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Neuntes Kapitel.
Allgemeine Freude im Dorfe

Die Frau von Waldheim hatte es nicht sogleich bekannt werden lassen, daß der fremde Jüngling, der sich auf ihrem Schlosse befand, ihr Sohn sey; sie wollte sich ihres Glückes einige Tage im Stillen ungestört freuen. Allein der Kutscher, der den alten Herrn und dessen Reisegefährten herbeigeführt und seine Pferde unten im Wirthshause des Dorfes eingestellt hatte, plauderte Alles aus. Als er Abends die Kutsche wusch und die Pferde tränkte, kamen mehrere Leute aus dem Dorfe, die eben Feierabend gemacht hatten, herbei und fragten, wem die Kutsche gehöre? Denn eine fremde Kutsche war etwas Seltenes im Dorfe. Der Kutscher sagte: »Ich habe den Herrn Pfarrer hieher gefahren, der euren jungen gnädigen Herrn erzogen hat.« »Ei was,« riefen die Leute, »der junge Herr ist ja als ein Kind ertrunken!« »Nein,« sprach der Kutscher, »er lebt noch, er ist droben auf dem Schlosse. Er wurde von dem Manne, der bei dem Herrn Pfarrer in der Kutsche saß, aus dem Wasser gezogen; sonst wäre er freilich ertrunken. Ich bin des Herrn Pfarrers Knecht, und habe euren jungen Herrn, als er noch klein war, viel hundert Mal auf dem alten Schimmel, den ihr da stehen sehet, mit auf den Acker oder auf die Wiese reiten lassen. Der Karl ist aber auch ein recht braver, lieber, junger Herr, und er hat auf mich, seinen alten Hans, immer recht viel gehalten! Ihr werdet Freude an ihm haben, und er wird euch zum Segen seyn.«

Die Nachricht, der Baron Karl, der droben auf dem Schlosse geboren und in der Pfarrkirche zu Waldheim getauft worden, und den man schon so lange für todt gehalten, sey wieder gefunden, verbreitete sich sogleich durch das ganze Dorf. »Was?« sagten die Leute zu einander, »das junge Herrlein, das wir unzählige Mal' als ein liebliches Kind auf den Armen der gnädigen Frau gesehen haben, sollte noch am Leben seyn? Das können wir kaum glauben. Wir müssen uns mit unsern eigenen Augen davon überzeugen! Wir wollen ihn sehen.« Alles im Dorfe, Jung und Alt, lief voll Freuden dem Schlosse zu. Da die Leute aber die Herrschaft auf der Bank unter den Kastanienbäumen erblickten, blieben sie in einiger Entfernung stehen. Es sammelte sich ein dichtgedrängter Kreis von Vätern, Müttern und Kindern, ohne daß die Herrschaft und die übrige Gesellschaft in ihrer großen Freude es sogleich in Acht nahmen.

Die Frau von Waldheim bemerkte es zuerst und fragte: »Was wollen denn die vielen Leute?« Die Köchin, die zum zweiten Male heißes Wasser zum Thee brachte, weil die Gesellschaft das erstere unbenützt hatte kalt werden lassen, sagte: »Die Leute möchten gern den jungen gnädigen Herrn sehen; sie haben es den Augenblick erst erfahren, daß er da sey.«

Der würdige Pfarrer sprach: »Das ist schön! Das gefällt mir von den Leuten! Erlauben Sie, gnädige Frau, daß ich den wackern Leuten meinen Pflegesohn als ihren künftigen Gutsherrn vorstelle, und ihnen einige Worte an das Herz rede.« Der edle Greis nahm gerührt sein schwarzes Sammetkäppchen von seinem ehrwürdigen schneeweißen Haupte, stand auf, trat etwas vorwärts, blickte mit Thränen im Auge zum Himmel und fing dann ganz begeistert an zu reden:

»Ihr Aeltern und Kinder, Ihr Väter und Mütter, Söhne und Töchter, tretet näher, und sehet und höret, was Gott Eurer gnädigen Herrschaft und auch Euch für eine große Freude bereitet hat!«

»Gott, ohne dessen Wissen, kein Sperling vom Dache fällt, und der die Haare unsers Hauptes gezählt hat, ist wunderbar in seinen Wegen und weiß Alles weislich zu fügen. Er, der Gott der Wittwen und Waisen, der Vater aller Leidenden und Bedrängten, lebt noch, und nimmt sich ihrer stets, und oft so wunderbar an, daß wir es deutlich mit Augen sehen und gleichsam mit Händen greifen können. Nicht das geringste Gute läßt Er, der reiche Vergelter, unbelohnt, und belohnt es oft schon hier auf Erden auf eine herrliche, göttlichschöne Weise.«

Der würdige Pfarrer erzählte nun die vorzüglichsten Begebenheiten aus Karls Geschichte, die seinen Zuhörern noch unbekannt war, und fuhr dann weiter fort:

»Seht, so herrlich belohnte Gott Eure edle gnädige Frau für ihre menschenfreundliche Güte, mit der sie sich der armen, kranken Rosalie, die sich für eine Wittwe hielt und ihren Mann als todt beweinte, angenommen hat! So schön vergalt Er ihr, dieser wahrhaft gnädigen Frau, die Barmherzigkeit, die sie Rosaliens Tochter, der armen Christine, erwiesen hat! Gott gewährte ihr die größte Freude, die ihr in ihrem eigenen Wittwenstande zu Theil werden konnte, und ließ sie ihren eigenen geliebten Sohn wieder finden!

Reichlich segnete Gott Fräulein Emilien hier für ihr Mitleid gegen ein armes Mädchen und für ihre freundliche Güte, die nichts von Stolz weiß. Sie begegnete der armen Christine so freundlich und liebreich, als wäre Christine ihre eigene Schwester – und Gott machte dem guten Fräulein dafür die unerwartete Freude, ihren eigenen lieben Bruder wieder zu finden.

Herrlich belohnte Gott die arme Rosalie, daß sie die Leiden ihrer Krankheit und ihre Armuth so geduldig ertrug, ihre Tochter so gut erzog, sie zur Redlichkeit, zur Dankbarkeit, zum Fleiße, zur Reinlichkeit und jeder anderen Tugend anhielt. Diese gute Erziehung brachte der guten Mutter jetzt schon die erfreulichsten Früchte und verwandelte ihre Leiden in Freuden!

Schön vergalt Gott der guten Christine ihr Mitleid gegen ein verlorenes Lamm, ihren Gehorsam gegen ihre Mutter, die Redlichkeit, mit der sie das Lamm dem Eigenthümer zurück gab, die Dankbarkeit, mit der sie es dem Fräulein hier zum Geschenke machte. Diese liebenswürdigen Eigenschaften gewannen ihr die Zuneigung Eurer gnädigen Frau und Fräulein Emiliens, waren die Veranlassung, daß sie ihren Vater wieder fand und werden sie auch fernerhin glücklicher machen, als der reichste Brautschatz sie machen könnte.

Wie wunderbar führte Gott Euren jungen gnädigen Herrn in die Arme der geliebten Mütter, die ihn längst für todt hielt, zurück, um ihn für seinen Fleiß, seinen Gehorsam, sein gutes Betragen von der zartesten Kindheit an, zu segnen, sein kindliches Gefühl gegen seine Mutter, die er nicht kannte, zu belohnen! Gott hat das herzliche, innige Gebet des bekümmerten Jünglings dort in dem Walde gnädig erhört!

Recht augenscheinlich belohnte Er die edle Handlung des wackern Kriegers hier! Ach, der gute Mann sprang voll herzlichen Erbarmens in das Wasser, um mit Gefahr seines eigenen Lebens dem Kinde einer trauernden Wittwe das Leben zu retten! Dafür erbarmte sich Gott auch über desselben Weib und Kind, rettete sie aus Noth und Mangel, erweckte edle Herzen, die sich ihrer gütig annahmen, und ließ ihn Mutter und Kind, von denen er ungeachtet aller seiner Nachforschungen nichts mehr erfragen konnte, wieder finden! Vater, Mutter und Kind sehen nun nach vielen überstandenen Leiden ruhigern und glücklichern Tagen entgegen.

Und dieses Alles führte Gott durch dieses Lamm hier aus, das als ein liebliches Bild der Unschuld, weiß wie Lilien und mit jungen Rosen geschmückt, in Eurer Mitte steht. Er, der liebe Gott, ließ es verloren gehen; Er leitete Christinens Tritte, daß sie es fand; Er bewegte das Herz des ehrlichen Landmanns, es ihr zu überlassen; Er gab Christinen und ihrer Mutter in den Sinn, es Emilien zu schenken; Er führte das Lamm gleichsam an der Hand dem reisenden Jünglinge zu, um ihn in die Arme der geliebten Mutter zu führen. Er setzt ihn durch ein Lamm wieder in seine Güter ein, und bereitet dadurch auch Euch ein großes Glück. Denn ich kann Euch versichern, Karl ist ein edler, hoffnungsvoller Jüngling. Er fürchtet Gott und liebt die Menschen. Er wird Euch und Euren Kindern ein guter milder Herr seyn.

Und sollte nun Gott, der den Lebenslauf eines Lammes so sicher leitet, den Eurigen außer Acht lassen können? O mit unendlich mehr Liebe und Mitleid, als Christine das Lamm hier aufnahm, trägt Er Euch alle am Herzen.

Meine geliebten Freunde! Wie könnte ein Diener des Evangeliums ein Lamm sehen, ohne daß ihm Derjenige zu Sinne käme, der gleich einem schuldlosen Lamme zum Besten seiner lieben Menschen verblutete und der sich selbst öfter einem guten Hirten verglich! Ja, Er, dessen Diener ich bin, dessen Evangelium ich verkünde, ist der ewig treue, liebevolle Hirt unser Aller. Er kennt alle Seine Schafe, Er nennt sie mit Namen, Er ruft sie mit sanfter Stimme, Er lenkt sie mit Seinem milden Hirtenstabe, Er beschützt sie vor Gefahren, Er weidet sie. Er sucht die verlornen auf, Er möchte jedes gleichsam auf Seinen Schultern in den Himmel tragen. Vertrauet Ihm daher vom ganzen Herzen!

Laßt uns aber auch Seine Stimme hören und Ihm folgen, und Gutes thun, so viel wir können. Denn seht, Gott bedient sich unserer guten Handlungen, uns und Anderen große Freude, Segen und Heil zu bereiten. Hätte zum Beispiele Eure gnädige Frau gegen die arme, kranke Rosalie sich nicht so wohlthätig erzeigt; wäre Emilie gegen die arme Christine nicht so freundlich gewesen, ja hätte sie ihr auch nur das kleine Halstuch mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens nicht geschenkt; hätte Christine etwa aus Eigennutz Emilien das Lamm nicht schenken mögen; oder hätte Christinens Mutter nicht aus herzlicher Dankbarkeit das schöne Halsbändchen gemacht und mit eben den Buchstaben geziert; hätte Karl nicht eine so kindliche Liebe zu seiner Mutter gehabt, sich nicht so nach ihr gesehnt, dort im Walde nicht so innig gebetet: so wäre Alles nicht so gegangen, und der heutige Tag wäre nicht für uns Alle ein so großer Freudentag geworden. So bringt alles, auch das kleinste Gute, das wir thun, reichen Segen über uns und Andere. Edle Handlungen sind Perlen, die Gottes heilige Vorsicht nicht verloren gehen läßt, sondern sie gleichsam an eine Schnur reihet; gute Thaten gleichen goldenen Ringen, aus denen Gott eine goldene Kette herrlicher und erfreulicher Begebenheiten zusammen fügt.

Ihr aber, meine lieben Kinder,« beschloß der Pfarrer seine Anrede, indem er sich zu den Kindern wandte, »ihr Größern, die ihr mir so aufmerksam zugehört habt, und ihr Kleinern, die ihr nur nach dem niedlichen weißen Lämmchen hinblickt, das so schön mit Rosen geschmückt in eurer Mitte steht – o euch alle wolle Gott segnen! Ja, Gott gebe, daß ihr alle so unschuldig bleibet, wie ein Lamm und so sanft und geduldig, wie ein Lamm, wenn ihr, wie manches arme Lämmchen unter rauhe Hände fallen solltet. Jesus Christus, der gute Hirt, dessen Schäflein auch ihr seyd, Der auch für euch Sein Leben gegeben hat, wolle euch in Seinen Armen und an Seinem Herzen tragen; Er wolle euch in Seinen mächtigen Schutz nehmen, wenn die Verführung eurer Unschuld droht, wie ein grimmiger Wolf einem sanften schuldlosen Lamme. Er wolle euch ewig nicht seinen Händen entreißen lassen.

So redete der Pfarrer; sein Angesicht war von den Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet, und sein ehrwürdiges weißes Haar glänzte in dem hellen Abendschimmer. Er stand da, mit seinen zum Himmel gerichteten Blicken voll Thränen, wie verklärt – und Alle, die ihn hörten, hatten Thränen in den Augen und neues Vertrauen auf den lieben, guten, treuen Gott, der Alles wohl macht, kam in ihr Herz, und erquickte es sanft, wie der Thau, der bereits die Blumen im Thale erfrischte. Die guten Landleute gingen alle gerührt und voll guter Vorsätze nach Hause. »Das ist schön gewesen!« sagten sie auf dem Heimwege zu einander, »und eine solche allgemeine Freude ist wohl, seit das Dorf steht, noch nicht erlebt worden.«

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