des rücksichtslosen U-Bootskrieges Einfluß zu gewinnen.
Erfreulich waren in diesen Auseinandersetzungen stets die klaren Darstellungen des Grafen Rödern, der sich dort als ein klug wägender und entschlossen handelnder Mann erwies. »Wir müssen rein sachlich entscheiden,« sagte er einmal, als auf die U-Bootsfanatiker verwiesen wurde, »wie oft ist durch Demagogen ›Stimmung‹ zum Schaden des Reiches gemacht worden.« Über die Frage, ob der U-Bootskrieg aufgegeben werden sollte, wurden übrigens auch deutsche Diplomaten gehört. Graf Brockdorff-Rantzau aus Kopenhagen, Rosen aus dem Haag und Graf Wolff-Metternich aus Wien; alle drei stimmten darin überein, obwohl sie einander in letzter Zeit nicht gesehen hatten, daß keinerlei Aussicht auf Friedensverhandlungen bestände, falls man den U-Bootskrieg fortsetze. Die Bettelnoten, zu denen das Kabinett infolge des Zusammenbruchs gezwungen war, waren für jedes Mitglied eine Qual. Ich brauche über diese Dinge gar nicht zu handeln, jeder Deutsche empfindet den Ausgang des Krieges wie eine Schmach, die auf jedem einzelnen lastet. Aber als alles sicher verloren war, war Ludendorff wiederum bereit, weitere Hunderttausende deutscher Männer den Mordmaschinen der frischen Truppen der Entente, besonders solchen aus Amerika, entgegenzuschicken.
Am 20. Oktober erhielt ich eine Einladung zum Empfang beim Kaiser, der sich die neuen Staatssekretäre vorstellen lassen wollte, für Montag, den 21., nachmittags 3 Uhr, im Schloß Bellevue. Ich zitiere aus meinem Tagebuch:
Unter Führung des Reichskanzlers Prinz Max sind alle neuen Reichsbeamten anwesend; von den Sozialdemokraten: Bauer, Dr. David, Dr. August Müller, Scheidemann, Robert Schmidt. Wir waren kaum versammelt, als der Kaiser, mit einem Pappblatt in der rechten Hand, erschien. Er stellte sich einige Schritte vor uns hin, stützte das linke Ärmchen, mit dem er auch den Helm hielt, auf den Säbelknauf, verneigte sich und sagte dann: »Meine Herren, ich habe mir erlaubt, einige Zeilen zu Papier zu bringen«, dabei hob er den Pappdeckel mit der Rechten in die Höhe, und wir konnten nun sehen, daß auf beiden Seiten mit der Schreibmaschine vollgeschriebene Blätter aufgeklebt waren. Er lächelte etwas gezwungen und hantierte dabei mit dem Pappdeckel so, als wenn er hätte sagen wollen: »Ihr wißt doch, wie solche Sache gemacht wird.« Dann las er mit lauter Stimme den Text vor, der einen ausgezeichneten Eindruck gemacht haben würde, wenn er mehrere Jahre vorher vorgelesen worden wäre. Es hieß darin, daß nirgends in der Welt freiheitlichere Einrichtungen bestehen sollten, als bei uns. Am Schlusse war leider die Rede vom »letzten Hauch und letzten Hieb«. Das schien mir in dieser Situation wirklich als Geschmacklosigkeit. Der Kaiser gab dann seinen Pappdeckel dem neben ihm stehenden Clemens Delbrück, der übrigens krank, sozusagen wie ein Gespenst aussah. Der Reichskanzler stellte dem Kaiser jeden einzelnen der Erschienenen vor. Es erwies sich dabei, daß er ausgezeichnet präpariert worden war. Mit Bauer sprach er von Breslau, mit Dr. David, der den größten Teil seines Lebens in Hessen gelebt hat, über Hessen, Robert Schmidt redete er als seinen Berliner Landsmann an und zu mir sagte er: »Wir haben ja zusammen in Kassel die Schule besucht.« Ich berichtigte das, soweit seine näheren Angaben falsch waren. Als der Kaiser sich empfohlen hatte, standen wir noch ein paar Minuten mit Delbrück zusammen und überlegten die Frage, ob es empfehlenswert sei, die verlesene Ansprache zu veröffentlichen. Gröber war dafür, ich war dagegen, weil ich der festen Überzeugung war, daß die Ansprache in diesem Augenblick lächerlich wirken müsse. Andere machten ihre Bedenken geltend wegen der schon von mir erwähnten Schlußwendung. Wir einigten uns also dahin, die Rede vorläufig nicht zu veröffentlichen.
Ich muß hier dem Ablauf der Ereignisse noch einmal zurück- und vorgreifen. Am 30. September 1918 war der Zusammenbruch Bulgariens unter dem Titel eines Waffenstillstandes erfolgt. Am 2. Oktober erklärt Ludendorff dem Befehlsempfänger des Auswärtigen Amts im Großen Hauptquartier, Herrn von Lersner, unser Waffenstillstandsangebot müsse sofort von Bern nach Washington weitergehen. 48 Stunden könne die Armee nicht noch warten. Am 9. Oktober war es in Gegenwart Ludendorffs der Oberst Heye von der O.H.L., der erklärte, »Schritt zum Frieden, noch mehr zum Waffenstillstand ist unbedingt notwendig. Truppe hat keine Ruhe mehr«. Am 17. Oktober war es Ludendorff selbst, der bestätigte, daß die Truppe keine Stoßkraft mehr hätte, der aber trotz allem Vorangegangenen aufs neue um Reserven bittet. Als General Scheuch ein letztes Aufgebot von 600 000 Mann, aus allen Ecken zusammengekratzt, als vielleicht möglich in Aussicht stellt – wie sich dieser letzte Blutstropfen Deutschlands qualitätsmäßig zusammensetzen sollte, habe ich bereits berichtet –, sieht Ludendorff bereits wieder vertrauensvoll in die Zukunft, ja, er behauptet, nun wieder hoffnungsfreudig sein zu können. Und Grund und Mittel für diesen sanguinischen Stimmungsumschwung? Er glaubt in diesem Augenblick, wo alles schon halb über dem Abgrund hängt, mit Stimmungsmache etwas erreichen zu können. »Diese (schlechte) Stimmung ist aus der Heimat ins Heer gekommen, und ich bin mir wohlbewußt, daß jetzt umgekehrt die Stimmung, die die Urlauber nach der Heimat bringen, recht schlecht ist.« Aus dieser Theorie der gegenseitigen Erdolchung heraus hat er mich gefragt, ob sich dennoch die Stimmung der Massen heben lasse, und er hat von den Möglichkeiten, aus denen sich auch nur die leiseste erfolgreiche Abwehrhandlung errechnen läßt, so wenig Ahnung, daß er behauptet, wir seien fein heraus, wenn die Armee über die nächsten vier Wochen stimmungsmäßig hinwegkommt.
Solcher Blindheit gegenüber, die mit keinen Tatsachen rechnet und sich auf keine Kenntnisse stützen kann, gibt es kein Mittel, es sei denn, daß die Ereignisse selbst die Richtigstellung übernahmen. Das taten sie in der unzweideutigsten Weise, knapp 14 Tage, nachdem ich das Wort »hoffnungsfroh« zum letztenmal aus Ludendorffs Mund gehört hatte.
Im Kabinett saß zu meiner Linken zumeist der Staatssekretär des Reichsmarineamts v. Mann. Am 4. November kam er, als die Sitzung bereits begonnen hatte, in das Zimmer, setzte sich neben mich und übergab mir einige Depeschen aus Kiel … Ein Zweifel war nicht mehr möglich – das war die offene organisierte Rebellion, das war mehr, das war der Funke, der ins Pulverfaß fliegen mußte. In Kiel ging alles drunter und drüber, aber – und das war der letzte Hoffnungsschimmer, man rief aus dem Kreise der Matrosen heraus nach einem Abgeordneten der Mehrheit. Ein Abgeordneter der Reichstagsmehrheit sollte sofort nach Kiel kommen, aber man dürfe nur einen energischen Mann schicken.
Noch bevor dem Kabinett Mitteilungen von den Vorgängen gemacht worden waren, hatte ich schon telephonische Verbindung mit Noske, der sich im Reichstag aufhielt. Noske war sofort bereit, zu reisen. Das Kabinett stimmte meinem Vorschlage zu, beschloß aber, den Staatssekretär Haußmann mit Noske nach Kiel zu schicken. Was dann folgte, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Nachrichten, ähnlich denen aus Kiel, jagten nun einander: aus Lübeck, Schwerin, Flensburg, Cuxhaven, Brunsbüttel, Hamburg –. Die Forderungen der Matrosen, die Noske dann telephonierte und telegraphierte, begannen mit dieser: erstens sofortiger Rücktritt des Kaisers! Aus allen anderen der genannten Orte liefen die gleichen Forderungen ein: Fort mit dem Kaiser, Amnestie, Waffenstillstand, Frieden, Wahlrecht!
Ich stelle die Notizen hier zusammen, die sich auf diese ersten, nicht mehr zu verkennenden Wetterzeichen, insbesondere auf Kiel, beziehen. Bekanntes vermeide ich nach Möglichkeit und versuche, die Stellungnahme des Kabinetts darzustellen gegenüber den sich überstürzenden Ereignissen der letzten Woche vor der endgültigen Katastrophe. Denn nun geht es unverkennbar mit Windeseile dem Abgrunde zu.
Unterm 5. November notiere ich:
Generalquartiermeister Groener ist auf Einladung erschienen. Er berichtet summarisch: Der politischen Einkreisung ist die militärische gefolgt. Unsere Schwäche ist die Ausdehnung der Räume. Das Diktaturdreigestirn und die einheitliche Führung auf Seite der Entente hat unsere Niederlage zu einer vollkommenen gemacht. (Auf eine Zwischenfrage:) Wie wir die Truppen aus Kleinasien zurückbekommen sollen, ist zur Stunde nicht zu übersehen. Viele werden sich durchschlagen müssen. Die Truppen aus dem Osten sind für den Westen nicht ohne weiteres zu gebrauchen. Bayerische Truppen sind in den taktisch günstigen Stellungen geschützt, das Alpenkorps muß aus Ungarn sofort heraus. Vielleicht muß der Brenner gesprengt werden. Besetzung Deutsch-Böhmens – Bahnknotenpunkte, z. B. Aussig –, zum Schutz der deutschen Grenzen. Vom westlichen Kriegsschauplatz könne er nach Rücksprache mit den Heerführern über die Bataillonsstärke sagen: Franzosen 600 Mann, Engländer 700, die Amerikaner 1200 Mann, die Deutschen 500 Mann (?). Unsere Truppen kommen längst nicht mehr zur Ruhe, also schnellste Kürzung der Front. Wir müssen weiter zurück, um einen Durchbruch zu verhüten. Einige Divisionen schlagen sich glänzend, andere versagen. Immer wieder wird gemeldet, daß die neuen Truppen die Stimmung verschlechtern. Obwohl auch die Angriffe der Franzosen schwächer werden, halten unsere Truppen nicht mehr Stand. Der Kern des Heeres sei noch gut, aber – – –. Die Forderung nach Abdankung des Kaisers wirkt auf die Offiziere verheerend. Der Widerstand kann nur noch von kurzer Dauer sein …
Scheidemann: Trotz dieser Schilderungen wird hier noch immer von weiteren Truppennachschiebungen gesprochen, die doch, falls man die Stimmung der Truppen überhaupt noch verschlechtern könnte, nach dem Bericht Groeners die Stimmung an der Front immer weiter verschlechtern müßten!
v. Payer: Groener wolle offenbar auch nur weiterkämpfen, um Zeit zu Verhandlungen für die Regierung zu gewinnen. Wird die Entente auf unsere Waffenstillstandsforderung überhaupt eingehen? Und wenn ja, was wird sie für Bedingungen stellen? Wenn die Bedingungen unerträglich sind, was dann? Hat es wirklich noch einen Sinn, weiterzukämpfen?
Groener: Wir brauchen Zeit. Augenblicklich ist eine große Rückzugsoperation eingeleitet. Entscheidend für uns ist, an welcher Stelle der nächste Angriff erfolgt.
Staatssekretär Haußmann ist inzwischen aus Kiel eingetroffen und berichtet: Die Matrosen haben Ausschüsse gebildet, sie fordern Abschaffung der Monarchie, Wahlrecht vom 21. Jahre an, Freilassung der politischen Gefangenen usw. – Bei dem knappen Bericht Haußmanns hat jeder das Gefühl, daß es zu Ende geht. Die Aussprache über Haußmanns Bericht wird zurückgestellt, weil zunächst mit General Groener weitergesprochen werden soll.
Prinz Max: Nach dem Bericht Haußmanns haben wir ja nun auch vollkommene Klarheit über die Stimmung in der Flotte. Was soll im Osten, was soll zum Schutze der bayerischen Grenze geschehen?
Groener schildert im einzelnen alle zunächst notwendigen Maßnahmen. An der böhmischen Grenze können wir uns in Kämpfe mit den tschechisch-slowakischen Truppen nicht einlassen, denn sie sind gut und stark, wir aber zu schwach! – – Trostlosigkeit auf der ganzen Linie. An der Front und auch daheim.
Am Abend hatte ich noch eine Unterredung mit dem Prinzen Max unter vier Augen. Ich machte ihn nachdrücklich aufmerksam auf die von den Matrosen überall gestellten Forderungen. Er: »Die Kaiserfrage wird erst nach dem Waffenstillstand gelöst werden. Nach dem Waffenstillstand müsse und werde eine Klärung eintreten.« Ich: »Ich bin fest überzeugt, daß es dann zu spät ist.«
6. November 1918. Im Laufe der Nacht ist der erste Bericht Noskes eingelaufen. Noske hat das Stadtkommando übernommen. Er forderte auf, die Waffen abzuliefern. Er fragt an, wie weit das Kabinett den von ihm übermittelten Forderungen der Matrosen entgegenkommen will. Er bittet, nicht etwa die Stadt anzugreifen, v. Payer schlägt für die Antwort vor: Die Stadt soll nicht angegriffen werden, dagegen müsse die Forderung erhoben werden, daß die Bewegung von Kiel aus nicht ins Land getragen werde. Aus diesem Grunde sollten auch die Eisenbahnen gestoppt werden. v. P. fügt seinen Ausführungen noch die Mitteilung an, daß es Noske gelungen sei, für den 6. November die Milchversorgung für Kiel sicherzustellen.
Während dieser Besprechung hatte Noske ein telephonisches Gespräch mit dem Staatssekretär v. Mann, über das letzterer dann dem Kabinett berichtete: Noske sei tatsächlich Kommandant. In seinen Ausführungen habe er großes Gewicht auf die Zusage der Amnestie gelegt. Heute früh herrsche augenscheinlich Ruhe. Jede Stunde könne indessen Zwischenfälle bringen. Rücktritt oder Absetzung des Kaisers sei unbedingt notwendig. Noske glaube an die Wiederherstellung der alten Ordnung, wenn die erforderlichen Konzessionen gemacht würden. – v. Mann fügte diesem Bericht weiter hinzu: Heute nacht sind angeblich 500 Matrosen in Berlin angekommen. – Kriegsminister Scheuch: Diese Nachricht ist sicherlich falsch. Richtig ist, daß 40 Matrosen in Wittenberge angekommen, aber sofort von einer Kompagnie des 4. Garde-Regiments festgenommen worden sind. Es sei noch unaufgeklärt, ob es sich um Urlauber oder Meuterer handle.
In Lübeck sei der Bahnhof von Meuterern besetzt. Nach Lübeck geschickte Truppen hätten südlich von der Stadt Stellung genommen, sie seien aber noch zu schwach. Ähnlich wie in Kiel und Lübeck hätten sich die Zustände in Schwerin und Cuxhaven und anderen Orten, die er anführte, entwickelt. Von Kiel aus sei der Befehl ergangen, Blutvergießen unter allen Umständen zu verhüten. Scheuch hält das für falsch. In Kiel habe der Soldatenrat beschlossen, daß die Infanterie abziehen könne, wenn sie bereit sei, die Waffen abzugeben.
v. Mann berichtet, von Wilhelmshaven werde gemeldet, daß es unbekannt sei, wo das 3. Geschwader geblieben. In Cuxhaven hätten die U-Boote das Auslaufen verweigert, die dortigen Soldaten hätten sich den Mannschaften angeschlossen. Es wird die Frage erörtert, ob nicht für Souchon Schröder zum Gouverneur von Kiel ernannt werden solle.
Graf Rödern: Die Lage hat sich so verschlimmert, daß es sich nicht empfiehlt, mit Militär einzuschreiten. Er regt an, die Marine aufzulösen.
Scheidemann: Ich halte es für selbstverständlich, daß nach Lage der Dinge an der Front wie an der Wasserkante die erhobenen Forderungen bewilligt werden, soweit es sich nicht um politische Forderungen handelt, die vom Reichstag beschlossen werden müssen. Der Reichstag müsse mit diesen Forderungen sofort beschäftigt werden. Straffreiheit sollte man zusichern, ebenso die Amnestie und die sofortige Entlassung der früher Verurteilten, soweit es sich nicht um schwere Verbrechen handle. Noske müsse selbstverständlich in Kiel bleiben und mit größter Autorität ausgestattet werden. Wenn es uns nicht gelingt, einigermaßen geordnete Zustände herzustellen, wird die Entente das Gesuch um Waffenstillstand glatt ablehnen. Über die Kaiserfrage habe er sich mehrfach so deutlich ausgesprochen, daß er sich jedes weitere Wort darüber ersparen könne.
Erzberger ist für sofortige Amnestie und Entlassung der Verurteilten, wenn bis abends 6 Uhr die Ruhe in Kiel wiederhergestellt sei. Haußmann spricht sich in ähnlicher Weise aus.
Ministerialdirektor Simons gibt die telegraphischen Meldungen eines Freundes aus Kiel wieder. Die Stadt sei ruhiger, nachts sei allerdings viel geschossen worden. Als schlimmster Vorgang werde die Beschießung eines Hotels angesehen. Der Soldatenrat halte die Ordnung aufrecht; alle Behörden arbeiten weiter. Ein überwachter Personenverkehr sei zugelassen. Die gesamte Bevölkerung befinde sich im Zustande der dauernden Panik. Scheuch wendet sich gegen die von dem Grafen Rödern angeregte Frage, die Flotte aufzulösen.
v. Payer teilt mit, daß aus Friedrichsort 10 000 Soldaten der Regierung eine Resolution übermittelt hätten, in der die Beseitigung des Herrenhauses und das Wahlrecht zu allen gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften vom 21. Jahre ab gefordert werden. Alle weiteren Forderungen der Resolution deckten sich mit den dem Kabinett bereits bekannten. Graf Rödern, Erzberger und Trimborn wenden sich entschieden gegen die Forderung, Schröder an Stelle Souchons nach Kiel zu schicken. Graf Rödern fordert außerdem die sofortige Rückkehr des Kaisers nach Berlin. Simons: In dieser Beziehung hat der Prinz bereits alle Stränge gezogen. – In diesem Augenblick kommt der Reichskanzler in das Kabinett. Scheidemann wird von Noske am Telephon verlangt.
Aus meinem Telephongespräch mit Noske, das von einem das Telephon bedienenden Offizier aufgezeichnet wurde:
Ich führe aus: »Sage den Soldaten und auch den Arbeitern, daß in der Regierung vollkommene Einigkeit besteht in der Amnestiefrage. Wir sind uns auch einig darin, daß Straffreiheit gewährt werden soll, allen denen, die sich jetzt gegen die Manneszucht vergangen haben. Ausgenommen müssen natürlich bleiben für beide Fälle – und da befinden wir uns ja in Übereinstimmung mit den Forderungen, die gestellt worden sind – diejenigen, die gemeine Verbrechen begangen haben. Voraussetzung ist in beiden Fällen, daß die Mannschaften bis heute abend in ihre Stellungen und auf ihre Stationen zurückkehren und daß sie die Waffen und die Munition, deren sie sich gewaltsam bemächtigt haben, zurückgeben.
Wir suchen sofort Verbindung mit dem Kaiser zu bekommen, der ja nach den bestehenden Rechtsverhältnissen die hier gefaßten Beschlüsse sanktionieren muß.
Es ist in den nächsten Tagen mit aller Bestimmtheit der Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen zu erwarten, also auch der unmittelbar anschließenden Friedensverhandlungen. Mache aber die Mannschaften ausdrücklich darauf aufmerksam, daß sowohl die Waffenstillstandsverhandlungen wie auch die Friedensverhandlungen, die wir so schnell als möglich wünschen, schwer gefährdet sind, wenn die Feinde von den Ereignissen in Kiel Kenntnis erhalten. Deshalb ist es unbedingt notwendig, daß in Kiel und in den anderen Orten sofort wieder Ruhe einkehrt. Die Mannschaften sollen ihren Dienst wieder aufnehmen, und dann kann man alles als abgetan ansehen.
Sage den Leuten weiter, daß die von ihnen aufgestellten politischen Forderungen, Wahlrecht usw., unmöglich durchgeführt werden können von der Regierung auf lokale Beschlüsse hin. Es ist das eine Angelegenheit, die selbstverständlich nur von der Vertretung des Volkes, also vom Reichstag, erledigt werden kann. Der Reichstag tritt sofort zusammen, wenn die Waffenstillstandsverhandlungen beginnen. Ich hoffe, daß die Mannschaften das einsehen werden und daß dann heute abend wieder Ruhe eintritt.«
Auf eine Frage Noskes antwortete ich: »Die Kaiserfrage ist noch in der Schwebe, darüber wird in den nächsten Tagen wohl eine Entscheidung fallen.«
Noske sagte dann, daß er nahezu zusammenbreche infolge der Riesenarbeit, die auf ihm laste. Auf die Frage, ob man ihm noch einen Mann zu Hilfe schicken sollte, antwortete er: »Wenn es irgend geht, ja!« Auf die weitere Frage, ob er jemanden aus der Regierung oder lieber aus der Partei haben wolle, sagte Noske: Gegen die Regierung sei in letzter Zeit dermaßen gehetzt worden, daß es empfehlenswerter sei, einen Vertreter der Fraktion zu schicken. Auf den Vorschlag Scheidemanns, ob er den Landtagsabgeordneten Braun oder den Reichstagsabgeordneten Wels schicken solle, da beide robuste Naturen seien, erwiderte Noske: es sei ihm jeder von beiden willkommen.
Das einzige Erfreuliche an der Lage sei im Augenblick für ihn, daß er glaube, beobachten zu können, wie doch über manche der Hauptschreier ein gelindes Grausen gekommen sei, weil ihnen nun die Dinge über den Kopf wachsen.
Noske sagte auf wiederholtes Befragen ausdrücklich zu, daß er selbstverständlich bleiben werde, so lange er sich überhaupt halten könne. Er wolle nicht verschweigen, daß er sich schwer bedroht sehe und auch damit rechne, daß man ihn um die Ecke bringe; denn es seien doch eine ganze Anzahl sehr rabiater Leute, auch im Soldatenrat, tätig.
Schließlich ein Telegramm Noskes vom 7. November, die letzte amtliche Mitteilung von ihm vor dem 9. November.
»Ich mußte soeben die Leitung der Marineangelegenheit in Kiel übernehmen. Der bisherige Stationschef hat mir die Geschäfte übergeben. Wie die Aufgabe zu bewältigen ist, vermag ich noch nicht zu übersehen. Soeben traf auch Haase noch hier ein. Wenn es Streitigkeiten gibt, ist die Sache natürlich unmöglich zu machen. Heute gab er mir die Versicherung, daß die Einigkeit nicht gestört werden soll. Erwarte dafür Gegenleistung in Berlin. Wahnschaffe sagte mir heute am Telephon, als ich ihm andeutete, wie die Sache hier laufen werde, die Regierung erwarte, daß ich solange wie möglich hier ausharre. Ich bin gespannt darauf, ob sie diese Anschauung jetzt noch hegen wird.«
Wenn der Krieg mit einem deutschen Sieg geendet hätte, so würde man den Kaiser überschwenglich gefeiert, ihn vermutlich in den Rang eines Halbgottes erhoben haben, nun aber, da es anders kommen sollte, wurde ein Sündenbock gesucht und in erster Linie im Kaiser gefunden. Das Thema von der Abdankung des Kaisers wurde, wie ja schon aus dem Vorstehenden zu ersehen ist, überall traktiert, in öffentlichen und geschlossenen Versammlungen, an jedem Biertisch und in jedem Bureau, in der Eisenbahn wie auf den Straßenbahnen. Nur in der Presse fand man wenig ganz deutliche Forderungen, weil die Zensur verboten hatte, in den Zeitungen die Frage zu erörtern.
Wie die Katzen das Mausen nicht lassen können, so konnten die im Kriege von der Obersten Heeresleitung auf die Presse losgelassenen Zensuroffiziere und Zensurbeamten das Genieren der Gazetten, das schon der Alte Fritz nicht leiden mochte, nicht lassen. Bis in die Tage, an denen das alte Regiment wirklich im Sterben lag, wollten die Zensurhelden immer wieder die Pressefreiheit fest in Zügel legen, obwohl sie wußten, daß die Regierung unter dem Prinzen Max auf Grund eines Programms zustande gekommen war, das die Presse grundsätzlich freigab und nur mit Rücksicht auf den immer noch tobenden Krieg einige Sicherungen gegen Indiskretionen der Presse, durch die militärische Interessen gefährdet werden konnten, zugestanden hatte. Noch am 21. Oktober 1918 bat mich ein Legationsrat aus dem Auswärtigen Amt, ihm bei der Fesselung der Presse zu helfen. Ich habe ihm nicht nur gründlich Bescheid gesagt, sondern habe es ihm dann auch noch schriftlich gegeben, was ich von seinem Ersuchen hielt:
»In Ihrem Schreiben vom 21. Oktober 1918 wünschen Sie, daß ich in der von Ihnen gekennzeichneten Richtung meinen Einfluß auf die Presse ausüben soll. Dazu bin ich durchaus nicht in der Lage. Ich werde mich entschieden gegen jeden Versuch sträuben, der Presse weitere Fesseln anzulegen. In dem Programm der Regierung ist genau skizziert worden, unter welchen Umständen die Zensur das Recht hat, einzugreifen. Über die durch den Krieg bedingten vier Punkte hinaus darf die Presse unter gar keinen Umständen gehindert werden, frei und offen ihre Meinung zu bekennen.
Das Thema von der Abdankung des Kaisers ist nach meiner Auffassung ein politisches, kein militärisches. Aber selbst wenn man gewaltsam konstruieren wollte, daß das Thema von der Abdankung ein militärisches sei, weil der Kaiser oberster Kriegsherr ist, so könnte die Zensur dennoch nicht einschreiten. Es ist nicht schlechthin die Erörterung eines jeden militärischen Themas unter Zensur gestellt, sondern nur Fragen strategischer und taktischer Art und außerdem Fragen, die sich auf die Munitionsherstellung beziehen. Ich kann also nicht einsehen, woher das Recht abgeleitet werden soll, der Presse die Erörterung des erwähnten Themas zu verbieten, oder auch nur zu erschweren.«
In der Kabinettssitzung an einem der letzten Tage im Oktober brachte Prinz Max die »peinliche Frage« von der Abdankung des Kaisers zur Sprache. Ohne viel Umschweife erklärte er, daß nach ihm gewordenen Mitteilungen ganz allgemein die Frage erörtert würde, ob das Ausland die Abdankung des Kaisers verlange oder nicht, namentlich aber, ob Wilson den Standpunkt einnähme, daß der Kaiser gehen müsse. Er wolle die Erklärung abgeben, daß für ihn eine Abdankung des Kaisers nur als freiwilliger Akt in Betracht kommen könne. So, wie er die Freiheit des Handelns für den Kaiser reklamiere, so müsse er sie auch für sich in Anspruch nehmen. Der Kanzler wandte sich dann ganz direkt an mich mit der Frage, wie ich als Vertreter der sozialdemokratischen Partei zu dieser Frage stehe. Ich antwortete ihm, daß ich nicht die Absicht hätte, in diesem Augenblick das Kabinett durch die Forderung zu sprengen, der Kaiser müsse gehen. Ich würde es freilich als die glücklichste Lösung ansehen, wenn der Kaiser sich entschlösse, baldigst freiwillig zu verzichten. Während der weiteren Debatte über diese Frage verließ der Kanzler die Sitzung. Graf Rödern bestand darauf, daß Solf erscheinen solle, der über die Auffassung der Kaiserfrage im Auslande Auskunft geben möge.
Solf, der in seinem Amte dringlich beschäftigt war und nach einiger Zeit kam, wiederholte, was er vermutlich dem Reichskanzler schon vorgetragen, und was diesem Veranlassung gegeben hatte, die Frage heute anzuschneiden. Aus den Wilsonnoten sei nicht unbedingt zu folgern, daß die Abdankung des Kaisers verlangt würde, aber aus vielen anderen Umständen ergäbe sich doch das Resultat, daß man allgemein die Abdankung des Kaisers erwarte. Man verlange offenbar, daß ein weithin sichtbar gewesenes Symbol des deutschen Militarismus falle. Es sei auch zuzugeben, daß Wilson vermutlich bei den Verhandlungen innerhalb der Entente eine bessere Rolle spielen könne, wenn er den Kaiser zu Fall gebracht habe.
Im übrigen möchte ich feststellen, daß in dieser Kabinettssitzung auch nicht eine Stimme sich erhob, um das Verbleiben des Kaisers zu fordern. Alle Staatssekretäre und Minister gaben zu, daß durch den freiwilligen Rücktritt des Kaisers eine Erleichterung der Lage eintreten werde. Der Kriegsminister Scheuch betonte, daß Tatsachen, die einen Rücktritt des Kaisers forderten, eigentlich nicht vorhanden seien, man rechne nur mit Stimmungen. Jeglicher Zwang, der auf den Kaiser ausgeübt würde, werde seiner Überzeugung nach im Heere verwüstend wirken. Die Generale würden nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache sein. Um gar kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, sei ausdrücklich festgestellt, daß die Herren im Kabinett sich durchweg auf ihre monarchistische Überzeugung beriefen, es handelte sich für sie alle um eine rein taktische Frage. Erzberger vertrat z. B. den Standpunkt, daß eine Abdankung des Kaisers Nachteile haben werde, die zweifellos größer seien als die erwarteten Vorteile.
Aber immer lauter wurde im Volke die Forderung erhoben, daß der Kaiser gehen müsse, und immer größer wurde bereits die Zahl der Stimmen, die auch die Abdankung des Kronprinzen verlangten. Die Zahl der mir in jenen Tagen zugegangenen Briefe, die sich dahin aussprachen, daß der Kaiser von seinem Amte beseitigt werden müsse, war Legion. Ich empfing Besuche aus allen Kreisen des Volkes; Staatsmänner und auch Offiziere legten mir dar, daß der Kaiser unmöglich bleiben könne. Die Stimmung im Lande wurde nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde schlechter. Wenige Tage vor der Erörterung der Kaiserfrage im Kabinett – am 25. Oktober – empfing ich den Besuch des Obersten Gieffenig aus Münster. Der Oberst erzählte mir außerordentlich ernste Dinge aus Rheinland-Westfalen. Einige unabhängige Abgeordnete »riefen in den Versammlungen ganz offen zur Revolution auf«. Der Solinger Redakteur Merkel habe ihm in einer vierstündigen Unterredung erzählt, daß in den nächsten drei Wochen alles erledigt sei. Alle Vorbereitungen seien getroffen. Gieffenig sprach die Überzeugung aus, daß Merkel, soweit er von Vorbereitungen gesprochen habe, sicherlich bei der Wahrheit geblieben sei.
In der Presse wurde jetzt hier und da die Forderung gestellt, daß der Kaiser gehen müsse. Einige Zeitungen wurden verboten. Dieser Eingriff der Zensur widersprach, wie bereits ausgeführt, dem Regierungsprogramm. Ich erhob deshalb Einspruch und verlangte die Freigabe der Erörterungen in der Presse auch für die Kaiserfrage. Dem widersetzte sich das Kabinett. Es wurde immer wieder der Versuch gemacht, die Frage zu verschleppen. Das gab mir Veranlassung, den folgenden Brief zu diktieren und dem Prinzen durch Boten zustellen zu lassen:
Berlin, 20. Oktober 1918.
Eurer Großherzoglichen Hoheit
beehre ich mich folgendes zu unterbreiten:
In der Sitzung der Herren Staatssekretäre vom 28. Oktober ging die vorwiegende Meinung dahin, sich vorläufig mit der Verfügung des Herrn Oberbefehlshabers abzufinden, die der Presse verbietet, die Forderung nach dem Rücktritt des Kaisers zu erheben.
In dem Programm, das für die neue Regierung maßgebend sein soll, und das von Eurer Großherzogl. Hoheit in der Reichstagssitzung vom 5. Oktober d.J. feierlich anerkannt worden ist, wird gesagt, daß die Zensur gegebenenfalls nur noch in Fragen der militärischen Strategie und Taktik, der Kriegsgerätebeschaffung und -verwendung, außerdem nur bei Erörterung der Beziehungen zu den Regierungen ausländischer Staaten eingreifen kann. Es ist demnach das Gebiet der Zensur genau abgegrenzt worden. Entsprechend diesem Programm wurde in einer etwa 8 bis 10 Tage zurückliegenden Kabinettssitzung auf eine Anregung hin, die von Herrn Staatssekretär Erzberger und mir ausging, eine Einigung darüber herbeigeführt, daß alle bestehenden Zensurvorschriften aufzuheben sind und die Vorzensur zu beseitigen ist. In späteren Besprechungen des Kabinetts traten Meinungsverschiedenheiten zutage. Einige der Herren Staatssekretäre waren der Meinung, daß eine Einigung, wie ich sie soeben skizziert habe, nicht herbeigeführt worden sei, daß vielmehr die eine oder andere Zensurvorschrift in Geltung bleiben sollte. Das vom Herrn Oberbefehlshaber erlassene Verbot, die Forderung nach dem Thronverzicht des Kaisers zu erheben, macht den bedauerlichen Rückschritt in der Richtung zu einer schärferen Handhabung der Zensur vollkommen.
Nachdem der Öffentlichkeit die Möglichkeit genommen ist, durch Diskussion eine Frage zu klären, die zu einer brennenden Schicksalsfrage des deutschen Volkes geworden ist, tritt an das Kabinett mit verdoppeltem Ernst die Notwendigkeit heran, sie in seinem Schoße zu erörtern und zum Austrag zu bringen. Aus diesem Grunde sehe ich mich gezwungen, nunmehr die Forderung, die in der Presse nicht gestellt werden darf, im Kabinett zu stellen, nämlich diese: die Herren Staatssekretäre möchten den Herrn Reichskanzler bitten, Seiner Majestät dem Kaiser zu empfehlen, freiwillig zurückzutreten.
Begründung.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die große Mehrheit der Bevölkerung des Deutschen Reiches die Überzeugung gewonnen hat, daß die Aussicht zu erträglichen Bedingungen des Waffenstillstands und des Friedens zu gelangen, durch das Verbleiben des Kaisers in seinem hohen Amte verschlechtert wird. Würde ein ungünstiger Friede geschlossen werden, während der Kaiser in seinem Amt verbleibt, so würde später gegen ihn und die Regierung der Vorwurf erhoben werden, daß sie lieber schwere Nachteile für das Volk auf sich genommen, als daß sie aus einer nun einmal gegebenen Sachlage die zum Wohle des Ganzen notwendigen Konsequenzen gezogen hätten.
Es kann weiter nicht bezweifelt werden, daß die Friedensverhandlungen beträchtlich günstigere Aussichten bieten, wenn die im Deutschen Reich vollzogene Änderung des Systems durch einen Wechsel an der höchsten Stelle des Reichs nach innen und außen deutlich sichtbar gemacht wird. Die ganze politische Situation legt die Vermutung nahe, daß der hier vorgeschlagene Schritt nur hinausgezögert, aber doch nicht vermieden werden kann. Deshalb ist es besser, wenn der Kaiser jetzt schon aus der gesamten Situation die Konsequenzen, die nach Auffassung auch zahlreicher deutscher Staatsmänner gezogen werden müssen, so schnell als möglich zieht.
Eurer Großherzoglichen Hoheit
ganz ergebener
gez. Ph. Scheidemann.
Der Kanzler, der an der Grippe erkrankt war, ließ mich am nächsten Morgen zu sich bitten. Als ich um ½10 Uhr in sein Schlafzimmer trat, sah er bleich und übernächtig aus. Aufgerichtet saß er im Bett. Während er mir die Rechte entgegenstreckte, hielt er mit der Linken meinen Brief hoch. Sein freundliches Lächeln verbarg die ihn beherrschende traurige Stimmung nur kümmerlich. Er tat mir aufrichtig leid. Aber – der Politiker kommt oft in Situationen, die ihn zwingen, die Zähne aufeinanderzubeißen. »Ich danke Ihnen für den Brief. Ich habe mich die ganze Nacht damit beschäftigt. Aber … ich bitte, nehmen Sie ihn zurück! Sie wissen, daß ich bemüht bin, Seine Majestät wissen zu lassen, wie die Stimmung ist. Er wird zurücktreten. Es wird leichter sein, den freiwilligen Rücktritt des Kaisers zu erreichen, wenn ich nicht unter solchem Druck stehe. Versetzen Sie sich in meine Lage! Ich kenne den Kaiser von Kindesbeinen an – wir waren beide so groß (er machte eine entsprechende Handbewegung) … seit einer Woche beschäftige ich mich Tag und Nacht mit der Frage. Mit Eulenburg und Delbrück habe ich bereits gesprochen – –«
»Mir kommt es auf den Rücktritt des Kaisers an, der im allgemeinen Interesse unbedingt notwendig ist, nicht etwa darauf, daß ich Sie unter den Druck des Briefes stelle. Wenn ich Gewißheit hätte, daß die Entscheidung schnellstens fällt, könnte ich den Brief natürlich zurücknehmen. Aber, wie gesagt, es ist keine Zeit mehr zu verlieren!«
»Schnellste Entscheidung – was verstehen Sie darunter?«
»Wenn ich den Brief jetzt zurücknehme, so muß ich die Freiheit meiner Entschließung bald zurückhaben, sonst kann ich nicht im Kabinett bleiben. Um ganz klar zu sein, ich muß innerhalb 24 Stunden wissen, was geschehen ist.«
»In 24 Stunden? – – – Wollen Sie mir nicht mehr Spielraum lassen? – – Es handelt sich doch um eine so furchtbar schwere Entscheidung – –«
»– – seit Wochen.«
»Ja, ich weiß es. Wie ist die Stimmung der Bevölkerung?«
»Die Stimmung verschlechtert sich von Tag zu Tag. Ich habe überhaupt noch keinen Menschen getroffen, der sich für das Verbleiben des Kaisers aussprach. Ich habe nicht nur mit Arbeitern und Geschäftsleuten gesprochen, sondern auch mit Staatsmännern von wirklicher Qualität. Ein Bundesratsmitglied hat mir gesagt, daß ein Bundesfürst in einem Brief geschrieben habe: er muß weg! In Bayern wird die Loslösung vom Reich ganz ernsthaft betrieben. Es ist wirklich keine Zeit mehr zu verlieren.«
Wir sprachen noch längere Zeit miteinander. Ich nahm die Gelegenheit wahr, ihm noch zu sagen, daß ich seinen Standpunkt durchaus verstände, er sei wie die anderen Staatssekretäre im Gegensatz zu mir Monarchist. Er müsse sich jedoch vollkommen klar darüber sein, daß er, wenn er die Monarchie als Staatsform aufrecht erhalten wolle, gar nichts anderes tun könne, als dem Kaiser den Rücktritt nahezulegen. Kein Mensch kann wissen, was die nächsten Tage bringen. Kommt es aber infolge des Zusammenbruchs der Front und der Notlage im Innern zu einer großen Volksbewegung, dann sei gar nicht daran zu zweifeln, daß man nicht mehr allein den Rücktritt des Kaisers, sondern die Ablösung der Monarchie durch die republikanische Staatsform fordern würde. Ich nahm ihm den Brief, den er mir fortgesetzt entgegenstreckte, ab und sagte: »Also bis morgen mittag.«
Die Entscheidung sollte sich aber noch fast eine Woche hinzögern.
Wenige Tage später, am Abend des 6. November, hielt die Fraktion eine Sitzung ab, in der ich Bericht erstattete und die Ermächtigung zu meinem Rücktritt forderte, falls der Kaiser bis zum andern Mittag nicht zurückgetreten sei. Das Kabinett habe nicht den Mut, absolut notwendige Konsequenzen zu ziehen und verzögere Unaufschiebbares. Dafür könne die Fraktion, dafür könne und wolle auch ich die Verantwortung nicht übernehmen. Es müßte unter allen Umständen ein befristetes Ultimatum gestellt werden. – Es kam zu einer Aussprache, in der einige Zauderer empfahlen, ein solches kurzbefristetes Ultimatum nicht zu stellen, sonst gehe die Reichstagsmehrheit schließlich in die Brüche. Ich war nicht wenig erstaunt über eine derartige Auffassung der Situation und wandte mich sehr entschieden gegen eine Taktik des Zauderns in einer Stunde, in der wir vor den folgenschwersten Entscheidungen der deutschen Geschichte ständen. »Verspürt ihr denn nicht, daß wir unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Reiches stehen – und da wird von einem Zusammenbruch der Reichstagsmehrheit geredet?« Jetzt heißt's, sich an die Spitze der Bewegung stellen, sonst gibt's doch anarchische Zustände im Reich. Das müsse man doch in den Fingerspitzen fühlen, daß die von Kiel und Hamburg ausgehende Bewegung heute, morgen oder übermorgen auch nach Berlin übergreifen werde. Vielleicht sei das schlimmste noch zu verhüten, wenn der Kaiser sofort abdanke und außer der Amnestie die restlose Demokratisierung des Reichs, der Staaten und der Gemeinden in bindender Form zugesagt wird.
Es wurde mir nicht gestattet, zurückzutreten. Als überzeugter Demokrat fügte ich mich auch in dieser Situation der Mehrheit. Ich verließ das Reichstagsgebäude mit Groll im Herzen, weil ich fürchtete, daß wir einen großen Fehler begangen hätten, indem wir die Zeichen der Zeit nicht genügend würdigten.
Am Tage darauf, den 7. November, Sitzung der Vorstände der Partei und der Reichstags-Fraktion. Die Arbeiter- und Soldatenräte sind »verboten« worden, ebenso die für heute einberufenen Versammlungen. Ich verlange wiederum und mit erhöhtem Nachdruck, daß wir aus der Regierung austreten. Die Zustände haben sich so katastrophal entwickelt und die Regierung ist so unentschlossen, daß wir die Verantwortung nicht mit tragen können. Wels stimmt mir vollkommen zu. Wer weiß, was der morgige Tag bringt, wir wollen uns nicht mit Blutschuld belasten. David: Der Austritt in diesem Augenblicke nützt uns nichts. Der Rücktritt des Kaisers ist bis heute abend nicht zu haben. Braun spricht ganz im Sinne von Wels und mir. Es wird eine Einigung erzielt, daß der Kaiser bis morgen mittag zurückgetreten sein müsse. Wegen der Versammlungen heute abend soll die Regierung sofort Anweisungen an die Militär- und Polizeibehörde ergehen lassen, damit keine Dummheiten gemacht werden. Daß die Versammlungen stattfinden müßten, sei eine Selbstverständlichkeit. Notwendig sei eine Verstärkung der Sozialdemokraten in der Regierung, auch müßte eine Aufforderung an die Unabhängigen ergehen, gleichfalls in die Regierung einzutreten. Mache die Regierung noch irgendwelche Späne, dann sollten die Sozialdemokraten aus der Regierung ausscheiden.
8. November 1918, 6 Uhr nachmittags, Kabinett. Natürlich ist der Kaiser noch nicht zurückgetreten. Die Herren machen sich große Sorge über den Zustand, der eintreten werde, wenn der Kaiser zurückgetreten sei. Wer wird dann König oder Regent? Aber gleichviel, wer das wird; ist der Betreffende auch ohne weiteres Präsident der deutschen Bundesstaaten? – – – Und während solcher weltfremden Erwägungen kracht es in dem Gebäude des Reiches an allen Ecken und Kanten.
Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei hatte unterdessen fortlaufend engste Fühlung mit den sozialdemokratischen Vertrauensleuten der Berliner Großbetriebe. Ebert hielt mich fortdauernd auf dem laufenden. Ich war fest überzeugt, daß der Stein, der im Rollen war, nicht mehr aufgehalten werden konnte. Ausgehungert und nervös gemacht durch die jahrelange Spannung, Verhetzung und Verfolgung, waren die Arbeiter, besonders die der Großbetriebe, nicht mehr zu beruhigen. Ebert glaubte bis zum letzten Augenblick, daß eine allgemeine Erhebung noch vermieden werden könnte, wenn sofort Frieden geschlossen und politische Konzessionen gemacht würden.
Am Abend des 8. November nahm ich im Sitzungssaale des Parteivorstandes an einer Sitzung der Vertrauensmänner aus den Betrieben teil, um zunächst zu hören, wie es in den Betrieben zugehe, und dann über die Situation, soweit sie von der Wilhelmstraße überschaut werden konnte, zu berichten. Es ward für mich absolut klar, daß ein Wunder geschehen müsse, wenn am nächsten Morgen die Berliner Arbeiterschaft nicht auf der Straße sein würde. Ich sprach von dem ungeheuren Blutstrom, der seit 1914 geflossen war, und bat auf das eindringlichste, nichts zu tun, was weiteres Blutvergießen im Gefolge haben müsse. Die Gewalt sei unter allen Umständen zu verwerfen, wenn ein aufgestelltes Ziel auf friedliche Weise zu erringen sei. Noch hätte ich nicht alle Hoffnung aufgegeben, daß bis zum nächsten Morgen der Kaiser zurückgetreten sei und bestimmte Erklärungen wegen der übrigen Forderungen, die nunmehr in allen Teilen des Reiches von Arbeitern und Soldaten erhoben worden wären, vorlägen. Falls bis zum nächsten Mittag die Abdankung des Kaisers nicht vorliege, träte ich zurück, um vollkommen frei zu sein.
Aus den Auslassungen der Vertrauensmänner, die ausnahmslos mit der größten Ruhe und Besonnenheit sprachen, wurde mir klar, daß am 9. November die Berliner marschieren würden.
In den letzten Tagen vor dem 9. November habe ich mich unausgesetzt im Kabinett und im Gespräch mit den einzelnen Regierungsmitgliedern bemüht, vollkommene Klarheit über die Situation zu schaffen. Ich sprach die bestimmte Erwartung aus, daß es den sozialdemokratischen Arbeitern gelingen werde, Blutvergießen zu verhüten, wenn von den Truppen, die vielleicht noch für den Kaiser zu kämpfen bereit seien, mit dem Schießen nicht begonnen würde. Ich glaubte nicht daran, daß in Berlin und Umgebung noch solche Truppen zu finden seien. Der Verlauf des 9. November hat ja dann bewiesen, daß in der Tat kein Mensch in Berlin war, der zum Kampfe für den Kaiser bereit gewesen wäre. Die Truppen gingen geschlossen zur Arbeiterschaft über. Wo waren in Berlin noch kaisertreue Formationen – wo waren die Offiziere und politischen Führer, die auch nur mit einem Wort sich für den Kaiser eingesetzt hätten? Ja, wo waren die Offiziere und kaisertreuen Politiker überhaupt? Kein Mensch hat in jenen Tagen einen von denen gesehen oder gehört, die später wieder so tapfer redeten und schrieben.
In aller Frühe rief ich am 9. November den Unterstaatssekretär Wahnschaffe an, um ihn zu fragen, ob der Kaiser zurückgetreten sei. »Noch nicht, aber wir erwarten die Nachricht seines Rücktritts jeden Augenblick!« – »Ich will noch eine Stunde warten, ist er dann noch nicht gegangen, dann gehe ich!«
Gegen 9 Uhr rief ich die Reichskanzlei wiederum an. – »Noch nicht! – Vielleicht mittags!« – »So lange brauche ich zu meiner Entschließung nicht. Bitte, sagen Sie dem Reichskanzler, daß ich mein Amt hiermit niederlege. In einer Viertelstunde haben Sie die Meldung meines Rücktritts auch schriftlich dort … Ich soll nichts übereilen? Bitte, man soll vor allem auch nichts verzögern, bis es zu spät ist.«
Bald nach 9 Uhr vormittags war meine schriftliche Rücktrittsmeldung in der Wilhelmstraße Konrad Haußmann, der mit mir Staatssekretär im Kabinett des Prinzen Max war, schrieb im »Berl. Tgbl.« vom 21. Nov 20 – während der Drucklegung dieses Buches –: »Am 9. November, vormittags 9 Uhr, wurde dem Kriegskabinett mitgeteilt, daß Staatssekretär Scheidemann sein Amt niedergelegt habe. Die Kabinettssitzung wurde auf 12 Uhr vertagt … Um 11 Uhr traf die Nachricht aus dem Hauptquartier ein, daß »der Kaiser zurücktrete« … Nachmittags ging eine Reihe unkontrollierbarer Nachrichten ein: »… der Kaiser und der Kronprinz seien aus dem Hauptquartier ins Ausland abgereist; der Reichstagsabgeordnete Scheidemann habe nachmittags am Reichstagsgebäude geredet und mit einem Hoch auf die Republik geschlossen …«. Sie hatte folgenden Wortlaut:
Berlin, den 9. November 1918.
An den Herrn Reichskanzler.
Eurer Großherzogl. Hoheit
beehre ich mich mitzuteilen, daß ich mein Amt als Staatssekretär hiermit niederlege.
Genehmigen Sie usw.
Ph. Scheidemann.