Heinrich Schliemann
Ithaka der Peloponnes und Troja
Heinrich Schliemann

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Neuntes Kapitel

Exoge. – Ueppige Vegetation. – Allgemeiner Wohlstand. – Dorf-Akademie. – Studien der Zöglinge. – Warum der Lehrer wider seinen Willen verhindert ist, das Altgriechische zu lehren. – Unterhaltung in italienischer Sprache mit dem Hufschmied, welcher seine Frau Penelope und seine Söhne Odysseus und Telemach vorstellt. – Herzlicher Abschied. – Abermals Vorlesung aus Homer zu Leuke und rührender Abschied. – Rückkehr nach Vathy. – Letztes Lebewohl.

Unser Weg führte uns rings um das Thal von Polis herum und dann durch einen Theil des Dorfes Stavros. Nach einer Stunde raschen Marsches kamen wir in Exoge an, das im Norden der Insel auf dem Kamme eines sehr steilen Berges, 100 Meter über dem Meeresspiegel, liegt. Dieses Dorf, welches 1200 Einwohner hat, ist das schönste und reichste der Insel; es besitzt eines der fruchtbarsten Thäler, das sich auf 8 Kilometer Länge und 4 Kilometer Breite längs des Meeres ausdehnt, mit schönen Weinbergen und den prächtigsten Pflanzungen von Orangen-, Citronen- und Mandelbäumen, welche ich bis jetzt in Griechenland gesehen habe. Das Thal ist reich an Quellen, während es in Exoge keine giebt; daher muss aller Bedarf an Wasser von Frauen in Krügen, die sie auf dem Kopfe tragen, oder von Eseln in Fässern hinaufgeschafft werden.

Die meisten Einwohner sind Seeleute, die übrigen sind Handwerker, Kaufleute oder Ackerbauer. Das Dorf hat drei Kirchen und ein Kloster am Fusse des Berges.

Von Exoge aus erfreut man sich einer ausserordentlich schönen Aussicht, besonders auf der Nordseite, wo sich das herrliche Thal mit seiner üppigen Vegetation ausbreitet, dann das prachtvolle, dunkelblaue Meer, in welchem man in geringer Entfernung die schöne Insel Santa-Maura oder Leukadia mit dem berühmten Sappho-Sprung erblickt.

Exoge ist nicht reich, zeigt aber im allgemeinen eine gewisse Behäbigkeit. Jeder hat sein Häuschen nebst Garten und Weinberg, deren Ertrag für seine Bedürfnisse ausreicht. Vergeblich würde man sich im Dorfe nach jemand umsehen, der ein Kapital von 10,000 Franken besässe, aber ebensowenig trifft man Bettler. Wie überall auf Ithaka verheirathet man sich auch hier in Exoge sehr jung, und nüchtern und mässig aus Gewohnheit scheint man gar nicht zu wissen, dass Nüchternheit und Mässigkeit Tugenden sind.

Um Mittag während der grössten Hitze, zu welcher man im Orient zu ruhen gewohnt ist, kam ich im Dorfe an. In Ermangelung einer Herberge kehrte ich in einem Krämerladen ein. Ich glaubte unbemerkt geblieben zu sein; aber man musste mich doch gesehen haben. Die Nachricht von der Ankunft eines Fremden verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorfe und in weniger als zehn Minuten drängten sich eine Menge Menschen in und vor dem Hause, wo ich meinen Aufenthalt genommen hatte. Als man hörte, dass mein Besuch auf Ithaka archäologische Forschungen zum Zweck habe, so empfing man mich mit grosser Sympathie und überhäufte mich mit Anerbietungen uneigennütziger Dienste. Da indess alle vorhandenen Alterthümer sich auf drei Kirchen beschränkten, die nicht älter als hundert Jahre sein mochten, so schenkte ich ihnen keine weitere Aufmerksamkeit.

Dagegen hatte ich Verlangen, die Schule des Dorfes zu besuchen. Eine grosse Menschenmenge, wohl die ganze Einwohnerschaft, geleitete mich dahin. Der Schulmeister, Georgios Lekatsas, empfing mich im Namen der Dorf-Akademie und beeilte sich, seine Schüler, 25 an Zahl, zu versammeln, um mir ihre Gelehrsamkeit zu zeigen. Er liess sie lesen, zeigte mir ihre Schreibebücher, und ich war mit ihren Studien zufrieden. Der Lehrer unterrichtet sie nur im Schreiben und Lesen; das will aber schon viel sagen, wenn man den ausserordentlich niedrigen Bildungsgrad der Bewohner Ithaka's bedenkt. – Er versicherte mir, er würde sich glücklich schätzen, wenn er seinen Schülern altgriechisch lehren könnte, leider aber verstehe er nicht einmal die ersten Anfangsgründe dieser Sprache. Aus seinen Fragen ersah ich, dass er eine oberflächliche Kenntniss der Geographie besass, aber viel zu wenig, um sie seinen Zöglingen lehren zu können.

Ich unterhielt mich noch mit dem Schulmeister, als ich von einem früheren Matrosen italienisch angeredet wurde, welcher, aus Sorrento bei Neapel gebürtig, sich vor 20 Jahren in Exoge niedergelassen, eine Landestochter geheirathet hat und das Hufschmiedehandwerk betrieb.

Er gab mir einen kurzen Bericht seiner weiten Reisen, sowie der Gefahren und Schiffbrüche, aus denen er oft nur wie durch ein Wunder entkommen war, und stellte mir seine Frau, Namens Penelope, und seine beiden Söhne vor, von welchen der ältere Odysseus und der jüngere Telemach hiess.

Ich pries ihn glücklich, dass er, im Gegensatz zu tausend Andern, durch das Unglück weise geworden war; dass er, fern von Gefahren, Stürmen und Klippen, seinen friedlichen Wohnsitz in der herrlichsten und malerischsten Lage der interessantesten und berühmtesten Insel unter dem liebenswürdigsten und tugendhaftesten Volke aufgeschlagen und, um sein Glück voll zu machen, der Himmel ihm eine reizende Frau, ein wahres Muster aller Tugenden, geschenkt hatte, und drückte ihm zugleich meine Freude über die Bewunderung aus, welche er für die Helden dieser glorreichen Insel, seines zweiten Vaterlandes, an den Tag lege – eine Bewunderung, die er durch nichts besser habe beweisen können, als indem er seinen Kindern jene berühmten Namen gab. Bei dieser Gelegenheit sprach ich auf Ithaka zum ersten Male eine andere Sprache als die griechische.

Mit vieler Mühe brachte ich es endlich dahin, um halb drei Uhr Nachmittags abreisen zu können. Die ganze Bevölkerung des Dorfes begleitete mich bis an den Fuss des Berges, wo jeder mir die Hand drückte und ausrief: Εἰς ϰαλὴν ἀντάμωσιν (auf glückliches Wiedersehen).

Ich eilte, nach Vathy zurückzukehren, hatte aber neuen Aufenthalt in Leuke, wo das ganze Dorf mich unter der grossen Platane erwartete und durchaus bis auf den folgenden Tag zurückhalten wollte. Ich erklärte den braven Leuten, dass ich mit grösster Freude bleiben würde, wenn ich könnte; aber es wäre schon halb vier Uhr Nachmittags; ich hätte noch vier Stunden Weges bis Vathy, das Dampfschiff führe zehn Uhr ab und ich müsste meine Sachen noch einpacken. Endlich willigte man ein, bestand aber darauf, dass ich vorher noch eine Stelle aus Homer vorlesen sollte. Ich gab nach und übersetzte in Eile die schönen Verse des 23. Gesanges, wo Penelope ihren Gemahl daran wieder erkennt, dass er eine genaue Beschreibung des Ehebettes giebt, welches er selbst aus dem Stamme eines Oelbaums gezimmert hatte. Hierauf trennten wir uns, aber nicht ohne lebhafte Rührung auf beiden Seiten; jeder nahm von mir Abschied, indem er mir die Hand drückte, mich küsste und leise sagte: Χαῖρε, φίλε, εἰς ϰαλὴν ἀντάμωσιν (lebe wohl, Freund, auf glückliches Wiedersehen!)

Dieselbe Scene wiederholte sich in dem kleinen Dorfe St.-Johann, von wo ich jedoch loskam, ohne erst aus Homer vorlesen zu müssen.

Ich beschleunigte meine Reise, so viel es die Kräfte des Pferdes und der Zustand der Landstrasse erlaubten, und kam um 8 Uhr Abends in Vathy an, wo ich schleunigst meine Sachen zusammenpackte.

Aber kaum hatte ich damit begonnen, so traf ich auf neue Hindernisse, denn mein Zimmer wurde von allen den interessanten und liebenswürdigen Personen förmlich belagert, deren Bekanntschaft zu machen ich seit meiner Ankunft das Glück gehabt hatte. Unter ihnen befand sich der Eigenthümer der vier Hunde, welche mich beinahe zerrissen hätten, und natürlich auch der geistreiche und liebenswürdige Müller Asproieraka, der am Abend meiner Ankunft, als er mit mir zu Fuss dem mit meinem Gepäck beladenen Esel folgte, mit wunderbarer Geläufigkeit mir den Hauptinhalt der 24 Gesänge der Odyssee hererzählt hatte.

Ich liess einige Liter Wein kommen, stiess mit allen auf ein glückliches Wiedersehen an und warf dann meine Sachen bunt durcheinander in die Koffer, in der Hoffnung, an Bord des Dampfschiffs Ordnung hineinzubringen. Der geschwätzige Müller trug mein Gepäck auf seinen starken Schultern in ein Boot; ich nahm herzlich von Allen Abschied und begab mich an Bord des Dampfers Ἀθῆναι, der einige Minuten später abfuhr.

Mit lebhafter Rührung verliess ich Ithaka; ich hatte die Insel schon lange aus dem Gesicht verloren, als meine Augen noch immer in der Richtung nach ihr ausschauten. Nie in meinem Leben werde ich die neun glücklichen Tage vergessen, welche ich unter diesem biedern, liebenswürdigen und tugendhaften Volke verlebt habe.


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