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Der Fall der Käthe Haink wurde eine Angelegenheit der Welt. Um die stille tapfere Frau im Untersuchungsgefängnis zu Moabit entbrannte ein Kampf der führenden Geister. In allen Zentren der Wissenschaft lohte die Diskussion auf. Darf der Arzt einem rettungslos verlorenen Kranken die letzten Qualen erleichtern durch einen milden, ungeahnten Tod?
Es ging nicht mehr um die bescheidene Berliner Ärztin, es ging um die Weltentscheidung in einem Menschheitsproblem.
Die Fachpresse, die Tagespresse aller Länder griff mit dem Eifer und der kriegerischen Leidenschaftlichkeit ein, die ein untrügliches Zeichen dafür ist, daß eine alte, vielumstrittene Frage der Moral vor der letzten Instanz der Menschheit steht.
Für und wider wurde mit Erbitterung, mit Starrsinn, mit ethischen Argumenten pro und kontra, mit Staatsraison, Humanitäts- und Gefühlsgründen gerungen.
Ein Ärzteverband tat den ersten kühnen praktischen Schritt. Er wirkte wie eine Fanfare. In einer stürmischen Sitzung forderte eine überwältigende Mehrheit gesetzliche Bestimmungen, die den Ärzten in unheilbaren Fällen das Eingeben tödlich wirkender Linderungsmittel gestatteten.
Eine Lawine von Briefen der Gelehrten aller Zonen, der Juristen und Mediziner und Philosophen strömte der gefangenen Frau zu, die plötzlich zum Mittelpunkt eines wissenschaftlichen Streites von Weltausmaßen geworden war. Weder sie noch ihr Verteidiger vermochten diese Springflut von Zustimmung und Schmähung zu bewältigen. Die Lage erforderte aber ferner, jede literarische Äußerung des In- und Auslandes zu verfolgen, zu registrieren, zur Verfügung zu halten für den Tag der Verhandlung.
Hier sprang Ulrich Just als Helfer ein. Er bildete mit Käthe Haink, mit dem Anwalt und Ute eine feste Arbeitsgemeinschaft.
Der Maler Haink war zu dieser Tätigkeit nicht zu verwenden. Doch er hatte sich aufgerafft, hatte alles Tüchtige und Strebende, das Krieg und Not der Zeit in ihm verschüttet hatte, wieder ans Licht gefördert. Hypochondrie und Schlaffheit waren vergessen. Aus Selbstanklage. Scham und Angst um das Los seines Weibes drängte ihn wieder zur Arbeit. Zuerst führte ihn der Zwang zu verdienen, dann neue künstlerische Offenbarung vor die Staffelei. Täglich mußte Ute ihm über den Stand der Dinge berichten. In diesen stillen Nachtstunden gewann sie etwas, was sie nie gekannt hatte: einen Vater.
Spät am Abend kehrte sie aus Justs Haus heim. Dort prüften und ordneten sie das angestaute Material, das aus einer aufgewühlten Welt hereinströmte. Der Disput: darf der Arzt grausigsten Qualen ein Ende bereiten, auch ohne Verlangen des Kranken, wann, unter welchen Voraussetzungen, unter welchen Sicherungen, wie schließt man gutgemeinten und bösen Mißbrauch dieser Gnade aus? erhitzte die Geister von Pol zu Pol, regnete seinen Niederschlag in das Arbeitszimmer des Studienrats Doktor Just in Berlin. So war Ute auf die einfachste und natürlichste Weise in das Heim des Geliebten gekommen. Beide hatten anfangs gezögert. Julie selbst löste ihm die Bedenken. Sie begriff sehr gut, daß ihr enthusiastischer Mann mit Feuereifer an dieser Menschheitsfrage Anteil nahm. Der Kampf um die Linderung zweckloser Qualen, ein Kampf um ein Recht des Schmerzes mußte in ihm seinen Ritter und kühnsten Verfechter finden.
In jedem Falle wäre dieser Kampf auch sein Kampf gewesen. Nun aber war sichtbare Trägerin dieses Streites die Mutter seiner begabtesten Oberprimanerin. Ihr zu helfen, sie mit allen Kräften zu unterstützen, war für Julie so selbstverständlich wie für Just.
Julie war es also, die den Vorschlag machte, Ute ins Haus zu ziehen. Aus liebevollem Egoismus. »Arbeitet doch hier«, sagte sie, »sonst sehe ich dich überhaupt nicht mehr.« So begegneten sich Julie und Ute Haink. Die freie Güte der reifen Frau nahm dem Mädchen sehr rasch das Gefühl der Hinterlist und des Verrats an ihr.
Doch ein großer Schmerz entsprang für Ute dieser gemeinsamen Arbeit. Sie fühlte, daß sie Just verlor. Der Geist dieses Hauses kämpfte gegen sie. Alles Geheime, Geheimnisvolle, Unaussprechliche zwischen ihr und dem geliebten Mann verblich in dieser Atmosphäre seines Arbeitszimmers. Obwohl Julie niemals störte, niemals unaufgefordert hereinkam – aus einem scheuen Zartgefühl, ohne jeden Verdacht. Aber Ute fühlte, wie Just ihr entglitt. Ganz allmählich, ohne Worte, ohne spürbaren Übergang.
Es wurde Freundschaft auf seiner Seite, treue Freundschaft. Die Liebe starb in dieser schonungslosen Arbeit, seine Leidenschaft zerrieb sich in den selbstlosen Mühen um die Mutter der Geliebten.
Er erkannte es selbst und staunte, als ihm diese Wandlung ins Bewußtsein trat. Weshalb überdauerte in der Ehe die Liebe gemeinsame Sorgen und Gefahren, erstarkte an ihnen, verankerte sich in ihnen? Und die Liebe, diese stürmische, hemmungslose Liebe zu Ute, dieses stärkste Gefühl seines Lebens zerfloß in der gemeinsamen Last und Plage um die Rettung der Mutter?
Er begriff es nicht, fand keine Antwort. Was war Mystisches an der Ehe, worin bestand ihre geheime Macht, daß sie, trotz aller banalen Mühsal, die Liebe wach erhielt und immer neue, innigere Kraft gewann durch die Berührung mit dem Werktäglichen, wie der Riese Antäos durch die Berührung mit der Erde – während Liebe außerhalb der Ehe am Alltag zerschellte? Er fand keine Lösung, fand nur die Tatsache in seiner Brust.
Er wußte, daß Ute ihn noch liebte wie am ersten Tag. Nein, anders, reiner, verklärter, leidgeprüfter, wenn sie auch nie darüber sprach. Er sah es an ihren Blicken, spürte es an ihrem Händedruck, fühlte es an ihrem Verbergen und litt wie sie. Litt daheim und in der Schule schuldhaft unter ihrer schmerzdurchzitterten Gegenwart.
Sie war noch immer, obwohl die Hilfsaktion für die Mutter ihr kaum Zeit zu eigener Arbeit ließ, die geistigste Schülerin der O Ia. Sie würde das Examen spielend bestehen.
Auch Dina Quenz würde es schaffen. Sie hatte sich sichtbar gebessert. Den ersten Klassenaufsatz nach der Katastrophe hatte sie zwar noch mit einer schlechten Note zurückerhalten. Dann aber kam der überraschende Aufschwung – nicht ganz ohne eine hilfreiche Schicksalsfügung. Don Felipe verschwand aus Berlin. Eine Revolution in seiner Heimat hatte seine Partei gestürzt. Seine Diplomatenlaufbahn war damit – bis zu neuen staatlichen Erschütterungen – beendet. Dinas Verlassenheit und erzwungene Muße wandte sich erfolgreich ihrer Examensarbeit zu. Zu Weihnachten wurde sie nicht zurückgestellt.
Gleich nach Neujahr war die Hauptverhandlung gegen Käte Haink anberaumt. Die Augen der Welt waren auf Moabit gerichtet.
Schon etliche Tage vor dem Termin hatte Just ein Gespräch mit Direktor Börner.
»Ich möchte meine O Ia geschlossen hinführen«, sagte er.
»Nanu?!« stutzte Börner.
»Es ist der Kampf einer großen Frau um ihr Recht auf eine mutige Tat von weltumspannender Bedeutung. Wie er auch ausgeht, er kann nur von höchstem erzieherischem Wert sein für junge Frauen, die in wenigen Wochen ins Leben hinaustreten. Sie werden etwas erleben, was sie nie vergessen.«
»Wird die Anwesenheit ihrer Mitschülerinnen Fräulein Haink nicht peinlich sein?« bedachte Börner.
Just schüttelte den Kopf. »Sie ist die Heldin der Schule geworden. Jugend steht immer dort, wo die Begeisterung flammt!«
Nach einigem Zögern willigte Börner ein.
Der Zuschauerraum des großen Schwurgerichtssaales war überfüllt. Doch Just hatte seiner Klasse rechtzeitig Eintrittskarten verschafft. Sie lernte viel an diesem Tage von geheimem Heldentum, von Opferfähigkeit, von orthodoxer Beschränktheit, von Pionierbegeisterung der Wissenschaft.
Käte Haink hätte leugnen, hätte ihr Geständnis widerrufen können. Neunzehn Jahre waren über ihre Tat hingegangen, kein Beweis ihres Eingriffs war mehr möglich. Aber sie stand zu ihrer Überzeugung. Sie wiederholte mit leiser, fester Stimme ihr Bekenntnis, Und fügte schlicht hinzu:
»Ich habe es für meine Pflicht als Ärztin gehalten, Leid zu lindern. Und halte es auch heute für meine Pflicht, zu helfen, auch mit dem Tode, wo jede andere Hilfe versagt.«
Im Saal war lautlose Stille nach diesen Worten der großen, schlanken Frau mit dem Nornengesicht und den grauen Haaren.
Dann entbrannte der Kampf der Sachverständigen, der Meinungen, der Weltanschauungen, der wissenschaftlichen Überzeugungen. Die erlauchtesten Namen wurden laut, auch die von Männern, die nicht anwesend waren. Der Geist des großen Rechtslehrers Karl Binding ging um, der als letztes Vermächtnis die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens befürwortet hatte, sein kühner Mitkämpfer Alfred Hoche kam zu Wort.
Mit Ruhe und mit Heftigkeit kämpften die Matadore der Wissenschaft, Ärzte und Juristen. Der Vorsitzende verriet nicht seine Meinung, ließ jeden zu Wort kommen.
»Niemals«, riefen die einen, »darf der Arzt töten. Von seinem Standpunkt aus, sofern er darauf Anspruch erhebt, für gewissenhaft gehalten zu werden, steht die Antwort auf die uralte Streitfrage unzweifelhaft fest. Ein gewissenhafter, von seiner hohen Pflicht durchdrungener Arzt hat nur die Antwort – Nein!«
Bewegung im Saal. Widerspruch. Der Vorsitzende hebt besänftigend die Hand.
Der Vertreter der medizinischen Fakultät der Universität spricht fort:
»Worin besteht die hehre Aufgabe des Arztes? Er hat nach bestem Wissen und Gewissen das Leben seines Patienten mit allen zu Gebote stehenden Mitteln der Medizin zu behüten. Das Leben behüten aber heißt, das Leben verlängern. Dies Gesetz muß im Bewußtsein eines jeden Arztes unverrückbar verankert sein und darf nur in ganz vereinzelten Fällen überschritten werden, nämlich in Fällen, wo es sich darum handelt, furchtbare Leiden durch Verwendung schmerzstillender Mittel auch auf die Gefahr hin zu mildern, daß dadurch etwa das Atmen des in den letzten Zügen liegenden Menschen – denn Leben kann man das nicht mehr nennen – um einige Stunden verkürzt werden könnte. Dies ist aber etwas ganz anderes, als wenn der Arzt wissentlich dem Leben des Kranken ein Ende bereitet. Denn im ersteren Falle bleibt noch immer ein Hoffnungsschimmer – und dieser darf nie ganz erblassen –, daß die Rettung plötzlich eintreten könnte, während im zweiten Fall die unfehlbare Feststellung des unvermeidlichen Eintritts des Todes vorausgesetzt werden müßte.«
Noch lange sprach der berühmte Arzt gegen die Angeklagte.
Der Verteidiger griff ein. »Darf ich an den Fall Corbett erinnern?« rief er. »Corbett hatte seine Mutter getötet aus Mitleid mit ihren Qualen. Auch sie litt an Krebs. Corbett war kein Arzt. Aber die Geschworenen von Draguignan haben ihn im November 1929 freigesprochen. Der als Zeuge vernommene Abt Boyer, der Hausnachbar der Familie Corbett, sagte aus, er habe nie einen Sohn gesehen, der seine Mutter so geliebt habe wie der Angeklagte – freilich verurteilte er seine Tat. Aber die Männer der Geschworenenbank dieser kleinen französischen Stadt sprachen den Sohn frei. Sie waren der Ansicht: das Gesetz ist ungerecht und veraltet. Man müsse zum Sterben verurteilte Menschen, wie alle es mit den Tieren tun, von ihren Leiden befreien.«
Er setzte sich. Alles übrige behielt er seinem Plädoyer vor.
Ein zweiter genialer Mediziner trat vor den Richtertisch. »Der Vergleich mit den Tieren kann nicht gelten«, begann er. »Ein Pferd, das beim Rennen das Bein bricht, wird erschossen. Viele Hundefreunde lassen ihren Liebling vergiften. Aber dieses Spiel mit der Idee der ›Euthanasie‹, des ›schönen Todes‹, ist ein freventliches Spiel.«
Er wurde heftiger. »Unsere heiligsten Gefühle sind von ihr beleidigt. Wenn wir anfangen, unsere Achtung vor dem Leben zu erniedrigen, indem wir auch nur in einem einzigen Falle seine Zerstörung genehmigen, setzen wir eine Kausalkette in Gang, die in ihrem unabsehbaren Ablauf die Gesellschaft, den Staat, jede Moral vernichten kann. Es handelt sich hier nicht um ein Wesen in unerträglicher physischer Pein, es handelt sich allein um die Norm von der Heiligkeit des menschlichen Lebens, d. h. um die Menschlichkeit überhaupt, in einem viel höheren Sinne.«
»Und, um dem Herrn Verteidiger zu erwidern: Zwischen Mensch und Tier besteht ein unüberbrückbarer Unterschied. Milde gegen Tiere ist anerkennenswert. Aber die Beziehungen von Mensch zu Mensch sind doch wohl andere als von Mensch zum Tier. Es ist ein falsches Gleichnis, daß, weil wir ein Tier seiner Schmerzen entledigen, wir auch einen Menschen umbringen dürfen.«
Dann wurde er milder, warf einen hoffenden Blick in eine fernere, bessere Zukunft.
»In menschlichen Dingen ist ewiger Wandel. Wahrscheinlich wird der Tag kommen, an dem man einigen wenigen hervorragenden, vertrauenswürdigen Ärzten das Recht einräumen wird, Leben zu beenden, das kein Leben mehr ist. Aber mehr nicht! In keinem Fall können wir jemals das Recht, zu töten, einer Person zuerkennen, die, mit Recht oder Unrecht, sich das Amt der Gerechtigkeit oder der Barmherzigkeit anmaßt.«
Frau Haink saß stumm und ohne Regung, als habe sie mit allem Irdischen abgeschlossen, auf ihrem Stuhl neben dem Verteidiger. Ute umklammerte entsetzt, nach diesem zweiten vernichtenden Gutachten, Justs Hand. Er hielt sie tröstend fest.
Jetzt sprang wieder ein Vertreter der Berliner Fakultät in die Schranken. Mit heller, durchdringender Stimme rief er:
»Das norwegische Strafgesetzbuch vom 22. Mai 1902 hat die Tötung, um die wir hier streiten, der Tötung eines Einwilligenden gleichgesetzt.
Aber auch in Deutschland, in Preußen, gab es einmal eine großzügigere Zeit. Im Preußischen Landrecht Titel XX § 833 war bestimmt: ›Wer tödlich Verwundeten oder sonst Todkranken in vermeintlich guter Absicht das Leben verkürzt, ist gleich einem fahrlässigen Totschläger nach §§ 778/779 zu bestrafen.‹ Die angedrohte Strafe war sehr mild: Gefängnis oder Festung ›auf einen Monat bis zwei Jahre‹.
Bald zweihundert Jahre sind seitdem vergangen, doch dieser großherzige Geist ist ausgestorben. Unser Strafgesetzbuch bedroht den milden Helfer mit dem Tode. Aber Sie wissen, meine Damen und Herren ...«
»Sie sprechen zu dem Gericht«, lächelte der Vorsitzende.
»Nein«, protestierte der junge Geheimrat, »nein, Herr Präsident, ich spreche zu allen Männern und Frauen der Welt, die das Herz auf dem rechten Fleck haben.
Es wird eine Zeit kommen, die von der Warte höherer Sittlichkeit aus aufhören wird, einen überspannten Humanitätsbegriff und die Überschätzung des Wertes der Existenz mit grausamsten Opfern in die Tat umzusetzen.
Aber Wandlungen in moralischen Anschauungen kommen nicht von selbst. Man muß an ihnen arbeiten und sie schieben und stoßen. Helfen wir der wahren, echten, nicht der verlogenen Humanität! Ich sehe keinen Nutzen darin, einen verlorenen Menschen leiden zu lassen. Für ihn nicht, für die Menschheit nicht und nicht für eine abstrakte unlebendige Moral. Ich beuge mein Haupt vor der tapferen Kollegin.«
Mit Mühe gelang es dem Vorsitzenden, die aufstürmende Begeisterung der Zuhörer zu dämpfen.
Die Verhandlung ging weiter.
Käthe Haink wurde schließlich freigesprochen. Das Unwetter, das Vernichtung und Untergang gedroht hatte, war gnädig vorübergebraust. Der Horizont dämmerte freundlich klar herauf. Das Leben ging wieder seinen alltäglichen Gang. Das Abitur war vorüber. Ute hatte mit Glanz bestanden, auch Esther Mayer, Irma Kiesel in Ehren, Dina Quenz mit Hängen und Würgen. Aber sie war durch, war frei aller lästigen Bande der Schule.
Ute reiste gleich nach der Entlassung ab. Sie ertrug Berlin nicht länger, wo Just war, ihr ferner als in weiter Ferne.
Julie und Gaby waren ausgegangen.
Sie saß Just gegenüber, in dem Arbeitszimmer, in dem sie so oft zusammen gesessen hatten, als arbeitsbesessene Kameraden.
Just sprach von Paris, wo Ute das erste Semester arbeiten wollte, von ihren Plänen, ihrem Studium; klug, weise und entrückt.
Da rief sie ausbrechend: »Sprich mit mir nicht so abgeklärt! Sag mir noch einmal etwas Persönliches.«
Er sah erstaunt in ihr erregtes, schönes, abgehärmtes Gesicht.
Da stürmte die scheintote Liebe noch einmal über ihn hin.
»Ich danke dir für alles, Ute«, sagte er leise.
»Warum – warum« – lehnte sie sich verzweifelt auf gegen das Geschick, »liebst du mich nicht mehr?!«
»Du irrst, Ute. Ich liebe dich noch. Meine Liebe zu dir ist nicht tot. Sie liegt in mir als ein kostbares Besitztum meines Lebens. Und bisweilen, Ute, wenn ich einsam sein werde und sehnsüchtig, werde ich sie aus meinem Herzen hervorholen – hier, in der Dämmerung – und jung sein und bei dir.«
Sie saßen stumm. Utes Atem ging laut.
»Ich danke dir auch«, raunte sie tonlos. »Nicht für das, was du an meiner Mutter getan hast. Das steht auf einem anderen Blatt. Nein, Ulrich, dafür, wofür ich dir schon einmal gedankt habe und immer danken werde, daß du der erste Mann warst, dem ich angehört habe.«
»Ute« – er wollte unterbrechen, doch sie sprach weiter. Sie hatte hundertmal bedacht, daß sie ihm alles dies noch sagen wollte, ehe sie ging – vielleicht – wahrscheinlich für immer.
»Ich bin nicht sentimental, Ulrich. Ich weiß jetzt so ziemlich, wie schwer und banal das Leben ist. Ich rede mir auch nicht ein, nun, wo ich von dir gehe, sei alles aus und zu Ende. Ich weiß sehr wohl, das Leben beginnt nun erst für mich.«
»Natürlich, Ute.«
»Aber das nehme ich mit hinaus, den unverlierbaren Stolz, daß du meine erste Liebe warst. Und daß ein Mann wie du meine erste Liebe war« – ihre Stimme zitterte –, »das wird mich gegen alles Kleine und Gemeine mein Leben lang schützen.«
»Ute!«
»Es wird mir Verpflichtung auferlegen, auch in bezug auf die Männer, die ich in meine Nähe lasse.«
Er hatte sie aussprechen, sich diese Abschiedsworte von der Seele losringen lassen. Jetzt trat er zu ihr, strich ihr über das lichte glatte Haar. Worte hatte er nicht in seiner Bewegtheit.
Da flüsterte sie leidenschaftlich: »Und nun – dürfen wir uns noch einmal küssen – hier?«
»Ja, Ute.«
Er zog sie an sich. Sie küßte ihn hingegeben, wie in der ersten Nacht an der See. Dann riß sie sich los, als risse sie ihr Leben von ihm, und rannte davon – wie sie an dem ersten Abend davongelaufen war.
Auf der Straße blieb sie stehen, weil sie nicht sehen konnte vor Tränen.
Just ging erschüttert auf und nieder. Jugend ist von mir gegangen, hallte es in ihm nach, die Jugend ist von mir gegangen. Jetzt geht das Leben fort im ausgefahrenen Geleise. Ja – es ist gut und geborgen – Ute und dieses junge Glück hat mich fast das Leben gekostet. – Jetzt brauche ich Ruhe – Ruhe – Arbeit und Frieden. Julie.
Ob doch einmal wieder – später – solches Drängen und Verlangen in die Weite – weg von der Ehe ihn überkommen und überwältigen würde ...?
Das Telefon läutete. Er eilte hin. Es war Direktor Börner.
»Just – eine gute Nachricht! Sie haben das Gymnasium ...« Er nannte es. »Eins unserer ersten. Gratuliere, Herr Direktor.«
»Danke«, antwortete Just, taumelig im Kopf.
»Leider ist ein Irrtum unterlaufen. Ich habe oben ausdrücklich betont, daß Sie eine Mädchenschule vorziehen, und nun haben sie Ihnen doch dieses Knabengymnasium gegeben. Wenn Sie wollen, spreche ich noch mal mit dem Dezernenten. Es ist sicher eine Kleinigkeit ...«
»Nein, danke, Herr Direktor. Lassen Sie nur. Wer weiß, wozu es gut ist.«
»Wie Sie wollen. Nochmals herzliche Gratulation, lieber Kollege.«
»Danke vielmals, lieber – Kollege.«
Beide hängten lachend ein.
Just sah sich im Zimmer um. Wo Julie blieb? Wenn sie doch endlich käme! Wo blieb sie nur! Er war doch voll Ungeduld, ihr die gute Nachricht mitzuteilen.