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Über den Wiesen von Newstead geisterten die ersten Winternebel. Da reiste Byron nach London. Im Albany in St. James' Street stieg er ab. Inzwischen hatte Dallas die Reklametrommel tüchtig gerührt. In der Morning-Post hatte London erstaunt lesen können, daß der bekannte Verfasser der Satire »Englische Barden und schottische Rezensenten« von seiner gefahrvollen Tour durch das Innere Afrikas heimgekehrt sei und eine herrliche neue Dichtung im Reisesack mit nach Hause gebracht habe, die bei ihrem demnächstigen Erscheinen alle Erwartungen des Publikums bei weitem übertreffen werde. In den Salons der vornehmen Gesellschaft munkelte man von den Gefahren, denen der junge Dichter auf seiner kühnen Fahrt getrotzt, von seiner romantischen Schönheit, von seiner bitteren Jugend. Und im erlesenen Kreise des Londoner Highlife berichtete Lady Caroline Lamb mit verzückten Augen von dem Gedicht, das man ihrer Kritik überantwortet hatte.
Ach, es war ein wundervolles Gedicht! Und der Dichter – sie brenne darauf, ihn kennen zu lernen. Man habe ihr erzählt, er sei ein Antinous mit braunen Locken und ganz phantastischer Gewandung. Er pudre nicht sein Haar, sondern lasse es in seiner wilden Schönheit seine Stirn umwallen. Und aus den Schilderungen des Gedichts könne man ahnen, wie viele türkische und griechische Frauen die Liebe zu ihm in den Tod getrieben habe, wie viele Ehemänner er umgebracht, wie viele Harems er verwüstet haben müsse. Man erzähle ja auch, daß er ein ganz ruchloser Mensch sei und dabei so blasiert und fertig mit allem. Und sie schlug ihre schönen grauen Augen emphatisch zur Decke auf: »O, ich möchte ihn kennen lernen und ihm zeigen, was die Liebe eines wahren Weibes ist, und ihn trösten, diesen armen unglücklichen großen Dichter!«
So erzählte in Holland House die exzentrische junge Caroline Lamb, und die Zuhörer trugen es weiter. Man flüsterte und vermutete und konnte den Tag nicht erwarten, an dem endlich bei Murray dieses Wunderwerk des wunderlichen Dichters erscheinen würde.
Byron las die Zeitungsnotizen, er hörte das phantastische Raunen ringsum und tobte gegen Dallas in ehrlichem Zorne.
Doch Dallas lachte.
»Was wollen Sie, Mylord? Klappern gehört zum Handwerk. Seien Sie vergnügt. Am 1. März, wenn das Buch herauskommt, werden Sie der Löwe von London sein.« Und er rieb sich ahnungsvoll die knöchernen dürren Hände.
Schon am ersten Tage nach seiner Ankunft in der Hauptstadt hatte Byron sich seinem Verleger vorgestellt. Kurz nachdem er gegen Mittag aufgestanden war, wanderte er durch den brausenden Lärm der City zur Fleet Street. In dem vornehmen weitgestreckten Buchladen trat ihm ein Kommis entgegen.
»Ich möchte Herrn Murray sprechen,« forderte Byron.
Der Angestellte fragte: »In welcher Angelegenheit?« »Wegen eines Buches,« erwiderte der Dichter kurz.
»Schreiben Sie.« riet der Mann, »dann werden wir Ihr Gesuch prüfen.«
Da schwoll der Hochmut des Emporkömmlings, der den jäh Erhobenen sein Leben lang nicht verließ, brüsk auf in dem jungen Peer. Er warf den Kopf zurück und prahlte mit groteskem Stolz:
»Sagen Sie Ihrem Herrn, daß Lord Byron ihn zu sprechen wünsche.«
Drollig knickte der Kommis in sich zusammen. Doch nicht der »Lord«, sondern der »Byron« hatte es ihm angetan. Ein Lord war in diesem Geistesasyl keine allzu gewichtige Persönlichkeit.
»Einen Augenblick,« stammelte der Mann. »ich werde Herrn Murray sofort rufen. Wollen Mylord bitte Platz nehmen?«
Und er eilte eine Treppe im Hintergrunde des Ladens hinauf.
Wenige Minuten später sprang ein hochgewachsener junger Mann in elegantem schwarzem Rock und weißen Hosen die Stufen herab. Schon von weitem streckte er dem Dichter die Hand entgegen und rief: »Ich freue mich, Mylord, die Hoffnung Englands zu begrüßen!«
Da überkam Byron die Schüchternheit, die in seinem unausgeglichenen Wesen sich seltsam seinem Adelsstolze verschwisterte. Er lächelte verlegen und erwiderte:
»Ihre Liebenswürdigkeit übertreibt. Ich freue mich, den sichersten Hort englischer Dichter zu begrüßen.«
»Auch das ist Zukunftsmusik,« wehrte Murray der Schmeichelei. »Aber hoffen wir, daß wir beide vereint in kurzer Zeit an der Spitze der englischen Literatur marschieren. Ihr »Childe Harold« berechtigt zu den allergrößten Erwartungen. Er ist ein ganz neues Genre in der gesamten Weltliteratur.«
»O!« machte Byron und errötete vor Freude wie ein Mädchen.
»Doch,« beharrte Murray, »ich gehöre nicht zu den Verlegern, die nicht anerkennen, aus Furcht, der Autor könne seine Ansprüche ins Ungebührliche steigern.«
»Das brauchen Sie bei mir nicht zu befürchten,« ereiferte sich Byron, »ich freue mich, wenn ich etwas Gutes geleistet habe. Doch ich fürchte, Ihre Freundlichkeit überschätzt mein Gedicht.«
»Sie haben die Bescheidenheit des Genies,« nickte Murray zufrieden. »Auch das ist ein gutes Zeichen, daß Sie nicht wissen, wie Geniales Sie geschaffen haben. Ihr »Childe Harold« ist genial, wenn wir darunter die Schaffung neuer Werte verstehen. Gewiß, die Schilderung der Natur und ihre Wirkung auf den Menschen hat uns Rousseau schon gegeben, dem Sie im übrigen sehr verwandt sind.«
Byron nickte und freute sich über den scharfen Blick dieses kundigen Mannes, der ein in ihm tief verborgenes Bewußtsein seherhaft enthüllte.
»Ihre Vorläufer sind ferner Goethes »Werther« und Chateaubriands »René«.
»Ich kenne und liebe beide,« bestätigte Byron und fragte schalkhaft: »Ich möchte bei so vielen Ahnen dann aber wissen, inwiefern ich originell bin.«
»Das will ich Ihnen sagen, Mylord.« lächelte Murray. »Wie einst Goethe im »Werther« einem Zeitgefühl, so haben Sie einem Altersgefühl zum erstenmal in der Weltliteratur den unsterblichen Ausdruck verliehen.«
Der Dichter blickte erstaunt in das ernste Gesicht des eleganten Geschäftsmannes. Sinnend sprach der Verleger weiter:
»Dem verworrenen Gefühl des Alters zwischen 20 und 25 haben Sie Worte gegeben. Dem Selbstmordalter, wie man es wohl genannt hat. »Childe Harold« ist der Ewigteitstypus des jungen Menschen von 23 mit seiner Unausgeglichenheit der Kräfte, dieses Alters der Selbstbeobachtung und Selbstbespiegelung, in dem der junge Mensch sich so ungeheuer wichtig und so – sagen wir – mittelpunktmäßig erscheint, in dem die äußeren Erfolge mit der Sehnsucht in so krassem Mißverhältnis stehen, daß eine Rückwirkung des Unbefriedigtseins eintreten muß. Solch junger Mensch glaubt die Welt an einem Tage erobern zu müssen und –« er lächelte gut – »erobern zu können. Und rast seine gärenden Kräfte an dem Nächstliegenden, am Weibe, am Becher, am Spiel aus. Denn die große Aufgabe liegt nicht auf der Straße. Dieses Auseinanderklaffen von Wollen und Planen und Tun – Weltbeglücker, Menschheitseroberer und Dirnensöldling – das muß zum Ekel führen, zur Selbstaufgabe und andererseits wieder zur Verachtung der Außenwelt, die das Große, das in solch jungem Menschen gärt, nicht sieht und ihn nach seinen schmählichen Taten beurteilt. Diesen Alterstypus haben Sie für alle Zeiten geschaffen. Und das wird Ihr unauslöschliches Verdienst in der Weltliteratur bleiben.«
Byron war überrascht, erstaunt und beschämt. Er hatte, bei Gott, an alles dies nicht gedacht, als er in Janina aus einem inneren Drange heraus begonnen hatte, dieses Gedicht zu schreiben. Seine Empfindungen hatte er geschildert ohne weitschauende Absicht. Mit der ahnungslosen Kraft des Genies hatte er seine Gestalten geformt.
»Ich glaube,« sagte er jetzt unsicher, »Sie überschätzen mein Werk ungeheuer.«
Der Verleger schüttelte den kurzgeschorenen Kopf.
»Sie werden ja den Erfolg sehen. Aber verzeihen Sie, Mylord. Sie stehen ja noch immer. Dürfte ich Sie bitten, mit mir hinauf in den Salon zu kommen? Sie werden dort einige Kollegen finden.«
Er geleitete den Gast zu der Wendeltreppe am anderen Ende des Ladens.
»Gestatten Sie, daß ich vorangehe,« entschuldigte er und sprang die Stufen hinauf.
Oben öffnete sich ein geräumiger, vornehm ausgestatteter Saal, in dem sich alltäglich die Autoren des aufblühenden Verlags zu anregendem Gedankenaustausch zu versammeln pflegten. Jetzt, zu dieser frühen Nachmittagsstunde war es noch still in diesem debattegeweihten Raume. Nur zwei Herren waren zugegen. Ein soignierter Fünfziger ging eifrig redend auf und nieder, während ein starker, etwas jüngerer Herr in einem behaglichen Ledersessel saß, den gichtigen Fuß weit von sich streckte und mit verständigen Augen dem Sprecher folgte.
»Meine Herren!« rief Murray beim Eintritt, »darf ich Sie zu einem interessanten astronomischen Phänomen einladen, wie Sie es sonst nur durch das Riesenteleskop William Herschels beobachten können. Ein neuer Stern tritt in ihr Sehfeld. Hier ist er: Lord Byron.«
Und vorstellend zeigte er auf den Herrn im Sessel: »Lord Holland«, und auf den anderen weisend, »Herr Samuel Rogers«.
Lord Holland erhob sich sofort mühevoll aus seinem Stuhle, griff zu einer neben ihm stehenden Krücke und hinkte dem Dichter entgegen. Sein breites massiges Gesicht strahlte mild in Güte und Freundlichkeit. Rogers kniff die Augen zusammen, der spöttische Zug um seinen Mund vertiefte sich. Lord Holland streckte dem jungen Peersgenossen die Hand entgegen und sagte herzlich:
»Ich freue mich, Sie persönlich kennen zu lernen. Wir sprachen gerade von Ihnen. Murray hat uns die Druckbogen Ihres Gedichts gegeben. Wir sind entzückt, nicht wahr, Rogers?«
Rogers nickte. Um den mokanten Zug seines Mundes zum Trotz sagte er mit einer graziösen Bewegung seiner kleinen weißen Hand:
»Ich gestattete mir eben zu bemerken, daß der Dichter des »Childe Harold« mit einer Rosenknospe im Munde und mit einem Nachtigallenschlag im Herzen geboren sein muß.«
Byron errötete. Er dachte an die grobe Beschimpfung dieser beiden Männer in seiner Satire.
»Sie beschämen mich, meine Herren,« stammelte er, »beschämen mich tief. Sie bringen mir so viel Güte entgegen, während ich Sie in meinen »Englischen Barden und schottischen Rezensenten –«
»War brav,« lachte Rogers, »war brav. War prachtvoll, wie Sie um sich geschlagen haben. Hat Ihnen keiner von uns, die wir glauben, etwas zu können, übel genommen. Was, Lord Holland?«
»Nein, nein,« sagte der gütig und setzte sich leise ächzend wieder nieder. »Ein bißchen wehmütig bin ich damals geworden, als ich Ihre Satire las, daß ich selbst so weit über diesen Ungestüm der Jugend hinaus bin.«
Er fuhr sich sacht durch das dünne, stark ergraute Haar. Hier erschien der Kommis und rief Murray in den Laden
Jetzt lächelte Lord Holland sein stilles ergebenes Lächeln und sagte: »Neulich wurde bei uns über Sie gesprochen. Lady Holland ist sehr begierig, Sie kennen zu lernen. Sie hat Ihr Gedicht gelesen. Und ich, der es auch gelesen hat, ich kann Ihnen nur herzlich gratulieren.«
»Ich auch,« schloß sich Rogers mit seiner dünnen Stimme an. »Es ist neu und originell. Diese Idee des Reisetagebuchs, dieser kosmopolitische und exotische Anstrich –«
»– das wechselvolle Panorama,« vollendete Lord Holland, »die Schilderung dieser Gegenden, die noch wenige kennen –«
»– die kunterbunten Erlebnisse,« fügte Rogers hinzu.
»– die eingestreuten Gesänge,« lobte Lord Holland.
»Herrlich ist das Abschiedslied von der Heimat –«
»– und der nächtliche Kriegsgesang,« schwelgte Rogers.
»– und das Lied an Inez,« bedachte Lord Holland und verzog schmerzlich das Gesicht. Seine Begeisterung hatte eine zu plötzliche Bewegung mit seinem gichtigen Beine gemacht.
»– Und dann die Freiheitsliebe, die in dem Ganzen lebt,« sagte Rogers langsam. »Es hat selbst mich alten Mann aufgewühlt.«
Byron wußte nicht, was er auf dieses Lobesduett erwidern sollte. Er wurde jeder Antwort dadurch enthoben, daß es jetzt die Treppe heraufstampfte. Ein großer stattlicher Mann mit schönem offenen Gesicht trat ein und hinkte auf die Herren zu. Murray folgte.
»Hier ist die Überraschung.« wies der Verleger auf Byron.
»Darf ich die Herren bekannt machen? Lord Byron – ein freudiger Besuch aus Schottland – Herr Walter Scott.«
Byron zuckte zurück.
Doch der andere bot ihm freimütig die Hand und sagte mit breitem schottischen Akzent:
»Ich freue mich.«
»Ich schäme mich,« entgegnete Byron betreten. »Ich habe Sie damals wie ein Highwayräuber angefallen. Aber, meine Herren, das verspreche ich Ihnen, die neue Auflage der Satire, die gerade im Druck ist, wird unterdrückt werden.«
»Aber nicht doch!« wehrte Scott, der die beiden anderen Herren begrüßte.
Hier gab Rogers dem Gespräch eine andere Richtung.
»Sagen Sie, lieber Freund,« wandte er sich mit arglistigem Augenzwinkern an Scott, »was halten Sie von ›Waverley‹?«
Alle, außer Scott und Murray verbissen ein Lächeln. Denn jeder vermutete in Scott den Verfasser des kürzlich erschienenen Romans. Doch der schottische Hüne erwiderte kaltblütig:
»Ein ganz nettes Buch. Nichts Bedeutendes. Ich begreife den ungeheuren Erfolg nicht recht. Er wird wohl Murrays Geschicklichkeit zuzuschreiben sein.«
»O,« lehnte Murray das Lob ab, »es hat seine Qualitäten. Was halten Sie davon, Lord Holland?«
Lord Holland lehnte sich in seinen Sessel zurück.
»Ich habe gar kein Urteil darüber,« lächelte er.
»Ich weiß nur, daß mein Bibliothekar John Allan es eines Abends bei uns vorlas. Die Nacht verging, keiner dachte an sein Bett. Und nichts hat geschlafen als mein Podagra.«
»Ich beneide den Dichter,« sagte Scott firm.
»Ich glaube,« schmunzelte Rogers sarkastisch, »der Verfasser verdankt den größten Teil seines Erfolges seiner Anonymität.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Murray.
»Ich glaube es eben,« blieb Rogers bei seiner aufreizenden Versicherung.
»Kann schon sein,« gab Scott ruhig zu.
»Nein,« rief Byron heftig. »Ein solches Werk kann durch seine Namenlosigkeit weder gewinnen noch verlieren. Freilich kann ich keinen plausiblen Grund dafür finden, warum der Verfasser so streng sein Inkognito wahrt. Vielleicht fürchtet er, daß das regierende Haus mit »Waverley« nicht sehr zufrieden sein wird.«
»Dann wäre der Verfasser ein Feigling,« suchte Rogers Scott aus seiner Reserve herauszulocken.
Doch der Schotte tat, als höre er die bissige Bemerkung nicht.
»Die Gründe sind übrigens seine Sache,« fuhr Byron fort. »Ich als Leser finde den Roman prächtig und bedaure nur, daß der Verfasser die Erzählung nicht tiefer in die Revolutionszeit hineingeführt hat. Eine eingehendere Schilderung dieser großen Zeit aus dieser machtvollen Feder –«
Da verlor Scott im Poeteneifer die Maske.
»Ich hätte es ja getan!« rief er. »Aber –«
Rasch stieß Murray ihn an, doch es war zu spät, die Unachtsamkeit ungeschehen zu machen. Scott stockte, verwirrte sich. »Ich meine, wenn ich der Verfasser wäre – würde ich – hätte ich –«
»Lassen Sie,« lachte Rogers aus vollem Halse, »Sie sind erkannt!«
»Nein!« rief Murray, »es liegt wirklich ein Mißverständnis vor. Herr Scott meint –«
»Wir wissen, was er meint,« triumphierte Rogers. »Wir wissen Bescheid. Meine Herren, der Verfasser von Waverley, hoch, hoch, hoch!«
»Meine Herren,« der Schotte versuchte noch einmal sein Heil, »ich kann aus einem Mißverständnis nicht den Vorteil ziehen, Herrn Rogers Begeisterung für mich auszumünzen.«
Und der ihm peinlichen Szene ein rasches Ende bereitend, sagte er: »Ich muß nun leider fort. Auf Wiedersehen, meine Herren!«
Er verbeugte sich.
»Farewell, Verfasser von ›Waverley‹,« jubelte Rogers.
Mißmutig hinkte Scott davon; Murray begleitete ihn. Byron sah ihm ergriffen nach. Er empfand eine tiefe Verehrung für diesen Mann, der in seiner schlichten Größe ungenannt hinter seinem Werk zurücktreten wollte. Ein Heimatsgefühl zog ihn zu dem Schotten hin. Das Herz war ihm warm geworden in der Nähe dieses Mannes mit dem trauten Akzent der Hochlande, der ihn an die kaledonischen Berge und an die Zeit seiner schwärmerischen Einsamkeit in jenen Höhen gemahnte, die ihn über so vieles Ungemach seiner Kindheit getröstet hatte. Er sah in ihm einen Leidensgefährten, weil er an demselben körperlichen Gebrechen litt, wie er. Er stand und schaute dem Mann ergriffen nach.
Da konnte Rogers sich nicht enthalten, leise Lord Holland ins Ohr zu flüstern:
»Merkwürdig! Früher war es eine Eigentümlichkeit der großen Dichter, blind zu sein: Homer und Milton. Heute hinken sie.«
Lord Holland schüttelte mit einem Blick auf Byron warnend den Kopf und sagte laut:
»Lord Byron, eine Idee, die mir eben kommt. Interessieren Sie sich für Politik?«
Byron fuhr aus seinem Sinnen auf.
»Sehr,« antwortete er eifrig. »Ich habe die Absicht, mich bald auf die Politik zu werfen.«
»Das freut mich,« rief Holland, »Einen jungen Mann mit Ihrem Temperament können wir brauchen im Oberhaus. Dem Freiheitsenthusiasmus Ihres »Childe Harold« zufolge nehme ich an, daß Sie liberal sind.«
»Ja,« gestand Byron, Sie werden mich immer auf dem extremsten linken Flügel finden.«
»Ich bin, wie Sie wohl wissen,« sagte Holland, »der Führer der Whigpartei im Oberhause und freue mich daher, Sie auf unseren Banken begrüßen zu dürfen. Ich habe auch eine Gelegenheit bei der Hand, in der Sie Ihre Sporen verdienen können. Unsere reaktionäre Regierung hat einen Gesetzesantrag eingebracht, der die »Webstuhlbrecher« von Nottingham mit Todesstrafe belegt. Es gilt, diesem Antrage aufs schärfste zu opponieren.«
Byron stand da, bleich vor Erregung.
»Was haben Sie?« fragte Rogers. »Nehmen Sie etwa Partei gegen diese unglücklichen Arbeiter?«
»Ich,« stieß Byron hervor, »ich nehme den allergrößten Anteil an ihnen. Mein Schloß Newstead liegt ganz in der Nähe von Nottingham. Ich bin am Tage nach dem Aufruhr hinübergeritten, habe dieses furchtbare Elend der Leute gesehen. O, ich will opponieren! Ich freue mich, für diese armen verhungerten Teufel eine Lanze zu brechen.«
Da trat Murray wieder ein.
»Die Sitzung ist am 27. Februar,« erklärte Holland. »Ich werde mich sorgfältig vorbereiten, gelobte der junge Politiker.
»Ah,« Murray begriff sofort. »Sie wollen am 27. Februar im Oberhaus reden? Das ist ausgezeichnet. Ihr Buch erscheint drei Tage später, das gibt eine neue ausgezeichnete »Reklame.«
Byrons Augen blickten plötzlich scharf wie Dolche drein.
»Ich mag diese unanständige Reklame nicht,« begehrte er auf. »Ich habe es Herrn Dallas schon wiederholt gesagt.«
Doch Murray belehrte lächelnd: »Eine unanständige Reklame ist nicht gemacht worden, Mylord. Die Herren werden mir bestätigen, daß es allgemein üblich ist, einem Buch einen guten Empfang vorzubereiten.«
»Natürlich,« rief Rogers, »seien Sie nicht zu vornehm, mein lieber Lord. Wenn Sie dem Publikum einen leckeren Schmaus bereiten wollen, müssen Sie es eben zu Tische laden.«
Der 27. Februar 1812 war ein »großer Tag« im Oberhause. Jedermann wußte, daß heute der junge Dichter des demnächst erscheinenden sensationellen Gedichtes seine Jungfernrede halten würde. Die Galerien summten. Die schönsten Damen der schönsten Aristokratie der Welt bekränzten die politische Arena. Hoheitsvoll thronte die pompöse Herzogin von Devonshire neben der lieblichen Lady Francis Webster; Lady Caroline Lamb fieberte mit ihrem blonden krausen Haar und krausen Sinn unter den edelsteingeschmückten Vertreterinnen der großen Häuser Melbourne und Jersey; die herbe Herrin von Holland House prüfte kritisch hinab in die Feierlichkeit des Saales. Und alle die anderen Blumen des üppigen Beetes des Londoner Highlife entfalteten ihre prangende Pracht.
Hundert Operngläser richteten sich auf den jungen Mann dort unten, von dem, wie ganz London wußte, Scott vor einigen Tagen gesagt hatte: »Ich glaube, ich habe die besten Dichter meiner Zeit und meines Landes gesehen. Die schönsten Augen hatte Burns, aber keiner außer Byron sah genau so aus, wie man sich ›den Dichter‹ denkt. Seine Bilder geben keine rechte Vorstellung von ihm. Das Licht ist wohl da, aber es brennt nicht. Byrons Gesicht ist etwas, wovon man träumen könnte.«
Die edlen Damen dachten an all die Gefahren, die der Dichter auf seiner Reise nach »Afrika« bestanden, dachten mit lüsternem Gruseln an all die Harems, die er gesprengt, an all die Odalisken, die er mit verwegenem Mute erobert hatte.
Und unten im Halbdunkel des Saales saßen die Peers von England, ein stolzes Parterre vornehmer, still gefaßter Männerwürde.
Und der »neue Mann« des Hauses sprach. Er sprach nicht gut. Seine Stimme hatte keinen sonoren Klang. Er war kein Redner. Doch man fühlte die Begeisterung, die in seinen Worten lohte, und das Herz, das in seinen Gedanken schlug.
»Wenn wir hören,« rief er in das aufhorchende Schweigen hinein, »daß diese Männer sich zur Vernichtung ihrer eigenen Unterhaltsmittel verschworen haben, können wir da vergessen, daß die jammervolle politische Lage und der Kriegszustand der letzten 18 Jahre es sind, die den Wohlstand der Arbeiter, Ihren eigenen Wohlstand, Mylords, und den der Nation vernichtet haben? Kann es uns wundernehmen, wenn in Zeiten wie den unsrigen, wo Bankrott, Diebstahl und offene Betrügereien in den Ständen, die nicht sehr tief unter uns stehen, an der Tagesordnung sind – wenn da die niedrigste, wenngleich einst mächtigste Klasse der Gesellschaft in solchen bösen Zeiten einmal ihre Pflicht vergessen hat? Während aber der hochstehende Gesetzesanträger Mittel hat, dem Gesetz zu trotzen, sollen wir neue schwere Strafarten für die unglücklichen Arbeiter erfinden, die der Hunger zum Verbrechen getrieben hat?«
Der Präsident des Hauses, Lordkanzler Eldon, machte eine nervöse Bewegung. Doch ruhig, mit einem Blick zu der Schönheit der Galerie empor, fuhr Byron fort:
»Ich habe den Kriegsschauplatz der spanischen Halbinsel durchwandert, ich war in mehreren der am härtesten unterdrückten Provinzen der Türkei« – eine Bewegung der Spannung rieselte durch die Reihen der Damen – »aber niemals, auch nicht unter der despotischen türkischen Regierung habe ich ein so jammervolles Elend angetroffen, wie seit meiner Rückkehr hier, im Herzen eines christlichen Landes.«
Ein Murren lief durch die Reihen der Rechten.
»Und welches Mittel wollen Sie anwenden? Das große Allheilmittel, das unfehlbare Rezept aller Staatsärzte – von den Tagen Drakons bis auf unsere Zeit. Erst fühlen wir dem Kranken den Puls und schütteln leise den Kopf. Dann verordnen wir gewöhnlich warmes Wasser und einen tüchtigen Aderlaß – nämlich das warme Wasser ihrer flauen Politik und die Aderlaßlanzetten der Soldateska. Und dann müssen natürlich die Zuckungen mit Tod endigen, dem sicheren Ergebnis der Heilmethode aller politischen Blutärzte.«
Von den Bänken der Linken erhob sich ein schallendes Beifallsgelächter.
»Und wie wollen Sie denn dieses Gesetz ausführen? Wollen Sie auf jedem Felsen einen Galgen errichten und die Menschen daran hängen wie die Vogelscheuchen? Oder wollen Sie die Bevölkerung dezimieren? Die ganze Bewohnerschaft vor die Kriegsgerichte stellen, den Sherwood Forst entvölkern und brach legen als ein angenehmes Geschenk für die Krone, als ein königliches Jagdrevier?«
Die Rechte tobte, und Byron schrie in den Lärm hinein:
»Sind das die Mittel, ein verhungerndes, verzweifelndes Volk zu retten?«
Und er schloß mit den Worten:
»Wenn es sich sonst darum handelt, eine Tat der Befreiung und der Hilfe zu vollenden, da zaudern und überlegen Sie. Da wägen und schachern Sie mit den Menschenseelen. Ein Todesgesetz aber wollen Sie übers Knie brechen.«
Allem Brauch zuwider prasselte silberheller Beifall von den Galerien hernieder. Die Parteigenossen der Linken umdrängten ihren Redner, schüttelten ihm dankbar die Hände. Lord Granville versicherte, sein Periodenbau erinnere an den großen Parlamentsredner Burke, Lord Holland prophezeite ihm, er würde einst der beste Sprecher des Hauses werden und der witzige Sir Francis Burdett schwor, Byrons Rede wäre » the best speech by a Lord, since the Lord knows when«.
Still lächelnd stand Byron inmitten dieses Beifallschwalles, und die Schwingen des Ruhms berührten zum erstenmal sein junges Haupt.
Drei Tage später, am ersten März, harrten in früher Morgenstunde die Bediensteten aller großen Häuser der Londoner Aristokratie in ernster Lakaienwürde der Eröffnung des Ladens des Verlegers John Murray. Sie verloren einen Teil ihres hoheitsvollen Ernstes, als die hübschen Zofen der reichen Bürgerhäuser sich zu ihnen gesellten. Da knüpften sich zarte Bande. Als sich endlich die Tür des Ladens öffnete, ließen die »Herren« den »Damen« ritterlich den Vortritt.
Etwas später erschienen die jungen geschniegelten Kaufleute, die auf dem Wege ins Geschäft rasch eintraten, um mit gemacht verächtlicher Miene »dieses Buch« zu erstehen, von dem die Zeitungen so viel erzählt hätten. Dann kamen ältere eilige Ehemänner und verlangten mit verdrießlicher Miene das Buch, ohne das sie heute abend bei Strafe der Ungnade nicht nach Hause kehren durften.
Am Nachmittag herrschte ein lebengefährdendes Gedränge in dem langgestreckten Lokal. Da nahten unter Führung des Beaus Brummel die Dandies von Bondstreet, die Hosen nach der neuesten Mode in der Taille eingerafft, daß sie aussahen wie Unterröcke, mit dem Redingote, der, auf Taille gearbeitet, sich glockenförmig über die Hüften bauschte, und erlegten mit geziert manikürten Fingern die 19 Schillings, die das neue Buch kostete. Dann zogen sie, den Quartband wie ein Schild vor sich hertragend, durch den Hyde Park, damit jeder wußte, daß sie auch in literarischen Dingen auf der Höhe der Zeit wandelten. Den ganzen Tag über war Murrays Laden ein brummender Bienenstock.
Nach drei Tagen war die erste Auflage vergriffen. Eine zweite, dritte, vierte, fünfte folgte. In diesen Tagen des März 1812 wurde in den Boudoirs von nichts anderem gesprochen als von den Stanzen des »Childe Harold«. In den Clubs wurde nichts anderes debattiert. Die Zeitungen wurden emsig durchforscht, die Reviews sehnsuchtsvoll erwartet, die Lobeshymnen der Blätter triumphierend als eigene Meinung wiedergegeben. Das Heft der Edinburgh Review traf endlich in London ein. Es hatte sich klüglich nach dem Winde gedreht. Die überschwängliche Lobespreisung Byrons begann mit zurückhaltender Wärme.
»Lord Byron hat sich wundersam gebessert seit seinem letzten Erscheinen vor unserem Tribunal. Dieses Werk ist trotz seines affektierten Titels ein Beweis seines sehr beträchtlichen Könnens.«
Und dann blies der Kritiker in das allgemeine Tuthorn der Begeisterung. Noch im Monat März war der junge Dichter der aktuellste Mann Englands, der berühmteste Poet seiner Tage, dem man schon heute den Platz neben Shakespeare einräumte, den er sich erst durch seine späteren Werke erringen sollte. Er übertrieb nicht, als er eines Tages lachend zu seinem Freund Hobhouse sagte: »Als ich heute morgen erwachte, bemerkte ich, daß ich berühmt bin.«
Ja, der Ruhm war gekommen und mit ihm das Geleit des künstlerischen Erfolges aller Zeiten. Es nahte das traurige Heer der Erfolglosen der Literatur. Es hagelte Bittschriften um materielle Unterstützung, es wetterten Hunderte von Manuskripten auf den »berühmten« Kollegen hernieder mit dem flehenden Gesuch, sie an Zeitungen und Verleger zu empfehlen. Es klopfte zu jeder Stunde mit zagem Finger an seine Tür und ein bleiches Gesicht nach dem andern erschien im Türrahmen mit tiefgekrümmtem Rücken und zitterndem Bitten. Es regnete Einladungen auf den Günstling des Ruhmes herein. Die vornehme Gesellschaft Londons riß sich um diesen Prinzen der Dichtung. Jedes vornehme Haus wollte seine Gastereien mit diesem blinkenden Edelstein schmücken. – Und es nahten die Frauen. Ein Troß von Lakaien erwartete täglich den jungen Mann vor der Tür seines Hotels mit blauen und rosa duftenden Brieflein von zarter Hand. Es schlich an seine Schlafzimmertür. Jede Frau, die sich in ihrer Ehe nicht verstanden fühlte, jede Matrone, die ihr letztes armseliges Blühen verflattern sah, jeder Jungfrau ungestillte Sehnsucht ersah den jungen Dichter zum Gott ihres Glückes. Und alle wollten sie seine Lasterhaftigkeit entsühnen mit ihrem großen reinen Triebe und die geheime unglückliche Liebe, von der sein Gedicht erzählte, hinwegtrösten aus seinem kummervollen Herzen.
Und Byron gab und Byron nahm. Er gab den unglücklichen Kollegen von der Feder alles hin, was er von den Wucherern erhielt, die jetzt seinen jungen Ruhm in klingenden Kredit ummünzten. Er gab Empfehlungen, las unzählige Manuskripte. Er nahm die Einladungen an wie er die Frauen annahm. Er vergaß seinen erkünstelten Weltschmerz und seine echte Schwermut, er vergaß Mary Chaworth und seine Schüchternheit, er stürzte sich mit der begehrlichen Kraft seiner 23 in den lockenden Zauberstrudel. Er sprang kopfüber hinein in das Wallen des Londoner Highlife, das in diesem sorgenvollen Anfang des 19. Jahrhunderts in Leichtfertigkeit und Üppigkeit schwelgte wie in den flotten Tagen Karls II. Er machte den Lebensinhalt dieser Aristokratie zu dem Inhalt seines Lebens. Er ging wie seine Gastgeber auf in Gesellschaften und Bällen, in Theaterbesuch, in Spiel und Schulden, Verführungen und tausend Liebeshändeln. Er wurde der Held aller Nichtigkeiten, wie er der Held des Tages wurde. Er wurde der Mittelpunkt jedes Salons, das kostbarste Prunkstück jedes Boudoirs, der Schatz manches verschwiegenen Schlafgemaches. Er wurde der Löwe der Londoner Saison von 1812.
O ja, die Gesellschaft durfte sich seiner Empfänglichkeit für ihre Narreteien freuen. Doch einer freute sich nicht. Das war Herr Dallas.
Eines Tages gegen Mittag trat er bei Byron ein. Durch den kühlen Empfang, der ihm wurde, ließ er sich nicht einschüchtern. Er setzte sich großmeisterlich nieder, rieb sich die Hände und fragte:
»Nun, habe ich zu viel gesagt? Sind Sie mit Ihrem Erfolg zufrieden?«
»Ja,« antwortete Byron obenhin. »Aber ich glaube, Sie können auch zufrieden sein.«
»Wieso?« fragte Herr Dallas und zog ein argloses Gesicht.
»Nun, 500 Guineas sind ein ganz schöner Verdienst, scheint mir.«
Herr Dallas polierte unruhig die blanken Kniestücke seiner Hosen.
»Nun, nun,« murmelte er, »ich habe doch auch vieles getan. Ja, eigentlich alles.«
Und von dem peinlichen Thema abspringend, stand er auf und schulmeisterte:
»Aber jetzt, Mylord, jetzt heißt es arbeiten. Jetzt müssen die neuen Dichtungen Schlag auf Schlag erscheinen. Jetzt gilt es, die Konjunktur auszunutzen. Ihr nächstes Werk wird am ersten Tage in zehntausend Exemplaren abgehen. Haben Sie schon irgendeine neue Idee? Das Beste wäre, Sie schrieben noch ein paar neue Gesänge »Childe Harold«.
Byron kreuzte gelassen die Arme über der Brust. »Heute und morgen werde ich wohl nicht dazu kommen,« lächelte er zynisch, »ein neues Buch zu schreiben. Heut abend bin ich in Holland House, morgen bei Rogers und übermorgen wird sich auch kaum Gelegenheit finden, denn da bin ich bei der Herzogin von Devonshire, den Tag darauf bei den Jerseys, am Freitag bei Lord Oxford, Sonnabend im Melbourne House, Sonntag –«
Herr Dallas hob beschwörend die Rechte.
»Genug, genug, ich höre jetzt mit eigenen Ohren, was man mir schon berichtet hat. Also Holland House hat Sie doch schon gepackt. Erinnern Sie sich noch jenes Tages vor drei Jahren, als ich Ihnen diese Einladung weissagte? Ich bedaure sehr, mein lieber Lord, daß Sie es nicht anders machen, als alle die anderen Literaten. Wenn ich mir als Kollege und naher Verwandter einen Rat erlauben darf, so geht der dahin: seien Sie origineller. Ziehen Sie sich von diesem Taumel zurück, der Ihre beste Kraft verschlingt. Nutzen Sie die Konjunktur aus –«
Byron lächelte noch immer.
»Ihre Ratschläge, mein lieber Herr Dallas, haben heute nicht mehr ganz die Kraft, wie vor drei Jahren.«
»Weshalb?« fragte Dallas und seine Pupillen irrten unruhig umher. »Habe ich Sie jemals schlecht beraten?«
»Ja, das haben Sie, mein lieber Verwandter.«
»Wer sagt das?« Dallas nahm seine Zuflucht zur Dreistigkeit. »Das sagen nicht Sie, Mylord. Das sagt irgendein Verleumder, der sich bei Ihnen einschmeicheln will. Das sagt Herr Rogers oder Lord Holland.«
»Stimmt,« lächelte Byron wieder. »Herr Rogers hat mich über Ihre Verwandtenliebe aufgeklärt. Ich weiß jetzt, daß jener hübsche Schein, den ich Ihnen damals in Chapter Coffee House ausgestellt habe, aus mehreren Gründen ungültig ist.«
»Was?« Dallas erbleichte. »Ja, mein lieber Verwandter, ich weiß heute, daß kein englischer Richter ihn als verbindlich anerkennen würde, weil sein Inhalt gegen die Moral verstößt. Sodann aber haben Sie trotz aller Klugheit eine Kleinigkeit vergessen, nämlich die, daß ich damals unmündig war.«
Herr Dallas fühlte den Boden unter seinen Füßen schwanken. Dem herrlichen Lebensgebäude, das er so fürsorglich aufgeführt hatte, drohte jäher Einsturz. Und gerade jetzt, da er mit dem Ruhm seines Schützlings die Räume fürstlich ausstatten wollte!
»Ich habe meinen Lohn nicht umsonst verlangt,« beteuerte er biedermännisch. »Ich habe für Sie Tag und Nacht gearbeitet. Ich habe mich für Sie aufgerieben–«
»Lassen Sie,« schnitt Byron kurz ab. »Sie hätten sich dafür gewisse Prozente meines Honorars verschreiben lassen können.«
»Aber,« rief Dallas, »Sie haben doch ausdrücklich betont, daß es gegen Ihre Standesehre verstieße, Honorar für Ihre Dichtungen anzunehmen.«
»Daran erkennen Sie am besten, wie unmündig ich gefaselt habe,« gab Byron zurück. »Ich werde also für die Zukunft Ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen.«
Herr Dallas rang nach Fassung.
»Mylord, mein werter Verwandter –«
Da klopfte es, ein Kellner überbrachte ein violettes Brieflein.
»Ein Page hat es gebracht, Eure Lordschaft,« erläuterte er und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er hatte schon über 200 solcher Billette befördert.
»Der Page wartet auf Antwort,« fügte er hinzu. Byron öffnete das Schreiben und las:
»Lieber »Childe Harold«!
Die Schreiberin dieses Briefes würde überglücklich sein, Sie kennen zu lernen und ihr Herz als Balsam für die Wunden Ihres Gemütes hinzugeben. Sie ist selbst der Page, der dieses Schreiben überbringt. Darf er Ihnen seine Liebe zu Füßen legen?«
»Der Page soll kommen,« gebot Byron dem Kellner. Und zu Dallas gewendet, sagte er:
»Sie sehen, mein lieber Verwandter, ich bin beschäftigt. Leben Sie also wohl, ich sage nicht auf Wiedersehen.«
Dallas suchte bestürzt nach seinem Seidenhut und den Handschuhen.
»Das ist nicht Ihr Ernst,« murmelte er. »das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie sind heut nicht bei guter Laune.«
»O doch,« versicherte Byron, »bei ausgezeichneter.«
»Ich werde gleichwohl versuchen, Eure Lordschaft in einigen Tagen, wenn Eure Lordschaft weniger beschäftigt sind, von dem Unrecht zu überzeugen, das Sie mir heut antun.«
»Ich bin jetzt immer so beschäftigt,« spottete Byron.
Da klopfte es zaghaft an die Tür. Byron rief: »Herein«. Ein hübscher Page trat ins Zimmer.
Dallas machte eine tiefe Verbeugung, rief mit Nachdruck:
»Auf Wiedersehen, mein verehrter Verwandter,« warf einen wütenden Blick auf das erregungsbleiche Gesicht des »Pagen« und empfahl sich.
Byron aber ergoß den »Balsam« des Pagenherzens über »die Wunden seines Gemütes«.