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Auch in München waren inzwischen die Würfel gefallen. Es war spät und die Nacht schon völlig hereingebrochen, als Walpi das Stadttor erreicht hatte. Die Stunde, bis zu welcher der freie Ein- und Ausgang stattfand, war längst vorüber und wer noch in den Bereich der Mauern gelangen wollte, durfte den Umweg bis zum Einlaßtore nicht scheuen, in welchem ein kleines Pförtlein geöffnet und streng überwacht wurde. Mit dem einbrechenden Dunkel war auch die Kälte wieder gestiegen, ein scharfer Nordost strich von der Isar herüber; Walpi bemerkte und fühlte es kaum: die Eile des Weges und die innere Unruhe machte ihr Blut wie in Fieberhitze kreisen. Unschlüssig stand sie eine Weile am Eingange des kleineren Steges, welcher neben der großen aufgezogenen Brücke zu dem Einlaßtörchen führte; im Augenblicke der Entscheidung fiel ihr die Ungewißheit und Unsicherheit ihres Vorhabens zweifach schwer auf das Gemüt. Ein stärkerer Windstoß rüttelte sie aus dem Brüten auf und der Glockenschlag vom nahen Petersturm mahnte, wie wenig Zeit ihr zu Gebote stand, wenn sie nicht zu spät kommen sollte mit ihrer Warnung. Nun erst fröstelnd, zog sie das Umschlagetuch enger zusammen und setzte den Klopfer am Törlein in Bewegung; der Schieber in demselben öffnete sich und die ersten Laute, die ihr daraus entgegenklangen, erhöhten ihre Befangenheit und erfüllten sie mit neuer Besorgnis. Sie hatte sicher darauf gerechnet, das Tor von Ungarn besetzt zu finden und von ihnen, als Istvans Landsleuten, dessen augenblicklichen Aufenthalt am schnellsten zu erfahren: jetzt klang ihr ein deutsches »Wer da?« entgegen und ließ sie erkennen, daß die Wache aus Reichssoldaten bestand. Wie sollte sie nun den Gesuchten schnell und ohne Auffälligkeit ausfindig machen? – das zuckte ihr bang durch die Seele, daß der brandenburg-ansbachische Grenadiersergeant am Guckloche seine Frage nach Namen, Stand und Geschäft wiederholen mußte. Verwirrt stotterte sie einen Namen hervor und gab an, eine Bauerstochter aus einem oberländischen Dorfe zu sein, die ihrer Base in der Stadt über die Feiertage einen Besuch machen wolle. Inzwischen hatte sich das Pförtlein geöffnet und der Sergeant betrachtete beim Scheine der vom Torgewölbe niederhängenden Lampe mit unverkennbarem Wohlgefallen das hübsche Bauernmädchen; der Bauernanzug stand ihr auch in der Tat noch besser als selbst die so kleidsame Bürgerstracht, und auch die Schönheit des Gesichtes zeigte sich erhöht durch das unruhige Feuer in den blauen Augen und auf den künstlich gebräunten Wangen. Behäbig zeichnete der Sergeant ihre Angabe in sein Schreibtäfelchen, denn die immerwährenden und zuletzt ständig gewordenen Gerüchte von einem beabsichtigten Überfalle der Stadt hatten die kaiserliche Administration veranlaßt, die schärfste Aufsicht anzuordnen und ausüben zu lassen. Walpi wurde es bei der Musterung mit jeder Sekunde unheimlicher zu Mute, und es war gut, daß der Soldat mehr auf ihr Aussehen als ihr Benehmen achtete, sonst hätte ihre Befangenheit ihm kaum entgehen können. Als das Schreibtäfelchen im Wamse des Fragenden verschwunden war, schien derselbe nicht übel Lust zu haben, die Unterhaltung mit der schönen Bauerndirne zu verlängern; sie aber stammelte ein paar flüchtige Worte, wie sehr sie Eile habe, das Haus der strengen Base zu erreichen, und huschte mit wenig Schritten durch das innere Tor; dort, zwischen Wall und Mauer im Dunkel, fing sie zu laufen an und hatte bald die Brücke und das Tor über dem Schiffergraben erreicht.
Vom Petersturme dröhnten sieben gewichtige Schläge herunter.
Walpi hatte die Base ohne Überlegung und nur um zu antworten genannt: jetzt blieben ihre Gedanken bei derselben haften und sie überlegte, daß vielleicht niemand geeigneter sei, ihr zum Ziele zu verhelfen. Wußte sie doch, daß die Base sie immer lieb gehabt, daß sie aus dieser Vorliebe so schwach gewesen war, allen ihren Wünschen nachzukommen und ihr keine Bitte abschlagen zu können; vielleicht war sie zu bewegen, Istvan aufzusuchen und ihr die so dringende Zwiesprache mit ihm zu verschaffen. Beflügelten Schrittes huschte sie am Pilgerspitale vorüber, quer durchs »Tal«: sie wagte nicht, das Auge zu erheben und nach dem nahen Vaterhause hinüberzuschauen, welches mit lichtlosen Fenstern und doch wie mit ebensovielen vorwurfsvollen Augen auf sie herüberzustarren schien. Nur unwillkürlich gewahrte sie den Schein der roten Marienlampe, die wie ein großer, unheimlicher Blutflecken auf dem Hause haftete.
Bald war das unscheinbare Gäßchen bei der Mühle am Radlsteg und die noch unscheinbarere Behausung der Base Stadlerin erreicht; ein kleines, einstöckiges Gebäude, das in eine Art Turm auslief und zu welchem ein schmaler Steg über den schäumenden und brausenden Mühlbach führte. Die Verwandtschaft der Base mit der Familie des Jägerwirtes war nur eine weitläufige: eine Schwester der längst verstorbenen Frau hatte einen ihrer Brüder geheiratet. Ihr Mann war einmal Tuchmacher und ein angesehener und wohlhabender Bürger gewesen, denn bayerische Tücher hatten damals überall guten Ruf und wurden eifrig gesucht; in den immer wiederkehrenden Kriegsstürmen aber war das Gewerbe herabgekommen, und zu den vielen verdorbenen Meistern gehörte auch Meister Stadler. Er hatte froh sein müssen, ein Tändler- oder Trödlergeschäft errichten zu dürfen, das dann seine kinderlose Wittib in ärmlichen Verhältnissen fortbetrieb. Allmählich aber hatte sich ihr Wohlstand wieder gehoben, und wenn auch hie und da verlauten wollte, daß sie den gerade in diesem Geschäfte so nahe liegenden Versuchungen des wohlfeilen Erwerbes von unrechtmäßigem Gut nicht immer zu widerstehen vermochte, so hatte sie doch mit aller Schlauheit den Schein zu wahren gewußt und mußte für eine achtbare Frau gelten, welcher niemand etwas Unehrenhaftes ins Gesicht zu behaupten vermochte. Ihre Verstellungskunst hatte auch den biederen Jäger lange genug getäuscht, so daß er dem immer zunehmenden und immer vertrauteren Verkehr seiner Tochter mit ihr nicht entgegen war, bis er zu spät dessen schädlichen Einfluß erkannte und nun vergebens zu bekämpfen suchte.
Walpi hatte sich auch diesmal in der Bereitwilligkeit der Base nicht verrechnet; sie hatte das ganze Verhältnis mit Istvan von seinem Entstehen an gekannt und unterstützt, teils aus Lust an jedem heimlichen Verkehr, teils weil sie wußte, daß Jäger seine Tochter mit Xaver verbunden zu sehen wünschte, und dieser ihr im Grunde der Seele verhaßt war. Sein Vater hatte das einst von ihr und ihrem Manne besessene verkäufliche Tuchmacherrecht in der Gant eingetan; in ihrer Beschränktheit glaubte sie, dadurch ein großes Unrecht erlitten zu haben; sie hielt sich noch immer für die rechtmäßige Eigentümerin des Rechtes und betrachtete jeden Gewinn aus dem wieder in Flor gebrachten Geschäfte als einen an ihr begangenen Raub. Sie war daher nicht schwer zu erbitten; hatte doch Jäger neuerdings ihren vollen Grimm erregt, weil er während Walpis Abwesenheit nicht, wie früher geschehen, sie zur Wirtschaft ins Haus genommen, sondern eine wildfremde Person gedungen hatte. »Ei du Schatzkind!« rief sie, indem sie sich zum Ausgehen anschickte und in dem engen, mit Hausrat und allerlei Trödelkram überfüllten Stübchen hin- und widertrippelte. »Das nenn' ich mir einmal eine Überraschung! Man müßte den Ofen einschlagen, wenn man ihn nicht so notwendig brauchte im Winter! Setz' dich doch nur ja recht warm ans Feuer – mußt ja völlig erfroren sein! Ich hätte dich ganz ruhig in Tölz geglaubt, und auf einmal kommst du daher, wie der Dieb in der Nacht, und noch dazu in einem solchen Aufzuge, als wenn wir mitten im Fasching wären! Kannst dich aber überall sehen lassen – wärst ein bildsauberes Bauernmädel! Ich sag' es ja immer, wer wirklich schön ist, der bleibt's, wenn man ihm einen Sack anzieht und einen alten Hafen aufsetzt! Du hast auch ganz recht getan, daß du fort bist – das ist keine Behandlung für ein Mädel wie du, für eine Münchner Bürgerstochter! Bin gleich fertig, Schatzkind,« fuhr sie fort, da Walpi ihre Ungeduld über die Zögerung nicht zu verbergen vermochte, »nur noch das warme Kamisol und die Pelzhaube! Bin gleich fort und werd' auch gleich wieder da sein, und dafür laß du nur die Bas' Stadlerin sorgen, daß ich den Herrn Kornett ausfindig mach' und dir herführe wie am Schnürl! Was wird der Augen machen! Ist auch ein bildsaubres Mannsbild, und ein paar Augen hat er im Kopfe … Augen wie ein paar Feuerräder … Nun, ich bin ja schon fertig! Ich gehe ja schon! Was das verliebte Volk es so notwendig hat! Laß dir die Zeit nicht gar so lang werden, Schatzkind!« – Unter fortwährendem Geschwätz hatte sie endlich den Anzug vollendet und verließ Stube und Haus.
Es währte nicht lange, so saß das Liebespaar in dem alten Turmgemach beisammen. Hoch an den Wänden befanden sich kleine Fenster, durch deren Eisengitter der schwarzblaue Nachthimmel hereinsah; in der einen Ecke hing ein großes Kruzifix, dunkel und altersbraun, das aus irgend einem Klosterkreuzgange sich dahin verirrt haben mochte. Es war nur schwach sichtbar, denn das Kerzenlicht auf dem kleinen Tischchen am wohlgeheizten Ofen war tief herabgebrannt und trug glimmende Blumen am Docht – Istvan und Walpi, welche daran saßen, hatten nicht Zeit, an das Licht und etwas außer ihnen zu denken. Selbst die Speisen auf dem Tischchen, dunkelroter Met in sauber geschliffenen Gläsern und verschiedene süße Gebäcke, von Frau Stadlerin mit übergeschäftiger Emsigkeit bereit gestellt, waren beinahe unberührt. Auf Walpis ausdrückliches Verlangen saß dieselbe strickend und nickend in einer Ecke, aber sie wußte sich der Gänge und Geschäfte so viele zu machen, daß die beiden auch ohne Besorgnis, belauscht zu werden, ihr Gespräch lauter werden lassen konnten.
»Bassam!« sagte Istvan, »ist das gewesen Einfall ein ganz herrlicher, mich so zu überraschen! Ist mir Zeit geworden sehr lang, seit ich nichts mehr gehört hab' von meinem Madel! Hab' schon geglaubt, ist vergessen alles, weil ist kommen keine Antwort auf all mein Geschreiben und Botschaft!«
»Ich habe dir schon gesagt,« erwiderte das Mädchen, »daß ich nichts erhalten habe – es ist kein Zweifel, die Base hat alles unterschlagen! Das war der Grund, weshalb ich entflohen bin – ich habe wissen müssen, wie du gesinnt bist gegen mich.«
»Hast du zweifeln können, Madel? Bin ich Magyar, und Magyar halten, was er verspricht! Du hast mein Wort, daß du wirst Frau meinige – gleich nach Feiertagen geh' ich zu Oberst und werd' erzählen alles, was du getan und ausgestanden für mich, und wird Oberst gern geben seine Erlaubnis!«
»Nein, nein,« sagte Walpi ängstlich, »davon kann jetzt nicht die Rede sein – ich muß morgen mit Tagesanbruch wieder aus der Stadt sein … wenn mein Vater erführe, daß ich hier bin …«
»Er soll dir nichts anhaben, Valiska! Oberst wird dich beschützen und Istvan. Soll nur wagen, dir kommen zu nah, wenn er will erfahren, wer ist Herr im Land! Du mußt bleiben, morgen und übermorgen – er soll sich's nit unterstehn, dich von mir schicken ein zweites Mal!«
»Ich kann doch nicht bleiben,« flüsterte Walpi immer ängstlicher, »ich wag' es nicht! Drum hab' ich ja die Base gebeten, daß sie die Stube heizt, wo uns niemand sieht und hört, und daß sie bei uns bleibt die ganze Nacht hindurch – weil ich nur die Nacht über bleiben kann …«
»Was fällt dir ein, Madel?« lachte der Kornett, indem er zugleich auf ein fern hereindringendes Geräusch hinhorchte. Es war der Zapfenstreich, der abendliche Trommelruf, der die Soldaten in ihre Quartiere und Kasernen beschied. »Bassam,« setzte er, sich rasch erhebend, hinzu, indem er nach dem in der Ofenecke lehnenden Pallasch griff, »ist schon hohe Zeit – muß ich fort: ist recht schade, daß du nicht bleiben kannst …«
»Drum bleibe du, Istvan … tu's mir zulieb – nur die wenigen Stunden …«
»Ist unmöglich – tät' ich versäumen den Dienst: Kornett Istvan hat noch nie den Dienst versäumt! Kann nichts tun als morgen wieder kommen und nachfragen, ob du dich nicht anders besonnen hast …«
Schon hatte er den Säbel umgegürtet, den Kalpak aufs Haupt gedrückt und streckte, sichtlich verstimmt, den Arm nach der Türklinke aus, als Walpi vor dieselbe trat und sich angstvoll an seine Brust warf. Jetzt erst, im Verlauf des Gespräches, als das Wort der Warnung ihr auf der Zunge saß, hatte sie erkannt, daß es unmöglich war, dasselbe auszusprechen, ohne auch dessen Veranlassung anzugeben und die Beteiligten zu nennen. Der Anblick ihres Vaters tauchte vor ihr auf; der Gram, der aus seiner Stimme geklungen hatte, als er mit dem Bruder von ihr sprach, hallte in ihrer Seele nach – es blieb ihr kein anderes Mittel, als Istvan durch Bitten und Liebkosungen festzuhalten: in dem abgelegenen Turmgemach, im Gebrause des hart unter den Fenstern vorbeirauschenden Baches drang vielleicht der Lärm nicht bis zu ihm, gelang es ihr vielleicht, ihn wenigstens so lange festzuhalten, bis die dringendste Gefahr vorüber war.
»Es ist erst so kurze Zeit,« flüsterte sie zärtlich, indem sie ihm die Arme um den Nacken schlang, »so kurz, daß ich dich wieder habe nach so langer Trennung – du kannst mich noch nicht verlassen, Istvan! … Bleibe doch – nur noch ein halbes Stündchen!«
Der Kornett war nicht unempfindlich für ihre Schmeichelworte, aber der wohlgeschulte Soldat in ihm behielt die Oberhand. Schweigend war er bemüht, sich von Walpi loszumachen, die in der wachsenden Angst ihres Innern sich immer fester an ihn klammerte … »Nein!« rief sie in höchster Erregung, »ich lasse dich nicht! Du darfst nicht fort, und wenn du nicht gutwillig bleibst, so halt' ich dich mit Gewalt …«
»Aber Madel … bist geworden toll und verrückt?«
»Du darfst nicht gehn – es ist dein Unglück, wenn du gehst …«
»Mein Unglück? Ist dir der Met in den Kopf gestiegen?«
»… Du gehst in deinen Tod!«
»In Tod? Was soll das bedeuten?« fragte der Kornett verwundert, während sie erschöpft und fast atemlos an seinem Halse hing.
»Das kann … das darf ich nicht sagen,« stammelte sie, »aber es ist doch die Wahrheit! Glaube mir und frage nicht … Du bist verloren, wenn du nicht bleibst!«
Istvan konnte nicht mehr zweifeln, daß das angstvolle Bitten und Klagen des Mädchens eine wirkliche, ernsthafte Veranlassung hatte, und war entschlossen, sie zu ergründen. »Rede, Walpi,« sagte er, sie von sich drängend, »sag' mir alles, oder ich gehe und du siehst mich nicht wieder dein Leben lang … Was ist für Gefahr, die Istvan bedroht?«
»Bleib – ums Blut Christi willen, bleib!« rief das Mädchen, sich an ihn hängend und beinahe mit ihm ringend. »Ich will's nur gesteh'n – das ist's eigentlich, warum ich so über Hals und Kopf gekommen bin … ich wollte wenigstens dich retten …«
»Wenigstens mich? Also trifft die Gefahr mich nicht allein? Auch meine Kameraden?« fuhr der Ungar auf, von einem plötzlichen Verständnis durchzuckt. »Ach, nun versteh' ich alles! Ist schon lange worden gemunkelt von heimlichem Überfall … ich versteh', heute nacht soll er ausgeführt werden … Ist es nicht so?«
»Ich kann nichts mehr sagen,« erwiderte sie mit erlöschender Stimme … »nichts! Ich will nichts, als dich retten – dich allein!«
»Gut, auch das ist mir genug – ich weiß, was ich zu tun habe!« rief Istvan, stieß sie von sich und hatte im Sprunge die Tür, von der er allmählich fortgezerrt worden war, wieder erreicht; Walpi gab die Angst nicht mindere Schnelligkeit – sie schlang sich wieder an ihn und kreischte: »Bleib … Istvan, du reißest mir das Herz aus dem Leibe, wenn du gehst …«
»… So erzähle mir alles, was du weißt – und ich bleibe …«
»Versprichst du mir's? Schwörst du mir's zu?«
Sie faßte ihn bei beiden Händen und sah ihm fest in die Augen. »Du hast es versprochen,« flüsterte sie, »nun kann ich alles sagen ohne Gefahr … Du bist ein Ungar, und ein Ungar, hast du gesagt, hält, was er versprochen hat …«
Sie erzählte.
Sie war dabei allmählich erschöpft in die Kniee zusammengesunken und lauschte atemlos harrend auf die Antwort des Geliebten; auch der Kornett stand eine Weile schweigend, wie erschüttert oder nachsinnend, was nun für ihn zu tun und zu lassen sein möge. »Und wann soll …?« fragte er leise.
»Schlag zwölf Uhr,« erwiderte sie ebenso, »steigt eine Rakete vom Petersturme auf … da müssen sie von allen Seiten vor den Toren sein …«
»Um Mitternacht also?« murmelte er wieder. »Es ist lange neun Uhr vorüber … also ist es die höchste Zeit …« er wandte sich der Türe zu: verwundert, betroffen starrte sie ihn an. »Istvan, was ist dir? was willst du tun?«
»Was ich muß … ich will fort!«
»Fort? Wozu? Bist du nicht am sichersten bei mir?«
»Welche Frage! Glaubst du wirklich, ich könnte hier bleiben und ruhig abwarten, was geschieht? – Ich will hinaus, will meine Kameraden warnen!«
»Istvan!« rief sie, wie außer sich. »Das wolltest du? Hast du mir nicht versprochen und geschworen …«
»Hab' ich versprochen und geschworen!« rief Istvan entgegen. »Aber ich hab' geschworen als Kornett zuerst Kaiser, und als Magyar zu mein' Vaterland … der ältere Eid ist der stärkere und geht vor … Was wär' ich für ein Schuft, wenn ich meine Landsleute ruhig ins Verderben gehen ließe, wenn ich nicht alles aufböte, sie zu retten …«
Walpi schwindelte … sie tappte um sich, um nicht zu sinken … »Er … er,« murmelte sie, »er rettet seine Landsleute … er gibt mich auf und rettet sie … und ich …«
Eben machte der Kornett die letzten Schritte gegen die Tür hin … da schoß ihr ein rettender Gedanke durch den Kopf. Wenn es ihr gelänge, noch vor ihm die Schwelle zu erreichen, sie ins Schloß zu werfen und den schweren äußeren Riegel vorzuschieben – war er dann nicht ihr Gefangener? War er nicht gerettet und zugleich außer stande, das Geheimnis zu verraten? Wie bei einem im Zenith stehenden Gewitter auf den Blitzstrahl unmittelbar der Donner folgt, folgte dem Gedanken auch die Tat – aber ebenso schnell hatte Istvan die Absicht durchschaut und war ihr zuvorgekommen. Krachend fiel die Tür ins Schloß, der Riegel klirrte vor, als sie eben an der Schwelle zusammenbrach: durch das Rauschen des Wassers und durch das Sausen des Blutes, das ihr betäubend zum Kopfe stieg, hörte sie nur undeutlich die Worte des zürnenden Ungarn: »Bassam,« rief er, »du willst mich einsperren und gefangen halten, Verdammte? Willst verderben braves Ungar? … Nun ist umgekehrt, und nehm' ich Schlüssel mit, bist du Gefangene meinige … sollst bleiben, bist du kannst nicht mehr schaden!«
Über den Straßen und Häusern der Stadt lag, seit die Trommeln verstummt waren, unheimliches Schweigen und Dunkel – nur hie und da das entfernte Anrufen einer Wache, das matte Licht einer mit dem Erlöschen kämpfenden Ampel oder Laterne. Aus den Fenstern fiel manchmal ein schwacher, wohl absichtlich verhüllter Lichtschein: beinahe in jedem Haus hatte man sich in die inneren und hinteren Stuben zurückgezogen und schürte den Ofen, denn nach uraltem Brauche blieben die Hausgenossen im Gebet und ehrbar traulichen Gespräche wachend beisammen, bis die Glocken, die Geburt des Herrn verkündend, zum mitternächtlichen Hochamte riefen. Die Hausfrauen, klug oder arglos, je nachdem eine sich des Vertrauens ihres Gesponsen erfreute, hatten in der Küche zu schaffen und vorzubereiten, daß jeder der heimkehrenden Andächtigen die gebratene Mettenwurst finde, die trefflich munden sollte nach so langer Fastenzeit. Die Hausväter schritten manchmal unruhig hin und wider und gingen wohl aus der Wohnstube ins Schlafgemach oder sonst in eine dunkle Kammer, um Säbel und Büchse zu betasten und sich zu überzeugen, daß alles bereit sei für den Augenblick des Losbrechens.
Auch der Jägerwirt durchwandelte bereits zu wiederholten Malen die große, leere, düster beleuchtete Gaststube, die Hände auf den Rücken gelegt, den Kopf gesenkt im Brüten und Abwägen des Kommenden. Der große Ofen sprühte behagliche Wärme aus; manchmal setzte sich der Wirt an demselben nieder, dann trat er an den Schrank, in welchem Gläser und Schenkkrüge standen, zog seinen treuen Stutzen hervor, prüfte Pfanne und Zündloch und ließ den Hahn zur Probe einschnappen, oder er rückte Pulverhorn und Kugelbeutel aus dem Verstecke und schob sie dahin zurück, um dann die Stubenwanderung aufs neue zu beginnen – mannesmutige, todbegeisterte Gedanken und Empfindungen für Fürst und Vaterland brausten erhebend durch sein Gemüt, aber durch sie hindurch klang als düsterer, nicht ruhender Grundton das schwere Leid des tief verwundeten Vaterherzens. In seinem Sinnen überhörte er beinahe das eigentümliche Rollen und Klirren, das auf der Straße hörbar wurde – es gewahrend, stand er still und lauschte. »Sonderbar,« dachte er, »wie kommt ein Bräuerwagen noch um diese Zeit auf die Straße … es klingt fast wie das Rollen von Geschützrädern.« Jetzt war es, als ob sich Stimmen dareinmischten, und als der Horchende sich dem Fenster nähern wollte, um sich zu überzeugen, ob er sich nicht getäuscht habe, dröhnten mächtige Schläge an das Haustor und rauhe Stimmen riefen durcheinander: »Aufgemacht! Im Namen des Kaisers! Aufgemacht!«
Jäger war so überrascht, daß er einige Augenblicke bedurfte, sich zu sammeln: er warf den Rock ab, schlüpfte in eine Nachtjacke und zog eine Schlafmütze über den Kopf, um den Anschein zu haben, als sei er von dem Rufen aus dem Schlafe aufgeschreckt worden. Als er den Torflügel öffnete, stand er einer Abteilung kaiserlicher Soldaten gegenüber, bis an die Zähne bewaffnet, mit Fackeln in den Händen, und der Unteroffizier, der sie führte, herrschte ihm in wildestem Tone entgegen: »Auf Befehl kaiserlicher Landesadministration! Die nächtliche Christmette ist in allen Kirchen verboten und abbestellt! Niemand, wer es auch immer sei, und unter welchem Vorwande, darf vor Tagesanbruch das Haus verlassen – bei Todesstrafe! Wer auf der Straße angetroffen wird, wird ohne Frage und Anruf niedergeschossen!«
Die Soldaten schwenkten ab; Jäger ward es kaum gewahr, er vernahm es nur halb, als sie, beim Nachbar anhaltend, dieselbe Botschaft vorbrachten; andere Stimmen hallten von gegenüber – es war klar, der Befehl wurde durch mehrere Abteilungen von Haus zu Haus getragen. Der Windzug im Tor, der ihm das Licht zu verlöschen drohte, brachte ihn zur Besinnung, aber er kam wie ein Taumelnder in die Stube zurück – die Überraschung und der Schrecken hatten seine Kraft gelähmt, daß er wie ohnmächtig auf der Bank zusammenknickte. Was konnte das plötzliche strenge Verbot anderes bezwecken als den Bürgern die Versammlung zur bestimmten Stunde unmöglich zu machen? Was konnte es bedeuten, als daß noch in der letzten Stunde der ganze Anschlag den Feinden bekannt geworden war … Aber wie war das möglich gewesen? Hatte ein unglücklicher Zufall die Entdeckung herbeigeführt, oder sollte wirklich unter den Teilnehmern und Wissenden sich ein Verräter befunden haben? Wer war der Unselige? Wessen Sinn konnte so tief gesunken, wessen Gemüt so sehr umstrickt sein von wahnsinniger Verblendung, um solche ungeheure Schuld auf sich zu laden? Er sann und dachte umsonst, vergebliche Pläne und Entwürfe, was nun zu geschehen habe, durchkreuzten seine Gedanken. War es besser, dem Verbote trotzend, sich doch zu versammeln und loszuschlagen, oder war es geeigneter, sich ruhig in das Unvermeidliche zu fügen und das Unternehmen auf eine glückliche Stunde zu versparen? … Er kam zu keinem Entschlusse: für das eine sprachen so viele gewichtige Gründe wie für das andere – die einzige Hoffnung und Beruhigung, an die er sich klammerte, war der Gedanke, daß auch die anrückenden Landleute noch rechtzeitig gewarnt worden waren und von dem Zuge abstanden! Er blieb darin bestärkt, als auch nach Mitternacht noch alles still blieb vor der Stadt und in derselben nichts sich hören ließ als der gleichmäßige Schritt der Streifwachen, welche durch die Straßen zogen.
Ein eigentümlicher Laut störte ihn aus dem Brüten auf, in das er wieder versunken war; es klang wie das Schleichen vorsichtig angehaltener Fußtritte und wie das Rascheln einer Hand, welche an der äußeren Stubenwand im Torwege den Weg suchend hinzutappen schien. Jäger sprang auf und eilte der Türe zu, als diese aufging und Xaver mit vorsichtigem Zuwinken hereinschlüpfte. »Gott sei Lob und Dank, Vetter, daß ich Ihn finde!« flüsterte er.
»Woher kommst du? Was willst?« tönte es ebenso heimlich entgegen.
»Ich hab's nicht ausgehalten daheim,« war die Antwort, »die Sorg' und die Beängstigung hätt' mich umgebracht. Im Krottental sind auch nicht so viel Patrouillen; da hab' ich mir den Augenblick erpaßt, bin hinter den Mauern herübergeschlichen, hab' im Pferdestall eine Fensterscheibe eingeschlagen und bin hereingestiegen.«
»Du hast viel gewagt, Vetter …«
»Ich hab' nicht daran gedacht – ich hab' Ihn sehn müssen, Vetter, und wenn ich beim ersten Schritt zu Grund gegangen wär'. Ich wollt' auch wissen, wie es steht … Am Anger vor dem Zeughaus haben sie Geschütz aufgefahren … vor der Jesuitenkirch' auf dem Schrannenplatze auch, es wimmelt überall von Soldaten … wir hätten doch einen harten Stand gehabt! … Aber was soll nun geschehen, Vetter?«
»Weiß ich es denn selber?« rief Jäger schmerzlich. »Ich komme mir vor wie einer, der mit gebundenen Händen daliegen und abwarten muß, was geschieht! Wenn nur die Oberländer rechtzeitig Wind bekommen haben … es wär' hellicht zum Verzweifeln, wenn die so schrecklich in die Falle gingen … Jesus! was war das? War das nicht ein Schuß? Noch einer und noch einer! Es ist richtig … sie sind da! O die armen, armen Leute … Herrgott im Himmel droben, hab' du Erbarmnis mit uns allen!«
Xaver hatte das Fenster aufgerissen und horchte durch die Läden hinaus. »Sie sind's freilich!« rief er herein. »Ich höre das Schreien und Krachen ganz deutlich – sie schießen scharf, und es ist, als wenn das schon ganz nahe wäre, als wenn sie schon herein wären über den roten Turm …«
»Nein,« rief Jäger entschlossen aufspringend, »das halt' ich nicht aus – die braven, herrlichen Leut' so allein im Unglück stecken zu lassen … geht es, wie's will, ich muß hinaus! Ich mag nicht die Faust in der Tasche machen …«
»Aber was wollt Ihr, Vetter?« entgegnete Xaver rasch. »Denkt an das Verbot – Ihr kommt keine zwanzig Schritte weit, so seid Ihr niedergeschossen …«
»Vielleicht gelingt es doch, durchzukommen!« rief Jäger und riß die Waffen aus dem Schranke. »Bist du nicht auch durchgewischt? Es kommt nur darauf an, daß einer sich aufopfert und den Anfang macht … ich weiß gewiß, viele folgen nach, die nur auf ein Zeichen warten, und ist nur erst ein kleines Häufel beisammen, so muß der Feind sich wenigstens teilen …«
»Es geht nicht, Vetter,« sagte Xaver abwehrend, »laßt mich hinaus – ich will's übernehmen; die Gefahr ist zu groß, Ihr müßt Euch schonen und erhalten, Vetter …«
»Für was etwa?« lachte Jäger bitter. »Und für wen? – Halt mich nicht auf! Ich geh' und ruf': ›Bürger, heraus‹ … der Feind erwartet's nicht, und in der Überraschung werde ich bald eine Anzahl hinter mir haben; schießen sie mich nieder, so hab' ich wenigstens das Meinige getan! Du läufst inzwischen zum Bräuhaus hinunter aufs Platzl und schaust nach, wie's mit dem Schwöger steht, der das Kosttörl öffnen soll … sind sie nur erst in der Stadt, so ist vielleicht doch noch nicht alles verloren!«
Er war gewaffnet und eilte mit Xaver, der ebenfalls seine Waffen wieder ergriffen hatte, der Türe zu, als an dem Fensterladen sich ein leises und doch wohl hörbares, hastiges Pochen hören ließ. »Sehn wir nach,« rief Jäger, »vielleicht denken andere auch so wie wir und geben uns ein Zeichen zur Sammlung …«
Auf dem Gange angekommen, ward die Laterne abgekehrt und geblendet zu Boden gestellt, während Xaver bemüht war, das Eingangstürchen im Torflügel zu öffnen. Im Augenblicke drängte sich eine weibliche Gestalt mit aufgelöstem, wild flatterndem Haare herein und stürzte aufschreiend zu Jägers Füßen, der betroffen einen Schritt zurücktrat. »Was gibt's da?« rief er. »Ist jetzt die Zeit zu einem Fastnachtspiele?«
»Walpi!« rief Xaver im Tone des höchsten Schmerzes dazwischen. »Ist Sie es denn wirklich, Jungfer? Und in diesem Gewande? Also hab' ich doch recht gesehn heut nachmittag droben in Schäftlarn?«
»Wer soll das sein?« rief Jäger, vor Ingrimm bebend. »Hast wohl den Verstand verloren, Xaver! Ein ordentlicher Mensch wie du kennt keine solche Landstreicherin mit gefärbtem Gesicht und Haar und in solchem Aufzug! Mach' die Tür auf … bei mir ist keine Herberg' für Landfahrergesindel!«
»Vater … um Gotteswillen!« stieß das Mädchen unter Tränen hervor. »Schimpf mich, wie du willst, tu mir an, was du magst: ich verdien's, Vater, ich verdien's … ich will auch alles leiden, nur verstoß mich nicht … um Gotteswillen, sage nicht, daß du mich nimmer kennst!«
Jäger wandte sich ab, äußerlich wieder vollkommen gelassen und ruhig. »Frag die Person, was sie herführt, Xaver,« sagte er zu diesem. »Nachher schau, wie du sie weiterbringst …«
»Vater, hör' mich wenigstens an!« schluchzte Walpi. »Nur das einzige Mal noch – dann will ich ja gehn und will dir meiner Lebtag' nimmer unter die Augen kommen … Ich hab's nicht ausgehalten: ich hab's gewußt, daß du mich verstoßen wirst, aber ich hab' doch her gemußt zu dir – ich hab' dich warnen müssen und bitten, daß du fliehst oder dich versteckst, solang' es noch Zeit ist …«
»Fliehn? Verstecken? Ich? – Das wär' das erste Mal!«
»Tu's, Vater, tu's … mach' nicht, daß ich völlig verzweifeln muß … es ist ja alles verraten …«
Jäger zuckte zusammen: es war, als ob ihn ein wuchtiger Schlag vor die Stirn getroffen, der ihm einen Augenblick Fassung und Besinnung benahm. Wie versteinert streckte er gegen die Knieende die Arme aus und stammelte: »Verraten? Und du weißt davon? Und du bist hier in diesem Gewand? Bist jetzt hier, und der Xaver sagt, er hat dich noch den Nachmittag in Schäftlarn gesehen … Jesus! … Tochter, Walpi, Kind … Ich will dir alles verzeihn … ich will nicht mehr daran denken … ich will dich noch lieber haben als zuvor, mach' mich nur von dem Gedanken frei, der mir wie ein Messer im Herzen sitzt … Woher weißt du, daß alles verraten ist? Sag' … ich glaub's ohnehin … aber sag's deutlich heraus, daß du es nicht gewesen bist, die …«
Walpi war knieend auf Hände und Angesicht vorgesunken – sie vermochte nichts zu erwidern.
»Du kannst nichts sagen?« keuchte Jäger außer sich. »Du kannst es nicht herauswürgen, das kleinwinzige, armselige Wörtl? So geh … geh hin und verzweifle, du Landesverräterin! Hörst du das greuliche Schießen und das Todesgeschrei? Das sind deine Landsleut', die du ins Verderben gestürzt hast … Wenn es jetzt mißlingt, wenn das Land verloren ist, wenn die Prinzen fortgeschleppt werden in die Gefangenschaft – den Tod von so viel braven Menschen und das Unglück des Landes, du hast es auf dem Gewissen – du allein! Ich hab' keinen Anteil an deiner Schuld und an dir – das Tröpfl Blut, das du von mir in den Adern hast, soll verflucht sein, und wenn mich unser Herrgott in der Ewigkeit nach dir fragt … ich verleugne dich …«
Erschöpft hielt er inne, das Mädchen regte sich nicht; Xaver war um die anscheinend Leblose mit freundlicher Sorge bemüht. In der Überraschung des Vorgangs war die Tür nicht beachtet und nur angelehnt geblieben: sie ward jetzt aufgestoßen, und wieder stand eine Schar von Soldaten mit dem Profosen vor derselben. Der Anblick gab Jäger seine Haltung wieder: obwohl er dasselbe vollkommen erriet, trat er den Ankommenden entgegen und fragte nach ihrem Begehren.
»Wer ist hier der Weinwirt Georg Jäger?«
»Bis ein Besserer kommt, muß ich dafür gelten …«
»Dann ist Er mein Arrestant!« rief der Profos. »Widersetz' Er sich nicht. Es ist der Befehl der kaiserlichen Administration …«
»Ich widersetz' mich nicht,« erwiderte Jäger ruhig. »Es wär' doch umsonst: ich hab's erwarten müssen, daß es so kommt … In Gottes Namen!« fuhr er mit ernstem Aufblicke fort, indes ihm ein Knecht die Handschellen anlegte. »Ich muß eben denken, es haben schon ganz andere Leute als ich solche Ehrenzeichen getragen!«
Der Profos wandte sich mit einem Teile seiner Mannschaft. »Ihr bringt den Malefikanten in den Falkenturm!« rief er. »Das Quartier ist schon hergerichtet und er findet schon recht zahlreiche Gesellschaft! Ich will indes das ganze Haus durchsuchen nach verborgenen Waffen und Schreibereien – denn das ist das Nest von dem Haupträdelsführer!«
Jäger schritt der Türe zu mit einem flüchtigen Nicken gegen Xaver, der, um Walpi beschäftigt, für einen Diener gehalten wurde und die Aufmerksamkeit der Soldaten über dem Hauptfange nicht auf sich zog. Die Entfernung des Vaters schien Walpi aus ihrer Betäubung wachzurufen: sie raffte sich auf und machte Miene, dem Vater nachzustürzen … Abwehrend streckte er die Hand gegen sie aus und rief den Soldaten zu: »Führt mich fort, Soldaten … macht, was ihr wollt, mit mir … aber haltet mir die Landstreicherin vom Halse, die sich in mein Haus eindrängen will … macht, daß bald eine recht dicke Mauer steht zwischen mir und ihr!« –
Der Morgen des Weihnachtstages war in seltener Winterpracht angebrochen: schneeglänzend, sonnenhell und von reinster Himmelsbläue – ein doppelt schmerzlicher Gegensatz zu all dem Jammer, der darunter sich ausbreitete. Die Glocken hatten eben den Schluß der Festandacht verkündet, als Bürgermeister Vacchieri in vollster Amtstracht, die mächtige goldene Ehrenkette auf der Brust, langsam und wie siegesstolz aus dem westlichen Hauptportale der Frauenkirche trat. Die Zahl der Kirchengänger war gegen sonstige Zeiten nur eine sehr geringe, denn unter der ganzen Einwohnerschaft herrschte Grauen, Bestürzung und Jammer über die Ereignisse der Nacht. Die wenigsten wagten sich hervor, aus Furcht, durch ein unbedachtes Wort, vielleicht durch einen Blick ihre Stimmung zu verraten und den Zorn der Machthaber auf sich zu ziehen. Dafür stiegen in den Häusern desto brünstigere Gebete zum Himmel, denn es war fast keines, in welches bei Nacht oder gegen Morgen nicht der Feind eingedrungen war und Vater, Bruder oder sonst einen Angehörigen fortgeschleppt hatte. Dennoch wurden die Schrecken der Nacht noch überboten durch das entsetzliche Schauspiel, das der Morgen mit sich brachte. Mit der anbrechenden Tageshelle war das Schießen und der Lärm des Kampfes nach allen Richtungen hin verstummt: der Sieg war überall errungen und Truppenabteilungen gingen von allen Seiten aus, um die Gegend zu durchstreifen, die Fliehenden und etwa Verborgenen aufzuspüren und jene Verwundeten in die Stadt zu bringen, bei welchen noch Hoffnung bestand, sie dem Gerichte und der Strafe zu erhalten. Wenn ein Blick der in den Häusern Verborgenen unwillkürlich auf die Straße fiel, traf er nicht selten auf einen Wagen voll solcher Unglücklicher, die, von Kälte erstarrt, von Schmerzen erschöpft, bis zum Tode ermattet, blutbedeckt und oft von gräßlichen Wunden entstellt, an der Straße hin in den Schnee abgeladen wurden, weil die geringen Räume des Krankenhauses nur zu bald überfüllt waren. Entsetzt und erschüttert vergaßen dann die Bürger der eigenen Gefahr und wollten auf die Straße, um den Unglücklichen mit Verband, Stärkung und warmen Kleidern zu Hilfe zu kommen, aber sie wurden von den Soldaten zurückgetrieben, deren aufgestachelte Erbitterung es sich nicht versagen konnte, auch an den wehrlosen Feinden vollste Genugtuung zu haben. Auf dem Wege zum Pilgerhause vom heiligen Geist im »Tal« war der Andrang am stärksten: unter den offenen Bogengängen der Häuser und auf den Stufen lagen die Verwundeten reihenweise, stöhnend um Erbarmen oder um Erlösung durch einen raschen Tod. Die barmherzigen Brüder allein schritten mit Trost und Erquickung für Leib und Seele zwischen ihnen dahin, unbekümmert um Grollen und Murren, pflichttreu im Opferdienste der ewigen Liebe, die, über allen Parteien stehend, sie alle vereint in erhabener Versöhnung.
Vacchieri schien umkehren zu wollen, als er, aus der Weinstraße am Wurmeck auf den Marktplatz einbiegend, den traurigen Anblick übersah; aber er hörte sich von der einen Seite beim Namen angerufen, und über den Platz kam, wie immer in atemloser Hast, der Ratsdiener auf ihn zu. »Wie gut, daß ich Euer Gnaden antreffe!« rief er. »Der Pfleger vom Geistspital hat schon dreimal geschickt …«
»Mein Gott, welch unvernünftiges Drängen!« eiferte der Bürgermeister. »Glaubt man denn, ich habe nicht mehr zu tun? Hab' ich nicht vor allem in die Kirche gemußt, meine drei Messen zu hören am heutigen Tage? Was gibt es denn?«
»Die Zimmer sind alle schon besetzt: der Herr Pfleger läßt fragen, ob er in den Gängen des Hauses Lagerstellen für die Blessierten aufschlagen darf?«
»Mein Gott – und ist denn das so überaus eilig?«
»Der Spitalpfleger meint wohl, es sei zum Erbarmen mit den unglücklichen Leuten …«
»Unglücklich? Wer hat sie ins Unglück gestürzt, als sie sich selbst? Sind sie nicht oft genug gewarnt worden? Es ist nicht meine Schuld, wenn sie es einmal zu fühlen bekommen, was sie getan haben! … Der Pfleger soll in Gottes Namen Bettstellen aufschlagen in den Gängen, aber er soll nicht in den Tag hinein schwenden mit dem Stroh!«
Erst jetzt fand Vacchieri in seinem unmutigen Eifer Zeit, den Gruß des Starnberger Pflegers zu erwidern, der ihm zugerufen hatte und schon eine Weile in unordentlicher und zerstörter Kleidung neben ihm herschritt. »Mein Gott, Verehrtester!« rief er ihm zu. »Wie seh'n Sie aus! Als wenn Sie mit in der Bataille gewesen wären!«
»Es ist auch nicht viel anders,« erwiderte Ettlinger. »Wenn auch nicht als Kämpfer, doch als Gefangener! Meine Bauern hatten Lust, mich gefangen zu nehmen: da zog ich es vor, mit ihnen zu ziehen – jeden Augenblick hoffte ich, Ihnen Nachricht zuschicken zu können, aber das Gesindel kam dahinter … ich mußte noch froh sein, in einen Keller gesperrt zu werden und mit dem Leben davonzukommen!«
»Ich beklage Sie aufrichtig!« rief Vacchieri. »Aber diesmal wird das Volk wohl exemplarisch gezüchtigt werden! Und wie sind Sie dennoch entkommen?«
»Ich weiß es selbst nicht genau. Gegen Morgen mögen wohl Flüchtlinge eingetroffen sein und die Nachricht gebracht haben, daß es schief gehe: da mochten sie's fürs beste halten, mich einfach loszuwerden – auf einmal hörte ich, wie die Tür meines Kellers geöffnet ward, und kam unangehalten hinter all dem Scharmutzieren herum bis ans Tor …«
»Sie kommen zur rechten Stunde, um sich mit uns der wiederhergestellten Ordnung zu freuen!«
»Freuen? Sacre bleu! Ich möchte lieber Gift und Galle speien! Mein Anschlag war beinahe vollständig gelungen: das Verdienst, dem Kaiser die Hauptstadt zu retten, war bereits so gut wie mein – da führt mir mein Unstern diesen Tölpel von einem Menschen, diesen Jägerwirt, wieder in den Weg, und mein ganz kostbarer Plan ist vernichtet! Aber jetzt fühle ich erst, wie sehr das Abenteuer mich doch angegriffen hat, und daß ich Stärkung bedarf – ich muß mir erlauben, Herr Bürgermeister, mich bei Ihnen zu Gaste zu bitten zum Frühstück!«
»Mein Haus ist zu Ihrem Befehle,« sagte Vacchieri etwas kühl; »ich selbst aber muß auf die Ehre verzichten. Ich bin in dringlichen Geschäften zu dem Herrn Präsidenten der kaiserlichen Landesadministration, Exzellenz Grafen von Löwenstein, beschieden …«
»Zu Graf Löwenstein? Ist er hier?«
»Vor wenigen Stunden angekommen. Man hat noch in der Nacht eine Stafette nach Landshut an ihn abgeschickt – es mußte ihm übrigens schon etwas zu Ohren gekommen sein, denn der Reitende traf ihn bereits auf halbem Wege …«
»Das ist mir eine sehr erwünschte Nachricht!« begann Ettlinger wieder. »Gestatten Sie, daß ich Sie begleite – der Herr Graf zählt zu meinen vorzüglichsten Freunden und Gönnern noch von der Rheinkampagne her – ich will die Gelegenheit benützen, mich in seinem Gedächtnis etwas aufzufrischen …«
Zustimmend verbeugte sich der Bürgermeister und eilte der Dienergasse zu, wo der Graf in dem Landschaftshause abgestiegen war. Ettlinger wollte rasch folgen, wurde aber einen Augenblick aufgehalten, denn an der Ecke ward eben wieder ein Wagen Verwundeter geleert und einer davon nahe vor ihm auf die Ziegelplatten des Pflasters gelegt. Ettlinger erkannte die häßliche, verkümmerte und verkrümmte Gestalt, wenn auch das blutüberronnene Gesicht nicht mehr zu unterscheiden war. Ein Säbelhieb hatte den Schädel an der Seite bis auf den Wangenknochen gestreift und war dann tief und tödlich in Schulter und Brust eingedrungen. Der Transport in die Stadt war jedenfalls ein vergeblicher gewesen, denn der Tod saß schon in den weit aufgerissenen, erstarrenden Augen, auf den in der Bewußtlosigkeit des Fiebers murmelnden Lippen … »Will wieder zurück in meine Bodenkammer,« lautete es in halb unverständlichen Tönen. »Veitl will ruhig im Winkel sitzen und lauern … Veitl hat die Bauern gesehn – die große Fangspinne hat die Arme nach ihnen ausgestreckt und hat sie erwürgt. Die Bauern werden dem Veitl den Fang nicht mehr verderben!« Ein gräßliches Lachen brach aus der wunden Brust hervor und ging in das Röcheln des Todes über … Ettlinger eilte hinweg. Er erriet den Zusammenhang aus den Worten des Sterbenden. Wahrscheinlich war der Blöde gleich ihm freigelassen worden und hatte die Freiheit dazu benützt, den Bauern zu folgen und seinen Haß an ihrem Untergange zu weiden. Mit der Mordlust eines Raubtieres mochte er den Fliehenden nachgeeilt sein, sich an dem Gemetzel zu ergötzen, bis der Säbel eines Husaren, der ihn auch für einen flüchtigen Rebellen gehalten, seiner grausamen Wanderung ein Ende machte.
In der Wohnung des Grafen Löwenstein lief, drängte und trieb alles durcheinander, wie vor dem Hause, vor welchem fortwährend Boten ab und zu gingen und Kurierpferde stampften, deren Reiter eben angekommen waren oder der Depeschen harrten, die sie nach allen Winden hinaustragen sollten. Im Vorsaale standen einzelne Kavaliere, dann wieder einige Hilfesuchende mit wahren Mienen des Jammers; um sie herum Offiziere und Soldaten von allen Waffengattungen, Ansbach-Brandenburgische Grenadiere, Pappenheimer Schützen, kaiserliches Fußvolk, ungarische Husaren und Sereschaner oder Rotmäntel.
Die Türe zu dem Zimmer des Präsidenten stand offen, so daß man den Gewaltigen hin und wider schreiten sah, offenbar in übelster Laune, denn die Worte des unverhehltesten Unwillens drangen deutlich vernehmbar bis in das Vorgemach. »Sie werden schon lange erwartet, Herr Bürgermeister!« rief ein Diener halbleise dem Eintretenden zu und ging Platz machend voran. Löwenstein warf auf beide einen flüchtigen, scharf prüfenden Blick, dann wandte er sich wieder zu einem Manne, dessen Haltung und Miene durchaus nicht zu dem mehr als bescheidenen Anzuge paßte, den er trug. »Fahren Sie fort, Graf Lamberg!« rief er. »Sie glauben also wirklich, daß auch die Lektion von heute nacht nicht hinreichen werde, die Gemüter im ganzen Lande abzukühlen? Ich hoffe, daß die Rebellen an Inn und Donau an der oberbayerischen Christbescherung sich ein Beispiel nehmen und sich unterwerfen.«
»Ich glaub' es nicht, Exzellenz,« entgegnete Lamberg, »und bin sogar vom Gegenteil überzeugt. Ich war fünfzehn Stunden als Gefangener in den Händen der niederbayerischen Anführer – Zeit genug, ihre Stimmung zu erkunden. Am Inn, an der Donau, an der Rott und im ganzen Wald gilt die alte Losung, und in den ersten Tagen des Sommers sollen an die vierzigtausend Bauern sich bei Vilshofen und Aidenbach zusammenfinden!«
»Lächerlich!« erwiderte Löwenstein mit Achselzucken. »Aber wie hat das Volk Sie behandelt? Wie sind Sie ihm nur in die Hände geraten?«
»Ich war mit den bewußten Nachrichten auf dem Wege nach Wien und wollte die kürzeste Linie einhalten über Schärding. Als ich in die Nähe von Neuötting kam, wurde ich von einem Bauerntrupp aufgegriffen und, obwohl ich Namen und Stand angab, in eine Scheune gesperrt, wo ich Gelegenheit genug hatte, ihre Unterredungen anzuhören. Als ich ganz erschöpft nach Nahrung verlangte, brachten sie mir eine Schüssel voll Schnitten von getrockneten Äpfeln und Birnen und sagten, ich solle nur davon essen – das sei das einzige, was wir ihnen noch gelassen hätten …«
»Keckes Volk!« rief Löwenstein. »Und wie kamen Sie wieder los?«
»Auf unvermutet leichte Weise,« entgegnete Lamberg lachend. »Es bedurfte dazu nicht mehr als meine Erklärung, daß ich auf dem Wege gewesen, eine Wallfahrt zum Gnadenbilde in Altötting zu machen. Das sei freilich etwas anderes, meinten sie jetzt – in der Erfüllung eines so gottseligen Werkes wollten sie mich nicht hindern, und gaben mir sogar eine Wache mit, daß ich nicht wieder angehalten werden sollte … Ich zog es aber doch für alle Fälle vor, in dieser minder scheinbaren Kleidung weiterzureisen …«
Ein halblautes Lachen lief durch die Reihen.
»Lachen Sie nicht, meine Herren!« rief Löwenstein. »Dieser Vorfall ist wieder ein Beweis mehr, wie sehr ich recht habe! Ein Volk, das so denkt, wäre mit Güte am leichtesten zu gewinnen gewesen – das mußte man nicht zur Verzweiflung treiben! Ich habe mich immer gegen die harten Maßregeln gesträubt. Man hat dem Volke wirklich das Unmögliche aufgebürdet, und Sie, meine Herren vom Adel, und die Beamten haben redlich dazu beigetragen! … Da steht auch einer von jenen,« fuhr er fort und deutete auf Ettlinger, »deren Wohldienerei die Sache nur schlimmer gemacht hat!«
»Exzellenz …,« stammelte dieser betroffen.
»Ist es nicht so?« fuhr der Administrator fort. »Haben Sie nicht Ihre Untertanen auf alle Weise gedrückt?«
»Wenn ich streng war, so war es sicher nur im Interesse Kaiserlicher Majestät …«
»Nein, das haben Sie dadurch schlecht gewahrt!« zürnte Löwenstein. »Ich wette, Sie sind jetzt nur hierher gekommen, mir zu beteuern, was Sie alles getan haben und getan hätten, wenn nicht der Himmel weiß was Sie verhindert hätte! Wir kennen das! Hätten Sie Ihre Schuldigkeit getan, so mußten Sie den ganzen Anschlag vorher erfahren, mußten es möglich machen, dagegen Vorkehrungen zu treffen! Das ist eine wohlfeile Art, sich hinterher breit zu machen mit dem, was man gewollt! …« Er schien noch mehr hinzufügen zu wollen, aber er bemerkte Vacchieri und unterbrach sich. »Ah, sieh' da – Herr Bürgermeister!« rief er und winkte den übrigen mit leichter Verbeugung, sich zu entfernen. »Sie haben Ihre Orders, meine Herren – auf Wiedersehen!«
»Nun, wie ist es?« fuhr er fort, als beide allein waren, warf sich in den Diwan und winkte Vacchieri, sich niederzulassen. »Haben Sie schon eine Spur gefunden?«
»Noch nicht, Exzellenz – obwohl ich nach allen Richtungen ausgesandt und überall die vertrautesten Leute ausgewählt habe …«
»Lassen Sie nicht nach,« begann Löwenstein zutraulicher. »Nach unseren geheimen Mitteilungen aus Brüssel unterliegt es keinem Zweifel mehr: dieser Kapitän Gauthier ist ein heimlicher Emissär Max Emanuels – schon im Herbste wurde das alles abgekartet, und dieser Fuchs, dieser Millevois, hatte dabei die Hand im Spiele – ich habe die Beweise dafür …«
Der Bürgermeister verneigte sich zustimmend; Löwenstein sah ihn durchdringend an. »Es kommt mir auffallend vor,« sagte er, »daß Sie nichts davon wissen wollen! … Sollten Sie, der Bürgermeister, allein nicht erfahren haben, was, wie wir jetzt wissen, das Gerede jedes Hauses war?«
»Exzellenz sagen es selbst – es war ein Gerede …«
»Nein, es war etwas an der Sache! Wir wissen gewiß, Kurfürst Max Emanuel hat insgeheim an die sogenannte Landesdefension geschrieben, aber zugleich verboten, von dem Schreiben einen voreiligen Gebrauch zu machen … Offen, in allen seinen Staatsschriften behauptet er das Gegenteil und desavouiert die ganze Erhebung – darum liegt uns alles daran, in den Besitz dieses Schreibens zu kommen. Noch sträuben sich die Reichsfürsten, die vom Kaiser ausgesprochene Acht zu bestätigen – können wir ihnen diesen Beweis vorlegen, so werden sie es nicht mehr tun, werden den Verschwörer nicht mehr halten können … Jetzt können Sie zeigen, Vacchieri, daß Sie nicht auch, wie die meisten, nur mit halbem Herzen zu uns gehören …«
»Ich glaube das immer gezeigt zu haben, Exzellenz,« sagte Vacchieri, seinen Bart drehend. »Mich fesselt nichts an dieses Land, das nicht meine Heimat ist – mein Herz gehört meinem Amte, und mein Amt hab' ich vom Kaiser … Ich denke …«
»Gut, gut, Vacchieri, es wird Ihr Schaden nicht sein, wenn Sie sich bewähren: die wirklich Gutgesinnten wird der Kaiser auch echt kaiserlich zu belohnen wissen!« Ein Diener trat ein und übergab dem Bürgermeister ein versiegeltes Schreiben. »Gestatten Exzellenz, es zu öffnen,« sagte dieser. »Ich habe befohlen, daß alle Nachrichten in dieser Angelegenheit mir hierher nachgeschickt werden – vielleicht enthält dieser Umschlag bereits, was wir suchen … Es ist so,« fuhr er nach flüchtigem Einblicke mit zufriedenem Lächeln fort, … »gestatten Sie, daß ich die schnell hingeworfene Meldung lese … Melde sonach gehorsamst,« las er, »daß ich besagten Kapitän Gauthier glücklich aufgefunden, auch durch Verwundete und andere, so ihn im Leben gekannt, habe identifizieren lassen. Derselbe lag tot im Sendlinger Kirchhofe, und obwohl ich ihn am ganzen Leibe durchsucht, auch sogar die Nähte seiner Kleider und die Sohlen von den Stiefeln abgetrennt, habe doch an ihm nichts Schriftliches auffinden können, als das anliegende Blatt, so samt dem Umschlage neben dem Toten im Schnee gelegen, auch beide sehr mit Blut besudelt gewesen und fast mazeriert ausgesehen haben …«
»Schnell, Vacchieri!« rief Löwenstein hastig, »das Blatt! das Blatt!« Ehrerbietig übergab es dieser und starrte betroffen in das erblassende Antlitz des Grafen, der das Papier forschend und ungläubig betrachtete und nach allen Seiten umkehrte.
Es war leer.
»Leer! Um Gottes willen!« rief Vacchieri. »Sollte der ungeschickte Mensch das rechte Schreiben verloren haben, oder hätte dieser Gauthier noch im Sterben Zeit gefunden, es zu vernichten …«
Der Graf hatte schnell seine Fassung wieder gewonnen. »Nein,« sagte er kalt und mit fast höhnischem Lächeln, »… ich bin nur wieder um eine kostbare Erfahrung reicher geworden! Dieser Millevois ist noch schlauer als ich geglaubt! Also darum dieses geheimnisvolle Verbot, mit welchem das Schreiben umgeben ward, damit man es, sobald es seinen Dienst getan, immer wieder zurückziehen oder vertauschen konnte! Man gab dem Volke das Spielzeug, wonach es verlangte, und durfte nicht fürchten, kompromittiert zu werden … Mein Kompliment, Herr von Millevois, für diesen Zug … er ist satanisch – aber fein!«
Löwenstein durchmaß mit klirrenden Tritten das Gemach.
»Gehen Sie, Bürgermeister,« rief er, »lassen Sie die Kuriere absatteln – was jetzt nach Wien und Regensburg zu berichten ist, hat keine Eile … Gehen Sie, wir sind fertig …«
Verdutzt zog sich Vacchieri zurück und überließ das Feld einem schönen, fast noch jünglingartigen Manne in bayerischer Hoftracht, der dem enttäuschten Administrator eben gelegen zu kommen schien, den Unmut an ihm auszulassen. »Was führt Sie zu mir?« herrschte er ihn an, »Graf Törring – wenn ich nicht irre?«
»Klemens, Graf zu Törring-Seefeld,« erwiderte der Eingetretene mit edlem Anstande, »Oberhofmeister der kurbayerischen Prinzen. Ich habe von Eurer Exzellenz Ankunft gehört und eile hierher, um mir den Bescheid zu holen, den ich weder auf meine schriftlichen Eingaben nach Landshut noch auf meine mündlichen Vorstellungen bei General Wendt erwirken konnte, – Bescheid auf die vielen Beschwerden …«
»Ach ja, ich weiß!« rief Löwenstein mit unverhehltem Spotte. »Sie sind unermüdlich im Querulieren!«
»Wie man anderseits,« entgegnete Törring mit würdevoller Entschiedenheit, »unerschöpflich ist, neue Kränkungen und Quälereien zu ersinnen. Ihre Durchlauchten, die kurbayerischen Prinzen …«
»Von wem reden Sie, Herr Graf?« fiel ihm Löwenstein barsch ins Wort. »Der Kaiser kennt keine Prinzen von Kurbayern …«
»Aber ich kenne sie, und das bayerische Volk und jeder, bei welchem das Unrecht nicht zum Rechte umgemodelt wird durch den Sieg der Gewalt! Man behandelt die durchlauchtigsten Kinder nicht, wie es sich gebührt: nicht, wie es zugesagt wurde im Ilbersheimer Vertrage und noch einmal feierlich bei der widerrechtlichen Besetzung von München! Schon lange hat man ihnen nur mehr den Besuch des Hofgartens gestattet – die Gesundheit der Prinzen leidet darunter; sie sollen ausreiten, sie bedürfen Luft und freie Bewegung. Seit einige Bürger die liebevolle Unklugheit begingen, ihnen über den Wall Blumen zuzuwerfen, hat General Wendt auch den Besuch des Hofgartens verboten und die Armen sind wie auf ein Gefängnis auf ihre Gemächer beschränkt. Das ist nicht die Absicht des Kaisers, die Kinder seines Feindes so behandelt zu wissen: es kann seine Absicht nicht sein – darum fordere ich die Abstellung meiner Beschwerden, wenn Exzellenz nicht wollen, daß ich dieselbe unmittelbar bei Kaiserlicher Majestät in Wien suche …«
»Genug, genug,« erwiderte Graf Löwenstein in strenger gebieterischer Haltung, »ich werde die Sache untersuchen lassen und überlegen, was geschehen kann …«
»Nein, Exzellenz!« brauste Törring auf. »Ich fordere sogleich Ihren Bescheid, zu dem es weder einer Untersuchung noch langer Überlegung bedarf! …«
»Es bleibt bei dem, was ich gesagt!« befahl Löwenstein. »Den Bericht an Kaiserliche Majestät aber können Sie ersparen: ich werde selbst nach Wien schreiben und die Maßregeln beantragen, welche geeignet sind, mich Ihrer steten Klagen und Sie eines Amtes zu entheben, dessen Erfüllung Ihnen so schwer zu werden scheint …«
»Die Erfüllung einer Pflicht«, entgegnete Törring mit Ansehen, »ist für einen bayerischen Edelmann niemals eine Beschwer: die meinige war mein Vergnügen und mein Stolz und wird es bleiben, so lang ich lebe! Ich sehe nun klar, was ich von Exzellenz zu gewärtigen habe – wohlan denn, versuchen Sie Ihr Äußerstes – ich weiß, was Pflicht, Ehre und Treue mir gebieten!«
– Im Falkenturme hatte indessen die peinliche Untersuchung gegen die Hochverräter und Rebellen längst ihr unheimliches Werk begonnen. Auch außerhalb Münchens, im ganzen Lande waren die Gefängnisse überfüllt, in Ingolstadt und Burghausen die Hauptgerichte niedergesetzt. Die Richter waren meist aus den kaiserlichen Landen berufen, doch hatten sich auch bayerische Beamte gefunden, welche nicht davor zurückscheuten, über die vaterländische Begeisterung ihrer Landsleute wie über Verbrecher den Stab zu brechen. Die Einwohnerschaft im Falkenturme war nur zu zahlreich; neben Jäger hatten von den Bürgern auch Senser, Eder und Schwöger, die Offiziere Mayer, Abel und Huy und selbst der friedsame Kammerrat Neusönner ihren Platz daselbst erhalten. In engen, lichtlosen Keuchen saßen sie und konnten den Wandel der Zeit nur danach bemessen, wenn sie auf dem Wege in die Verhörstube durch die kleinen Fenster der Gänge oder der engen Treppenwindung gewahr wurden, wie der Schnee durch die Eisenstäbe hereinsah, und wie dann die Eiszapfen daran anfingen, sich in fallende Tropfen zu verwandeln.
So war der März herangekommen und mit ihm ein ungewöhnlich baldiger Frühling. An einem Morgen ward Jäger aus seinem Gefängnisse geholt und blieb, die Ketten emporhebend, damit sie ihn nicht hinderten, vor dem einen Fenster stehen. Er war um vieles älter und bleicher geworden in den wenigen Monaten, nicht bloß von Angesicht, auch die Haare hatten sich verfärbt und waren nahezu silberweiß geworden – jede Stunde in der einsamen Kerkernacht hatte ihr Gramflöckchen auf seinen Scheitel niederfallen gemacht. – »War das nicht eine Schwalbe, was da vorbeihuschte?« fragte er den Schergen, der ihn geleitete.
»Kann schon sein, Herr: sie nisten alle Jahr' unterm Dache …«
»Sind wir schon so weit auswärts?« sagte der Gefangene vor sich hin. »Dann kommt wohl auch bald die Zeit, wo für mich die Tür aufgeht …«
Der Scherge lachte. »Kann schon sein, Herr,« sagte er, »aber der Herr wird in keinem Falle fortfliegen wie die Schwalben da …«
»Wenn auch!« entgegnete Jäger gelassen. »Was auch kommt, es ist besser als das Müßiggehn und das Lebendigbegrabensein im Gefängnis …«
Jäger trat in ein kleines, helles Gemach, in welchem an langer, grüner Tafel die Richter saßen; in der Mitte der Vorsitzende, der kaiserliche geheime Hofkriegsrat Franciscus Leopoldus Wettsteinius, die Revisionsräte Pachner und Heß und der Aktuarius Cloßmann.
»Mit Verlaub,« sagte Jäger und nahm auf dem hölzernen Stühlchen Platz, das in der Mitte stand, »bin in früherer Zeit das Sitzen gar nicht gewohnt gewesen – jetzt haben meine Füße das Tragen verlernt …«
»Laß Er sich das zur Warnung sein!« begann der Vorsitzende. »Inquisit hat es nur sich selbst zuzuschreiben, wenn die Haft von Einfluß gewesen ist auf Seinen Körper. Ich wollte zu Seinem Besten wünschen, sie hätte auch Seinen verstockten Sinn zu beugen vermocht!«
»Euer Gnaden tun mir unrecht,« entgegnete Jäger beinahe lächelnd, »ich bin nicht verstockt! Die Herren sitzen doch da, um das Wahre herauszubringen … was tät's ihnen da nützen, wenn ich erlegt und zerbrochen wär'? Was ich dann vielleicht sagen tät', wär' ja doch nicht wahr, weil der, der es sagte, der alte Jägerwirt nicht mehr wär'! Ich dank' Gott, daß ich's noch bin, inwendig wenigstens, wenn auch von auswendig nicht viel mehr übrig geblieben ist …«
»Ich eröffne dem Inquisiten,« unterbrach ihn Wettsteinius, »daß Er zum Schlußverhöre vorgerufen ist …«
»Das kann niemand lieber sein, als mir!«
»Er schweigt und redet, was Er gefragt wird! – Soll man Ihm Seine bisher gemachten Aussagen nochmals vorlesen?«
»Wozu? Ich weiß jedes Wort, das ich gered't hab'!«
»Und was hat Er hinzuzufügen? Will Er endlich eingestehen?«
»Eingestehn!« rief Jäger erregt. »Wie oft soll ich das noch wiederholen, daß ich nichts einzugestehen hab'! Eingestehen und Leugnen, das sind Geschwister, die's nur mit dem Unrecht zu tun haben – ich bin mir nichts Unrechtes bewußt! Wenn es gelungen wär', was ich getan und vorgehabt habe, so wär' ich jetzt ein angesehener und hochgeehrter Mann – weil es mißlungen ist, muß ich's wohl leiden, was der mit mir anfängt, der die Gewalt hat … aber aus Recht wird deswegen so wenig Unrecht als aus Schwarz Weiß werden kann …«
»Das sind nur Ausflüchte Seiner alten Verstocktheit – aber man wird dennoch Mittel finden, Ihn mürbe zu machen! – Er weigert sich also auch, seine Mitverschworenen zu nennen?«
Um Jägers Mund zuckte ein Lächeln. »Meine Mitverschworenen?« sagte er. »Nun, den Gefallen kann ich Ihnen ja allenfalls tun … Zählen Sie die Einwohner, ziehen Sie die Handvoll Landsverräter, die Sie ja am besten kennen, ab – dann haben Sie ein genaues Verzeichnis …«
»Inquisit erkühnt sich sogar, eines hohen Gerichtes zu spotten,« rief Wettsteinius, indem er eine Prise nahm und den Kollegen anbot. »Ich denke, wenn die Herren einverstanden sind, vergeuden wir die kostbare Zeit nicht länger …«
Auf einen Wink begann der Schreiber das Protokoll zu verlesen.
Kopfschüttelnd hörte Jäger zu. »Es ist sonderbar, wie die Herren das verstehen!« sagte er. »Es ist alles so, wie's geredet worden ist, und doch ist's wieder so ganz anders, daß ich meine eigenen Wort' nicht mehr kenne. Ich fürcht', ich hätt' es gleich von Anfang an so machen sollen – aber es wird jetzt auch nicht zu spät sein – nein, Euer Gnaden, das unterschreib' ich nicht!«
»So tut es der Scherge für Ihn!« entgegnete der Richter kalt. »Er will eben contumaciam fortsetzen bis zum letzten Augenblicke! Das Protokoll bleibt darum doch geschrieben und gilt auch ohne Seine Unterschrift!«
»Ich verstehe nicht ganz, was Sie da sagen,« entgegnete Jäger, indem er abgeführt wurde, … »aber traurig ist es, daß ein Blatt Papier so viel Macht haben kann … Das Protokoll dauert und wird aufgehoben, wenn ich schon lang verfault bin: dann zieht's mancher hervor und liest's, und ich muß mir's gefallen lassen, was er von mir für eine Meinung hat … Vielleicht ist aber doch auch einer darunter, der, eh' er dem Papier so Wort für Wort glaubt, daran denkt, wer das Protokoll geschrieben hat, – und der wird dann wohl ein Vaterunser haben für den Jägerwirt …«
– Wenige Tage später mochten die Gerichte die Vergeblichkeit weiteren Inquirierens eingesehen haben. In einer größeren Stube sahen zum ersten Male die Verschworenen sich wieder, um ihr Urteil zu hören und nach langer, völliger Absperrung mit ihren Angehörigen zu verkehren. Hauptmann Mayer und Kammerrat Neusönner waren zu langjährigem Gefängnis – die übrigen alle, auch Peter Hafner von Marbach unter ihnen, zum Tode verurteilt. Wie um die Wirkung zu erhöhen, war das über Jäger zuletzt gespart worden. »Wird derselbe,« hieß es darinnen, »wegen des Lasters beleidigter Majestät, absonderlich aber, weillen Er bei der verdambten Rebellion ein Rädelsführer, und an dem Blute der Bauern Ursach' gewesen, mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht, der todte Körper publik geviertheilt, der Kopf auf den Isarthurm, die vier Theile aber, wie dem Körper beschehen, im Burgfrieden ausgestellt, auch dessen sämmtliches Vermögen confiscirt – alles von Rechts wegen!«
Tief erschüttert und doch fest umarmten sich die Leidensgenossen. An Sensers kräftiger Brust weinte sein junges Weib, während Eder ein paar Söhne in die Arme schloß. Hafner war noch schwach und krank von den erhaltenen Wunden – neben ihm saß der greise Großvater mit einem alten Knechte aus der Heimat. Der Jägerwirt stand allein, bis der Kammerrat zu ihm trat und ihm mit feuchten Augen die Hände schüttelte. »Ich bin immer froh gewesen,« sagte er, »daß ich zum Frieden geredet habe und daß mein schwacher Körper mir nicht erlaubt hat, am Kampfe selber teilzunehmen – jetzt aber beklag' ich, daß meine Schuld minder strafwürdig gefunden wurde … wie gern schiede ich mit Ihnen – aus dem verlorenen Vaterlande!«
Seitwärts sitzend und unbeachtet waren indessen die beiden Hafner in ein vertraulich flüsterndes Gespräch geraten. Die beiden schienen die früheren Rollen getauscht zu haben, denn der Jüngling lehnte betroffen da, während seine Regsamkeit und Rüstigkeit auf den Greis übergegangen war, der straffer dastand beim Wiedersehen als dereinst beim Abschiede. »Es ist heuer gar früh auswärts gegangen,« erzählte der Alte; »auf den niedern Almen ist's schon aper, und auch der Wendelstein schaut schon völlig braun herunter …«
»O Großvater,« seufzte Peter, »wie ist es daheim so schön … ich möcht' sie wohl noch einmal wiedersehn, die Berg' und das Tal und unser Haus und …« Tränen unterbrachen ihn und erstickten ihm die Stimme.
»Solltest nit so reden, Peter,« sagte der Alte, »machst dir und mir das Herz nur noch schwerer …«
»Und es ist keine Hilf' mehr, Großvater? Ich muß sterben?«
»Keine, Peter … ich bin beim Präsidenten gewesen und von Pontius zum Pilatus gelaufen … es hat nichts genutzt; es hat überall geheißen: es müßt' ein Exempel statuiert werden …«
»Ich fürcht' mich auch nit vorm Sterben, Großvater … ich tät' doch meiner Lebtag' ein Krüppel bleiben und ein Siech' – aber auf die Weis' sterben müssen, das ist hart …« –
»Das müßte justament nit sein,« sagte der Alte nach kurzem Schweigen mit abgewandtem Gesicht.
»Weißt ein Mittel – Großvater?« flüsterte es entgegen.
Dieser nickte, aber er sah den Enkel nicht an. »Das Forstner Lisei von Fischbachau,« fuhr er fort, »ist zu nachten bei mir gewesen – die hat's ausgestudiert … Sie laßt dich grüßen, Peter, und laßt dir sagen: – es ist keine Stund' gewesen, wo sie nicht an dich gedacht hat und für dich gebet' …«
»… Grüß mir sie wieder, Großvater! Grüß mir sie tausendmal … mein letzter Gedanke gehört unserem Herrgott … aber der vorletzte, der gehört noch ihr.«
»Ich will's ausrichten, Peter, ich will's wohl ausrichten … das Lisei hat gemeint, es wär' was Schreckliches, wenn ein braver Bursch wie du, wenn einer von den Hafnern von Marbach – dem Spitzwürfel unter die Händ' käm' …«
»Das Mittel, Großvater – das Mittel!«
»Das Lisei ist durchs Jungholz 'gangen – da sind die Kranewitstauden dagestanden, mit den frischen Nadeln und hie und da noch ein Beerl dran … da ist ihr eingefallen …«
»Ich versteh' dich, Großvater,« rief Peter hastig und faßte die welke Greisenhand, welche an dem Rosenkranze herumzitterte, … »du meinst Kronäugeln … hast du welche, Großvater?«
Der Alte erwiderte nichts, aber er drückte Peter ein Blättchen in die Hand, in welchem einige dunkle Samenkörner eingewickelt waren. »Unser Herrgott mag mir's verzeihn,« murmelte er, »aber verloren ist dein junges Leben so wie so … es kann keine so arge Sünd' sein, was ich tu' …« Der Rosenkranz fiel zu Boden, denn er brauchte die Hand, um Peter abzuhalten, der die todbringenden Körner sogleich verschlucken wollte. »Nicht jetzt,« flehte er, »noch könnte immer ein Wunder geschehn … das Gift wirkt gar schnell … nit eher, Peter, als in der letzten Viertelstund' …«
Es war vergebens. »Ist schon geschehn, Großvater,« sagte Peter mit bebender Stimme … »Jetzt aber bleib und halt aus bei mir – und hilf mir beten um eine glückselige Sterbestund' …«
Eng aneinandergerückt, Hand in Hand saßen die beiden und beteten. –
Auch Jäger hatte währenddessen einen Besuch bekommen. Die alte, lebensfrische Röte überflog bei dem Anblicke sein Gesicht, und die Arme weit ausbreitend rief er ihm mit gerührter Stimme entgegen: »Xaver, Vetter – ehrliche, deutsche Haut … Du lebst? Du kommst zu mir? Du bist wirklich da? – O wie mich das freut,« fuhr er fort, während der Bursche an seiner Brust schluchzte, »wie mir das wohl tut, dir in die guten, treuen Augen zu schauen! … Was macht die gute Münchner Stadt … aber nein, sag mir nichts davon, ich will's lieber nicht wissen … Sag' mir dafür, wie's mit dem Jägerwirtshaus steht … Nein, das auch nicht! Ich hab' Unglück mit dem Fragen … Erzähl' mir nichts: es geht mich ja auch nichts mehr an. – Jetzt zum ersten Male tut mir's leid, daß sie mein Vermögen konfisziert haben – ich kann dir ja nicht einmal ein Andenken hinterlassen!«
»O Vetter,« sagte Xaver, der sich etwas gesammelt hatte, »ich trag' das Andenken an Euch in der Brust herum … aber es ist doch noch jemand da, den Ihr nicht vergessen sollt …«
Der Wirt sah finster vor sich hin.
»Die Walpi schickt mich, Vetter – sie bittet um die einzige Gnad' … Euch noch einmal sehn zu dürfen! Wenn Ihr wüßtet, Vetter, wie bitter sie bereut … wenn Ihr wüßtet, wie alles so gekommen ist, sie ist vielleicht doch nicht so schuldig, wie's den Anschein hat …«
»Nicht so schuldig?« rief Jäger stark. »Schau um dich herum, Vetter … all das Blut und Elend hat sie auf dem Gewissen, und da sollt' noch die Red' davon sein können, wenn vielleicht noch ein Federchen abgeht von dem Zentnergewicht? … Ich hab's gesagt, Vetter, und ich bleib' dabei … ich kenn', ich seh', ich will sie nicht wieder …«
Ausrufe des Schreckens und Drängen gegen die Ecke unterbrachen ihn: der junge Hafner war plötzlich von Krämpfen befallen worden und wand sich, vom Stuhle herabgeglitten, in den letzten Zuckungen des plötzlichen Todes. Der Alte hielt den Oberkörper zwischen den Knieen aufrecht und hatte die mit dem Rosenkranze umwundenen Hände fest auf dessen Haupt gedrückt. Noch einige letzte heftige Zuckungen, dann streckte und lähmte der Tod das willig entweichende Leben. »Das ist nicht natürlich!« riefen die Wächter durcheinander. »Der Alte muß ihm etwas eingegeben haben … Gesteh's nur ein, Graukopf! Es hilft dir doch nichts!«
Der Alte erwiderte nichts; aber er weinte, daß die Tränen auf das schlichte Haar und die Stirn des Toten herniederträuften. Gleichgültig sah er mit an, wie die Leiche emporgehoben und weggebracht wurde, teilnahmlos vernahm er, daß sie auf den Schindanger gebracht und dort verscharrt werden solle; im Hinausgehen nur flüsterte er seinem Begleiter zu, daß er mitgehen und sich den Platz merken solle.
Ergriffen standen die Schicksalsgenossen des jungen Bauers und trennten sich in die Zellen, um sich zum eigenen nahen Ende zu bereiten.
Der Morgen des siebzehnten März brach an. Jäger hatte eben von dem Geistlichen Abschied genommen, der ihm den letzten Trost der Kirche gereicht hatte und wieder kommen sollte, ihm das Geleit auf dem letzten Gange zu geben. Er wollte allein sein und bat auch Xaver, der nochmal ihn zu besuchen gekommen war, ihn zu verlassen. »Ich kann's noch immer nicht denken und glauben,« jammerte der treue Mensch, »daß es so hat ausfallen müssen, daß Ihr sterben sollt, Vetter – auf eine solche Art sterben … meine Gedanken gehen rundum, ich kann's nicht voneinander bringen …«
»Beruhige dich, Xaver,« sagte Jäger, »bleibe brav, wie du bisher gewesen bist und denke drauf dich zu erhalten: es kommen wieder andere, bessere Zeiten – dann kannst du dem Kurfürsten erzählen, wie ich's gemeint hab', und kannst sorgen, daß ich meinen ehrlichen Namen wieder bekomm' … Nicht, daß ich so sterben muß, Xaver, fällt mir schwer, sondern daß mein eigenes Fleisch und Blut schuld daran ist, daß ich nichts hab' ausrichten können, und daß es noch schlimmer geworden ist als vorher …«
»Jawohl – noch schlimmer!« seufzte Xaver, indem er Jägers forschendem Blicke auszuweichen versuchte.
»Du hast noch was auf dem Herzen, was du mir verschweigen willst,« sagte dieser. »Tu's nicht, Xaver! Es ist besser, wenn ich alles weiß …«
»… Ich bin vorgestern in der Residenz gewesen,« begann Xaver zögernd, »in meiner Angst, Euch zu retten, bin ich auf alles verfallen und habe gedacht, der Prinzenhofmeister, der Graf Törring, der sei ein guter Patriot – der könne vielleicht etwas für Euch tun … Ich wollt', ich wäre nicht hingegangen!«
»… Nun?«
»Ich war eben recht gekommen, mit anzusehen, was wir so lang' gefürchtet haben …«
»Also wirklich? Die Prinzen? …«
»Das ganze Schloß war wie in Aufruhr und voller Lärm – die wenige Dienerschaft, die man ihnen noch gelassen hatte, stand weinend auf den Gängen und im Vorzimmer und schaute auf den Hof hinunter, wo ein einfacher bepackter Reisewagen stand. Niemand hielt mich an, niemand fragte mich … ich kam ins Zimmer bis zu dem Grafen – der stand in der Mitte und hatte den Degen gezogen, und hinter ihm standen die beiden älteren Prinzen und hielten einander fest umarmt; im Zimmer nebenan lagen die Kleineren und die Prinzessin auf den Knieen und weinten und lamentierten durcheinander. Der Graf redete und schrie auf welsch auf einen fremden Herrn hinein, der mit einigen Trabanten gegenüberstand. Der antwortete auf welsch und gab ein Zeichen, und eh' ich mir's versah, war der Graf ergriffen und entwaffnet – die Prinzen fortgeführt … Wie ich mich aus dem Schlosse wieder herausgefunden habe, weiß ich selber nicht … ich hörte den Wagen fortrollen, wohin, weiß niemand; – die Kleinen sind bei der Frau von Weichs in die Kost gegeben – die Prinzessin steckt im Angerkloster …«
»Es ist gut,« sagte Jäger nach einer Pause; »ich dank' dir, daß du mir's erzählt hast … Bei einem solchen Leidwesen, was ist dagegen das Bissel, was ich auszustehen hab' … Arme Kinder! Und auch armer … jawohl, armer Vater!«
Er drängte Xaver zur Türe hinaus und kniete vor dem schmucklosen Kreuzbilde seines Gefängnisses zu langem, ergebenem Gebete nieder.
Darin versunken, gewahrte er es nicht, als nach einiger Zeit die Türe aufging und der Schließer Walpi eintreten ließ, die hart an der Schwelle in die Knie sank – wie sie das Schluchzen nicht mehr bewältigen konnte, sprang er auf.
»Wer ist da?« rief er. »Du? Geh mir aus den Augen – hab' ich dir nicht deutlich genug gesagt, daß …« er stockte; »daß ich dich nicht kenne,« hatte er sagen gewollt, aber das Wort kam nicht über seine Lippen, als sein Blick auf ein abgehärmtes, eingefallenes Antlitz traf, auf die wundgeweinten, einst so entzückenden Augen, die ihm entgegenstarrten, auf die mageren, verwelkten Hände, die sich nach ihm ausstreckten. »Es ist wahrhaftig wahr,« fuhr er in mildem, erschüttertem Tone fort, »wenn ich sage: ich kenne dich nicht mehr! O du armes, armes Leut, was hat die Welt aus dir gemacht? Ist das die Jägerwirts-Walpi? Das Mädel, das einmal meine Freud' gewesen ist und meine einzige Hoffnung? … O Walpi, ich hab' dir's gesagt: es werd' eine Zeit kommen, die dich bitter an dein Lachen und an eine gewisse Stund' erinnern wird …«
Walpi hielt das Gesicht in den Händen verborgen; sie konnte nur weinen. Von draußen ertönte das erste Zeichen des Armensünderglöckleins.
»Vater!« schrie sie aufschreckend. »Ums Blut Christi willen, geh nit so von mir – ich muß verzweifeln, wenn du mir nicht verzeihst!«
»Was kann dir meine Verzeihung helfen? – Die paar Jahrln, um die du mich vielleicht bringst, sind nicht der Rede wert – das Elend aber, das du über so viele andere gebracht hast, das nimmt dir meine Verzeihung nicht ab, das mach' mit dir selber aus und mit unserm Herrgott …«
»Wie kann ich, wenn du – wenn der eigene Vater mir nicht verzeiht!« jammerte sie, indem sie auf den Knieen vor ihn hinrutschte, seine Hand erfaßte und an ihre tränenströmenden Augen drückte. Ernst sah der Vater lange auf sie hernieder … ein lichter Gedanke der Versöhnung glitt über sein Angesicht. »Wohlan denn,« sagte er, »ich will mein Kind nicht ganz verstoßen … ich spür' es, du bist mein unseliges, mein fluchwürdiges … aber doch mein Kind! Ich will dir verzeihen, wenn du versprichst, was ich fordere …«
»Alles,« stammelte die Unglückliche, »alles …«
»Wenn du gelobst bei deiner Seel' und Seligkeit, daß du ablassen willst von der sündhaften Eitelkeit …«
Sie nickte stumm.
»Wenn du gutmachst, was du verbrochen hast!« fuhr er feierlich fort. – »Wohl kannst du das Verlorene nicht wiederbringen, kannst die Toten nicht wieder lebendig machen … aber eines ist noch zu tun übrig: Die beiden älteren Söhne unseres Kurfürsten sind fortgebracht worden, niemand weiß, wohin und was der Feind unseres Bayerlandes vorhat mit ihnen … Versprich mir, daß du sie aufsuchen willst! Daß du nicht eher ruhst, bis du sie gefunden hast! Dann bleib in ihrer Nähe und hüte und bewache sie wie ein Schutzengel, bis die Zeit kommt, wo sie wieder in ihr Land zurückkehren dürfen, und du statt meiner sie ihrem Vater wiedergeben kannst … Versprichst du mir das?«
»Und willst es halten – treu und unverbrüchlich … bis in den Tod?«
»… Bis in den Tod …«
»Dann,« begann er wieder mit brechender Stimme, »dann bitt ich Gott demütig, daß er mein Fluchwort wieder wegnimmt von deinem Haupte … steh auf, Walpi – ja, dann verzeih' ich dir …«
Weinend zog er die Weinende an die väterliche Brust: das Armsünderglöcklein gellte zum dritten Zeichen.
Bald hatte der Zug den Marienplatz und das zwischen der Mariensäule und dem Fischbrunnen errichtete Blutgerüst erreicht; bald war das Urteil in seiner ganzen Grausamkeit vollzogen und die Getreuen hatten das Werk ihres Lebens mit ihrem Blute besiegelt.