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Der Bauernstand. – Aufhebung der Leibeigenschaft und Ablösung der Feudallasten. – Vorschritte der Landwirtschaft und Viehzucht. – Volkssitten und Volksfeste. – Die Industrie. – Münzwesen. – Verkehrsmittel. – Handel und Handelspolitik. – Bevölkerungsverhältnisse. – Staatsausgaben und Staatsschulden. – Das Proletariat und der Pauperismus. – Prostitution. – Eine proletarische Alltagsgeschichte. – Sozialismus und Kommunismus. – Der Kampf zwischen der Arbeit und dem Kapital.
Früheren Ortes ist davon gehandelt worden, wie der moderne Staat schon frühzeitig im 18. Jahrhundert die Notwendigkeit begriffen hatte, durch Hebung des Bauernstandes die produktive Kraft von Grund und Boden zu steigern. Es war demnach, insbesondere seit der Friedrichschen und Josephschen Epoche, an der Entlastung der Bauerschaft von dem Drucke feudaler Barbarei unausgesetzt gearbeitet worden. Die Grundsätze der französischen Revolution beschleunigten diesen Vorschritt auch in Deutschland. Die Leibeigenschaft ward nach und nach in sämtlichen deutschen Ländern beseitigt, und durch die Gesetzgebung wurden allmählich alle persönlichen und dringlichen Feudallasten, die gutsherrlichen Abgaben und Dienste, die Fronden, die Zehnten, Gilten, Beden usw. in der Art beseitigt, daß sie zum Teil ohne, meistens aber gegen höheren oder niederen Ersatz aufgehoben oder wenigstens für ablösbar erklärt wurden. Das Jahr 1848 gab auch da, wo diese höchst wichtigen, der Mittelalterlichkeit den Todesstoß versetzenden Maßregeln noch gestockt hatten, wie z. B. in Österreich, den Anstoß zu ihrem Vollzug.
Mit der hierdurch wesentlich bedingten bürgerlichen Verbesserung der Bauerschaft – »freier Boden, freier Mann« – ging der technische Aufschwung der Landwirtschaft in allen ihren Zweigen Hand in Hand. Bereits gegen den Ausgang des vorigen Jahrhunderts hin machten sich die Vorzüge rationeller Bewirtschaftung der Güter vor dem alten System mit Macht geltend. Kleebau, Kartoffelbau, systematische Wiesenbewässerung, Besömmerung des Brachfeldes und Stallfütterung erwiesen ihre Vorteile so handgreiflich, daß auch die zäheste Bauernvorliebe für das Hergebrachte zu diesen Neuerungen sich bekehrte und ebenso nach und nach zu den verbesserten oder neu erfundenen Ackerwerkzeugen Vertrauen faßte. Der Aufschwung der Naturwissenschaften mußte für den Landbau von der eingreifendsten Wichtigkeit werden, besonders als ein genialer Mann die Anwendung der wissenschaftlichen Resultate auf die landwirtschaftliche Praxis unwiderlegbar zeigte. Dieser Mann war Albrecht Daniel Thaer (1752-1828), dessen Reformen naturwissenschaftliche Forschung und landwirtschaftliche Erfahrung mit glücklichstem Takte vereinigten. Thaer entfaltete eine äußerst segensreiche Lehrtätigkeit an der landwirtschaftlichen Akademie Möglin in Preußen, und derartige Anstalten zur Bildung von Landwirten und Forstmännern wurden nun auch an andern Orten gegründet. So Hohenheim in Württemberg, Schleißheim in Bayern, Wiesbaden in Nassau, Tharandt, Tiefurt, Dreißigacker in den sächsischen Ländern, Eldena in Pommern, Proskau in Schlesien, Hofwyl in der Schweiz. Früher noch als öffentliche Lehrstühle für die Landwirtschaft errichtet wurden, hatte sie in besonderen Vereinen Pflege und Aufmunterung gefunden. Gegenwärtig bestehen viele Hunderte von landwirtschaftlichen Vereinen in Deutschland, deren Tätigkeit sehr gedeihlich dazu mitwirkt, die Vorschritte der Naturwissenschaften mit der praktischen Land- und Forstkultur, in welche letztere namentlich durch Cotta, König und Hartich der wissenschaftliche Waldbetrieb eingeführt wurde, in Wechselwirkung zu setzen. Zuweilen freilich ging die Wissenschaft in Anwendung ihrer Findungen auf den Ackerbau fehl, wie z. B. in den Versuchen, den animalischen Dünger durch ein chemisches Präparat völlig zu ersetzen. Andererseits aber bereicherte die Wissenschaft den Landbau mit ganz neuen Erwerbszweigen, z. B. mit der Gewinnung des Runkelrübenzuckers, welche sich, seit der Chemiker Marggraf 1762 den Zuckergehalt der Runkelrübe entdeckte, so gehoben hat, daß schon 1841 innerhalb des deutschen Zollvereins 141 derartige Zuckerfabriken bestanden. Im höchsten Gerade kam es der Landwirtschaft wie der Waldkultur zugut, daß die verderbliche Jagdbarbarei auf immer engere Grenzen beschränkt ward, auf so enge, daß sogar die Jägeridiotismen und das Jägerlatein zu verschwinden beginnen. Auch die Bienenzucht will sich mit der immer weitergreifenden Bodenkultur, sowie mit der Wohlfeilheit des Zuckers nicht mehr recht vertragen. Im Vorschritte dagegen ist die Pflege der Seidenraupe und die hierauf basierte Seidenzucht begriffen, insbesondere im südöstlichen und südwestlichen Deutschland. Im Hopfenbau stehen Böhmen und Franken voran, im Weinbau die Rhein-, Neckar-, Main-, Tauber- und Moselgaue, sowie einige Gegenden der nordöstlichen Schweiz. Außerordentlich hat sich in bezug auf die Qualität der Weinbau in Württemberg gehoben, wo ihm etwa 84 000 Morgen Landes gewidmet sind und sich mehr als 18 000 Familien mit ihm beschäftigen. Im Jahre 1788 betrug hier der Ertrag der Weinernte 3 169 020 Gulden, 1811 betrug er 9 000 000 Gulden, 1834 betrug er 9 684 220 Gulden. Die edelsten Rheinweine erzeugt bekanntlich Nassau (Johannisberger, Rüdesheimer, Hochheimer, Aßmannshäuser, Geisenheimer, Markobrunner); Hessen-Darmstadt rühmt mit Recht seinen Ingelheimer, Scharlachberger, Niersteiner; die Pfalz ihren Deidesheimer, Forster, Dürkheimer; Baden seinen Markgräfler und Affenthaler; Franken seinen Leistenwein und Steinwein, Böhmen seinen Melniker, Österreich seinen Gumboldskirchener, Tirol seinen Traminer, die deutsche Schweiz ihren Winterthurer, Neftenbacher, Malanser und Klettgauer. Die Obstbaumzucht hat sehr bedeutend an Ausdehnung und Mannigfaltigkeit gewonnen, man hat sogar die Straßenzüge zur Anlage von Obstpflanzungen benützt, und in manchen Gegenden bilden frisches und gedörrtes Obst, wie auch Obstmost, einen wichtigen Handelsartikel. Daß in den Garten- und Parkanlagen nach dem Vorgange Englands ein naturgemäßerer Geschmack den steifgezirkelten französischen Rokokostil verdrängte, ist schon im zweiten Buche berührt worden. Ein großartiges Muster von hortikulturlicher Schönheit, eine wahre Gartendichtung war der Park, welchen Fürst Pückler auf dem dürren Steppenboden der Lausitz zu Muskau geschaffen hat. Der unendlichen Mannigfaltigkeit der Zier-, Farbe- und Ölpflanzen, der Blumen, Sträucher, Bäume und Gemüse, welche unsere neuere Gartenkunst in Deutschland einheimisch gemacht hat, können wir nicht ausführlicher gedenken. Was die Viehzucht betrifft, so geschah von Seiten der Regierungen namentlich viel zugunsten der Pferdezucht. Österreich und Preußen unterhalten vortreffliche Gestüte, Holstein und Mecklenburg bewahren den altbegründeten Ruf ihrer Pferde, und Württemberg hat für die Veredlung der Rasse große, aber erfolgreiche Opfer gebracht. Schon im Jahre 1850 betrug die Zahl der Pferde in diesem Lande 103 837, zu einem Kapitalwert von 5-6 Millionen. In bezug auf Schönheit, Größe und Ergiebigkeit des Rindviehs haben mit den norddeutschen Marschgegenden und den Schweizer und Tiroler Alpentriften die übrigen deutschen Länder bisher vergeblich zu wetteifern versucht. In welchem erstaunlichen Grade sich die Wollproduktion in Deutschland gehoben, im Gegensatze zu Ländern, wo sie vordem blühte, mag der Umstand dartun, daß noch im Jahre 1800 aus Spanien und Portugal 7 794 700 Pfund Merinowolle ausgeführt wurden und aus Deutschland nur 421 350 Pfund, im Jahre 1838 dagegen aus Deutschland schon 27 500 000 Pfund und aus Spanien und Portugal nur 1 814 000 Pfund.
Ziehen wir die Betriebsweise der deutschen Landwirtschaft im ganzen und großen in Betracht, so bemerken wir, daß sie der natürlichen Bodenbeschaffenheit gemäß in drei Arten zerfällt. Im deutschen Norden, wo die Bevölkerung dünner ist als mehr südwärts, herrscht die Koppelwirtschaft vor, welche die Ländereien einem periodischen Wechsel von Getreidebau und Weidebenutzung unterwirft. In Mitteldeutschland hingegen, d. h. in den Rheingegenden, in Sachsen, Thüringen, Westfalen, Hessen, Bayern, Franken, Schwaben, Österreich, besteht das System der Dreifelderwirtschaft, welchem zufolge das Brachfeld besömmert (mit Klee, Wicken, Kartoffeln, Gemüse bebaut), im zweiten Jahre sodann mit Wintergetreide und im dritten mit Sommergetreide angeblümt wird. Am südlichsten Ende des deutschen Landes endlich, d. h. in den Alpengegenden, herrscht in den Talebenen die Egartenwirtschaft vor, welche neben schon sehr vermindertem Getreidebau die Wiesenkultur betreibt, während der üppige Futterkräuterwuchs auf den höher gelegenen Matten den Bauer auf die Viehzucht als den wichtigsten Zweig seiner Tätigkeit verweist.
Wie die allseitigen Vorschritte der deutschen Landwirtschaft unleugbar sind, so steht auch fest, daß die deutsche Bauerschaft sich allmählich aus dem physischen und moralischen Schmutze des Mittelalters herausgearbeitet hat. In dem Maße, als der Bauer seine Wichtigkeit im Staate einsehen oder wenigstens ahnen lernte, lernte er auch sich fühlen. In manchen Gegenden gesellte sich der Lichtseite bäuerischer Wohlhabenheit alsbald die Schattenseite: Übermut, Luxus, Verbildung und Verarmung, welche letztere, ein ländliches Proletariat pflanzend, da und dort in erschreckender Weise um sich gegriffen hat. In Württemberg z. B., das noch jetzt ein vorzugsweise ackerbauendes Land ist, war die Zahl der Gantprozesse, welche 1834-1835 nur 727 betrug, im Jahre 1845-1846 schon auf 2397 gestiegen, hatte also in einer Progression zugenommen, die seither allerdings wieder sich gemildert hat. In einer großen Mehrzahl ist die deutsche Bauerschaft der konservativste Stand der Bevölkerung, und deshalb hat der Bauer unter allen übrigen Ständen die alte Sitte und Gewohnheit, die herkömmliche Tracht und Hauseinrichtung noch am meisten bewahrt. Während die Städter als Zeugen oder Teilnehmer des großen Verkehrs sich fortwährend bemühen, alles Provinzielle abzustoßen und als Feingebildete sich sogar ihrer Uniformität rühmen, fahren die Bauern, wenigstens in den lebhaftem Handelsverkehr entrückten Dörfern, immer noch fort, einer jeden Gegend mittels Mundart, Kleidung und Lebensweise ihr eigentümliches Gepräge zu geben. Selbst das Gehöft hat nach dem verschiedenen Klima und durch alte Gewohnheit in den verschiedenen Ländern ein sehr abweichendes Ansehen. Weit voneinander liegen die Gebäude eines Hofraumes an der Ostseeküste, nur aus niedrigem Erdgeschosse besteht das Wohnhaus, bloß ein Fenster hat die meistens ungedielte Stube, und gewöhnlich blickt das hohe Dach, nicht von Obstpflanzungen umkränzt, weit in die kahle Ebene hinein. Stattlich dagegen hebt sich das Haus des Bauern an der Elbe, Weser und Ems, hoch im Geschoß, mit gehöriger Tiefe und zur Seite die Stallung des Viehs. Ganz besonders charakterisiert sich das Haus des Westfalen durch einsame Lage und durch den Herd, welcher den Sammelplatz der ganzen Familie bildet. Kommt man aber nach Thüringen herüber, so erblickt man Dörfer von nahe beisammenliegenden Gebäuden, welche zweistöckig, fensterreich und so sehr von Obstgärten umgeben sind, daß nur die Dächer und die Spitze des Kirchturms aus den Fruchtwäldchen hervorragen. Wenn der Nordländer die Ställe neben die Stube setzt, so liebt der Thüringer, über dem Vieh zu wohnen, obgleich die Erhöhung des Zimmers nicht immer bedeutend ist. Hessen, Franken, Rheinland und Schwaben sind hinsichtlich der Bauernhöfe vom Thüringerlande nicht wesentlich verschieden, indessen hat doch auch jede Landschaft ihre Eigentümlichkeiten, und in Gegenden, wo Weinbau herrscht, verzieren gewöhnlich die Reben alle Sommerwände des Wohnhauses. Dagegen trifft man jenseits der Donau eine andere Bauart, welche durch weit vorspringende Dächer, durch Galerien am Hause und durch eng aneinanderstehende Fenster schon der flüchtigen Betrachtung ins Auge fällt. Mit der Nähe der Alpen werden diese Dächer immer flacher und bekommen endlich das Gepräge des Alpenhauses, dessen leichte Dachschindeln, durch Steine beschwert, den Stürmen Trotz bieten. Stattlichere Bauerndörfer aber, als man an der Straße von Aarau nach Bern und von da nach Thun, sowie im Simmentale trifft, sind wohl auf der ganzen Erde nirgends zu finden, wie auch meines Wissens die Aargauer und Berner Landmädchen neben den friesischen die schmuckste und kleidsamste dörfliche Tracht besitzen. Dabei ist merkwürdig, daß in der Schweiz in der Regel die weibliche Dorfbewohnerschaft an der Volkstracht festhält und die Männer dieselbe aufgeben, während in vielen Gegenden Deutschlands gerade das Umgekehrte stattfindet.
In den Alpen stehen auch die uralten, mit gewaltigen Übungen und Äußerungen der Körperkraft verbundenen Volksfeste noch in höheren Ehren als in anderen Gegenden, wo städtische Verflachung in Verbindung mit polizeilicher Bevormundungswut das Charakteristische der Volksfreuden verwischt oder wohl auch schon gänzlich vernichtet hat. An sehr vielen Orten gehört der alte Fastnachts- und Kirmesjubel bereits zu den Verschollenheiten. Von bäuerlichen und bürgerlichen Volksfesten, welche noch im 19. Jahrhundert gefeiert wurden oder noch werden, sind anzuführen das Lamboifest zu Hanau, das Kirschfest zu Naumburg, der Stralauer Fischzug, das Rochusfest zu Bingen, der Hahnentanz in der Baar, der Hammeltanz zu Hornberg im Schwarzwald, die Schäferfeste zu Urach und Markgröningen, das Rosenfest zu Kapellendorf bei Weimar, das Schifferstechen zu Ulm, das Sechseläuten in Zürich, der Fritschitag in Luzern. Der Versuch, den 18. Oktober, den Jahrestag der Leipziger Schlacht, zu einem nationalen Volksfest zu machen, mußte begreiflicherweise bald wieder einschlafen. Eine edlere Art von Volksfesten sind die deutschen Liederfeste, hervorgegangen aus dem Gefühle der Nationalität, welche in den zahllosen Sangvereinen und Liedertafeln, zu denen der Schweizer Nägeli den preiswürdigen Anstoß gegeben hat, gepflegt wurde. Freilich läßt sich nicht verschweigen, daß die großen Schützen-, Sänger- und Turnfeste auch bedenkliche Schattenseiten aufzeigen. Namentlich muß denselben vorgeworfen werden, daß sie die Schwatzsucht, die Phrasenmacherei befördern und die Menschen allzusehr daran gewöhnen, das Schwatzen und das Anhören von Schwatz für eine patriotische Pflichterfüllung zu halten. Die wahre und wirkliche Festkönigin bei solchen Zusammenkünften ist in der Regel Phrase.
Es würde ein eigenes, mit den speziellsten statistischen Nachweisungen ausgestattetes Buch erfordern, um die Vorschritte der industriellen und kommerziellen Tätigkeit in Deutschland während der letzten fünf Dezennien zu veranschaulichen. Wir unsererseits können, auch wenn uns die nötigen Hilfsmittel zu Gebote ständen, so weit nicht greifen. Es ist wahrhaft wunderbar, welche Triumphe die Industrie, unterstützt von den rastlos vorschreitenden Entdeckungen in Mathematik, Physik, Mechanik, Technologie und Chemie, sowie von der dämonischen Kraft des Dampfes, auch in Deutschland binnen verhältnismäßig kurzer Zeit gefeiert hat. In diesen Triumphen, welche die exakten Wissenschaften in ihrer Anwendung auf und in ihrer Verbindung mit der industriellen Praxis gewannen und fortwährend gewinnen, liegt eine ungeheure, unhemmbare umgestaltende Macht; denn wie das alte Zunftwesen und die gewerblichen Zustände von ehemals dem modernen Fabrik- und Maschinenwesen schlechterdings weichen müssen, so werden die Lebensbedingungen überhaupt ganz andere, und die Physiognomie der Gesellschaft gestaltet sich um und um. Der Industrialismus ist die nivellierende Sturmflut, welche den alten Wust aus Europa wegfegen wird, damit es verjüngt mit seiner riesenhaft aufstrebenden Nebenbuhlerin jenseits des Ozeans wetteifern könne. Allerdings steht unsere Industrie im besonderen und im ganzen noch lange nicht allseitig auf einer Stufe wie die englische und wirkte unsere politische Ohnmacht allzu lähmend auf unsern Handel zurück. Dessenungeachtet aber schritt die deutsche Beharrlichkeit auf beiden Feldern von einem Siege zum andern vor. Die hemmenden Schranken des inneren Verkehrs wurden endlich durch eine wahrhaft nationale Tat, durch den von 1833-1835 ins Leben getretenen, von Preußen angeregten und zuwege gebrachten deutschen Zollverein beseitigt, welcher alle ihm drohenden Gefahren siegreich überstand und den soliden Unterbau hergab für die Handelspolitik des neuen Deutschen Reiches. Wie segensreich der Zollverein gewirkt hat, zeigt schon der flüchtigste Blick auf die seit seinem Bestehen in unserer gewerblichen Hervorbringung erreichten Resultate. So im Bergbau. Laut einer amtlichen Veröffentlichung des Zollvereins-Zentralbureau vom Jahre 1867 existierten im Jahre 1865 im Zollvereinsgebiet 4769 Grubenwerke, aus denen gefördert wurden: 435 894 109 Zentnerzoll Stein- und 135 161 139 Zentner Braunkohlen – gegen 388, beziehungsweise 124 Millionen Zentner im Vorjahre –, 60 268 261 Zentner Eisenerze, ferner Gold- und Silbererze 632 591 Zentner, Quecksilbererze 5394 Zentner, Bleierze 3 421 400, Kupfererze 3 032 742, Zinkerze 6 706 965, Zinnerze 3127, Kobalterze 24 388, Arsenikerze 38 507, Antimonerze 2924, Manganerze 519 466, Alaunerze 301 441, Vitriolerze 804 524, Graphit 16 307, Asphalt 16 066 und Flußspat 148 257 Zentner. In den Gruben waren 204 304 Arbeiter beschäftigt, und sie haben zusammen 646 997 590 Zentner zutage gefördert im Wert von 62 921 348 Talern am Ursprungsorte. In 1581 Hütten wurden von 99 812 Arbeitern produziert: Roheisen in Gänzen und Masseln 17 656 932 Zollzentner, Rohstahleisen 1 011 806, Gußwaren aus Erzen 1 095 001, dergleichen aus Roheisen 3 973 816, Stabeisen und gewalztes Eisen 9 864 549, Eisenblech 1 563 279, Eisendraht 692 721 und Stahl 1 990 861 Zentner; ferner 61 803 Zollpfund Gold und 146 692 Pfund Silber, dann Quecksilber 31 Zentner, Kaufblei 778 272, Bleiglätte 72 267 Zentner usw. Das gesamte gewonnene Salzquantum von 9 446 371 Zentner hatte am Ursprungsort einen Wert von 4 252 743 Talern. Der Zentner Kochsalz kam im Jahre 1865 durchschnittlich im Zollverein auf 3/5 Taler (= 2 Fr. 25 Ct.) loco Saline zu stehen. Die Kopfzahl aller im Jahre 1865 beim Bergbau, in den Hütten und Salinen des Zollvereins beschäftigten Arbeiter betrug 308 971, und die von ihnen gelieferten 697 Millionen Zentner Produkte und Fabrikate hatten einen Gesamtwert von mehr als 194½ Millionen Talern, wovon ungefähr 166 Millionen Taler auf Preußen allein entfielen, das in seinen Bergwerken, Hütten und Salinen 254 796 Arbeiter zählte. Die deutschen Metallgewerbe sind in außerordentlichem Vorschritt begriffen. Z. B. der Maschinenbau, welcher, obzwar noch sehr jung, dennoch mit dem ausländischen bereits in tapferste Konkurrenz getreten ist. Dies erhellt aus einer Vergleichung des Ein- und Ausgangs von Maschinen in und aus dem Zollverein im Jahre 1867. Es wurden nämlich an Lokomotiven, Tendern und Dampfkesseln 57 000 Zentner ein- und 82 000 Zentner ausgeführt. An Maschinen, welche überwiegend aus Holz bestehen, wurden 22 000 Zentner ein- und 22 600 Zentner ausgeführt; von Maschinen überwiegend aus Schmiedeeisen oder Stahl bestehend, 64 000 Zentner ein- und 99 000 Zentner ausgeführt; Maschinen überwiegend aus Gußeisen wurden 304 000 Zentner ein- und 885 000 Zentner ausgeführt; Maschinen überwiegend aus andern unedlen Metallen bestehend wurden 3300 Zentner ein- und 10 500 Zentner ausgeführt. Das Metallgewerbe hat auch die kolossalste Fabrik geschaffen, welche auf dem Erdboden dermalen (1882) existiert: Krupps Gußstahlfabrik in Essen, die einen Flächenraum von mehr als 2000 Morgen bedeckt und 20 000 oder mehr Arbeiter beschäftigt. In dieser riesigen Werkstätte sind 298 Dampfkessel von 11 000 Pferdekräften und 77 Dampfhämmer bis zu 1000 Zentner Schwere in Tätigkeit. Der tägliche Verbrauch an Kohlen und Koks steigt auf 36 000 Zentner, 21 000 Gasflammen sind nötig zur Beleuchtung, 24 Dampfrosse, vor 700 Wagen gespannt, vermitteln auf einer 60 Kilometer langen Eisenbahn den Verkehr innerhalb der Fabrikanlagen. Auch besitzen diese 44 Telegraphenstationen und zuletzt, aber nicht als das Letzte, 4 Volksschulen mit 21 Klassen für die Kinder der Arbeiter und eine Industrieschule für Mädchen und Frauen ... Die Verkehrsmittel sind ebenfalls zu mannigfaltigster Entwicklung gelangt und für die gewaltige Vervielfältigung des Gedankenverkehrs zeugt die Tatsache, daß Deutschland, die deutsche Schweiz ungerechnet, schon im Jahre 1868 nicht weniger als 2566 Zeitungen und Zeitschriften besaß. Das Postwesen näherte sich allmählich einer nationalen Zentralisation. Ebenso das Münzwesen, seitdem durch die zwischen den Zollverbandsstaaten 1838 abgeschlossene Münzkonvention bestimmt wurde, daß im deutschen Süden der 24½ Guldenfuß, im deutschen Norden der 14 Talerfuß stattfinden und die hiernach geprägten Münzen gegenseitig zum Vollwert angenommen werden sollten, und seitdem mittels Übereinkunft zwischen dem Zollverein und Österreich (1856) eine Art von Vereinsmünze geschaffen ward, bis dann die deutsche Reichsschöpfung von 1870-1871 auch eine Reichsmünze schuf, wobei es freilich sehr fraglich, ob es gutgetan gewesen, statt des bereits in einem großen Teile von Europa gültigen Frankensystems das nationalbesondere Marksystem anzunehmen. Für Verkehrsmittel im Innern und nach außen, Straßen, Kanäle, Eisenbahnen, Strom-, See- und Meerschiffahrt, hat die vorwärtsdrängende Zeit Außerordentliches getan. Im Jahre 1816 gab es z. B. im ganzen Umfange der preußischen Monarchie erst 522 Meilen Kunststraßen, während sie 1834 schon aufs Dreifache dieser Meilenzahl gestiegen waren. Seit in den 30er Jahren die erste deutsche, mit Dampfwagen befahrbare, nur eine Meile lange Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth erbaut wurde, ist ganz Deutschland mit einem dichten Netz von Schienenwagen, teils auf Privat-, teils auf Staatskosten, überzogen worden.
Die gewerbliche und merkantile Bewegung mußte notwendig auch die nationalökonomische Einsicht schärfen und den volkswirtschaftlichen Studien eine erhöhte Bedeutung verleihen. In Friedrich List (1780-1846) aus Reutlingen, dessen Genie die deutsche Kleinstaaterei keinen entsprechenden Wirkungskreis anzuweisen vermochte, erstand uns ein Lehrer der Nationalökonomie, wie wir noch keinen besessen hatten. Die Hauptgedanken seines nationalen Systems der politischen Ökonomie (1814) waren diese: »Der nationale Zweck dauernder Entwicklung produktiver Kraft steht über dem pekuniären Vorteil einzelner Klassen oder Individuen. Jede Nation hat die Aufgabe, vor allem ihre eigenen Hilfsquellen aller Art zum höchsten Grade der Selbständigkeit und harmonischen Entwicklung zu bringen. Die Lösung dieser Aufgabe geht kosmopolitischen Zwecken vor, und solange daher die eigene Industrie die Höhe der fremden noch nicht erreicht hat, muß man die erstere durch Schutz unterstützen.« An diese Prinzipien knüpfte sich die Ausbildung unserer Handelspolitik, in welcher unter dem Einflusse des englischen Freihandelssystems die Partei der Freihändler der Partei der Schutzzöllner später schroff gegenübergetreten ist. Alles zusammengehalten, sehen wir, wie die landwirtschaftliche, so auch die industrielle Hervorbringung Deutschlands in fortwährendem Steigen begriffen. Betrachten wir z. B. Preußen, dessen Bevölkerung von 1816-1838 von 10 349 031 Seelen auf 14 271 530 angewachsen war. Eine im letztgenannten Jahre angestellte Schätzung der Bodenverhältnisse berechnete, daß es im preußischen Staate etwa 2175 Quadratmeilen Ackerland, 43 Quadratmeilen Gartenland, 3 Quadratmeilen Weinberge, 1 8/10 Quadratmeilen Tabakspflanzungen und 1116 Quadratmeilen Waldungen gab. Durchschnittlich wurden jährlich 15 600 000 Scheffel Weizen und 51 000 000 Scheffel Roggen, Gerste und Hafer geerntet, daneben 681 741 Eimer Wein und 21 000 000 Pfund Tabak. Die Aufnahme des Viehstandes am Ende des Jahres 1837 ergab 4 838 622 Stücke Rindvieh, 1 472 901 Pferde, 15 011 452 Schafe, 1 936 304 Schweine. Im Jahre 1841 betrug der Bodenertrag, eingerechnet Salinen, Bergbau, Steinbrüche und Hüttenwerke, im Geldwerte 855½ Millionen Taler. Handelsschiffe besaß Preußen 1839, die des königlichen Seehandlungsinstituts ungerechnet, 619 von 87 647 Tonnen Last. Die Ausfuhr hat seit 1819 die Einfuhr von Jahr zu Jahr bedeutender überflügelt. Im Jahre 1857 betrug die Bevölkerung Preußens etwas über 17 250 000 Seelen. Sie ist in den 30 Jahren von 1819-1849 um 47 Prozent gestiegen. An Geldwert verzehrte, nach den jedesmaligen Jahresdurchschnittspreisen berechnet, der Kopf der Bevölkerung 1806 die Summe von 11 Talern und 13 Silbergroschen, 1849 dagegen die Summe von 26 Talern 21 Silbergroschen und 3 Pfennigen. Dies würde beweisen, daß mit der Zunahme der Bevölkerung auch der allgemeine Wohlstand zugenommen hätte. Die gesamte landwirtschaftliche Hervorbringung Österreichs lieferte zur gleichen Zeit jährlich 312 Millionen Scheffel Bodenerzeugnisse, und es hatte die Monarchie einen Viehstand von 7 Millionen Stücken Rindvieh, 3 Millionen Pferden, 35 Millionen Schafen. Die Bergwerksproduktion des Kaiserstaats betrug 1847 einen Wert von 27 906 901 Gulden, die Flachs- und Hanfmanufaktur erzeugte jährlich durchschnittlich einen Wert von 94 Millionen, der Seidebau und die Seidefabrikation einen Wert von 59 Millionen. Den meisten deutschen Stämmen sind in Beziehung auf Industrie und Handel die Schweizer voran. Im Jahre 1851 wurde aus Österreich ein Warenwert von 193 693 Dollars in die nordamerikanische Union eingeführt und aus dem gesamten deutschen Zollverein ein Wert von 8 423 984, dagegen aus der kleinen Schweiz ein Wert von 6 008 785 Dollars. Wenn irgend Zahlen Seele und Zunge haben, so sind es diese. Dem Zollverein und Österreich standen drei Meere, große schiffbare Flüsse und viele lange Eisenbahnen zu Gebote. Die Schweizer hatten von alledem nichts, im Gegenteile das höchste und unwegsamste Gebirge Europas mitten im Lande; sie allein unter allen Kulturvölkern der Erde ermangeln der Meeresküste, müssen fast sämtliche Rohstoffe unter langem und kostspieligem Transport von außen her beziehen und sind ringsumher durch Schlagbäume mit hohen Zöllen abgesperrt. Aus letzterem Grunde geht auch natürlich ihr Hauptabsatz in weite Fernen und zwar mit dem glänzendsten Erfolg. Nach Franscinis Statistik kamen schon 1845 von dem Gesamthandel der Schweiz auf jeden Kopf der Bevölkerung 185 Francs, dagegen von dem Gesamthandel Österreichs auf jeden Kopf nur 16, in Preußen 40, in Frankreich 71, in Belgien 107 Francs.
Ja, die Zahlen haben Zungen, und da wir gerade dabei sind, wollen wir sie noch weiter sprechen lassen, indem wir mit Zugrundelegung von Redens vergleichender Finanzstatistik einiges über die deutschen Staatsausgaben beibringen, die Rechnung in rheinischen Gulden gestellt und die politischen und die finanziellen Veränderungen vom Jahre 1866 und 1870 bis 1871 nicht in Rücksicht gezogen. Die sämtlichen deutschen Staatsschulden betrugen vor 1848 in runder Zahl 2 112 869 381 Gulden, nach 1848 dagegen 2 937 337 460. In Deutsch-Österreich betrug 1847 die jährliche Gesamtstaatsausgabe 98 000 000, im Jahre 1849 betrug sie 177 000 000. In Preußen betrug sie 1846: 172 484 086; 1850: 218 666 959. In Bayern 1842-1843: 43 690 827; 1849-50: 53 298 474. In Sachsen 1846-47: 17 000 000; 1850-51: 24 116 619. In Hannover 1846-47: 14 000 000; 1850: 19 000 000. In Württemberg 1846-47: 15 549 937; 1848-49: 20 716 073. Der Hofstaat kostete in Preußen 1849: 9 916 893, in Bayern 1849-50: 2 953 408, in Sachsen 1846-47: 1 219 501, in Württemberg 1846-47: 1 129 933; in Baden 1851: 917 000. Das Heer kostete in Preußen 1850: 98 447 233, in Bayern 1850-51: 13 436 307, in Sachsen 1850-51: 10 000 000, in Hannover 1850: 3 480 440, in Württemberg 1848-49: 5 748 859, in Baden 1848-49: 5 172 481. Seit dem Jahre 1848 bezahlte Deutschland für seine Hofhaltungen jährlich 26 300 414, für seine Soldaten 256 432 434 Gulden. Die jährliche Gesamtausgabe stellte sich auf 617 157 123 Gulden. Sie hatte sich seit den letzten fünf Jahren um 41, der Militäraufwand um 142 Prozent vermehrt; die Ausgaben für die Hofhaltungen betrugen 4½ Prozent der Gesamtausgabe. Die Ausgaben für Hofhaltungen, Militär, Verzinsung und Tilgung der Staatsschulden nahmen etwa 60 Prozent der Gesamtausgabe in Anspruch. Von der Gesamtausgabe kamen auf den Kopf der deutschen Bevölkerung 13 fl. 43 Xr., von der Ausgabe für das Militär 5 fl. 42 Xr., von der Ausgabe für die Hofhaltungen 35 Xr. Von der jährlichen Gesamtausgabe der schweizerischen Eidgenossenschaft und der einzelnen Kantone zusammen trafen gleichzeitig auf den Kopf der Bevölkerung 6 fl. 40 Xr., von der Ausgabe für das Militärwesen 51 Xr. Die Schweiz kennt keine hohen Beamtenbesoldungen, Staatspensionen kennt sie von Rechts wegen gar nicht. In England kamen von der Staatsausgabe auf die Pensionen 4, in Frankreich 5, in Deutschland 7-8½ Prozent. In dem Budget des Großherzogtums Baden für 1833 figurierte eine Pensionslast von 1 008 984 Gulden. Charakteristisch ist endlich, daß in Preußen, dem »Staat der Intelligenz«, auf das Unterrichtsbudget 1 2/3 Prozent der Gesamtausgabe fielen, während das Militärbudget über 30 (i. J. 1850 sogar 45) Prozent erforderte. Österreich verwandte auf das Schulwesen (im ganzen Kaiserstaate) etwa 3 Millionen Gulden, Bayern ungefähr 800 000 Gulden, immer noch mehr als Frankreich, von dessen ungeheurem Gesamtbudget (1867): Fr. 1 994 966 319 nicht mehr als 20 Mill. für den öffentlichen Unterricht verausgabt wurden. Die schweizerische Eidgenossenschaft teilt von ihrer Gesamteinnahme den achten Teil, mehr als 2 500 000 Francs, dem Schulwesen zu.
Mit der Ausdehnung der Industrie hält die Zunahme der proletarischen Bevölkerung überall gleichen Schritt. In Deutschland ist sie noch nicht so riesenhaft wie in England, weil eben auch die Entwicklung unserer Industrie noch nicht so kolossal ist. Trotzdem haben wir bereits in manchen Städten und Gegenden ein Arbeiterproletariat, an welchem alle Merkmale dieser Bevölkerungsklasse wahrzunehmen sind. Am vorteilhaftesten dürfte sich das Verhältnis noch in der Schweiz stellen, wo einesteils das Nichtvorhandensein sehr großer Städte die Anhäufung proletarischer Massen verhinderte und andernteils die »Fabrikler« noch nicht völlig aus dem Besitze von Grundeigentum verdrängt sind. Wo das letztere der Fall ist – und es ist in vielen industriellen Bezirken Deutschlands der Fall – da bringen Handelskrisen jene Katastrophen mit sich, die in unserem Jahrhundert schon zu wiederholten Malen die Hütten der Spinner und Weber mittels der Hungerpest entvölkerten. Hier hatte also der Hunger das vollbracht, was jener englische Ökonomist Markus, ein Vergröberer der berüchtigten Theorie des Malthus, als »nationalökonomische Notwendigkeit« erklärte, indem er gegen Übervölkerung und Pauperismus das Auskunftsmittel empfahl, die Armen oder wenigstens ihre Kinder zu töten. Freilich verfährt der Hungertyphus nicht so »schmerzlos«, wie Markus bei der Praktizierung seiner Entvölkerungstheorie verfahren wissen wollte. Daß diese, wenn auch in »unchristlich rücksichtsloser« Form geäußert, mit dem Sinne des englischen Geldprotzentums ganz gut sich verträgt, beweisen das englische Armengesetz (Poorlaw) und die unter der Autorität desselben ermöglichten Greuel der englischen Arbeitshäuser (Workhouses). Ähnliche Szenen des Elends und der Vertierung, wie sie dort vorgefallen, sind leider auch in unserem Lande keine Seltenheit. Man bedenke einmal, um zuerst des ländlichen Proletariats zu erwähnen, daß ein bäuerlicher »Söldner« bis ins 5. Jahrzehnt unseres Jahrhunderts in Süddeutschland vom Bauer nebst der Kost je nach der Jahreszeit und der Beschaffenheit der Feldgeschäfte 10-24 Kreuzer Tagelohn erhielt, der norddeutsche »Kötter« 4-8 Silbergroschen, der schlesische »Inlieger« ebensoviel, und daß mit diesem Verdienst, welcher keineswegs fortlaufend, sondern vielfach unterbrochen war, die Familien der Tagelöhner ihren Unterhalt bestreiten mußten, so wird man sich unschwer vorstellen können, wie es in den Hütten der Landproletarier aussah, wie es mit den physischen und moralischen Zuständen ihrer Familien beschaffen sein konnte. Das sind in Wahrheit so gut »weiße Sklaven« wie ihre Elendsbrüder in den großen Fabrikstädten; ja die ersteren sind sogar noch übler daran als die letzteren, denn sie können nicht so leicht und so schnell Platz und Herren wechseln wie diese, und außerdem irrt man ja gewaltig, wenn man glaubt, der Bauer sei ein milderer Gebieter als der Fabrikant. Der Bauer, selbst der wohlhabende und reiche, verrät leider auch durchschnittlich eine wahrhaft empörende Gleichgültigkeit gegen alle höheren Interessen. Daher kommt es, daß in Deutschland noch Gegenden sich finden, wo der Dorfschulmeister schlechter gestellt ist als der Schweinehirt, wie z. B. in Pommern, wo es bis zu den 50er Jahren Schulmeister genug gab, die auf den Ertrag eines Feldes von 46-50 Quadratruten und auf 42-80 Taler Bargehalt angewiesen waren. So ein »Sklave der Intelligenz« schrieb 1846 an einen Bekannten: »Es geht mir und den Meinigen nicht viel besser als den 20-25 000 Menschen zu London, die alle Morgen aufstehen und nicht wissen, wovon sie den kommenden Tag leben werden. Während andere Kinder sich satt essen und vergnügt sind, müssen meine Kinder mit leerem Magen und abgezehrtem Antlitz ihnen traurig zusehen. Der, welcher nie sein Brot mit Tränen aß, hat keinen Begriff von dem Schmerze derjenigen, deren Tränen oft das einzige Gewürze ihrem Brote sind. Es kommt oft vor, daß meine sechs Kinder nach einem Stück Brot schreien und sich die Krusten vom Bauer, die er und seine Kinder nicht essen, erbetteln; ja, das Elend ist groß.« In den süddeutschen Staaten und mehr noch in der deutschen Schweiz ist von den 30er Jahren des Jahrhunderts an für die Aufbesserung der Lehrergehalte viel geschehen, am meisten im Kanton Zürich. Wie sollte es auch eine den Bedürfnissen und Forderungen unserer Zeit entsprechende Volksschule geben können, so der Schulmeisterberuf nichts als Hungerleiderei? Wie könnte man tüchtigen jungen Leuten zumuten, diesen Hungerberuf zu erwählen? Wo man nicht begreifen will, daß die Volksschule jetzo ganz andere Aufwendungen erfordert als früher, da muß die Volkserziehung notwendig in hohem Grade leiden. Da ist z. B. Preußen, der »Staat der Intelligenz«. Für alles hat man Geld, nur für das Volksschulwesen nicht, und diese übel angewandte Sparsamkeit hat es dann richtig dazu gebracht, daß im Juni von 1876 im preußischen Staate nicht weniger als 4581 Lehrerstellen unbesetzt waren – eine wahrhaft erschreckende kulturgeschichtliche Tatsache. Was sodann die »Sklaven der Industrie« angeht, so wollen wir in betreff ihrer Subsistenzmittel einige authentische Angaben aus den Jahren 1845-46 beibringen. In dem »gesegneten« Wuppertale verdiente der bei weitem größte Teil der Weber bei fünfzehnstündiger täglicher Arbeit wöchentlich keine 2 Taler. Die Bielefelder Feinspinner erwarben täglich 2 Silbergroschen, die Spinner von Garn zweiter Qualität nur 7 Pfennige, und von einem solchen Erwerbe mußten in jener Gegend zwei Drittel der ganzen Bevölkerung leben. Unter den Spinnern der Kirchspiele Werther und Dornberg verdiente der vierte Teil in 40 Tagen 3 Taler, also 2¼ Silbergroschen täglich, die Hälfte 2 Taler, also 1½ Silbergroschen täglich; der noch übrige vierte Teil gewann nur den Flachspreis. In den Gegenden von Wallenbrück, Spenge und Enger brachte es der vierte Teil der Spinner in 40 Tagen auf 2 Taler reinen Verdienst (1½ Silbergroschen täglich), die Hälfte in 35 Tagen auf 1 Taler, also 10-11 Pfennige täglich; die übrigen verdienten gar nichts. An manchen Orten wurde der kärgliche Verdienst dieser und anderer Arbeiter durch das infame »Trucksystem« noch bedeutend verringert, indem der Arbeitsherr seine Leute statt mit Geld mit nichtsnutzigen Waren ausbezahlte, welche sie dann um Spottpreise wieder vertrödeln mußten, um zu einem Bissen Brot zu kommen. In den Kohlengruben an der Ruhr konnte sich ein tüchtiger Arbeiter in achtstündiger ununterbrochener Arbeit 9-11 Silbergroschen verdienen; dabei mußte er die Lampe stellen, welche während der angegebenen Zeit für mindestens 1 Silbergroschen Öl verzehrte. Nur ein sehr guter Arbeiter konnte sich monatlich 8 Taler machen, weitaus die meisten machten sich nur 7-8 Taler. Besser belohnte sich die Arbeit allerdings in den größeren Städten; allein hier machten die Höhe der Mietzinse und die Preise der Lebensmittel den Mehrverdienst auch wieder illusorisch. In Berlin hatte zur erwähnten Zeit der Zimmermann 20, der Schuster 15-20, der Schneider 15-22 Silbergroschen Tagelohn; die Wäscherin verdiente täglich 17½, die Plätterin 10-15, die Blumenmacherin 7½, die Stickerin 3-12, die Handschuhnäherin 3, die Strohhutnäherin 4-8 Silbergroschen, wobei natürlich in Anschlag zu bringen ist, daß alle diese Arbeiter und Arbeiterinnen von 2 bis zu 6 Monaten sogenannte »stille Zeit« hatten, d. h. arbeitslos waren. Die furchtbarste Höhe des Notstandes erreichte die industrielle Sklaverei in den Weberdörfern des Reichenbacher Kreises in Schlesien. Dort erwob sich ein fleißiger Weber wöchentlich 3-4 Silbergroschen, und daraus sollte er sich und seine Familie ernähren; er samt ihr war demnach geradezu dem Verhungern preisgegeben. Dies war übrigens in den Wintern von 1844-45, 45-46 und 46-47 auch anderwärts das Los der Armen, und nur die außerordentlichsten Maßregeln konnten dem Äußersten vorbeugen. In Köln waren während des erstgenannten Winters 30 000 Menschen almosenbedürftig, und die Proletarier holten in den Branntweinbrennereien das Spülicht, um dasselbe statt der mangelnden Suppe zu verschlingen. Noch schrecklichere Not herrschte in mehreren Kreisen Ostpreußens, wo Tausende von Familien ohne Heizungsmaterial, Brotkorn und Arbeitsverdienst waren. Auch später wieder, im Jahre 1867, hat ja in dem armen Ostpreußen die Hungerpest alle ihre Schrecken losgelassen.
Es gibt Orte, wo selbst der beste Arbeitswille und die geduldigste Anstrengung es nur zu einem kaum glaublich bettelhaften Verdienste bringen können. Da ist z. B. der Kreis Habelschwerdt in Schlesien, wo die Zündhölzerfabrikation daheim, zu welcher auch die Kinder – Kinder von 16 Jahren bis herunter zu 6! – herangezogen werden müssen, um ihr kärglich Stücklein Brot selber zu verdienen. Sie fertigen Zündhölzerschachteln, und wenn vier Kinder vom frühen Morgen bis zum späten Abend zusammensaßen, um mittels 14 bis 16stündiger Arbeit 1000 solcher Schachteln zuwege zu bringen, so erhielten sie dafür (i. J. 1877) mitsammen 85 Pfennige. Fühlende und denkende Menschen mögen nun dieser Tatsache die andere gegenüberstellen, daß auch in Deutschland die herkömmliche Staatsfinanzerei, d. i. Staatschuldenmacherei, den neuzeitlichen Feudaltyrannen und Raubrittern, den Börsenbaronen, es ermöglicht, mittels eines Wortes oder eines Federzuges Millionen und wieder Millionen einzusäckeln, so werden denkende und fühlende Menschen unschwer verstehen, daß und wie in weitern Volkskreisen eine ungeheure Masse von Groll und Haß sich ansammeln konnte, mußte. Schwer krankt unser Vaterland auch an dem Übel der Übervölkerung, entsprungen aus der mitunter bis zum baren Wahnwitz getriebenen Überspannung des Industrialismus, welcher sich vermaß, die natürliche Grundlage der Gesellschaft, den Ackerbau, durch eine künstliche, die Industrie, zu ersetzen. Hier liegt auch die Ursache des ungesunden, des wassersüchtigen, die Massenarmut so sehr fördernden Anschwellens der Städtebevölkerungen, welchem die unheilvolle Abnahme der ländlichen entspricht. Am 1. Dezember 1871 lebten 14 790 798 Deutsche in Wohnplätzen von mehr als 2000 Einwohnern, 26 219 352 in kleineren Orten. Am 1. Dezember 1875 dagegen wohnten 16 657 152 Menschen in den größeren, 26 070 188 in den kleineren Wohnplätzen. Die städtische Bevölkerung also wuchs binnen vier Jahren um 1 866 000, die ländliche sank um 149 000. Das prozentuale Verhältnis war vorher 36:64 gewesen, dann 39:61, und es ist nach weiteren 2 Jahren sicherlich die Proportion 2:3 erreicht oder überschritten worden. Die hundert Städte mit mehr als 25 000 Einwohnern nahmen allein um 740 000 zu, die Städte von 5-20 000 Einwohnern um nahezu 500 000.
Mit dem Pauperismus schreiten stets und überall auch alle die Übel, Laster und Verbrechen, welche der Armut entspringen, in stetiger Steigerung vor. Das Leben der Proletarierfamilien ist vielerorten nur ein bald langsamer, bald schneller sich vollziehender Verkümmerungsprozeß von Körper und Geist. Hunderte, Tausende von Proletarierkindern gingen, oft schon vom sechsten Jahre an in den Fabriken an die Maschinen gebannt, bis zu unseren Tagen herab noch in zartem Alter zugrunde, ohne eine andere Spur ihres Daseins zu hinterlassen als die Träne des Mitleids im Auge des Dichters. Und doch waren diese unglücklichen Wesen fast noch glücklich zu preisen, daß sie so frühe zu Grabe gingen. Denn welches Los wartet in der Regel der heranwachsenden! Unter welchen Verhältnissen wachsen sie heran! Man lese die einfach tatsächlichen Schilderungen, welche Bettina von Arnim im Anhange zu ihrem »Königsbuch« von dem Leben der Armen in den »Familienhäusern« des sogenannten Vogtlands vor dem Hamburger Tore zu Berlin mitteilte, und man wird begreifen, daß das Proletariat seine Sprößlinge fast mit Notwendigkeit zum Verbrechen erziehen muß. Wir besitzen aus dem Jahre 1853 den Bericht eines Armenarztes über den Zustand der Proletarierwohnungen zu Breslau, in welchem es unter anderem heißt: »Die Wohnungen der arbeitenden Klassen sind meistens in den Höfen gelegen. Die geringe Menge frischer Luft, welche die benachbarten Häuser zulassen, wird durch die Ausdünstungen der Ställe und Abtritte vollends verunreinigt. Viele der Stuben gleichen Schweineställen mehr als menschlichen Wohnungen, alles ist so baufällig, daß bei jedem starken Tritte das ganze Gebäude zittert; die Stuben sind klein und niedrig, die Fenster und Öfen schlecht, meistens raucht es in den Zimmern, an den Türen und Wänden läuft gewöhnlich das Wasser herunter. Und solch ein Loch kostet 20-24, ja 30 Taler Miete! Wegen der hohen Mietpreise sind die Leute genötigt, ihre Wohnungen mit Schlafgenossen zu teilen und zu überfüllen, wozu noch der Umstand kommt, daß die arme Bevölkerung den mühsam erworbenen Wärmestoff auf das sparsamste zusammenhalten muß, so daß in der rauhen Jahreszeit an ein längeres Öffnen der Türen und Fenster nicht zu denken ist und man infolgedessen in diesen Wohnungen stets eine übelriechende, mit wässerigen Ausdünstungen überfüllte Luft vorfindet.« Dies, verbunden mit der kärglichen, oft ekelhaften Nahrung ist die Ursache der unter der proletarischen Bevölkerung so häufig wütenden sporadischen und epidemischen Krankheiten. Allerdings ist in neuerer und neuester Zeit von Seiten verständiger und humaner Arbeitgeber für die materielle Verbesserung der Arbeiterzustände manches, da und dort sogar vieles getan worden. Besonders sind durch energisches Eingreifen des Staates eine ganze Reihe der schreiendsten Übelstände beseitigt worden. Zu tun bleibt freilich noch genug. Aber es wäre ein großer Irrtum, anzunehmen, daß die mittels der Streikmaschine zuwege gebrachte Hinaufschraubung der Löhne allein schon eine gründliche Umwandlung herbeiführen kann. Denn die Dirigenten dieser Maschinerie haben übersehen, daß genau im Verhältnisse zum Steigen der Arbeitslöhne auch die Preise der Lebensbedürfnisse hinaufgehen und demnach der Arbeiter, was er auf der einen Seite mehr einnimmt, auf der andern mehr ausgeben muß. Im übrigen kann nur die gedankenlos-törichte oder auch berechnend-schuftige Volksschmeichelei, wie sie in der Pöbelpresse unserer Tage getrieben wird, leugnen wollen, daß leider häufig genug das Elend proletarischer Familien selbst verschuldet, durch die wüste Liederlichkeit der Männer und Weiber herbeigeführt ist. Der durch die unbedingte Gewerbefreiheit bewerkstelligte Übergang zur vollständigen Verdrängung des Handwerks durch den Fabrikbetrieb hat in die Gesellenschaft eine Zuchtlosigkeit gebracht, unter welcher die Meister schwer zu leiden haben. Man halte nur Umfrage unter denselben, und man wird mit Erstaunen und Schrecken erfahren, wie die »Herren Arbeiter« das »Evangelium der Arbeit« auslegen.
Ja, die sittlichen Zustände des Proletariats sind durchschnittlich ebenso trostlos wie die materiellen, obzwar sich unzählige Beispiele von einer wahrhaft todesmutigen Energie anführen ließen, womit Proletarier und Proletarierfamilien gegen den ökonomischen und moralischen Ruin ankämpfen. Keineswegs immer, aber doch häufig vergebens. Die von Jahr zu Jahr mehr anschwellenden Tabellen der Almosenbedürftigen einerseits, der Verbrecher andererseits beweisen dies. Die Vergehungen gegen das Eigentum stehen unter den proletarischen Verbrechen natürlich obenan. Beim Berliner Kriminalgericht wurden schon 1844 allein 3221 Untersuchungen geführt, darunter 1115 wegen Diebstahls; im nämlichen Jahre wurden im Regierungsbezirke Düsseldorf 5209 Verbrechen begangen, worunter 4361 Eingriffe in das Eigentum anderer sich befanden. Gröbere Verbrechen resultieren zumeist aus der Trunkenheit. Im Branntweinrausche sucht der Proletarier, für welchen »beim Bankett des Lebens kein Platz ist«, momentane Vergessenheit seines Elends. Sehr häufig kürzt er diesem auch die langsame Arbeit durch Selbstmord ab, welcher überhaupt auf erschreckende Weise überhandgenommen hat. In Berlin z. B. kam zu Anfang des Jahrhunderts 1 Selbstmord auf 1000 Todesfälle, 1822 schon auf 200, im Jahre 1830 auf 100 und jetzt sicherlich auf 50-30. Im Jahre 1810 fielen in Hamburg nur 10 Selbstmorde vor, 1827 schon 60. Ungefähr im gleichen Verhältnisse wird die Zunahme der Wahnsinnigen stehen. Die weibliche Jugend des Proletariats verfällt fast unrettbar der Prostitution. Das Geld reicher Wüstlinge erkauft die erste Blüte der armen Mädchen, welche dann, von dem Verführer preisgegeben, rasch von Stufe zu Stufe bis zur äußersten Verworfenheit herabsinken. An manchen Orten verhält sich die Zahl der unehelichen Geburten zu den ehelichen wie 1 zu 6, ja sogar wie 1 zu 5 und 4. In diesem Punkte gebührt aber vor allen deutschen Städten München der Preis. Aus den 30er Jahren wissen wir, daß in der bayerischen Hauptstadt eine Weibsperson lebte, welche 24 uneheliche Kinder geboren hatte; aus den 40er Jahren, daß daselbst in einem Hause drei Schwestern mitsammen 45 uneheliche Kinder zur Welt brachten. In der Zeit von 1854-1864 gab es in München 49 512 Geburten und davon waren 23 714 uneheliche, also nahezu 50 Prozent, so daß man nicht sehr fehlgeht, wenn man immer das zweite einem auf den Straßen von München begegnende Kind für einen Bankert nimmt. Der Polizeistatistik von Berlin zufolge gab es 1864 dort schon 10 000 prostituierte Frauenzimmer, 18 000 Dienstmädchen, von welchen mindestens der vierte Teil, wenn auch nicht gerade der Prostitution, so doch der Liederlichkeit ergeben war, 2000 uneheliche Kinder auf 10 000 eheliche, 10 000 syphilitische Erkrankungen jährlich. Zur Charakteristik der Berliner Sittenzustände in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts mag noch folgende wohlverbürgte »Alltagsgeschichte« beitragen. »Ein junger Arzt wohnte bei einer armen Handwerkerfamilie. Die älteste Tochter war in dem Alter der Einsegnung. Es war den Leuten aber durchaus nicht möglich, ein nur einigermaßen hübsches Einsegnungskleid, worauf in Berlin so unendlich viel gesehen wird, herbeizuschaffen. Da der junge Arzt soeben erst seinen Wechsel erhalten, so macht er sich das Vergnügen, Kleid und Umschlagetuch zu schenken. Tochter und Eltern sind außer sich vor Freuden und danken mit Tränen im Angesicht. Aber welche Überraschung steht dem jungen Arzte bevor, als er an demselben Tage, wo das Mädchen eingesegnet worden, spät abends in seine Stube zurückkehrt! Wie eine blühende Rosenknospe liegt die Jungfrau, vollständig zur Nacht gekleidet, ruhig schlummernd auf seinem Bette. Er ist bestürzt, verwirrt und ruft endlich die Mutter. Das Weib bekennt, aus Dankbarkeit habe sie ihm die ersten Reize ihrer Tochter überliefern wollen, da es ihr doch nicht möglich sei, dieselben vor Anfechtungen zu schützen.« Ich könnte diesem Sittenzuge noch viele, sehr viele andere anreihen, welche amtlich beglaubigt, zeigen, wie Töchter von ihren Müttern, Frauen von ihren Männern, förmlich zur Preisgebung abgerichtet, gezwungen und verkauft wurden und werden; allein der mitgeteilte Fall scheint für unsern Zweck ausreichend.
Die sozialen Übelstände, welche wir im Vorstehenden mehr nur angedeutet als ausgeführt haben, sind zu schreiend, um überhört werden zu können. Es hieße auch einer Ungerechtigkeit sich schuldig machen, wollte man leugnen, daß zur Linderung des Pauperismus und seiner Folgen vieles geschah und geschieht. Unterstützungs- und Bildungsvereine für die arbeitenden Klassen sind begründet worden, und es haben bei derartigen Unternehmungen namentlich die Frauen bewiesen, daß man nie vergeblich an ihr Mitleid appelliert. Auch abgesehen jedoch davon, daß unsere wohltätigen Vereine meistens zugleich Propagierungsinstitute religiöser Parteimeinungen sind, können solche Institute nur Palliativmittel aufbringen. Ebenso unzulänglich ist die öffentliche Armenverwaltung, obgleich wir zugeben, daß dieselbe z. B. in mehreren Kantonen der Schweiz, welche im ganzen jährlich etwa 5 500 000 Franken und mehr für Unterstützung der Dürftigen verwendet, nach den gegebenen Verhältnissen human genug eingerichtet ist.
Der Streit darüber, ob der Pauperismus, wie die reaktionäre Partei behauptet, aus der Zersplitterung des Grundeigentums und der Ablösung der gutsherrlichen Verhältnisse, ferner aus der Gewerbe- und Handelsfreiheit herzuleiten sei, ist im Grunde ganz müßig. Das Übel ist einmal da, und sein lawinenartiges Anwachsen kann keinem Zweifel unterliegen. Das dumpfe Dröhnen dieser Lawine muß jeden, der nicht gedankenlos dahinlebt, unaufhörlich an das Problem der sozialen Reform mahnen, welches fast so alt ist, als die geschichtliche Erinnerung der Menschheit zurückreicht. Von Mose, Buddha und Platon an bis auf unsere Tage herab begegnen uns in allen Jahrhunderten edle Geister, welche die Auflösung der sozialen Dissonanzen in die soziale Harmonie zum Gegenstand ihres Denkens machten. Im 16. Jahrhundert schrieb der Engländer Thomas Morus sein Utopien (Utopia 1516), im 17. der Italiener Campanella seinen Sonnenstaat (Civitas solis 1623), Werke, die, auf der Basis der platonischen Republik sich aufbauend, die sozialistischen und kommunistischen Ideen der neueren Zeit vielfach vorwegnahmen. Am lebhaftesten hat man sich mit diesen Ideen in Frankreich beschäftigt. Baboeufs, Saint-Simons, Fouriers, Cabets, Blancs, Proudhons Theoreme und Vorschläge haben nacheinander die öffentliche Aufmerksamkeit beschäftigt und, eifrigst verbreitet, auch diesseits des Rheins in dem Proletariat das dunkle Gefühl seiner Berechtigung, am Bankett des Lebens teilzunehmen, erregt. Eigentümliche Gedanken hat die Fraktion der deutschen Sozialisten und Kommunisten bisher nur wenige oder gar keine in Umlauf gesetzt. Ihr Hauptverdienst ist die allseitige Kritik der jetzigen Gesellschaftsverfassung; wo sie mit reformistischen Anträgen hervorgetreten, ist sie fast durchweg nur das Echo des französischen Sozialismus und Kommunismus und laufen diese Anträge geradezu ins Schimärische aus. In den Bereich der Narrheit gehört vollends die sozialistische Fiktion, die Gesellschaftsverfassung lasse sich ändern, ohne daß man sich mit der Umgestaltung der bestehenden politischen Verhältnisse besondere Mühe zu geben brauche. Sehen wir von dieser und andern Illusionen und Schrullen der Anhänger des Sozialismus ab, so ergibt sich aus der bisherigen sozialistischen Bewegung das Resultat, daß in dem vierten Stand, im Proletariat, das Gefühl der Menschenwürde und der Menschenrechte geweckt ist und daß es sich infolgedessen mit aller Macht anstrengt, seine Emanzipation von der Herrschaft der Geldaristokratie durchzusetzen, wie vor ihm der Bürger- und Bauernstand sich von der Feudalaristokratie emanzipierten. Selbstverständlich kann, wie die Menschen nun einmal sind, von einer friedlichen, auf dem Wege gegenseitiger Zugeständnisse zu bewerkstelligenden Beseitigung oder wenigstens Beschränkung der Allmacht des »Tyrannen« Kapital keine Rede sein. Es wird dazu einer Revolution oder vielmehr einer ganzen Reihenfolge von Revolutionen und Reaktionen und wieder Revolutionen bedürfen, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat.
Natürlich kostet es der Gedankenlosigkeit wenig, vor dieser Aussicht in die Zukunft die blöden Augen zu verschließen und die geäußerte Besorgnis für eine »pessimistische Grille« auszugeben. Sehende Augen, sogar unter denkenden Stirnen sitzend, mögen den Kampf, dessen Schlachtrufe sind: »Hie Kapital!« und »Hie Arbeit!«, in tröstlicherem Lichte schauen. Konnten ja doch bei uns in Deutschland wissende und wohlmeinende Menschen mit Befriedigung auf die immerhin bedeutenden Vorschritte und Ergebnisse der auf dem Prinzip der Selbsthilfe beruhenden »Deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften« hinweisen, denen kein anderes Land etwas Gleiches zur Seite zu stellen hat. Im Jahre 1864 einheitlich organisiert, enthalten sie innerhalb ihres Rahmens Vorschuß- und Kreditvereine, Rohstoff-, Magazin- und Produktivgenossenschaften, Konsumvereine und Baugenossenschaften. Dem Jahresbericht von 1872 zufolge zählte diese große, auf gesunden und nationalen Grundlagen stehende Arbeiterassoziation schon 3000 Genossenschaften, zu Anfang des Jahres 1875 mehr als 4000, während die Rechnungsabschlüsse für 1874 einen Geldumsatz von 750-780 Millionen Taler nachwiesen und die angesammelten Kapitalien 46-48 Millionen Taler betrugen. Hier, sollte man meinen, wäre ein sicherer und hoffnungsreicher Anfang gemacht, die »Sklavin« Arbeit auf dem echtgermanischen Wege des »Hilf dir selbst!« zu emanzipieren. Aber nur Leute, welche die Lehren der Geschichte nicht kennen oder für nichts achten, können wähnen, daß dieses wirklich geschehen werde. Wie in der Natur, so ist auch in der Geschichte das Recht des Stärkeren oberstes Gesetz. Dieses Recht bringt sich vermöge seines Wesens, also weil es muß, nur gewaltsam zur Geltung. Wann und wo ist denn jemals eine große Entscheidung, ein tüchtiger Vorwärtsruck der Menschheit auf dem Goetheschen Wege »ruhiger Bildung« vor sich gegangen? Nie und nirgends. Der Streit zwischen Arbeit und Kapital, welcher so alt ist wie die menschliche Gesellschaft und in jedem Weltalter in dieser oder jener Form gewütet hat, er wird, falls er, was sehr zu bezweifeln ist, überhaupt jemals zum Austrage zu bringen sein sollte, nur durch das Schwert, in der nackten Bedeutung des Wortes entschieden werden.