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Langsam stieg Georg aus dem untern Schiffsraum empor, auf schmaler, teppichbelegter Treppe, zwischen langgedehnten, schiefen Spiegeln; und in einen langen, dunkelgrünen Plaid gehüllt, der nachschleppte, wandelte er unter dem Sternenhimmel auf dem menschenleeren Verdeck auf und ab. Am Steuer, bewegungslos wie immer, stand Labinski, drehte das Rad und hatte den Blick zum offenen Meer gerichtet. Welche Karriere! dachte Georg. Zuerst Toter, dann Minister, dann ein kleiner Bub mit einem Muff und heute schon ein Steuermann. Wenn er wüßte, daß ich auf diesem Schiff bin, so würde er sicher appellieren. »Geben Sie acht«, sagten hinter Georg die zwei blauen Mädeln, die er vom Seeufer her kannte; aber schon stürzte er hin, verwickelte sich in den Plaid und hörte den Flügelschlag weißer Möven über seinem Haupt. Gleich darauf saß er unten im Salon an der Tafel, die so lang war, daß die Leute am Ende ganz klein aussahen. Ein Herr neben ihm, der dem alten Grillparzer ähnlich sah, bemerkte ärgerlich: »Immer hat dieses Schiff Verspätung, schon längst sollten wir in Boston sein.« Nun bekam Georg große Angst; denn wenn er beim Aussteigen die drei Partituren im grünen Einband nicht vorweisen konnte, so wurde er unbedingt wegen Hochverrats verhaftet. Darum sah ihn auch der Prinz, der den ganzen Tag auf dem Verdeck mit dem Rad hin und herraste, manchesmal so sonderbar von der Seite an. Und um den Verdacht noch zu steigern, mußte er an der Tafel in Hemdärmeln dasitzen, während sämtliche Herren, wie immer auf Schiffen, Generalsuniformen und alle Damen rote Samttoiletten trugen. »Gleich sind wir in Amerika«, sagte ein heiserer Steward, der Spargel verteilte, »nur noch eine Station.« Die andern können ruhig sitzen bleiben, dachte Georg, die haben nichts zu tun, ich aber muß gleich ins Theater schwimmen. Und in dem großen Spiegel ihm gegenüber erschien die Küste: lauter Häuser ohne Dächer, die terrassenartig immer höher hinaufstiegen; und ganz oben in einem weißen Kiosk mit durchbrochener Steinkuppel, ungeduldig, wartete die Musikkapelle. Die Glocke auf dem Verdeck ertönte, und Georg stolperte mit seinem grünen Plaid und zwei Handtaschen die Treppe hinauf zum Garten. Aber man hatte den unrichtigen hertransportiert; es war nämlich der Stadtpark; auf einer Bank saß Felician, neben ihm eine alte Dame in einer Mantille, legte die Finger an die Lippen, pfiff sehr laut, und mit außergewöhnlich tiefer Stimme sagte Felician: »Kemmelbach – Ybs.« Nein, dachte Georg, solch ein Wort nimmt Felician nicht in den Mund... rieb sich die Augen und erwachte.
Der Zug setzte sich eben wieder in Bewegung. Vor dem geschlossenen Kupeefenster leuchteten zwei rote Laternen auf. Dann rann still und schwarz die Nacht vorbei. Georg zog seinen Reiseplaid fester um sich und starrte auf die grün verhängte Lampe an der Decke. Ach wie gut, dachte er, daß ich allein im Kupee bin, so hab ich doch mindestens vier oder fünf Stunden fest geschlafen. Was war das für ein seltsam wirrer Traum? Die weißen Möven fielen ihm zuerst wieder ein. Ob die irgend etwas zu bedeuten hatten? Dann dachte er an die alte Frau mit der Mantille, die eigentlich niemand anders war, als Frau Oberberger. Sie würde sich nicht sonderlich geschmeichelt fühlen. Aber hatte sie nicht wirklich ausgesehen wie eine ganz alte Dame, als er sie vor ein paar Tagen an der Seite ihres leuchtenden Gemahls in der Loge des kleinen, weiß-roten Kurtheaters erblickt hatte? Und auch Labinski war ihm im Traum erschienen, als Steuermann, sonderbarerweise. Und auch die Mädchen in blauen Kleidern, die vom Hotelgarten aus durchs Fenster ins Klavierzimmer hineingeblickt hatten, sobald sie ihn spielen hörten. Aber was war denn nur das Gespenstische in diesem Traum gewesen?
Nicht die blauen Mädchen, auch Labinski nicht und nicht der Prinz von Guastalla, der zu Rad übers Verdeck gerast war. Nein, seine eigene Gestalt war ihm so gespenstisch erschienen, wie sie zu beiden Seiten neben ihm in den langgedehnten, schiefen Spiegeln, hundertmal vervielfacht einhergeschlichen war.
Es begann ihn zu frösteln. Durch den Luftspalt oben drang kühle Nachtluft ins Kupee herein. Die tiefschwarze Finsternis draußen wandelte sich allmählich in schweres Grau, und plötzlich klangen Georg Worte im Ohr, die er vor wenigen Stunden erst von einer dunkeln Frauenstimme gehört hatte, klangen flüsternd und weh: Wie bald wirst du mich vergessen haben... Er wollte die Worte nicht hören. Er wollte, sie wären schon wahr geworden, und wie verzweifelt stürzte er sich zurück in die Erinnerung seines Traums. Es war ihm ganz klar, daß der Dampfer, auf dem er die Konzertreise nach Amerika unternommen, eigentlich das Schiff bedeutet hatte, auf dem Ägidius seinem düstern Schicksal entgegenfuhr. Und der Kiosk mit der Musikkapelle war die Halle gewesen, wo den Ägidius der Tod erwartete. Wundervoll hatte der Sternenhimmel sich über das Meer gebreitet. Die Luft war so blau und die Sterne so silbern gewesen, wie er sie im Wachen niemals gesehen, nicht einmal in der Nacht, da er mit Grace von Palermo nach Neapel gereist war. Plötzlich wieder, flüsternd und weh, klang durch das Dunkel die Stimme der geliebten Frau: Wie bald wirst du mich vergessen haben... Und nun sah er sie selbst vor sich, wie er sie vor wenig Stunden erst gesehen, das dunkle Haar über die Polster fließend, bleich und nackt. Er wollte nicht dran denken, beschwor andre Bilder aus den Tiefen seiner Erinnerung hervor, jagte sie mit Willen an sich vorbei... Er sah sich auf einem Friedhof umhergehen in schmelzendem Februarschnee, mit Grace; er sah sich mit Marianne über eine weiße Landstraße dem winterlichen Wald entgegenfahren; er sah sich mit seinem Vater in später Abendstunde über die Ringstraße wandeln; und endlich drehte sich sausend ein Ringelspiel an ihm vorüber, Sissy mit lachenden Lippen und Augen schaukelte auf einem hölzernen, braunen Pferde, Else anmutig-damenhaft saß in einem roten Wägelchen, und Anna ritt einen Araber, lässig die Zügel in der Hand. Anna! Wie jung und holdselig sie aussah! War das wirklich dieselbe, die er in wenigen Stunden wiedersehen sollte; – und war er wirklich nur zehn Tage von ihr fern gewesen? Und sollte er nun alles wiedersehen, was er vor zehn Tagen verlassen hatte: zwischen Blumenbeeten den kleinen Engel aus blauem Ton, den Balkon mit dem hölzernen Giebel, den stillen Garten mit den Johannisbeerstauden und Fliederbüschen? Ganz unfaßbar erschien ihm das. Auf der weißen Bank unter dem Birnbaum wird sie mich erwarten, dachte er. Und ich werde ihre Hände küssen, als wäre nichts geschehen. »Wie gehts dir, Georg«, wird sie mich fragen, »bist du mir treu gewesen?« Nein... das ist nicht ihre Art zu fragen. Aber ohne daß sie fragt und ohne daß ich antworte, wird sie fühlen, daß ich nicht mehr als derselbe wiederkomme, der ich gegangen bin. Wenn sies doch fühlte! Wenn es mir erspart bliebe zu lügen! Aber hab ichs nicht schon getan? Und er dachte an die Briefe, die er ihr geschrieben hatte vom Seeufer her, Briefe voll Zärtlichkeit und Sehnsucht, die ja auch schon Lüge gewesen waren. Und er dachte daran, wie er nachts gewartet hatte mit klopfendem Herzen, das Ohr an die Tür gepreßt, bis alles im Gasthof still geworden, wie er dann über den Gang geschlichen war, zu jener andern, die bleich und nackt dagelegen war, mit offenen, dunkeln Augen, umströmt vom Duft und bläulichen Glanz ihrer Haare. Und er dachte dran, wie er und sie in einer Nacht halbtrunken vor Lust und Verwegenheit auf den Balkon hinausgetreten waren, unter dem verführerisch das Wasser rauschte. Wär einer in der tiefen Finsternis dieser Stunde draußen auf dem See gewesen, so hätte er die weißen Leiber durch die Nacht leuchten sehen. Georg bebte in der Erinnerung. Wir waren nicht bei Sinnen, dachte er. Wie leicht hätte es sein können, daß ich heute sechs Schuh unter der Erde läge, mit einer Kugel mitten durchs Herz. Es kann noch immer so kommen. Sie wissens ja alle. Else hat es zuerst gewußt, obwohl sie kaum je aus dem Auhof in den Ort heruntergekommen ist. James Wyner hats ihr wohl erzählt, der mich am Abend mit der Fremden auf der Landungsbrücke hat stehen sehen. Ob Else ihn heiraten wird? Daß er ihr so gut gefällt, kann ich verstehen. Er ist schön. Dieses gemeißelte Antlitz, diese kalten, grauen Augen, die klug und gerade in die Welt schauen. Ein junger Engländer. Wer weiß, ob in Wien nicht auch eine Art von Oskar Ehrenberg aus ihm geworden wäre? Und es fiel Georg ein, was Else ihm von ihrem Bruder erzählt hatte. Auf dem Krankenbett im Sanatorium war er Georg so gefaßt, beinahe gereift erschienen. Und jetzt in Ostende sollte er ein wüstes Leben führen, spielen und sich in der übelsten Gesellschaft herumtreiben, als wenn er sich durchaus zugrunde richten wollte. Ob Heinrich die Sache noch immer so tragikomisch fände? Frau Ehrenberg war ganz weiß geworden vor Kränkung, und Else hatte sich an einem Morgen im Park oben vor Georg so recht ausgeweint. Ob sie nur um Oskar geweint hatte?
Das Grau vor dem Kupeefenster erhellte sich langsam. Georg sah, wie draußen die Telegraphendrähte in eiligen Wellen mitschwebten und wanderten, und er dachte daran, daß gestern Nachmittag auf einem dieser Drähte auch seine lügnerischen Worte zu Anna gewandert waren: Morgen früh bin ich bei dir, in Sehnsucht Dein Georg... Gleich vom Amt aus war er wieder zurückgeeilt, zu einer glühenden und verzweifelten Abschiedsstunde mit jener andern. Und er konnte es nicht fassen, daß sie auch in dieser Stunde noch, während er schon eine ganze Ewigkeit lang von ihr fort war, noch in dem gleichen Zimmer mit den fest geschlossenen Fensterläden liegen und schlafen und träumen sollte. Und heute Abend wird sie daheim sein bei Mann und Kindern, daheim – wie er. Er wußte, daß es so war, und er konnte es nicht verstehen. Das erstemal in seinem Leben war er nahe daran gewesen, irgend etwas zu begehen, was die Leute vielleicht Tollheit hätten nennen dürfen. Nur ein Wort von ihr – und er wäre mit ihr in die Welt gegangen, hätte alles zurückgelassen, Freunde, Geliebte und sein ungeborenes Kind. Und war er nicht noch immer bereit dazu? Wenn sie ihn riefe, würde er nicht kommen? Und wenn er's täte, hätte er nicht Recht? War er nicht für Abenteuer solcher Art viel mehr geschaffen, als für das stille, pflichtenvolle Dasein, das er sich erwählt hatte? War es nicht eher seine Bestimmung, unbedenklich und kühn durch die Welt zu treiben, als irgendwo festzusitzen mit Weib und Kind, mit der Sorge ums tägliche Brot, um die Karriere und höchstens um ein bißchen Ruhm? In diesen Tagen, aus denen er jetzt kam, hatte er sich leben gefühlt, vielleicht das erste Mal. Jeder Augenblick war so reich und erfüllt gewesen, nicht die in ihren Armen allein. Er war wieder jung geworden mit einemmal. Blühender hatte die Landschaft geprangt, der Himmel hatte sich weiter gespannt, die Luft, die er trank, hatte bessere Würze und Kraft geatmet. Und Melodien hatten in ihm gerauscht, wie nie zuvor. Hatte er je ein schöneres Lied komponiert, als jenes heiter-wiegende, ohne Worte, »auf dem Wasser zu singen?« Und seltsam, aus ungeahnter eigner Tiefe war das Phantasiestück emporgestiegen, am Seeufer, eine Stunde, nachdem er die wunderbare Frau zum erstenmal erblickt hatte. Nun sollte ihn Herr Hofrat Wilt nicht lange mehr für einen Dilettanten halten. Doch warum dachte er gerade an den? Wußten die andern besser, wer er war? Schien es ihm nicht manchmal, als ob sogar Heinrich, der ihm doch einmal einen Operntext hatte schreiben wollen, ihn um nichts gerechter beurteilte? Und er hörte die Worte wieder, die der Dichter zu ihm gesprochen hatte, an jenem Morgen, da sie von Lambach durch den taufeuchten Wald nach Gmunden gefahren waren. »Sie müssen nicht schaffen, um zu sein, was Sie sind –! Sie brauchen nicht die Arbeit; – nur die Atmosphäre Ihrer Kunst...« Gleich darauf erinnerte er sich des Abends in dem Forsthaus am Almsee, wo ein Jäger von siebenunddreißig Jahren lustige Liedeln gesungen und Heinrich sich gewundert hatte, daß einer in diesem Alter noch so lustig war, da man sich dem Tod doch schon so nahe fühlen müßte. Dann hatten sie sich in einem Riesensaal zu Bett gelegt, wo die Worte widerhallten, lange noch über Leben und Tod philosophiert und waren plötzlich in Schlaf gesunken. Am Morgen darauf, unter kühler Bergessonne hatten sie voneinander Abschied genommen.
Noch immer lag Georg regungslos ausgestreckt in den Plaid gehüllt und überlegte, ob er von seiner Begegnung mit der Schauspielerin Heinrich etwas erzählen sollte. Wie blaß sie geworden war, als sie ihn plötzlich erblickt hatte! Mit herumirrenden Augen hatte sie seinem Bericht von der gemeinsamen Radpartie zugehört, dann ohne weitern Übergang von ihrer Mutter zu erzählen begonnen und von dem kleinen Bruder, der so wunderschön zeichnen könnte. Und die Kollegen hatten von der Bühnentür immer hergestarrt, besonders einer mit einem Lodenhut, auf dem ein Gemsbart steckte. Und am selben Abend hatte Georg sie in einer französischen Posse spielen gesehen und sich gefragt, ob die hübsche Person, die da unten auf der Bühne des kleinen Sommertheaters so unbändig umheragierte, in Wirklichkeit so verzweifelt sein könnte, wie Heinrich sich's einbildete. Nicht nur ihm, auch James und Sissy hatte sie gut gefallen. Was war das für ein lustiger Abend gewesen! Und das Souper nach dem Theater mit James, Sissy, der Mama Wyner und Willy Eißler! Und am nächsten Morgen die Fahrt im Viererzug des alten Baron Löwenstein, der selbst kutschierte! In weniger als einer Stunde waren sie am See gewesen. Ein Kahn trieb am Ufer hin im Frühsonnenschein, und auf der Ruderbank saß die geliebte Frau, den grünseidenen Schal um die Schultern. Wie kam es nur, daß auch Sissy gleich die Beziehung zwischen ihm und ihr geahnt hatte? Und das heitere Diner dann, oben im Auhof bei Ehrenbergs! Georg hatte seinen Platz zwischen Else und Sissy, und Willy erzählte eine komische Geschichte nach der andern. Und dann, am Nachmittag ohne Verabredung, während die andern alle ruhten, unter der dunkelgrünen Schwüle des Parks, im warmen Duft von Moos und Tannen, hatten Georg und Sissy sich gefunden, zu einer wunderbaren Stunde, die ohne Schwüre der Treue und ohne Schauer der Erfüllung, leicht wie ein Traum durch diesen Tag geschwebt war. Wie möcht ich ihn Augenblick für Augenblick durchdenken und durchkosten, diesen goldnen Tag. Ich seh uns beide, Sissy und mich, wie wir über die Wiese hinunter spaziert sind zum Tennisplatz, Hand in Hand. Ich glaube, ich hab auch besser gespielt als je. – Und ich sehe Sissy wieder, im Strohsessel liegend, die Zigarette zwischen den Lippen und den alten Baron Löwenstein an ihrer Seite, und ihre Blicke glühen zu Willy hin. Wo war ich schon in diesem Moment wieder für sie! Und der Abend! Wie wir in der Dämmerung noch hinausgeschwommen sind in den See, James, Willy und ich, und das laue Wasser mich so köstlich umstreichelt hat! Was für eine Wonne auch das! Und dann die Nacht... die Nacht...
Wieder hielt der Zug stille. Draußen war es schon ganz licht geworden, Georg aber blieb regungslos liegen, nach wie vor. Er hörte den Namen der Station ausrufen, Stimmen von Kellnern, Kondukteuren, Reisenden, hörte Schritte auf dem Perron, Bahnsignale aller Art, und er wußte, daß er in einer Stunde in Wien sein würde. – Wenn Anna Nachrichten über ihn bekommen hätte, wie Heinrich im vergangenen Winter über seine Geliebte! Er konnte sich nicht vorstellen, daß Anna über dergleichen außer Fassung geriete, selbst wenn sie daran glaubte. Vielleicht würde sie weinen, aber gewiß nur für sich allein, ganz in der Stille. Er nahm sich fest vor, sich nichts merken zu lassen. War das nicht geradezu seine Pflicht? Worauf kam es nun an? Nur auf das eine, daß Anna die letzten Wochen ruhig und ohne Aufregung verlebte und daß ein gesundes Kind zur Welt käme. Darauf allein. Wie lange war es schon her, daß er von Doktor Stauber diese Worte gehört hatte? Das Kind...! Wie nahe war die Stunde! Das Kind... dachte er wieder; doch vermochte er nichts zu denken als eben nur das Wort. Endlich versuchte er sich ein lebendiges, kleines Wesen vorzustellen. Aber wie zum Possen erschienen ihm immer wieder Figuren von kleinen Kindern, die aussahen wie aus einem Bilderbuch; burlesk gezeichnet und in überlauten Farben. Wo wird es seine ersten Jahre verbringen? dachte er. Bei Bauern auf dem Land, in einem Haus mit einem kleinen Garten. Eines Tages aber werden wir's holen und zu uns ins Haus nehmen. Es könnte auch anders kommen... Man erhält einen Brief: Euer Hochwohlgeboren, beehre mich mitzuteilen, daß das Kind schwer erkrankt ist... Oder gar... Wozu an solche Dinge denken? Auch wenn wir's bei uns behielten, könnte es krank werden und sterben.
Jedenfalls muß man es zu sehr verläßlichen Menschen geben. Ich will mich selbst darum kümmern. – Es war ihm, als stände er neuen Aufgaben gegenüber, die er niemals recht überlegt hatte und denen er innerlich nicht gewachsen war. Die ganze Geschichte fing gleichsam von neuem für ihn an. Er kam aus einer Welt zurück, in der ihn alle diese Dinge nichts gekümmert, wo andre Gesetze gegolten hatten, als die, denen er sich jetzt wieder fügen mußte. Und war es nicht gewesen, als hätten auch die andern Menschen gefühlt, daß er nicht zu ihnen gehörte, als wären sie alle von einem gewissen Respekt durchdrungen gewesen, als hätte Ehrfurcht sie erfaßt, vor der Macht und Heiligkeit einer großen Leidenschaft, die sie in ihrer Nähe walten sahen? Er erinnerte sich eines Abends, an dem die Hotelgäste einer nach dem andern aus dem Klavierzimmer verschwunden waren, als wären sie sich ihrer Verpflichtung bewußt, ihn mit ihr allein zu lassen. Er hatte sich an den Flügel gesetzt und zu phantasieren begonnen. Sie war in ihrer dämmrigen Ecke geblieben, in einem großen Armstuhl. Zuerst hatte er ihr Lächeln noch gesehen, dann nur das dunkle Leuchten ihrer Augen, dann nur mehr die Umrisse ihrer Gestalt, dann überhaupt nichts mehr; doch immer gewußt: sie ist da. Drüben am andern Ufer waren Lichter aufgeblitzt. Die zwei Mädeln in den blauen Kleidern hatten durchs Fenster hereingeguckt und waren gleich wieder verschwunden. Endlich hörte er zu spielen auf und blieb stumm am Klavier sitzen. Da war sie langsam aus der Ecke hervorgekommen, einem Schatten gleich und hatte ihre Hände auf sein Haupt gelegt. Wie unsäglich schön war das gewesen! Und alles fiel ihm wieder ein. Wie sie im Kahn geruht hatten mitten im See, mit eingezogenen Rudern, er den Kopf in ihrem Schoß; und wie sie am Ufer drüben den Waldweg hinaufgewandert waren bis zu der Bank unter der Eiche. Dort war es gewesen, wo er ihr alles erzählt hatte. Alles, wie einer Freundin. Und sie hatte ihn verstanden, wie nie eine andre ihn verstanden hatte. War sie es nicht, die er seit jeher gesucht hatte, sie, die Geliebte war und Gefährtin zugleich, mit dem ernsten Blick für alle Dinge der Welt und doch geschaffen zu jedem Wahnsinn und jeder Seligkeit. Und gestern der Abschied... Der dunkle Glanz ihrer Augen, der blauschwarze Strom ihrer gelösten Haare, der Duft ihres bleichen, nackten Leibes... War es denn möglich, daß es auf immer zu Ende war, daß all dies niemals, niemals wiederkommen sollte...?
Georg zerknüllte den Plaid zwischen den Fingern in ohnmächtiger Sehnsucht und schloß die Augen. Er sah die sanftbewegten Waldhügellinien nicht mehr, die draußen im Morgenlicht vorbeizogen, und wie zu einem letzten Glück träumte er sich in die dunkeln Wonnen jener Abschiedsstunde zurück. Doch wider Willen überkam ihn Mattigkeit nach der durchrüttelten Eisenbahnnacht, und aus selbstgerufenen Bildern jagte es ihn wieder durch regellose Träume, über die ihm keine Macht gegeben war. Er ging über den Sommerhaidenweg, in sonderbarem Dämmerlicht, das ihn mit tiefer Traurigkeit erfüllte. War es Morgen? War es Abend? Oder trüber Tag? Oder war es der rätselhafte Glanz irgendeines Gestirns über der Welt, das noch niemandem geleuchtet hatte, als ihm? Plötzlich stand er auf einer großen, freien Wiese, wo Heinrich Bermann hin und her lief und ihn fragte: Suchen Sie auch das Schloß der Dame? Ich erwarte Sie schon lang. Sie stiegen eine Wendeltreppe hinauf. Heinrich voran, so daß Georg immer nur einen Zipfel des Überziehers erblicken konnte, der nachschleppte. Oben auf einer riesigen Terrasse, von der man die Stadt und den See sah, war die ganze Gesellschaft versammelt. Leo hatte seinen Vortrag über Mollakkorde begonnen, hielt inne, als Georg erschien, stieg vom Katheder herab und führte ihn selbst zu einem freien Stuhl, der in der ersten Reihe neben Anna stand. Anna lächelte glückselig, als Georg erschien. Sie war jung und strahlend, in einer herrlichen, dekolletierten Abendtoilette. Gleich hinter ihr saß ein kleiner Bub mit blonden Locken, in Matrosenanzug mit breitem, weißem Kragen, und Anna sagte: »Das ist er.« Georg machte ihr ein Zeichen zu schweigen, denn es sollte ja ein Geheimnis sein. Indessen spielte Leo oben als Beweis seiner Theorie die cis moll Nocturne von Chopin, und hinter ihm an der Wand, lang, hager und gütig, lehnte der alte Bösendorfer, im gelben Überzieher. Alle verließen in großem Gedränge den Konzertsaal. Georg gab Anna den Theatermantel um die Schultern und sah die Leute ringsum strenge an. Dann saß er mit ihr im Wagen, küßte sie, empfand große Wonne dabei und dachte: könnt es doch immer so sein! Plötzlich hielten sie vor dem Hause in Mariahilf. Oben am Fenster warteten schon viele Schüler und winkten. Anna stieg aus, verabschiedete sich von Georg mit einem pfiffigen Gesicht und verschwand im Haustor, das lärmend hinter ihr zufiel.
»Bitte sehr, noch zehn Minuten«, sagte jemand. Georg richtete sich auf. Der Kondukteur stand in der Türe und wiederholte: »In zehn Minuten sind wir in Wien.«
»Danke«, sagte Georg und stand auf, mit ziemlich wirrem Kopf. Er öffnete das Fenster und freute sich, daß draußen in der Welt schönes Wetter war. Die frische Morgenluft ermunterte ihn völlig. Gelbe Mauern, Bahnwärterhäuschen, Gärtchen, Telegraphenstangen, Straßen flogen vorüber, und endlich stand der Zug in der Halle. Ein paar Minuten darauf fuhr Georg in einem offenen Fiaker nach seiner Wohnung, sah Arbeiter, Ladenmädchen, Bureauleute zu ihrem täglichen Berufe wandern, hörte Rolladen in die Höhe schnurren; und inmitten aller Unruhe, die seiner wartete, inmitten aller Sehnsucht, die ihn anderswo hinzog, empfand er das tiefe Wohlgefühl des Wiederdaheimseins. Als er in sein Zimmer eintrat, fühlte er sich wie geborgen. Der alte Schreibtisch mit dem grünen Tuch überzogen, der Briefbeschwerer aus Malachit, die gläserne Aschenschale mit dem eingebrannten Reiter, die schlanke Lampe mit dem breiten, grünen Milchglasschirm, die Bilder des Vaters und der Mutter in den schmalen Mahagonirahmen, in der Ecke das runde Marmortischchen mit der Silberkassette für Zigarren, dort an der Wand der Prinz von der Pfalz nach Van Dyck, der hohe Bücherschrank mit den olivenfarbigen Vorhängen; – alles grüßte ihn mit Herzlichkeit. Und gar der Blick, der gute, heimatliche über die Baumkronen des Parks zu den Türmen und Dächern, wie tat der wohl! Aus allem, was er hier wiederfand, strömte es ihm wie kaum geahntes Glück entgegen, und es fiel ihm schwer aufs Herz, daß er all das in wenigen Wochen verlassen mußte. Und bis man wieder ein Heim, ein wirkliches Heim haben würde, wie lang mochte das dauern! Gern hätte er sich ein paar Stunden lang in seinem lieben Zimmer aufgehalten: aber er hatte keine Zeit. Vor der Mittagstunde noch mußte er ja auf dem Lande sein.
Er hatte seine Kleider abgeworfen, ließ sich in seiner weißen Wanne wonniglich von warmem Wasser umspülen. Um im Bade nicht einzuschlafen, wählte er ein Mittel, das sich schon öfters bewährt hatte. Er dachte eine Fuge von Bach Note für Note durch. Das Klavierspiel fiel ihm ein, das mußte auch wieder tüchtig geübt werden. Und Partituren gelesen. Ob es nicht doch das klügste war, noch ein Jahr dem Studium zu widmen? Nicht erst unterhandeln, oder gar eine Stellung annehmen, die man am Ende nicht ausfüllen konnte? Lieber hier bleiben und arbeiten. Hier bleiben? Wo denn? Die Wohnung war ja gekündigt. Einen Augenblick fuhr ihm durch den Sinn, sich in dem alten Hause einzumieten, der grauen Kirche gegenüber, wo er so schöne Stunden mit Anna verbracht hatte; und es war ihm, als erinnerte er sich einer längst vergangenen Geschichte, eines Jugendabenteuers, heiter und ein wenig geheimnisvoll, das lange vorbei war. –
Erfrischt und in einem ganz neuen Gewand, dem ersten hellen, das er seit dem Tode des Vaters anlegte, trat er in sein Zimmer zurück. Ein Brief lag auf dem Schreibtisch, den eben die Frühpost gebracht hatte. Von Anna. Er las. Nur ein paar Worte waren es: »Du bist wieder da, mein Geliebter! Ich grüße Dich. Ich sehne mich nach Dir. Laß mich nicht zu lange warten. Deine Anna«...
Georg sah auf. Er wußte selbst nicht, was ihn an diesem kurzen Brief so sonderbar berührte. Annas Briefe hatten sonst immer, bei aller Zärtlichkeit, etwas Gemessenes, fast Konventionelles bewahrt, und manchmal hatte er sie im Scherz »Erlässe« genannt. Dieser hier war in einem Ton gehalten, der ihn an das leidenschaftliche Mädchen aus früherer Zeit erinnerte; an seine Geliebte, die er beinahe vergessen hatte; und seltsam unerwartet griff Unruhe nach seinem Herzen. Er eilte die Treppe hinab, setzte sich in den nächsten Fiaker und fuhr aufs Land. Bald fühlte er sich angenehm zerstreut durch den Anblick der Menschen auf den Straßen, die ihn nichts angingen; und später, als er den Wäldern schon nah war, beruhigte ihn die Anmut des blauen Sommertages. Mit einemmal, früher als Georg gedacht, hielt der Wagen vor dem Landhaus. Unwillkürlich sah Georg zuerst zum Balkon unter dem Giebel auf. Ein kleines Tischchen stand oben, mit weißer Decke, und ein Körbchen darauf. Ach ja, Therese hatte ein paar Tage hier gewohnt. Jetzt erst fiel es ihm wieder ein. Therese...! Wo war das! Er stieg aus, entließ den Wagen und trat ins Vorgärtchen, wo auf bescheidenem Postament unter verblühten Beeten der blaue Engel stand. Er trat ins Haus. Im großen Mittelzimmer deckte die Marie eben den Tisch.
»Im Garten oben is die gnä Frau«, sagte sie.
Die Tür zur Veranda stand offen. Die Bretter des Bodens knarrten unter Georgs Füßen. Der Garten mit seinem Duft und seiner Schwüle nahm ihn auf. Der alte Garten war es. Alle die Tage, die Georg fern gewesen, war er stille dagelegen, so wie in diesem Augenblick; im Morgenlicht, im Sonnenglanz, im Abendschatten, im Dunkel der Nacht; immer derselbe... Gerade schnitt der Kiesweg durch die Wiese nach oben. Kinderstimmen waren jenseits der Stauden, an denen rote Beeren hingen. Und dort auf der weißen Bank, den Arm auf der Lehne, sehr bleich, in wallendem blauen Morgenkleid, das war Anna. Ja wirklich sie. Nun hatte sie ihn erblickt. Sie wollte aufstehen. Er sah es und sah zugleich, daß es ihr schwer wurde. Warum nur? Bannte die Erregung sie nieder? Oder war die schwere Stunde schon so nah? Er winkte ihr mit der Hand, sie sollte sitzen bleiben. Sie setzte sich auch wirklich wieder hin und hatte nur die Arme leicht ausgebreitet, ihm entgegen. Ihre Augen leuchteten glückselig. Georg ging sehr rasch, den weichen, grauen Hut in der Hand, und nun war er bei ihr.
»Endlich«, sagte sie, und es war eine Stimme, die so weither klang wie jene Worte in ihrem Brief von heut Morgen. Er nahm ihre Hände, schüttelte sie in einer sonderbar ungeschickten Weise, fühlte irgend etwas in seiner Kehle aufsteigen, konnte aber noch immer kein Wort sprechen, nickte nur und lächelte. Und plötzlich kniete er vor ihr auf dem Kies, ihre Hände in den seinen, sein Haupt in ihrem Schoß, fühlte wie sie ihm die Hände leicht entzog, sie auf sein Haupt legte; – und dann hörte er sich ganz leise weinen. Und es war ihm, wie in süß dumpfem Traum, als läge er, ein Knabe, zu seiner Mutter Füßen, und dieser Augenblick wäre schon Erinnerung, fern und schmerzlich, während er ihn durchlebte.